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Full text of "Die Zukunft"

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830.6 
294 


! 


1 
! 


ge u —— — — — — - 


Die Dukunfte 


Berausgeber: 
Maximlian Barven. 
2 


Jünfundvierzigſter Band. 


Berlin. | 
Derlag der Zukunft. 
1903. 


— 


Dr 
- wo. — 


un ed be Se —— ——— —— 


- 


Inhalt, 


Kpenkönig und DMenidenfeinb . 446 

Anthropologie, politifide . . . . 174 

Uphorismen . . ... 222. . 83 

Krbeiter |. Bud eines Ar- 
Beiters. 

Auffidtsrath |. Reform. 


Auserwählten, bie... .. . . 492 
Uutobiograpbie. ........ 66 
Bebel und Genojin . . . . . 1, 47 
Bilfe, Lieutenant ....... 307 


Bismarck und das Tintenfaß 


f. Notizbuch 423. 


Börfendefherung . . .. . . . 414 
Brief, ein...» 22200. 80 
Bud, das, eines Mrbeiters . . . 328 
Büderlifte. ... 2.222020. 461 


Garlyle, Thomas und Jane 817, 873 
Chirurgie ſ. Entwidelung. 
CKorpsſtudenten im Staat.... 433 


Damoklinos...... 32 
Denkmale ſ. Notizbuch 202. 
Dippold ſ. a. Koh ...... 164 


Entwidelung, die, der Chirurgie 477 
Hormender Weltgefhichtichreibung 899 
Bortpflanzung, geichledhtlide ... 21 
Frankreichs Furcht und Hoffnung 28 
Frau, ihre. ». . 2 22000 266 
Gerichtshof, ein, Über Weltliteratur 103 
Geſchaͤft iſt Sefchäft ſ.Geſchäfts⸗ 
mann. 
Geſchaͤftsmann und Sturmgeſelle 165 
Geſchlechtliche Fortpflanzung 
ſ. Fortpflanzung. 
Gobineau ſ. Sellidres. 


Goya...... 834 
Grenzgarniſonen und Tran . . 211 
Hanfemanın .... 0:2... 0.456 
Hölle, in der... . 222 0. 188 
Serufalem .... 222000. 257 
Smmediatberidt ....... . 315 
Raiferiniel, te ........- 135 
Raiferparaben |. Notizbuch 889. 

Kirchhof, der neue . ...... 110 


Kod-Dippolb f. a. Dippold . 87 
Kosmiſche Wanderungen 
f. Wanderungen. 
Krankheit, die, des Kalfers ... . 891 
Kriegsgeſchichte, amoraltide. . . 106 
ſ. a. Napoleon ſ. a. Notiz⸗ 
buch 885. 
Kunſt, Kultur, Kirche 
Kmiledi® .... 2... 
Landerziehungbeim, ein .. . . 118 
Zafter, das, der Perfönlichleit . 258 
Leichner ſ. Nietzſche. 
Lotte 
Märchen, das, der Dezembernacht 437 
Maſſener 43 
Mehring, Dr. |. Notizbuch 200. 


Moore, George»... 2... 184 
Morig und Rina ....... 468 
Nahwudd.... 2.2.2002. 237 
Napoleon tn Jaffa....... 231 
f. a. Notizbuch 885. 
189038.......... .. 501 
Nietzſche Über Leihner .... . . 46 
Nietzſche md Hobde ..... . 241 


Nischen |. Notizbuch 428. 


Notizbuch .. .... 199, 383, 417 


Banama-Berlin ........ 880 ° 


Partei und Gewerlihaft .. . . 151 
Betroleum, nationales . .. . . 121 
Bolitiide Anthropologie |. An⸗ 
thropologie. 

Primadonnen, die rothen... 81 


Pro patria....... . 304 
Propheten, falide ...... . 76 
Prozeß Auwileda .... . .. 868 
Pſalm, ber freie... ..... 409 
Rache für Leippig . - -.. .- - 850 


Neform, die, des Auffichtrathes. 262 
Neichögericht |. Notizbuch 199. 
Meichsparlier . ... 2.2... 425 
Reichstag ſ. Notizbuch 388, 417 

f. a. Reichsparlirer. 
Nemaiffance . . 20.0. 300 
Nina ſ. Moritz. 
Schmidt, Profefior Morig 

ſ. Notizbuch 890, 


Sellidres Sobinean ..... . 208 


Selbſtanzeigen 158, 196, 235, 270, 


302, 346, 454, 498 


Skizzen, ſüdweſtafrikaniſche. 34, 147 


Stlavenboom, der ....... 161 
Sonne, auf zur... 2 2.2... 343 
Strafgejegbud, ein neues? . . . 203 
Sturmgefelle Sofrates |. Ge⸗ 
ihäftsmeann. 
Südweſtafrikaniſche Skizzen |. 
Skizzen. 
Syndikat und Synbilat . . . . 193 
Traftat, ein, vom böfen Gewiſſen 449 
Ungarn |. Notizbud 419. 
Vecſey, der Tleine Geiger 
ſ. Notizbuch 201. 
Wanderungen, kosmiſche.... 218 
Weiber, drei alte, von Berlin . 228 
Weltanſchauung, impreifioniftifche 138 
Weltgeſchichtſchreibung ſ. yormen. 
Weltliteratur, ſ. Gerichtshof. 
Bauberlehrlinge ..... 2... 273 
Zuchthaus, aus dem... ... 79 








Berlin, den 5. Oktober 1905. 
—1 — — ⸗ 


Bebel und Genoſſen. 
1) 


nkavövug xal akavdpsvor. 

enoſſe Heine. Das ift der Kopf des Wurmes. So ſchrieb ich vor acht 

Tagen; und vergaß, daß in der früheften deutfchen Tragoedie des Po⸗ 
litikers als Kopf des Wurmes nicht der Held bezeichnet wird, fondern der 
graue Thraterrömer Verrina. Dem ähnelt Herr Heine in feinem Bug. Eher 
ſchon dem Fiesfo von Lavagna, dem ſich, ſtaatsklug“ dunkelnden Weltmann 
mit dem ſchwindligen Gewiffen, der fich auffelbft gebauten Auftichlöffern nicht 
handelnd behaupten fan. „Ein ſchlanker, |höner Mann, ftolz mit Anftand, 
freundlich mit Majeftät“ : die Worte, mit denen der junge Schiller ung feinen 
Helden malt, würden recht gut auf den Vertreter des dritten berliner Reichs⸗ 
tagswahlkreiſes paſſen; leider auch der Nachfag: „Höftfch-geihmeidigundeben 
fo tũckiſch“. Doc Fiesko oder Verrina: der blonde Mann mit dem blauen, 
Treue lächelnden Blid ift mir der Kopf des Wurmes, bis bewieſen wird, daß er 
auch indiefem Fall nur ber Vollſtrecker eines ftärkeren Willens war. Auf dem 
dresdener Parteitag kam er am Morgen nach Bebels Schimpfrebe zum Wort; 
was hat er über mich und meine Wochenfchrift gefagt? „Ich habe nie in der 
Zukunft eine Zeile veröffentlicht und ich werde es auch nie thun, weil id) 
ber Anſicht bin, daß man in einer Sache, die zum großen Theil @efühlsfache 
tft, das Gefühl der Parteigenofien reſpektiren muß. Ich bin allerdings auch 
durch Das, was ich Hier gehört habe, zus diefer Anficht gelommen; denn die 
Angriffe, die in der „Zutumft‘ gegen die Partei gerichtet find, find denn doch 


) S. „Bufunft“ vom 26. September 1903. 


2 Die Zukunft. 


ärger, als es mir frühergegenmwärtig war. Würde der Befchluß blos lauten: 
Es ift verboten, an ber „Zufunft‘ mitzuarbeiten, dann würbe ich nicht da⸗ 
gegen ftimmen.” Genofje Heine bläft nun die Bäckchen auf und erklärt, er 
balte fich für verpflichtet, „einem Verfolgten, ber fich hier nicht felbft verthei⸗ 
digen kann, als Bertheidiger zur Seite zu ftehen”; fchon diefe Ankündung er- 
regt umter ben dreihundertſechsunddreißig Vertretern hoͤchſter Sittlichleit und 
Wahrhaftigkeit „Unruhe" und „Wideripruch”. Doch die Genoſſenſchaft all- 
gerechter Völferbefreier Hatte fich ohne Grund echauffirt; denn was jetzt kam, 
war Sicher die wunderjamfte „Vertheidigung”, die jemals vernommen ward. 
„Ich mißbillige Hardens Politik auf das Schärffte, weil ich den perfönlich- 
gehäffigen Ton mißbillige, mit dem Harden feine Politik betreibt. Das habe 
ich auch Harden gegenüber ausgefprocdhen. Es tft bier nicht ber Ort, über 
bie Berfönlichkeit Hardens zu fprechen. Er geht uns nichts an. Ich kenne 
ihn kaum, denn ich bin mit ihm dreis, viermal zufammengelommen. Unſere 
Gefpräche galten wejentlich Kiterartichen Dingen. Ueber Hardens Charalter 
kann ich nicht viel fügen. Von mir hat er fein Parteigeheimniß erfahren; 
eher kommt das Umgelehrte vor. Die ‚Zukunft‘ war an fidh ein guter Ge⸗ 
danke. Andere Nationen haben längjt Blätter, in denen Politiker der ver- 
fchiedenften Parteirichtung fchreiben. Das mag Harden urfprünglich ges 
wollt haben; aber feine eigenen Artikel mit ihrem prononcirt perjönlichen 
Charakter haben diefe Abficht vereitelt. Das ift e8, was ich zur Bertheidigung 
Hardens zu jagen habe. Sie jehen, daß ich mich nicht mit ihm identifi- 
zire.” Alſo: feine Silbe, die irgendiwie als Vertheidigung aufgefaßt werden 
fönnte; und in einem Zwifchenfägchen ein Vergleich mit der „Tomplizirten 
Biychologie” des Genofjen Mehring, von dem Heine mir vor Zeugen gejagt 
hatte, er halte ihn, nad) allerlei Spndizten, für einen agent provocateur, 
jedenfalls aber für einen verächtlichen Menſchen, der, was er auch fchreibe, 
feiner Antwort würdig fet. Das war die „Vertheidigung”. Ich habe nach 
ben Bericht des „Vormwärts” citirt. Am Tage nach feiner Rede ſchickte Herr 
Heine mir aus Dresden einen von ihm mit Strichen, Korrelturen und Bus 
lägen verjehenen Bericht; dern, jagte er in dem beiliegenden Brief, „der Sie 
betreffende Sat ift im ‚Vorwärts‘ nicht jo wiedergegeben, wie ich gewünſcht 
hätte.“ Ich habe erhebliche Gründe, zu glauben, daß die Berichterftatter des 
„Vorwärts“ ,imihrerArbeitalstüchtigbewährte Männer, befonders ſcharf hin⸗ 
gehört haben, als Heine über mid) ſprach; daß fie falfch berichtet haben,behauptet 
er auch nicht: er hätte den Bericht nur anders „gewünicht”. Diefer Wunfch war 
begreiflich, wieder Leſer bald merken wird. Uebrigeng find Heines Aenderungen 





Bebel und Genoffer. 8 


unweſentlich; der Erwähnung werth ift nur ber eingeſchobene Satz, weder 
Mehring noch Harden ſei durch die geſtern gebrauchten Worte gerecht charak⸗ 
teriſirt. Mit und ohne Retouche bietet die Rede das ſelbe Bild. Genoſſe 
Heine hat erft anf dem Parteitag erfahren, wie arg ich die Sozialdemokratie 
angegriffen habe. Er mißbilligt aufs Schärffte meinen „perfönlich-gehäffigen 
Ton“ und hat mir diefe Mißbilligung ausgeiprochen. Er lennt mich kaum, 
Hat mich drei⸗, viermal gefeben, faft nur über Fiterarifche Dinge mit mir ges 
fprochen, mir nie ein Geheimniß enthüllt, und findet, daß die gute Abſicht, Die 
anich zur Gründung der, Zukunft“ getrieben haben mag, durch meine eigenen 
Artikel vereiteltworden ift. Das iſt das Plaidoyer meines Vertheidigers. 

Ich kann den Beweis erbringen, daß diefe Behauptungen, die der 
Rechtsanwalt umd Reichsſtagsabgeordnete Wolfgang Heine der höchiten 
Rechtsinſtanz feiner Barteivortrug, ſämmtlich, ohne eine einzige Ausnahme, 
wider beſſeres Wiffen aufgeftellt, objektiv und ſubjektiv unwahr find. Bet 
der Erfüllung diejerleidigen Pflicht werde ich mich, wie in den anderen Fällen, 
zunächft anf das von der Nothwehr Gebotene beichränten. 

Herr Heine bat auf dem Parteitag über die Art und Argheit meiner 
gegen die Sozialdemokratie gerichteten Angriffe nichts Neues erfahren. Die 
drei vom dresdener Ketergericht infriminirten Artilel— „Dierothen Prima- 
donnen”, „Obftrultion”, „Die Katferpartei” — kannte er genau: nicht nur 
als „einer der. älteften Abonnenten der ‚Zulunft‘”, fondern, weil ich ihm, 
auf feine Bitte, kurz vor der Parteitagszeit die drei Hefte geſchickt habe. Als 
er fie wieder gelejen hatte, fagte er mir: „Unſere Partei follte, tro& gelegent- 
Lichen Angriffen, glücklich fein, daßes einen Manngiebt, der fich, wie Sie, ohne 
auf unſer Programm zu schwören, mitjeiner ganzen Perfönlichkeit für die heute 
wichtigften Korderungen konftitutionellen Lebens einfett. Das werdeichaud 
in Dresden ausſprechen“. Herr Heine hat mirntegejagt, daß er meinen Ton ge⸗ 
häffig finde und „aufs Schärfftemißbillige”, ſondern mir oft die wärmſte An- 
erfennung meines Charalters und Wirkens ausgedrüct und durch lebhafte 
Bekundung der Freude am Verkehr mit mir bewiefen, wie fern fhärffte 
Mißbilligung meines politifchen und Literarifchen Bemühens ihm lag. 
Er war nicht drei- bis viermal mit mir zufammen, fondern mindefteng fünf- 
zehnmal; zweimalmwährtediefes Zuſammenſein, das ſtets Durch feinen Wunfch 
herbeigeführt war, unter vier Augen viele Stunden lang. Er hat mit mir, 
ich habe wit ihm faft ausschließlich über polittfche Vorgänge gefprochen, ins⸗ 
beſondere über Taktik, Haltung, Entwidelung und Berjonalien feiner Par» 
sei, über Schupzoll, Obftruftion, Wahlpolitit, Bewerbung ums Vizeprä« 

1° 


4 Die Zuhmft. 


fidium des Reichstages; ganz felten, eigentlich nur zum ‘Deffert, über un 
gemeinjam intereifirende Fragen ber Literatur. Diefe Gefpräche hatten den 
intimften Ton. Keiner von uns Beiden ſcheute fi, dem Anderen-zu ent- 
bälfen, was er dem Fremderen forgjam verfchleiert hätte; und wir Habeneins 
ander manches „Geheimniß“ anvertraut, — wenn das feierliche Wort auf 
Mittheilungen aus den Untergründen der Politik und des internen Partei» 
lebens überhaupt paßt. Was bleibt noch? “Die Frage, ob die „Zukunft“ ihr 
Biel, Politiker der verfchiedenften Richtung zum Wort kommen zu Lafjen, er- 
reicht Habe und warum fie e8 bisher nicht erreichen lonnte. Darüber fagte 
Herr Heine am jechzehnten September 1903 in Dresden: „Hardens eigene 
Artikel mit ihrem prononcirt perjönlichen Charakter haben die Abficht, die 
gut gewefen fein mag, vereitelt." Am achten April 1903 in einem — jpäter 
noch zu betrachtenden — Brief an mich: „Wenn die ‚Zukunft‘ nicht ganz 
fo allgemeine Tribüne für alles Sagenswerthe geworden ift, fo fehe ich darin 
eine Folge der politifchen Rückſtändigkeit Deutſchlands““. Und die Monate 
April bis September 1903 waren die Zeit unjeres intimften Verkehrs. 

Ka, denkt nun Mancher, hier fteht Behauptung gegen Behauptung 
und wir haben nicht den mindeiten Grund, dem Schriftfteller mehr zu glauben 
als dem Abgeordneten. Ein Bischen Geduld, bitte. Herr Heine kann feine 
einzige meiner Angaben als unwahrermeijen; will ers: erhat das Randgericht 
nah. Ich aber kann und werde beweifen, daßer mit mir foverfehrt, über mich 
und meine Lebensarbeit jo geurtheilt-hat, wie ichs hier dargeftellt habe; daß 
er in Dresden aljo wider befferes Wiſſen die Unwahrheit gejagt hat. 


Ich lernte den Rechtsanwalt Heine vor zwölf oder dreizehn SYahren. 


fennen. Der uns Beiden befreundete liebenswürdige Stilfünftler Hermann 
Bahr ftellte ung einander vor; aber es blieb, auf der Straße, beim Aus- 
taufch fonventioneller Höflichkeit und neun Jahre vergingen, bis wir wieder 
von einander hörten. Im Auguft 1900 war ich zum dritten Dial der Diajes 
ftätbeleidigung angeflagt und einzelne meiner Bekannten wünjchten, ich folle 
Heine zum Vertheidiger wählen. Auf eine Anfrage, die nicht von mir aus⸗ 
ging, antwortete er, der damals jchon fozialdemofratifcher Abgeordneter 
war, in einem vom fünfzehnten August datirten Brief: „Irgend welche 
grundfäglichen Bedenken, Herrn Harden zu vertreten, habe ich natürlich 
nicht; ich würde Dies fogar recht gern thun.“ Ich hielt und halte Herrn 
Heine für einen unfererbeften Kriminalanwälte, wandte mich fchließlich aber 
nicht an ihn, weil ich von ängftlicher Liebe beſchworen wurde, aud) den Schein 
einer Verwandtichaft mit fozialdemofratijchen Tendenzen zu meiden. Ich 


Bebel und Genoffen. 5 


wurde von der Straflammer abermals zu einer Freiheitſtrafe verurtheilt und 
das Urtheil wurde rechtsfräftig. Während ich in der Feſtung faß, erjchien im 
einem Provinzblatte der Sozialdemofratie ein Artikel, der mich verleumdete. 
Ein Herr, der zumiljen glaubte, daß Heine mir ſehr freundlich gefinnt jet, bat 
ihn, der gegen einen Gefangenen, Wehrlofen verübtenNiedertrachtim@entral- 
organ der Partei entgegenzutreten. Am fünfzehnten April 1901 antwortete 
Heine brieflich: „Obgleih ich herrn Harden perſonlich fern ſtehe, würde ich ſtets 
meine Hilfe bieten, um ihn gegen einen ſo albernen und nichtswürdigen Angriff 
zu vertheidigen. Ich glaube aber nicht, daß ſich im vorliegenden Fall irgend eine 
Zeitungaktion empfiehlt. Eine Vertheidigung Hardens iſt nicht nur dieſem 
Gegner, ſondern auch dieſen Vorwürfen gegenüber wirklich überflüſſig. Wer 
Harden einigermaßen kennt, auch wenn er ſein politiſcher Gegner iſt, weiß, daß 
er für ſolche Anzapfung nie den geringſten Grund gegeben hat. Wünſchen 
Sie trotzdem, den ‚Vorwärts‘ dafür zu intereſſiren, fo bin ich gern bereit, mit 
... zu ſprechen.“ April 1901. Heine kennt mich faum, weiß aber, daß ich 
zu nichtswürdigen Angriffen nie den geringjten Grumd gegeben habe, und 
erflärt fich bereit, mich gegen folche Angriffe „ſtets“ zu vertheidigen. Sep⸗ 
tember 1903. Heine hat eben erft lange Stunden intimfter Zwieſprache mit 
mir verbracht und, ohne von mir aufgefordert zu fein, dem feſten Entjchluß 
angefünbet, in Dresden meine Sache gegen die Schmäher zu führen. Er ſitzt 
in dem Saal, wo id) von feinen berühmteften Parteigenoffen ein verächtliches 
Subjekt genannt werde, mit dem nur moralifc, Verkommene Gemeinfchaft 
haben fönnen, ein von Geldgier getriebener Lump, ein Proftituirter: und er 
hat nichts Anderes zu Jagen als dieSätze, dieich vorhin wörtlich angeführt habe, 

Er bat ſchon einmal öffentlich über mich gefprochen: in der Reichs» 
tagsfigung vom ftebenten Februar 1901. Er hatte mir furz vorher ges 
fchrieben, meine Verurtheilung fei die objektiv ungerechtefte, die ihm in feiner 
„auf diefem Gebiet nicht ganz Heinen Praxis vorgefommen” fei, und ges 
beten, ihm die Urtheile des Landgerichtes und des ReichSgerichtes zu ſchicken. 
In feiner Rede, diedas mit meinen Kriminalerlebnifjeneng verfnüpfte Amts⸗ 
ſchickſal der Kandgerichtsdireltoren Schmidt und Feliſch behandelte und bie 
im legten Februarheft der „ Zulunft” vom Jahr 1901 abgedruckt worden ift, 
nannte er mich „einen Mann, der meine Partei oft in der heftigften Weife und 
in einer Weife, die ung durchaus nicht immer gefallen hat, angegriffen hat.” 
DBielleicht dachte er an diefen Sag, als er in‘Dresden von feiner Mißbilligung 
meines Tones ſprach. Ich fah in dem Sat nur eine empfindlichen Barteis 
genoſſen gemachte Konzeifion und die Abficht, die Wucht feines Angriffes 


6 Die Zukuuft. 


auf die Gerichtspraxis zu fteigern. Heines Briefe mußten mid) in dieſer An» 
ficht beftärken ; mehr noch die Thatfache, daß er als Bolitifer und Juriſt foener- 
giſch für mich und mein Mühen eintrat. Berjönliche Gehäffigkeit des Tones 
wäre, wenn die Neigung dazu vorhanden war, gewiß auch in meiner Kritil 
der kaiſerlichen Politik zum Ausdrud gelommen; und Heine nannte diefe 
Kritit „wohlwollend, mit befter Abficht, von einem höchft monarchiſchen 
Standpunkt aus gefällt” und befämpfte das Kandgerichtserfenntniß, das 
Gehäffigkeit darin gefunden hatte. Der Abgeordnete wolltenichtmir, fondern 
der Sache politischer Redefreiheit dienen; da ich an den — leider recht fernen 
— Sieg diefer Sache aber das perjönlichite Intereſſe habe, jchien es mir 
Pflicht, dem politifcehen Gegner für fein tapferes Wort zu danken. 

Das konnte ich bald auch mündlich thun. Seit acht Jahren verkehre 
ich in einem Kreis, der fich, wenn Herr von Vollmar in Berlin ift, umihn und 
feine geiftig grazile grau jeden Donnerstag abends zu bilden pflegt. Ich war auf 
Wunſch des Ehepaares Vollmar in diefen Kreis geladen worben, ließ mich, 
als politifch anders als die Mehrheit ver Tafelrunde Gelinnten, in jedem 
Jahr ausdrüdlich wieder einladen und hatte die Freude, vermißt zumerden, 
wenn ich ausblieb. Theilnehmer an diefen ungemein beicheidenen Sympofien 
waren, außer dem Rieſen von Soienjaß, die ſozialdemokratiſchen Abgeord- 
neten Grillenberger, Schoenlant, Blos, Heine, Sudekum; fait immer war 
auch einder Bolitiffern ftehender Literat, manchmal eine Dichterm anweſend; 
und wir länger am Donnerstagstiich Vereinten hatten das Recht, Freunde 
mitzubringen, die uns in diefen Kreis zu paffen fchienen. Anregende, behagliche 
Abende, auf die Jeder ſich freute und deren Wiederkehr Jeder herbeifehnte, wenn 
bie Bayerngarzulange das Borufjenland mieden. Getrunfen wurdenicht viel; 
doch gute Rebe würzte das Schöppchen und nie wurde vor Mitternacht an 
den Aufbruch gedacht. Natürlich prady man zwar de omnibus rebus et 
quibusdam aliis, mehr aber als über jeden anderen Gegenftand über Poli- 
tif, alte und neue. S$ede Ueberzeugung wurde reſpektirt, in Ernſt und Scherz, 
fuchte man einander näher und nah zu kommen und niemals entjtand die 
Gefahr eines noch fo winzigen Konfliktes. Im Kleinen das Bild des Zu- 
ftandes, der in Rändern älterer Kultur Alltagsereigniß geworden iſt. Nach 
erfüllter Pflicht, nach dem Kampf um die Wirkung perjönlichen oder partei- 
lichen Wollen fommen Menſchen zufammen, deren Europäerpuls, trotz 
alfen Berjchiedenheiten des Glaubens, ungefähr in gleichem Takt jchlägt, und 
Sprechen fich offen über Gemeinfames und Trennendes aus. Wir hatten gute 
Erzähler, Starke Humoriften und anmuthige Grauen an unjerem Tiſch; 





Bebel und Genofſſen. 7 


Temperamente und Berfönlichkeiten. Nun hat das blinde Wüthen bes Sel- 
teneifer8 auch diefe zarten Bande freier Menfchlichkeitzerrifien. . . In dieſem 
Kreis traf ich Heine erft ſpät. Wer feine dresdener Rede lieft, muß glauben, 
ich hätte ihn dreisoder viermalaufgefucht, um Parteigeheimniffezuerfahren, 
mein Ziel aber nicht erreicht; der Abgeordnete habe mir die Würmer ausder 
Nafe gezogen, das Geſpräch auf literariſche Fragen abgelenkt und mir deut» 
lich gejagt, wie widrig ihm meine Politik und Ausdrudsart jet; über meinen 
Charakter, über die Reinheit oder Unſauberkeit meiner Motivewilje er nichts; 
denn er kenne mich faum. Ein paar Briefproben aus diefem Jahr: 


6. 2. 1903. 
Heute im Theater war es mir nicht möglid, Sie einen Augenblid 
zu fprechen, um Ihnen bie Grüße auszurichten, Die Herz und Frau von Boll: 
mar mir noch für Sie aufgetragen haben... Die Donnerstagszufammen- 
tünfte werben nun wohl eine Störung erleiden... Ich würde aber gern eine 
Gelegenheit finden, die ſo angenehmen und anregenden Plaudereien mit Ihnen 
wieder einmal fortzufpinnen. Bitte, fchreiben Sie mir, was aus den Don⸗ 
nerstagen wird oder wo man Sie jonft mal trifft, falls Sie eben fo denken. 
Diefer Brief enthielt auch eine freundliche Anjpielung auf bie von 
dem „Schaffenden” Sudermann mir aufgeziwungene Fehde. Mein Kleines 
Bud über den großen „Kampfgenofjen“ war eben erfchienen. Ich fchickte 
Herrn Heine ein Eremplar und fehrieb auf die erfte Seite ein Wort, das 
Mirabeau einft von Robespierre gejagt und das Haus Bülow in einer mein 
Wirken gütig überjchägenden Buchwidmung wiederholt hatte, die er mir 
jelbft in die Wohnung brachte, — das Nachficht werbende, zur Nechtferti- 
gung irrenden Glaubens oft von mir angewandte Wort: Il croit tout ce 
qu’il dit. Perfönlich-gehäfjigen Ton hatte mir, neben ſchlimmeren Laſtern, 
Herr Sudermann vorgeworfen; wenn Heine diefem Urtheil zuftimmte,hatteer 
jet die befte Gelegenheit zurücthaltlofer Ausfprache. Und was antwortete er? 
10. 2. 1903. 
Bielen Dank für Ihren Brief und die freundliche Sendung Ihrer 
Brochure. Obgleich ic Ihrem Urtheil über Sudermanns Kampfesweiſe völlig 
zuſtimme und volllommen einfehe, daß Sie zu Ihrer Antwort gezwungen 
worden jind wie mır je Einer, wird Sudermann doch beim lieben Publitum 
feinen Zweck erreichen, ſich wieder ins Gedächtniß gerufen zu haben. Die 
Rechnung auf Sentimentalitäten ift felten verfehlt; und die Stellung, die 
Ste fett dreizehn Jahren außerhalb der Parteieneinnehmen, ift nicht geeignet, 
Freunde zu ſchaffen ... Mit bem mirabeaufhen Wort, das Sie ihrer Wid⸗ 
mung beifügen, werben Sie fi) aber felber nicht gerecht; ich bitte, mir biefe 
Anmerkung zu geftatten. Den wohlfeilen Ruhm des croire tout ce quel’on 
dit würde man mit jedem fubalternen Schwärmer theilen. Das Wejen 
der politifhen Wahrhaftigkeit ftedt tiefer, in dem Muth, Nothiwendiges 


8 Die Zuhmft. 


zu erkennen unb zu vertreten, auch wenn ed Einem zuwider ift. Es tft wohl 

nicht nöthig, Ahnen zu jagen, daß Sie fi diefen Ruhm vindiziren Lönnen; 

vielleicht Hören Ste es aber gern auch von Jemand, der in ſehr weientlichen 

Puntten, vielleicht ben wichtigften ber heutigen Tagespolitit, anderer Meinung 

als Sie über das Notbiwenbige iſt ... Befte Grüße und gute Beflerung. 

Ihr ergebeniter Wolfgang Heine. 

Aus einem Brief vom fünfzehnten April 1903: 

Ich würbe mich freuen, wenn Ste in der Oſterwoche oder ber darauf 
folgenden einen Abend frei hätten... Seftatten Sie mir, Ihnen das Januar⸗ 
beft der Sozialiſtiſchen Monatshefte zu überreichen, worin fi ein Auflag 
von mir befindet, der weniger fachjuriſtiſch ift, als fein Titel befagt, und der 
Ihnen bie mir perfönliche Urt, ſolche Stoffe zu beurtheilen, zeigt. Ich bitte 
Sie, mir eine Nachricht wegen einer Zufammenkunft za geben. Mit beiten 
Empfehlungen Ihr fehr ergebener Wolfgang Heine. 

Gedanken und Form feiner von foartiger Redegeleiteten Arbeitgefielen 
mir; umd ich ſchrieb ihm — wie wohl jeder höfliche Herausgeber einer Zeit⸗ 
Schrift gethan hätte —, daß ich mich freuen würde, wen ich ſolche Artikel von 
ihm auch inder, Zukunft“ veröffentlichen fönnte;Teider ſei wahrfcheinlich feine 
Parteiftellung ein Hindernig. Die Antwort fam fchnell; hier ift fie: 

8. 4. 1903. 

Es freut mid, daß mein Verſuch, dem verwüftenden Einfluß einfeitiger 
Theorien auch im Strafrecht entgegenzutreten, Ihnen gefällt. Ihre Aufforderung, 
folche Arbeiten gelegentlich auch in der „Zukunft“ zu veröffentlichen, babe ich feinen 
Grund abzulehnen. Ach bedaure oft, daß das Öffentliche Intereſſe für ragen bes 
Strafrechtes, Staatsrechtes, Progeßverfahrens u. ſ. w. in Deutfchland fo gering tft, 
und ich ſehe in der Erneuerung dieſes Intereſſes ein Mittel politifcher Fortentwickelung. 
Dazu ſcheint mir bie „Zukunft“, die von Angehörigen aller Parteien geleſen wird, bie 
geeignetfte Tribüne; fie bat auch ſchon eine Menge anregender Beiträge gelie 
fert und es läge durchaus im Intereſſe meiner Richtung, dort aud) zum Wort 
zu lommen. Die Angriffe Mehrings würden für mich höchſtens ein Antrieb 
mehr fein, Ihrer Aufforderung zu folgen. Ich werde ftet3 das Recht unbe» 
ſchränkten freien Wortes für mich beanfpruchen, aber e8 auch Anderen gönnen. 
Ich kam deshalb auch Ihnen fo wenig übelnehmen, daß Sie ſich perfönlich gegen 
die Bezeichnung Brotwucerpolitif zu werwahren gefucht haben, wie ich auf den 
Gebrauch dieſer fachlich bezeichnenden polemifchen Wendung verzichten werde. Ans 
griffe auf meine Partei, aud) wo ich fie für perfönlich ungerecht halte, würden mid) 
nicht abfchreden. Ach halte Empfindlichkeit in der Politik für eine der größten 
Schwächen. Ich würde nicht befürchten, Ihre abweichenden politiichen Anſchauungen 
zu fördern, wenn ich meine in ber „Zulunft” auseinanderfeßte; noch weniger natür⸗ 
lich dur Erörterungen über mehr neutrale Stoffe. Ich habe es für eine ſehr glüd- 
liche Idee gehalten, daß die ZZukunft“ ein Diskuffion-Organ werben follte, das 
allen Richtungen offen ftände und woraus Jeder aus ber Feder bedeutender Mit- 
glieder gegneriſcher Parteien auch deren Auffaflungen kennen lernen könnte. Sol 
beſſeres gegenfeitiges Verſtändniß der gegnerifchen Parteien würde bie politichen 


nm — 





Bebel und Genoffen. 9 


‚Kämpfe nicht abſchwächen, fondern würde fie Harer machen und mehr aufdas Wefent- 


liche richten. Die eigentlihen Parteiblätter find — Überladen mit nothwendiger 
täglicher Polemik — weniger geeignet, Dies Berjtänbniß zu vermitteln. Wenn bie 
„Zukunft“ nicht ganz fo allgemeine Tribüne für alles Sagenswerthe geworben ift, 


fo febe ich darin eine dolge ber politiſchen Rückſtändigkeit Deutſchlands.. 


Ich empfehle mich Ihnen mit beſtem Gruß 
Wolfgang Heine. 

Ein paar Tage danach verplauderten wir faſt vier Stunden; wir waren 
allein und ſprachen beinahe ausſchließlich über den parlamentariſchen Zoll⸗ 
hader und über die Ausil ten des Wahllampfes, die Heine — und mit ihm 
wohldie Mehrheitjeiner Fraktiongenoſſen — feiner Barteinicht fo günftig fand 
wie ich. Gut verbrachte Stunden, dachte ich auf dem Heimmeg. Und ſchon 
am erjten Mai empfing ich einen Brief, der mit dem Sat ſchloß: 

Ich hoffe, balbiwieber einmal Gelegenheit zu haben, ein paar Stunden 
in fo angenehmer Weiſe wie neulich mit Ihnen zu verbringen... Mit ergebenften 
Grüßen Wolfgang Heine. 

Immerhin: von Mai bis September kann Vieles ſich ändern. Alfo 
noch eine Stelle aus dem Brief vom zwanzigften Auguft 1908: 

Seit Monaten wäre ich gern wieder einmal mit Ihnen zufammen- 
getroffen... Sch möchte Sie bitten, wenn es Ihnen möglich tft, mir in ber 
nächſten Woche einen Abend zu ſchenken. Ich verreife am Neunundzwanzigften 
und komme vor dem Parteitag nicht wieder hierher... Mit beiten Grüßen 
Ihr ergebenfter Heine. 

Diefer freundlichen Aufforderung folgte in der letzten Auguſtwoche 
ein langes Gefpräh. Das Thema — wir waren wieder allein — bot ſich 
von jelbft. Der alles fraftionelles Erwarten weit übertreffende Wahlfieg 
der Sozialdemokratie, die Unterftrömungen des PBarteilebens, die Frage, ob 
ein Genoffe um den Preis höfiſcher Repräſentation ins Reichstagspräfidium 
eintreten jolle — eine Frage, die, darin ftimmten wir völlig überein, beant- 
wortet und abgethan war, ſeit Bernfteins Unklugheit die bürgerlichen Frak⸗ 
tionen zum Widerjtand gereizt hatte —, und der vorausfichtliche Verlauf 
des PBarteitages: dieje und ihnen verwandte Gegenftände wurden befprochen. 
Da mir in einzelnen ſozialdemokratiſchen Blättern nachgejagt wird, ich hätte 
die mir befannten Genofjen angefleht, mich in‘Dresden zu vertheidigen oder 
gar zu verherrlichen, und fei nun wüthend, weil diefer Wunsch unerfüllt blieb, 
ftelle ich hier, al8 ermweisliche Thatjache, feft, daß ich feinen Menſchen gebeten 
habe, mich zu vertheidigen, feinen einzigen. Die Sippe kennt mich eben nicht. 
Zwei Genofjen befchworen, beftürmten mid), an Vollmar zu ſchreiben oder, 
wiederholter Einladung folgend, zu ihm an den Walchenfee zu fahren; 





10 Die Zukuuft. 


fie belamen die Antwort: Ich bettle nicht um Hilfe und denke nicht im Traum 
an bie Taktloſigkeit, jegt, mitten in der gegen mich tobenden Hetze, Herrn und 
Frau von Vollmar ins Haus zu fallen. Auch Heine habe ich nie erfucht, für 
mich zu fprechen. Als er mich fragte, ob ich ihm gejtatte, einen Vorgang zu 
erwähnen, der allein ſchon beweiſe, daß ich fein Feind der ſozialdemokratiſchen 
Sache fei, habe ich erwidert: Berfönlich habe ich nichtSdagegen, bitte Sie aber, 
zubedenten, daß ſolche Erwähnung dem Preſtige Ihrer Bartei jchaden würde. 
Er felbft nannte e8 feine „Ehrenpflicht”, für mid) einzutreten; und dabei 
ahnten wir Beide nicht, daß ich in Dresden nicht als angeblich blinder Gegner 
ber Proletarierpartei angegriffen, ſondern als Menſch für ehrlos verfchrien 
werden follte. Wir fchieden, nicht etwa als Freunde nod) auch nur als Gleich» 
gefinnte, aber intimer denn je vorher, als Männer, die einander achten und 
vertrauen und deren Jeder gern fein Fühlen und Wollen am Urtheil des An⸗ 
deren.mißt. Heine reifte ab; und fprach in Dresden die Süße, bie ich hier 
wiederholt habe. Und als er fie gejprochen, jede nähere Beziehung zu mir, 
jedeenntniß meines Charakters verleugnet, feinWortgegen Bebels Schimpfs 
rede gefunden und nur feinen Abfcheu vor meiner ihm widrigen Schreibart 
betont hat, jett er fich, in von Arbeit überlafteten Tagen, hin, macht ſich die 
Mühe, den Bericht des „VBorwärts" auszujchneiden, die einzelnen Stückchen 
fäuberlicy auf weißes Papier zu Eleben, zu forrigiren, zu interpoliren, und 
ichieft mir das Ganze, — „mit beiten Grüßen“. 

.. In dieſer eklen, jinnlojen Fehde find fo rohe Wortegefallen, von allen 
Seiten fo ſchrille Töne des Hafjes und der Verachtung angejchlagen wor⸗ 
ben, daß ich jeden heftigen Ausdruck meiden möchte. Die Thatjachen fprechen 
ja auch für fich felbft. Hat irgend ein Genoſſe im Trianonjaal die Art meis 
ner Beziehungen zu den Bernhard, Braun, Göhre, Heine geahnt, fonnte er 
fie nad) ihren Reden ahnen? Keiner. Die Bier, hier fteht es noch einmal, ha- 
ben ſich zu Unwahrhaftigkeit und feigem Verrath erniedert. Warum? „Weil 
fie vor der Wuth der aufgeftachelten Maſſe zitterten. Weil der alte Meifter- 
demagoge Jedem, der für mich auch nur ein armes Wörtchen rede, graufe 
Mache ſchwor und die Macht hatte, jeden Widerfpruch niederheulen und mit 
der Erlommunifation ftrafen zu laſſen.“ Solches Handeln hätte ich gerade 
Heine nicht zugetraut. Sch habe ihn nicht: er Hat mich gefucht; fein, nicht 
mein war Berdienft oder Schuld daran, daß wir einander jchnell nah 
famen, auf dem weiten Felde politifchen Lebens bald faum ein Geheimniß 
vor einander hatten. Noch jehe ich ihn, wie er, beim Abfchied, mit einem 
Lächeln ſtolzer Geringſchätzung auf dem hellen Geficht, fagte: „Dresden wird 


nt, - 


Bebel und Genoffen. 11 


mich in die jelbe Situation bringen, in der ich jchon oft auf Parteitagen war: 
man wird mich als Angeflagten behandeln und ich werde Ankläger fein.“ 
Und wie kläglich ftand er dann vor der heulenden Schaar Betrogener! Er 
wollte fich retten und brachte fich jelbjt um den Preis mühpoller Lebensar⸗ 
beit. Und in puncto „Zukunft“ wenigftens war der Ausweg doch leicht zus 
finden. Ich hatte nichts von ihm verlangt. Er brauchte mir nur zu fchreis 
ben: „Bebel ift bis zur Tobfucht aufgehegt und fein Berdienft umdie Partei 
jo groß, daß im Augenblick nichtS zu machen ift. Ich werde fchweigen, weil 
ich durch Reden wichtige Intereſſen unferer Gruppe gefährden würde, die 
fich, Sie wiſſens, nad) fchöpferifcher Arbeit fehnt. Vertrauen Sie mir. Ber- 
trauen Sie Bollmar. Bebelwird ſelbſt über ein Kleines erkennen und bekennen, 
daß er getäuſcht worbenift.” Ich hätte ihm feinen Vorwurf gemacht, hätte fein 
Berhaltenfogargebilligt. Denn eine Partei von der jungen Kraft, dem weltge⸗ 
ſchichtlichen und kulturellen Werthe der Sozialdemofratie darf fich den Luxus 
erlauben,einmal ungerechtzufein. Anftändiger freilich, füger und — bie jegige 
Anarchie, der Schimpflrieg im rothen Lager lehrt e8— mit befferem Nuten 
für die Barteifohäfion hätte Heine gehandelt, wenn er tapfer genug gewejen 
wäre, umzufprechen: „Barden hatgroße Fehler und ein höchftmangelhaftes 
Berftändnißfür Zielund Taktikunſerer Bartei. Docher iſt kein Feind, fondern 
bat in allen entjcheidenden Stunden bewiefen, daß er den fittlichen und na» 
ttonalen Werth unferer Sache erfennt und allgemein anerkannt wifien will. 
Sollen wir, die vor Staatsanwalt und Gericht täglich das Recht zu ſchroff⸗ 
fter, perfönlich verlegender Kritik fordern, uns lange beider Frage aufhalten, 
ob er maljeine ſatiriſcheLaune nicht früh genug gezügelt, ein unfer Gefühl krän⸗ 
kendes Wortgewählthat? Statt uns zu freuen, daß er vielhöheren Gewalten, 
viel mächtigeren Perfonen unendlich viel härtere Wahrheit zu fagen gewagt hat, 
— bie härteftenda, woer für unſer Lebensrecht focht ? Bebel kennt ihn nicht; ich 
und ein paar meiner Freunde hierim Saalkennen ihn und wiſſen feit Jahren, 
daß er ſtets, auch wo er uns auf falſchem Weg Scheint, nur dem ‘Drang reinen 
Wollens folgt. Left, waserüberdieBerathung des Bürgerlichen Gefegbuches, 
ber Umfturzvorlage, des Zuchthausgeſetzes, über den löbtauer Prozeß, Lieb» 
knechts letzte Verurtheilung und Tod, die bielefelder, berliner, breslauer, 
efjener Reden des Kaifers, was er eben erjt über unjeren Wahlfieg und die 
Bicepräfidentenfrage gejchrieben hat; oder left3 auch nicht, wenn Ihr Beſſe⸗ 
res zu thun habt. Dann aber richtet auch nicht, fümmert Euch nicht um den 
Dann, der von uns nichtS begehrt hat, nie Etwas begehren wird, und laßt 
ung endlich zu ernfter Arbeit für das Volk der Armen und Aermiten über- 


12 . Die Zukunft. 


‚gehen, das uns hierher gejchict hat.” In einem Saal, wo Segik und Elm, 
Legien, Hue, Bömelburg und andere tüchtige Männer faßen, hätte folche 
Rede ficher gewirkt; und der Bartei Beihämung, Zerrüttung erjpart, eine 
Schlammfluth, deren Schmutzſpur nicht leicht abzufpülen fein wird. Haftig 
‚aber drängte Heine fich in den Lichtglang der Majorität; nicht mehr Ankläger 
wollte ernun: nurnoch Entjühnter, Begnadigter fein. Er hat fo Vieles ge- 


Iefen, mehr wahrjcheinlich als, außer Sello, irgendein berliner Anwalt ;gemwiß . 


auch einmal die Gedanken Wolfgangs des Größten über „Naturwiffenichaft 
im Allgemeinen”. Schade, daß erdie nieveraltende Stelle nicht angeftrichen, 
feinem politischen Wandel nicht al8 Motto gefett hat: „Nichts ift wider- 
wärtiger als die Majorität; denn fie beiteht aus wenigen Träftigen Vor⸗ 
gängern, aus Schelmen, die ſich alfomodiren, aus Schwachen, die ſich aſſi⸗ 
miliren, und der Maffe, die nachtrolft, ohne im Mindeften zu willen, was 
fie will.” Doppelt ſchade, für ihn und für mich, daß er durch fein Handeln 
mich zwang, eines heftiger fühlenden deutichen Dichters zu denken und unter 
das mir lieb gewordene Bild. des Politikers Wolfgang Heine vor meines 
Geiftes Auge Kleiſts Worte zu ſchreiben: „So kann man blondes Haar und 
blaue Augen haben und dod) jo falſch fein wie ein Punier!“ 

Kleifts blonder Held trog zu hohem Zweck: er wollte jein Volt befreien 
und durfte dem fremden Bedrüder den Zreufchwurbrechen. Auch der Cheruss 
fer des dritten berliner ReichStagSwahlfreijes wollte ein allzu ſchwer ges 
wordenes Joch abfchütteln ; auch er brach die Treue nicht ohne geheimen Grund 
und meinte wahrjcheinlich, er ftehe, al8 Staatsmann, unter anderem Moral⸗ 
gejeg als ein winziger Wochenmonomachos, der die Maffe nicht hinter fich 
hat und, nad) alter Entſcheidung des höchiten Gerichtshofes, zur Wahrneh- 
mung öffentlicher Intereſſen nicht berufen ift. Nach Allem, was ich aus feinem 
Deunde gehört habe, muß ich annehmen, daß Herr Heine auf dem weiten 
Erdenrund feinen Bolitifer jo inbrüftig haft wie feinen Parteigenoffen Franz 
Mehring; heute haft, morgen verachtet, immer als eine Laſt und Pön, einen 
unerträglichen Alben empfindet. Solches Gefühl ift Leicht zu begreifen. Daß 
jederVerſuch jcheitert, von unfruchtbarem Marriftengroll, von thatlojer und 
unwirkſamer Negation des hiftorifd gewordenen Staatsweſens die Bartet 
zu jchöpferifcher, den fozialen Aufftieg, den Machterwerbder Maſſen befchleu- 
nigender Arbeit im Sinn der Gewerkſchaften zu führen, iſt Mehrings Schuld. 
Marx Eonnte lächelnd fprechen: Moi, je ne suis pas Marxiste; er hätte, 
mit feiner Gabe genialer Intuition und raſcher Synthefe, als Erfter ineiner 
gewandelten Welt die Modernifirung ber Taktik empfohlen. Mehring war 


— — 


— 


=‘ 


Bebel und Genoifen. 13 


Sozialdemokrat, wurde Sozialiftentöter, dann wieder Sozialdemofrat; in 
fo Heiffer Lage muß man orthodog fein, darf man nicht um Fingers Breite. 
vom Dogmenweg weichen. Mehring hat viel auf dem Kerbholz. Niemand 
hat die Führer der erwachfenden Bartei wüfter als er bejchimpft, Niemand 
härtere, graufamere Mafregeln gegen fie gefordert. Unerbittlicher Eifer joll 
die Erinnerung daran aus der Gedäcdhtnißfurche roden. Konvertiten find 
fast ftets Fauatiker; und gar Einer, der zweimal, unter Manchem verdächtigen 


. Umftänden, den Glauben gewechjelt hat! Wenn Mehring nicht nur Marxens 


Haar und Bart, fondern auch Marrens Hirn hätte, wäre er vielleicht der 
Paulus des demokratiſchen Sozialismus geworden, derprovidentielle,derjacht 
faulenden Partei nachgerade unentbehrliche Mann, der das enge, lichtloſe, kei⸗ 
ner geſunden Entwickelung fähige Sektenbekenntniß zur Weltreligion erwei⸗ 
tert, zueinem Menſchliches menſchlich ſehenden Evangelium, mit dem ſich auch 
ohne Engelsflügelchen leben läßt. Aber der vorzügliche Journaliſt war nie 
ein Finder neuer Wahrheit; ſelbſt ſeine Bewunderer können keinen ſtarken, 
vorwärts weiſenden Gedanken nennen, der ihrem Götzen als Eigen gehört. 
So muß der einſt Vervehmte ſich meiſt mit geringerer Arbeit begnügen, Tem⸗ 
peldiener und Straßenkehrer, Bravo und Schinder ſein. Wehe Jedem, den 
er auf Nebenpfaden ertappt, fern von dem rechten Weg, der — endlos, un⸗ 
abſehbar endlos — zur Expropriation der Expropriateure, zur Diktatur des 
Proletariates führen fol! Er iſt ein verlorener Dann und wird in einem 
an Marxens Heinen, auch als Leiſtung kleinen und als Mufter nicht zu em⸗ 
pfehlenden Schriften geſchulten Stil ſo unbarmherzig zerbläut, daß er ſich 
in der Sonne nicht mehr ſehen laſſen kann. Allen iſts ſo ergangen, die von 
einer zeitgemäßen Reviſion des veraltenden Marxiſtenprogrammes träumten 
und ſchüchtern anzudeuten wagten, das Kommuniſtiſche Manifeſt habe heute, 
nach fünfundfünfzig Jahren, nach Darwin und Wallace, nach völliger Um⸗ 
geſtaltung allerLebensbedingungen, des Verkehrs, Waarentransportes, Geld⸗ 
weſens, der Fabrikation und politiſchen Expanſion, nach der zweiten, für die 
Weltwirthſchaft wichtigeren Entdeckung Amerikas, nach dem Schwinden 
europäocentriichen Wahnes, habe jetzt nur noch hiſtoriſchen Werth. Ein hüb⸗ 
ſches Schauſpiel, daß ein Einzelner, ein ſo ſündiger, oft geſtrauchelter Menſch, 
der nicht reden, nicht kandidiren darf und immer, ein Holſtein der rothen 
Diplomatie, im dunkelſten Hintergrund bleiben muß, Leute wie Auer, den 
ſtaͤrkſten Kopf, und Vollmar, die lichteſte, lockendſte Mannesgeſtalt der Partei, 
Jahre lang in Schach halten, verärgern, von aller Initiative wegekeln kann. 
Daß die Führer der Gewerkſchaften, der Nährer und Blutbildner des käm⸗ 


14 Die Zukunft. 


pfenden Sozialismus, feine Aussicht Haben, ſich vor dem endgiltigen Ban⸗ 
Terott der Nichtsalspolitiker zur Geltung zu bringen, weil ein vonder Partei 
bußfertigin Gnaden aufgenommener,von der Bartei bezahlterScharfichreiber 
ſolche Geltung nicht will. Daß drei Millionen mündiger Männer an bie 
Urnegetrieben wurden, bamitdie Stahlfedertyrannis des Genofjen Mehring 
fortan noch feiter begründet fei. Iſt in Alledem nicht die felbe feige, bequeine 
Kraftloſigkeit ſpürbar, die ſelbe Sucht, um jeden Preis fchnell die Maſſen⸗ 
gunft zu erfchmeicheln, die jelbe Korruption, die in Dresden zu Tage trat? 
Den Helden des Kneipenkonventes konnte ich das Wort des Sieyeszurufen: 
Ils veulent ötre libres etnesavent pas&tre justes| Dievon Mehrings 
Feder Geichredten darf der Monarchiſt fragen: Fluchtet Ihr den Fürſten, 
um Euch von der Hand Eurer Dienftboten fuchteln zu laſſen? 

Genofje Mehring ift auch mitſchuldig daran, daß Genoffe Heine in 
der Bartet nicht die Rolle fpielen kann, die feiner Bildung, der Flinkheit feines 
Geiftes gebührt. Hinc illae lacrimae. Ein Weifer aus Morgenland hat 
einst gewarnt, ſich mit Mehring zu verfehden; denn „jo gemein wie Der könne 
doch kein Anderer werden.“ Und Heine empfindet feine konſervativ⸗antiſe⸗ 
mitifche Studentenvergangenheit, fo wenig fie ihn bemafelt, wie eine wunde 
Stelle auf feiner Haut und weiß: gerade indiejen led würde das böfe Fränz- 
hen fein Gift fprigen. Denn Mehring, der ſündenlos Reine, verzeiht Anderen 
niemals einen Geſinnungwechſel, auch politifch Halbwüchfigen nicht, und ift, 
wennnicht alle Zeichen trügen, augenbliclich mit dem für Zeit und Ewigkeit 
und beionders offenbar für feine Partei ungeheuer werthuollen Nachweis be⸗ 
ſchäftigt, daß ich Verruchtefter aller Verruchten anno 1892 „angehender So⸗ 
ztaldemofrat“ war, — gleich nach ber Ausgabe der Apoftata-Bände, in denen 
die Artikel „Nicaea und Erfurt“, „Senofje Schmialfeld”, „BeiBismarda.d.“ 
stehen, in den Sommer: und Serbfttagen, wo ber jelbe Mehring, der Bewun⸗ 
derer meines Charakters, Muthes, Talentes,. mich täglich faft, feine Hand- 
fchrift bezeugt es dem Blick nod) heute, vergebens drängte, von „Nietiche 
und Bismard” zu Marr und Bebel zu jchwenten. Habeat. Zwiſchen 
Heine und Mehring kams aljo nie zu offenem Kampf. Jetzt aber — und 
bier bitte ich, auch ein grobes Wort nicht allzu Did anzufreiden —, jetzt hat 
Heine gegen Mehring aus dem Hinterhalt einen Streich geführt, zu dem er 
die Waffe mir abgeliftet hatte. Das war erbärmlich gegen Mehring, war 
niederträchtig gegen mich gehandelt. Deshalb nannte ich den Genoſſen Heine 
ben Kopf des Wurmes. Und deshalb binich, leider, noch nicht mit ihm fertig. 

Raſch für heute nur ein paar Worte über mein Verhältniß zu Meh⸗ 


Bebel und Benoffen. 15 


ring. Ich habe dem Mann nie das Geringfte zu Leib gethan, nie ihn auch 
nur mit bewußtem Willen gefräntt. Er felbft hat in feiner Brochure „Ka⸗ 
pital und Preife erzählt, daß ich, damals ein darbender Anfänger, ein ganz 
ungewöhnlich artiges Anerbieten bes Verlegers der Bollszeitung mit ber aus⸗ 
drücklichen Motivirung abgelehnt Habe, mit einem Blatte, das durch die Miß⸗ 
handlung Mehrings „diskreditirt“ ſei, wolle ich nichts zu fchaffen haben. 
Das ift für Einen, der nicht für fich allein Brot brauchte, immerhin eine 
anftändige Reiftung und follte Ihm von Dem mindeſtens nievergefien werben, 
dem dieſes — nicht ungeheure, aber fühlbare — Opfer gebracht ward. Mein 
früherer Freund, ber mir fo oftdie Unwandelbarkeit feiner Gefühle bethenert 
batte, ift anderer Meinung. Er hat mir in Brochuren, im „Vorwärts“, 
inder „Neuen Zeit”, trogdem ich Damals dem Soztalismus noch um Meilen 
ferner ftand als heute, Hymnen gefungen und “geben, der mich zu verbächtigen 
wagte, in feiner zierlichen Sprache einen Schuft genannt. Längſt aber bin ich 
ihm zum Schuft geworben; zum größten im ganzen Land. Streber, Lügner, 
Fälfcher, Betrüger, Reptil, Spion, Strolch: es giebt Teinen Schimpf, 
feine Schande, die er mir nicht angejchrieben, angedruct hat; und ich halte, 
feit er in einem Artikel über den Bommernprozeß durch ftete Wiederholung 
meines, nur meines Namens ben Glauben zu wecken verfucht hat, ich, der 
Antläger flediger ournaliften, fei der Angeflagte, Beitochene, Korrumpirte, 
— ich Halte ſeitdem die Wette, daß er fich auch in feiner jest angelündeten 
Schrift nicht mehr zu überbieten vermag. Ich habe gegen diejes kindiſch 
perverje Treiben nie Etwas gethan; mich nur manchmal gefragt, ob der 
Mann nichtam Endeganz einfach wahnſinnig ſei, und öfter, ob er denn wirk⸗ 
Lich vom Gelde deuticher Arbeiter bezahlt werde, um immer und immer wieder 
den für biefe Volksſchicht gänzlich gleichgiltigen Herrn Harben zu ſchimpfen. 
Es muß wohl jo fein; und wenns die Sozialdemokratie nicht blamirt, daß 
in der felben Leipziger Vollözeitung, in der Bruno Schoenlant fo gern 
meine Artikel mit lobenden Gloſſen nachgedrudt und mein Wirken hitzig 
vertheidigt Hat, ich num alle paar Wochen al3 dernier des derniers vor: 
geführt werde: ich habe es fehr gut überftanden und, wiegefagt, nıtr barüber 
geftaumt, daß der Preßapparat einer Millionenpartet der läppifchen Privat» 
rachfucht eined armen Irrſinnigen ausgeliefert ift, den krankhafter Hang 
treibt, zu beſpeien, was er geftern gefüßt hat, und zu küſſen, waser beipie. Bor 
vier Jahren ſchien eine Auseinanderfegung mir unvermeidlich, Mehring hatte 
ein wahres Lügengebirge mit einzelnen Stellenans meinen an ihn gerichteten 


Briefenaufgepugt — eriftdergrößte Birtuofe journaliftifchen Truges und hat 


16 Die Zuhmft. 


für Den, der nur ihn lieft, immer Recht —, ich mußte Ihn mit Stellen aus feinen 
Briefen jchlagen, thats fo fchonend wie möglich und konnte beweifen, daß 
fein ganzes Gethürm zufammengefchwindelt war. Wer fich dafür intereffirt, 
mag das Heft vom vierten März 1899 nachlefen. Natürlich wuchs num die 
Wuth. Ich antwortetenie und frentemich, in meiner Zeitichrift anerkennende 
Kritifen der befferen Arbeiten Mehrings (von Jeutſch und Ernft) veröffent- 
lichen zu können. Aus meinem Abwehrartitel wiſſen die Genofjen und 
Todfeinde Mehrings,daß ich gute Waffen gegen den ihnen fo Kürchterlichen 
habe; wie gute, wiffen auch fie nicht, die nur einzelne Briefe Mehrings und 
feinen Brief Schoenlants kennen. In den erften Tagen diejes Jahres 1908 
bat mich Herr Heine, ihn Mehrings Briefe leſen zu laſſen; ich lich ihmeinige 
und er gab fie nach etlichen Wochen zurück. Ungefähr um die jelbe Zeit kam 
ein neuer Anfall. Diehochnothpeinliche Frage, ob Herr Göhre, Frau Braun, 
Herr Bernhard für die „Zukunft“ fchreibendürften, dieſe für mich, für das 
Wohlergehen meiner Wochenfchrift recht unbeträchtliche Frage wurde vom 
Boliziften Mehring aufgeworfen, vom Erzengel Mehring natürlich ſchroff 
verneint; und abermals das ganze Regifter meiner Ruchlofigkeiten aufges 
rollt. Ein Gerede, andemich ſchuldlos war, mußinder mißtrauiſchen Lakaien⸗ 
feele wohl die Wahnvorftellung gefchaffen haben, ich ftrebe nach Einflußaufdie 
Sozialdemofratie, wolle am Ende gar in die Partei treten. Daß ich nie an 
Aehnliches gedacht habe, nie daran denken werde, brauche ich bier nicht zu 
fagen; und die Genoffen Vollmar, Blos, Heine, Südelum, Bernhard, Braun 
wiffen es jehr genau. Einerlei. Mehring rafte, als ftehe Hannibal vor dem 
Thor. Und nicht minder laut rafte im anderen Lager das ethiſche Pumpgenie 
Heinrichs Braun und jeiner Gehilfin, Gefährtin. „Unerhört!” „Ein Dann 
wie Sie, der jich um die Bartetfo große Verdienfteerworben hat!" „Schmach 
und ram!” Am einundzwanzigften März baten fie mich zum Kriegsrath 


und legten mir ihr „Material“ gegenden Erbfeindvor; biealten Gefchichten: - 


Mehrings gräuliche Verleumdungen der vom Sozialiftengejeß gelnebelten 
Bartei, Sartenlaubenartikel, Hafenclevers Rede, — Alles, was Heinrich der 
Alchemiſt im September jettt dem Parteitag aufgetijcht bat. Le geste était 
beau; und der Endreim war: ichmüfjfedieSachein Fluß bringen. Am Beften 
durch eine Privatllage e / a Mehring. ch war fühl geblieben und mußte num 
lachen. Jetzt plöglich lagen? Zwei Schöffen umdie Feſtſtellung bitten, daß id) 
nicht beftochen bin, da8 Deutfche Reich nicht für Rubelſold verrathen und fogar 
Tafchendiebjtähle und Luſtmorde nur felten verübt Habe? Die lage hätte 
doch nur einen Sinn, wenn ich die Genoſſen als Zeuge lüde und eidlich aus⸗ 


Bebel und Genoſſen. 17 


jagen ließe, was fie von Mehring wiſſen. Das wäre ihnen, die nicht an Ueber» 
fülle trogigen Heldenmutbes leiden, damals noch höchft unbequem gemefen. 
Schwoͤren und ſprechen mußten fie freilich, wenn ich fie lud; doch nur einem 
kurzſichtigen Narren konnte einfallen, die Partei vor die Frage zu jtellen, ob fie 
für Mebring, ihren bewährteften Lanzenknecht, oder für Harden, ihre böte 
noire, optiren wolle. Der Fall Mehring, fagteich in der Uhlandftraßedamals, 
fei fiir mich erledigt; ich wolle den Mann weder aus feiner Stellung noch ing 
Gefängniß bringen und ehre die Erinnerung an eine Jugendfreundfchaft, 
wenn ich ihm ungeftraft fchimpfen laſſe. Das habe ich dem Genoſſen Heine 
und dem Genoſſen Bernhard in ruhigen Stunden wiederholt. Kein perjön- 
liches Intereſſe an, fein Bedürfniß nach einer Abſchlachtung Mehrings; nur 
wenn politifche Pflicht es dringend heiſche, würde ich dem widrigen Handel 
nicht ausweichen. Was kommen ſollte, ſah ich freilich nicht voraus... Herr 
Wolfgang Heineift fein Narr; ein macchiavelliſch gefühlter Kopf. Er wollte 
den ewigen Mehring vom Halfehaben und ſah, als die Zeit ihm erfüllet ſchien, 
jofort ein, daß, wer Mehring zur Strede bringen wolle, Harden der Miente 
preisgeben müffe. Unddas Unbefchreibliche ward num leichten Herzens gethan. 

Das zeitlich legte Urtbeil, das ich vor dem Parteitag bier über Wefen 
und Werth der Sozialdemokratie fällte, hatte ich meinem lieben Junker Moritz 
auf die Lippe gelegt. In feinem am vierten Juli 1903 in der „Zukunft“ 
veröffentlichten Brief an Rinas Schwefterherz fagte er: „Soll durchaus 
(über das Ergebniß der Wahlen) geftaunt fein (wofür ich nicht fehr bin), 
dann darüber: daß ſich daS Centrum, ſammt feinen Arbeiterbatailfonen, 
wider alle Stürme hielt und, noch mehr, daß, nach unverzeihlichen Todfünden, 
einumdfiebenzig Konſervative in den Neichstag zurücklehren konnten. 

Nicht Über das Wahsthum der Sozialdemokratie; nicht eine Minute, 
mefrouw. Nur das Tempo, nicht die Thatjache war zweifelhaft; und dem 
Zempo wurde in den legten ſechs Monaten ja mit Feuereifer von den Spitzen 
der Pyramide her nachgeholfen. Mit Patzke ftimme ich darin überein, daß 
auch die Rothen nicht hexen koͤnnen; nur verlange ich8 gar nicht. Sie gehen 
mir, mit Roheit und Moralpredigerjentimentalität, oft genug auf die Ner- 
ven; Theorie: Jeder ift durch ölonomifche Determination gebunden, Praxis: 
bie Helden, hie Schufte. Und eine gräuliche Rachſucht, der keine Strafe für 
den anders Klafjirten hart, fein Schimpfwort rüde genug ift; Tſchandala⸗ 
reifentiment nennts Nietiche. Aber was wollen folche Kinderkrankheiten, 
was will ſolche Kriegerrauhbeinigkeit (halten zu Gnaden !)gegen bie ungeheure 
Leitung jagen! Die Einzigen, die (faft immer) glauben, was fte fprechen, und 

2 


18 Die Zukunft. 


an den Glauben die Eriftenz oder doch ein Städ davon fegen. Die Einzigen, 
bie den Millionen da unten Nahrhaftes bieten, in dunkle Seelen einen Licht- 
ſchein fenden und... Nur nicht etwa pathetifch werben, Jubelgreis; der Faden 
läuft ohnehin fpät und früh von der Reichsſpule. Alfo ganz fimpel, daß die 
von den Bebellenten geleiftete Boltsbildung, Volkodrillung, Vollsidealifirung 
gar nicht erjegt werden könnte und daß man die Sozialdemokratie (ohne die 
wir auch induftriell nicht an der Spige marjchirten) von Staates wegen er- 
finden müßte, wenn e8 fie nicht |chon gäbe. Da haft DumeinCredo. Heißt: 
ich glaube. Hier aber haperts. Ich glaube nämlich nicht. Glaube nicht, daß 
man mit gleichen Rouſſeaumenſchenrechten und nach Ausfchaltung der Pros 
fitbegierden mit der b&te humaine gebeihlich wirthichaften könnte. Optis 
miſtiſcher Ehriftenwahn; und ſchon den peffimiftifchen, der den Menſchen für 
grundfchlecht, nur in der Hygiene des Leidens erträglich hält und mir des⸗ 
halb näher lag, Ließ ich in Unterprima. Deshalb bin id) fo bedenklich; und 
fozum Heulen unglüdlich, daß ich nicht glaubenların. Sonft, ma mie, hielten 
alle Peers von Preußen und Umgegend mich nicht: ala Gemeiner träte ich 
in die Rotte und wäre ein feliger Mann, — felbft wenn ich.aus ficherem 
Beugniß vernähme, daß achtundzwanzig nachweisbare Ahnen den jchwärzejten 
Theil ihrer noch unzerfreſſenen Leiblichfeit ſargdeckelwärts gewenbet haben. 
Daß es, Edelfte, hienieden mehr Hungernde als Satte giebt, dürfte als 
unbeftritten vorauszuſetzen fein. Ergo müffen, bei gleichem politifchen Recht, 
bie Satten indie Diinderheit kommen, fobald die Hungrigen ihre Kraft kennen 
und ficher find, die freigeäußerte Meinung nichtallzu ſchwer büßen zumüffen. 
Das wußte Bismard;rechneteaberdaranf,daßer die Nation ftetsernfthaft bes 
Ichäftigen Fönneund ein zu hohen Zielen aufblickendes Volk ſich nie in radikale 
Diyftifverirren werde. Heute? Dieunfruchtbarfte, anSchöpfergedanfen ärm⸗ 
fte Politik, die zu erdenken ift; eine Verlogenheit in allem öffentlichen Leben, 
Wie ich fie (nur in Hiſtorie halbwegs beſchlagen) in feiner dem Vergleich zugängi⸗ 
gen Epoche gefunden habe. Dabei ewige Illumination, Fahnen, Schügenfeft- 
ftimmung, — die alte Leier, dieich Dir nicht zu fchlagen brauche. Noch nicht 
Alles: ein Monard), der über die Tendenz der Zeit völlig getäufcht wird und 
nicht heilvoll wirken fönnte, jelbft wenn er noch zwanzigmal begabter wäre. 
Der in feinem Reich ſechzig Millionen Dienfchen befjern und befehren möchte, 
alle Stände, Klaffen, Berufe, während der Moderne nur aus eigenem Er- 
leben nod) lernen will und Präzeptoren höchftens auf dem engjten Gebiet 
threr Sadıverftändigfeit anerkennt. Es geht nicht. So kann heute nicht mehr 
regirt werden, auch nicht vom lauterſten Genie; fo wird de facto nicht in 





Bebel und Genoſſen. 19 


Rußland mehr regirt. Daß kein Kanzler es ſagt, iſt das Schlimmſte vom 
Schlimmen. Und ein Glück, wenn das Volk ſelbſt es wenigſtens mal klar zu 
verſtehen giebt. Drei Millionen wahlmündiger Republikaner im Deutſchen 
Reich. Das iſt nicht zu überhören. Urſache? Die Sozialdemokraten machen 
ſich jelbft und ihren Sieg Fein, wenn fie ihn mit dem Brotwucher motiviren. 
Einen Blifaufdiegiffern. 1881:311961, 1884:549990,1887:763128 
fozialdemofratiiche Stimmen; alflmähliches, dem Vormarjch der Induſtrie 
entfprechende8 Steigen aljo (und 87 kam doch der Fünfmarkzoll). 1888 
Tod der beiden erften Kaifer, Wilhelm der Zweite befteigt den Thron, Biß- 
mards Macht welft und 1890 hat die Stimmenzahl ſich plötzlich verdoppelt: 
1427298. SYebt, im fechzehnten Jahr der Regirungeifernden Wohlwollens: 
vervierfadht; und darüber... Was id) ‚eigentlich dazu fage‘? Ich war des 
Königs Diener und bin Dein Bruder, Senior und Sklave Morig.” 

Selbft wer die „Zukunft“ nur felten gelejen hatte, wuhte, daß Mo- 
rigens mein Credo war; gewiß nicht das eine8 Sozialdemokraten, dodh, 
fcheint mir, aud) nicht Eines, den man zwei Tage lang und einen halben 
mit Kothklümpchen bewerfen mußte. Hinter der junferlichen Nedeform, die 
den erdichteten Menſchen lebendig machen jollte, ſpürt Jeder, der lefen Tann, 
meine hohe Schäßung der Proletarierpartei, meine Hoffnung auf den dauern⸗ 
. den Werth ihrer Kulturarbeit, meinen Schmerz, ihr nicht gläubigen Her- 
zens anhangen zu fönnen. Wenn diefe Partei wirklich, wie ihr Führer be- 
bellte, nie ſchlimmer gefcholten ward als von mir, mag fie frohloden. Unter 
Perftändigen galt bisher das legte Urtheil, das Einer fpricht, für das eins 
zige, daS er zu verantworten hat. Warum framte man elf Jahre alte Sati- 
ren aus, ftatt ſich an diejen Artikel zu halten oder an die im zweiten Auguft- 
heft veröffentlichte Notiz, die über den rothen Neichstagspräfidenten Ipricht 
und den Genoſſen Bebel mindefteng eben fo gut wie den Genofjen Vollmar 
behandelt? Warum ward der tote Joeſt über Sibirien, nicht der lebende 
Sombart citirt, dejjen kluge Verherrlichung Marrens und Engels’ fein an- 
dcres „bürgerliches" Blatt gebracht hätte? Warum der ganze Yärın? 

Ein nicht ſchlecht gejchriebener Artikel des Kieler Sozialiftenblattes, 
der mir vorgeflern ins Haus gefchieft wurde, giebt die Antwort. Da fteht: 
„Die ‚Zukunft‘ Hat oft auch Befinnung genug gehabt, um die Verdienfte 
und die Bedeutung der Sozialdemokratie in einem Maße anzuerkennen, wie 
es ſonſt fein bürgerliches Blat that ... Der ‚Zukunft‘ ift Unrecht gejchehen 
... Aber freilich: jo lange ber Verdacht befteht, daß Harden das Gift Fochte 
unddie Waffen ſchärfte, mit denen Bernhard ſchoß und die Debatte vergiftete, 

g* 


20 ‘ Die Zukunft. 


kann maneseiner foehrlichen und zugleich jo iimpulfiven Natur wie Bebel nach⸗ 
fühlen, wie e8 kam, daß er die ‚Zukunft‘ fo in den Vordergrund ſetzte.“ Ein 
nettes Verfahren. Wenn der Kaiſer die Führer des Proletariates Verführer 
und Mörder fchilt, bäumt fich Bebel in Krämpfen und jchmettert im Dro- 
metenton, ein Öffentlich Wirkender dürfe nicht jähen Impulſen folgen. Wenn 
Bebel, auf bloßen Verdacht hin und auf Grund alberniter Fälfhung, einen 
. Menjchen verruft, verbrülft, ifter ein ehrlicher Mann, eine impuljive Natur 
und frifchen Lorbers würdig. Mag fein. Ich habe weder Zeit noch Luſt, 
„Gift zu kochen“, das den Herrn Mehring umbringen fol. Ich glaube nicht, 
daß er da, wo er fich jetzt alternd verwurzelt hat, umzubringen ift, wünſche 
e3 auch gar nicht ; jo weit geht, liebe Xeute, meine Sorge um das Gedeihen 
der Sozialdemofratiedenn doch nicht. Der Thatbeftand ift ganz anders. Arm 
neunten September veröffentlichte der Genoffe Mehring gegen mid) einen 
feiner pugigften Tügenartifel, den er dann in vierhundert Exemplaren dem 
Parteitag zuſchickte; der alte Kohl, den Bebel, wie fich gehört, eifrig repetirte.. 
Am elftenSeptember fand ich heimkehrend ein Telegramm aus Tegernfee. Hier 
der Wortlaut: „Sendet mir damals anvertraute Originalbriefe Sonnabend 
Dresden Hotel AlbertShof. Heine.” Sonnabend? Die Verhandlungen follten 
erft Montag beginnen. Nicht nur deshalb mußte ich annehmen, Heine wolle die 
Parteigeronten zufammenrufen und ihnen jagen: „Dier.der Beweis für die 
tolle Pſeudologie dieſes Mannes; penjonirt ihn oder laßt ihn wenigftens ein - 
paar Monate von einem Piychiater beobachten 1" Ich nahm, was ich rafch 
fand, jchickte es nach Dresden und erjuchte um fchleunige Rüdfendung, fo- 
bald Heine dieBriefe nicht mehr brauche. Er hat fie nicht gebraucht, hat fie 
einfach, ohne mich auch nur zu fragen, dem Genoſſen Bernhard gegeben, ber 
damit fein häßliches Heldenjtüd wider Mehring verübte. Bon Alledem wußte, 
ahnte ich nichts. Nach zehn Tagen, nach zwei Schroffen Depefchen, die Heine 
fehr unfanft an die Pflicht zur Rückſendung mahnten, hatte ich endlich mein 
Eigenthum wieder in Händen... Darüber wird nod) Einiges zu jagen fein. 

„Hardens Verfahren fpricht aller Sittlichkeit Hohn”: fo ungefähr 
ftands in Dutenden rother Blätter. Natürlich: wer nachts überfallen wird, 
foll die Waffe, die einzige, die er hat, in der Tajche behalten und fittiam ſich 
meucheln laffen. Was ging Eure ſchmutzige Wäſche mid) an? Warum famt 
Ihr zu mir? Ich lud Euch nicht, ſchwatzte Euren Aerger nicht aus. Jetzt habt 
Ihr verſucht, Euren Unrath auf dieArbeit abzuladen, der, mag fie gut oder 
Schlecht fein, feit elf Jahren jeder meiner Athemzüge gehört. Deshalb fchlage 
ich Euch den nicht nach Myrrhen duftenden Eimer aus der Hand und zeige, 
daß ich mid) rein hielt und daß Eure Unjauberfeit himmelan ſtinkt. 


uaras 


BR | 
Geſchlechtliche Fortpflanzung. 21 


Befchlechtliche Sortpflanzung. 


BD‘ Fortpflanzung ift entweder ungefchlechtlich oder gefchlechtlih; im 
erften Fall beruht fie lediglich auf der Zelltheilung, im zweiten Fall 
anf einer Verbindung von Zelltheilung und Zellverfchmelzung. Die unge 
fchlechtliche Fortpflanzung ift am Leichteften bei den einzelligen Organismen 
zu verftehen; die Belltheilung Liefert hier Probufte, deren jede der Mutter⸗ 
zelle gleicht. Über auch fie macht bereit8 dem Verſtändniß Schwierigkeiten 
bei der Fortpflanzung der mehrzelligen Organismen. Denn hier muß gleich- 
fam die gefammte Struktur des mehrzelligen Organismus eine Reduktion 
erleiden oder in eine einzige Belle, die Fortpflanzungzelle, hinein zuſammen⸗ 
gepreßt werden, um als Anlage für die Entwidelung eines mehrzelligen 
Organismus von gleihem Bau zu dienen. Damit thut fi da8 große Pro⸗ 
blem der Vererbung auf, das einer eigenen Betrachtung bedarf. Laffen wir 
diefe bier als bloße Thatſache gelten, die und auf Schritt und Tritt in ber 
Natur begegnet, fo entfteht die weitere Frage: Warum hat es nicht bei der 
ungefchlehtlihen Fortpflanzung fein Bewenden und warum fehen wir in 
den höheren Pflanzen und Thieren faft ausnahmlos die ungefchlechtliche Fort 
pflanzung durch eine gefchlechtliche erfegt? Mit anderen Worten: Welche 
Vortheile erreicht die Natur durch die gefchlechtliche Fortpflanzung, die fie 
durch die ungefchlechtliche nicht auch erreichen könnte? 

Dreierlei zeigt ung die Beobachtung als Wirfung der gefchlechtlichen 
Tortpflanzung: 1. Die Befruchtung giebt dem Ei einen äußerſt kräftigen 
Entwidelunganftoß; 2. die Begattung artgleicher Individuen Töft die Ab- 
änderungneigung innerhalb des Arttypus aus, die Kreuzung artungleicher 
Individuen erregt eine Bariationtendenz überhaupt; 8. die Begattung inner 
halb der Art wirft als Ausgleich auf alle Bariationtendenzen, die den Art- 
typus bei einzelnen Individuen abzuändern ftreben, dient alfo als Mittel, 
um die Beftändigkeit des Arttypus zu fihern, oder al8 Regulator der Konftanz. 

Unbefruchtete Eier von zweigefchlechtlihen Pflanzen: und Thierarten 
bedürfen eines Reized, um in die Entwidelung einzutreten. Als folche Reize 
fönnen bei Feuerbohnen fehr verdünnte Löſungen von Pflanzenalfaloiden 
dienen, bei Seidenfpinnereiern Schwefeljäure, bei Froſcheiern Sublimatlöfung, 
bei Seeigeleicrn Chlormagnefiumlöfung oder wäſſeriger Spermaertralt, der 
nicht8 von den Formbeftandtheilen der Spermienferne enthält. Wie fehr das 
Eindringen einer Spermie in das Eiplasma noch vor der Berührung des 
Eilernes auf diefen al3 Reiz wirkt, fieht man an den lebhaften amöboiden 
Bewegungen, in die er geräth. Bon den unbefruchteten Eiern parthenoge- 
nnetifcher Schmetterlinge bleibt immer ein großer Theil unentwidelt, während 
die befruchteten fich faft alle entwideln. Bei gewiffen Schmetterlingen (Liparis) 


® 
22 Die Zukunft. 


entwickeln ſich unbefruchtete Eier nur .bi8 zum Raupenftadium und die durch 
fünftliche Reize zur Entwidelung veranlaßten Wirbelthiereier gelangen zu 
feiner vollftändigen, abjchließenden Entwidelung, fondern bleiben früher oder 
fpäter auf einer unvollendeten Stufe ftehen. Der Reiz der Befruchtung 
ſcheint alſo Eräftiger zu wirken als der künftliche. In manchen Fällen fcheint 
die Befruchtung nöthig zu fein, um dem Ei als Reiz für den Abſchluß 
feiner Reifung zu dienen, durch den es erſt befähigt wird, in den Furchung— 
borgang einzutreten. 

Der Reiz der Spermie auf das Ei ift feinen Grade nad) davon ab— 
bängig, daß beide zwar gleichartig, aber doch bis zu einem gewiffen Maße 
verfchieden find. Selbftbefruchtung einer Pflanze wirft als ein geringerer 
Reiz als Befruchtung duch den Blüthenftaub eines anderen artgleichen In— 
dividuums. Kreuzung von einander nicht zu fern ftehenden Raſſen der felben 
Art wirkt als Auffrischung, während Inzucht die Raffe träg dahindänmern 
läßt und um fo ſchädlicher wirkt, im je engerem Sreife fie ſich vollzieht. 
Rein erhaltene Stänme und menfcliche Berufsftände werden fchmerfällig, 
fonfervativ, paſſiv; gefchichtliche Lerftungen gehen immer von Stämmen und 
Ständen aus, die durch Blutmifhung in einen Zuftand erregbarer Aktivität 
verjett find. Aber die zu Freuzenden Raſſen dürfen einander auch wieder nicht 
zu fern ftehen, fonft nimmt der Entwidelungreiz der Befruchtung wiederum ab; 
Das jieht man ſchon bei der Kreuzung fernftehender Menfchenraflen, noch 
mehr an der Unfruchbarkeit der meiften artungleichen Berbindungen oder doch 
der aus ihnen entfpringenden Baftarde. Das Marimum des Reizes liegt bei 
einem beftimmten Optimum der Aehnlichkeit und Verfchiedenbeit. 

Weil jeder Entwidelungreiz auch als Reiz für gefteigerte Entfaltung 
ber Lebensthätigfeit dient und jede gefteigerte Entfaltung der Lebensthätig- 
keit ſich als Verjüngung barftellt, Hat man auch wohl die Befruchtung als 
ein Mittel der Verjüngung bezeichnet. Gewiß mit Recht, fofern man unter 
Berjüngung nichts weiter verftcht als eine in der Entwidelung fich befundende 
gefteigerte vitale Aktivität. Aber der Begriff der Verjüngung verknüpft fich 
leicht mit myſtiſchen Nebenvorftellungen, wie fie in der Sage vom Bogel 
Phönir verbildlicht find, und folche unklare Nebenvorftelungen find unbedingt 
zurüdzumweifen. 

Jeder Gärtner weiß, daß die von ihm oder Anderen gezüchteten Spiel- 
arten durch gefchlechtliche Fortpflanzung (Ausſaat) nicht zu erhalten find, 
fondern der ungefchlechtlichen Fortpflanzung durch Ableger, Stedlinge, Knospen 
u. f. w. bedürfen; fofern aber die Pflanzen zu folcher Fortpflanzung nicht 
geeignet find, muß das Pfropfen oder Okuliren zu Hilfe genommen werben, 
bei dem eine gefchlechtlich entjtandene Pflanze ald Nährboden für die unge: 
fhlechtliche Vermehrung der beitimmten Varietät dient. Die ungefchlechts 


Geſchlechtliche Fortpflanzung. 23 


liche Bermehrung erhält alfo die einmal entftandenen Abänderungen aufrecht, 
die gefehlechtlihe nimmt fie in den Typus der Stammart zurüd. Die erite 
liefert Individuen, die in allen Zügen dem Mutterindividuum möglichſt ge- 
nau gleichen; die zweite dagegen greift auf die ererbten Anlagen der Stamnı- 
art mit allen Abweichungen zuräd, die jemal3 unter den direkten Ahnen der 
beiden Eltern ſchon vorgelommen find. Die erfte hält fih an die Modi— 
fifationen, die das Srimplasma in den Körperzellen des Mutterindividuums 
erlitten Hat; die zweite reduzirt die Leiftungen der Ahnenreihe innerhalb des 
Arttypus auf eine Gefammtanlage, in der zwar der Normaltypus der Stamm⸗ 
art überwiegt, die aber auch allen Fluftuationen des Typus innerhalb feiner 
Grenzen Spielraum beläft. 

Blidt man auf diefen Spielraum der Fluktuationen des Typus inner- 
halb feiner Grenzen, jo erfcheint die gefchlechtliche Fortpflanzung als ein Hilfs: 
mittel zur Beförderung der Variation im Gegenſatze zu der ungefchlechtlichen 
Fortpflanzung, die nad) Erhaltung der zuletzt erreichten Abänderung ftrebt. Blickt 
man dagegen auf das Uebergewicht de3 Normaltypus in der Keimanlage und 
die aus ihm folgenden Rüdfchläge aller Spielartennachlommen in di: Stamm: 
art, fo erfcheint die gefchlechtliche Fortpflanzung als ein natürlicher Regu⸗ 
fator der Artlonftanz im Gegenfage zu dee ungefchlechtlihen Yortpflanzung, 
die die Neigung hat, die Arten durch Erhaltung jeder einmal entitandenen 
Barietät in viele Varietäten zu [palten. Aus diefem doppelten Geſichtspunkt 
erflärt fich, daß ein Theil der Biologen die gefchlechtliche Fortpflanzung blos 
als Hilfsmittel der Artenabänderung feiert, während der andere Theil in ihr 
blos den Regulator der Artbeitändigfeit erblidt. 

Es ift wohl zu beachten, daß die Abänderungen, die aus der geſchlecht⸗ 
lichen Fortpflanzung zwifchen artgfeichen Individuen entfpringen, nach unferen 
Erfahrungen ausfchlieglih innerhalb der Grenzen des Arttypus liegen und 
um den Normaltypus herum ſchwanken, aber feinerlei Tendenz zeigen, fich 
fortfchreitend von ihm zu entfernen oder gar zur Entitehung neuer Arten zu 
führen. Sie bilden nur gleichſam den Pendelfchlag ber Bartationtendenz, 
der um die, Nuhelage de3 Normaltypus fchwingt und aus jeder Abweichung 
um fo ftärler in fie zurüdgravitirt, je weiter er ſich von ihr entfernt hat. 
Noch ganz andere Bedingungen und Einflüffe müffen hinzutreten, um an 
die Stelle der flultuirenden eine progrefiive Variation zu ſetzen, Das heißt: 
um eine Art in eine andere umfchlagen zu laſſen; die Variation der geſchlecht⸗ 
lichen Fortpflanzung durch artgleiche Individuen allein ift dazu ganz unfähig. 

Nur wenn artungleihe Individuen fih Freuzen, Fönnen neue Arten 
entjpringen, die einige Merkmale der einen Art mit einigen Merkmalen der 
anderen Art verbinden, vorausgefegt, daß die Baftardarten fruchtbar bleiben 
und fich durch gefchlechtliche Inzucht fortpflangen. Baftarde haben in ihren 


24 Die Zukunft. 


ererbten Keimanlagen einen weit größeren Bariationfpielraum; denn in ihnen 
addiren ſich nicht nur die Variationfpielräume der beiden elterlichen Arten 
zu einander, fondern zu diefen auch noch der aus dem Abfland beider Arten 
entfpringende Bariationfpielraum, der alle möglichen Kombinationen von 
Merkmalen beider Arten umfaßt. Daher ift e8 kein Wunder, daß ſolche 
Baftarde auch eine viel ftärfere Variationtendenz zeigen als reine Arten. 
Wenn Weismann die feruelle Variation auf die mannichfachen Kombinationen 
der Kernfchleifen in den beiden verfchmelzenden Fortpflanzungzellen zuräd- 
zuführen fucht, fo findet biefe Anficht in der Erfahrung feine Betätigung. 
Denn die Thiere, deren Wortpflanzungzellen eine große typiſche Zahl von 
Kernfchleifen haben, müßten danach viel variabler fein, weil die Zahl der 
möglichen, Kombinationen mit der Zahl der kombinirbaren Elemente fehr 
raſch wächſt; fie zeigen aber thatjächlich Teine größere Bariationtendenz als 
die mit Heiner Kernſchleifenzahl. 

Sole Abänderungen einer Art, die nur in einzelnen ober wenigen 
Eremplaren auftreten, werden durch die gefchlechtliche Fortpflanzung wieder 
ausgeglichen. Denn e8 ftehen den wenigen abgeänderten Exemplaren viele 
des Stammtypus gegenüber; und die aus ſolchen Kreuzungen hervorgehenden 
Nachkommen gewinnen in Folge größerer Lebensfähigkeit und Fruchtbarkeit 
ſtets das Uebergewicht über die Nachlommen, die aus der Inzucht der abge⸗ 
änderten Minderheit entfpringen. Deshalb muß die gefchlechtliche Fort: 
pflanzung dahin wirken, daß nur folche Abänderungen ſich dauernd erhalten 
Können, die in Folge befonderer Reaktionen auf dauernde äußere Reize bei 
einer größeren Zahl von Individuen gleichzeitig auftreten oder die ſich in 
mehreren Generationen gleichartig wiederholen. Abänderungen an einzelnen 
oder wenigen Individuen können ſich nur dann erhalten, wenn ihre Kreuzung 
mit der Stammart durch natürliche oder fünftliche Abfonderung verhindert wird. 

Wäre in der ganzen Natur feine andere Art ber Fortpflanzung als 
die gefchlechtliche zu finden, fo würden wir fehr geneigt fein, die Zellver- 
[hmelzung für eine unerläßliche Bedingung der Fortpflanzung zu halten. 
Jetzt können wir nur fagen, daß für beftimmte höhere Organismenarten die 
Befruchtung unerläßliche Bedingung ber Fortpflanzung zu fein fcheint, weil 
und fofern fie einmal auf diefen Reiz abgeftimmt find. Aber fo wenig die 
kunſtvollen Einrichtungen zur Verhinderung der Selbftbeftäubung bei vielen 
Pflanzenarten Etwas dagegen beweifen, daß andere, oft nah verwandte 
Pflanzenarten mit Selbfibeftäubung dauernd vortrefflich gedeihen, eben fo 
wenig bemeift die weite Verbreitung der gefchlechtlichen Fortpflanzung, baf 
es nicht auch ohne fie geht bei allen folden Arten, die nicht auf den Be: 
fruchtungreiz abgeſtimmt find. 

Bei vielen grünen Algen, bei manchen Phäoſporeen, bei Dictyotaceen, 


on 


Geſchlechtliche Fortpflanzung. 25 


Florideen und einer ganzen Anzahl von Pilzen tritt die gefchlechtliche Fort: 
pflanzung fafultativ, Das heißt: unter beftimmten Umfländen der Ernährung, 
Beleuchtung u. f. w. ein, die man erperimentell heritellen fann. Bei man- 
chen ungefchlechtlich fortwuchernden Algen findet die Bildung der Dauerfporen 


auf gefchlechtlichen Wege ftatt, während bei anderen Algen und Pilzen aud) 


die Dauerfporen auf ungefchlechtliche Weife gebildet werden. Bei den Dia- 
tomeen werden die Uurofporen, die den fortlaufenden Theilungprozeß unter= 
brechen, gejchlechtlich hervorgebracht, bei Melosira und anderen dagegen un: 
geichlechtlih; und zwar bildete Rhabdonema arcuatum die Aurofpören, 


‚ohne je in gefchlechtliche Fortpflanzung eingetreten zu fein, Synedra affinis 


aber unter Berluft der gefchlechtlichen Fortpflanzung. Bei den Infuforien 
genügt eine Befruchtung je nad der Spezies für 135 bis 450 Generationen; 
viele Pflanzen, zum Beifpiel die Farren, leben im Generationwechſel zwifchen 
je einer gefchlechtlichen und einer ungefchlechtlicden Yortpflanzung. 

Es giebt hoch entwidelte Pflanzen mit ungefchlechtlicher Fortpflanzung, 
wie die Laminariaceen, und bei fo hoch entwidelten Thieren, wie die höheren 
Inſekten find, kommt es vor, daß auf die jchon lange befeflene gefchlecht- 
fihe Fortpflanzung wieder verzichtet wird, fei «8 zeitweilig in beftimmten 
Jahreszeiten, fei e3 dauernd für die Produltion eines der polymorphen Typen 
der Art. Um in folchen Fällen die iypifche Sernfchleifenzahl trog ihrer 
Neduktion auf die Hälfte im Ei aufrecht zu erhalten, find befonders kom⸗ 
plizirte Borgänge nöthig, die überflüffig wären, wenn die gejchlechtliche Fort- 
pflanzung unter allen Umftänden feftgehalten würde. Dies Alles fpricht 
dafür, daß noch auf ziemlich hohen Stufen der Organifation die gejchlecht- 
liche Fortpflanzung ganz wohl entbehrlich ift und feine erheblichen Bortheile 
gewährt, die nicht eben jo gut auch ohne fie erlangt werden könnten. 

Wir finden nicht, dag die ungefchlechtlich ſich fortpflanzenden Arten an 
Bariationfpielraum hinter den gefchlechtlich fich fortpflanzenden zurüditänden. 
Wenn wir Arten von etwa gleicher Drganifationftufe betrachten, fo ſcheint 
die Dariationtendenz von der ungeſchlechtlichen oder gejchlechtlichen Forts 
pflanzungweife unabhängig zu fein. Wenn wir zu den Spaltalgen und 
Spaltpilzen binabfteigen, fo begegnet und trog ungefchlechtlicher Fortpflanzung- 
weife eine fo große Wandlungfähigfeit der Arttypen nad) den Umftänden, 
wie wir fie bei gefchlechtlich fich vermehrenden Arten nicht kennen. Doch 
ſcheint auch die Beftändigfeit des Arttypus trog aller um die Norm fluf- 
tuirenden Bariation bei den ungefchlechtlich fi vermehrenden Arten keines— 
wegs fchlechter gelichert als bei denen mit gefchlechtlicher Fortpflanzung, troß- 
dem die erften des Regulators entbehren, den die anderen befigen. Eben fo 
wenig leidet die Fruchtbarkeit bei der ungefchlechtlichen Fortpflanzung durch das 
Fehlen des Befruchtungreizes; gerade unter dem niederen Organismen giebt 


, 26 Die Zukunft. 


e3 viele Arten, deren ganz erflaunliche Bermehrungfähigfeit für einen aus- 
reichenden Entwidelungtrieb der Fortpflanzungzellen ohne Befruchtungreiz bürgt. 

Die Erfahrung lehrt ung, dan zahllofe Arten mit gefchlechtlicher 
Fortpflanzung ausgeftorben find, daß wiederum aber eine große Menge von 
Arten mit ungeſchlechtlicher Fortpflanzung fich behauptet Hat. Das heißt, 
daß die gleichzeitigen Arten mit gefchlechtlicher Fortpflanzung nicht im Stande 
geweien find, fie im Kampf ums Dafein zu verdrängen und fi ganz an 
ihre Stelle zu ſetzen. Und Dies gilt nicht bloß für Arten fehr verfchiedener 
Drganifationftufen, die überhaupt kaum mit einander in Wettbewerb treten, 
fondern aud für einander nah ftehende Arten, von denen die einen die un- 
geichlechtliche Fortpflanzung noch beibehalten oder die gefchlechtliche wieder 
aufgegeben haben, die anderen zur geichlechtlichen Fortpflanzung übergegangen 
und bei ihr fehen geblieben find. Wir dürfen daraus fchliegen, daß jede der 
beiden Fortpflanzungarten ungefähr da8 Selbe leiftet für Organismen, bie 
auf fie eingerichtet find. Für Arten, die auf die ungefchlechtliche Fortpflanzung 
eingerichtet waren, konnte demnach die gefchlechtliche Fortpflanzung erft recht 
feinen Bortheil im Kampf ums Dafein gewähren, da fie nicht einmal den 
auf fie eingerichteten Arten einen Selektionvortheil verſchafft. Die Selektion 
konnte alfo auch feinen Beitrag liefern zur Begünftigung und Befeſtigung 
der gefchlechtlichen Fortpflanzung bei ihrem erften Auftreten inmitten bon 
lauter folgen Arten, die fich ungefchlechtlich fortpflanzten. 

Noch weniger ift diefes erfte Auftreten felbft durch Selektion zu er⸗ 
Hären, weil es nicht dur eine Häufung Heinfter Abänderungen, ſondern 
nur durch einen plöglichen großen Echritt in umgekehrter Entwidelungrichtung 
zu Stande kommen konnte. Die gradlinige Entwickelungrichtung des Lebens 
geht auf Zellverinehrung durch Zelltheilung aus; die Zellverfchmelzung aber 
führt da8 Gegentheil davon, nämlich eine Zellverminderung, eine Reduktion 
der bereit3 erreichten Zellenzahl herbei. Sie gleicht dem Zurückweichen eines 
Fußgänger um mehrere Schritte, der feine Wanderungrichtung zeitweilig 
unterbricht und umfehrt, um durch einen Anlauf ein Hindernig auf feinem 
Wege überfpringen zu können. Die Zellvermehrung ehrt jich zeitweilig in 
BZellverminderung um, damit fie dann einen defto üppigeren Schuß in der 
Vermehrung thun kann. Diefer Bruch im gradlinigen Fortgang der Zeil: 
vermehrung, diefe Retardirung durch zeitweilige Umfehrung der Entwickelung⸗ 
richtung ift duch Feine Häufung Heinjter Abänderungen erflärbar. Es kann 
wohl das Zurüdweichen um einen oder mehrere Schritte ftattfinden; es fünnen 
fi) einzellige Organismen zeitweilig ohne Subftanzaustaufch aneinanderlegen 
und fi blos dynamisch anregen; oder ihr Plasma zeitweilig mit einander 
verfchmelzen ohne SKernverfchmelzung und ſich dann wieder trennen (Plaſto⸗ 
gamie); oder endlich auch ihre Kerne verfchmelzen und zu einer Zelle ver: 


— —— — 





Geſchlechtliche Fortpflanzung. 27 


bunden bleiben. Aber jeder dieſer Schritte läuft der normalen Entwidelung- 
rihtung zumiber und bedarf deshalb befonderer Erklärung. Belltheilung- 
produfte können ihre Trennung fufpendiren, um einen mehrzelligen Organis- 
mus zu bilden, aber jie verfchmelgen weder mit einander noch wirken fie auf 
einander al3 Zelltheilungreiz. Zellen verfchiedener Herkunft pflegen einander ab- 
zuftoßen, aber nicht anzuziehen und in feinem Fall verfchmelzen fie mit einander 


. Selbft gleichartige Fortpflanzungzellen verfchiedenen Gefchlechtes haben nur 


eine kurze Reifezeit, in der jie verfchmelgen, und gehen nach unbenugtem 
Ablauf diefer Reifezeit bald zu Grunde. Dies deutet eben fo wie der periodifche 
Eintritt der Neifezeit für eine oder mehrere Fortpflanzungzellen in einem 
Organismus darauf Hin, dag die zur Verfchmelzung führende Anziehung 
Ergebniß befonderer maſchineller Vorkehrungen ift. 

Wenn wir nun doch die geſchlechtliche Fortpflanzung in den höheren 
Pflanzen und den Wirbelthieren als die allein herrſchende und ſelbſt auf 
niederen Stufen weit verbreitet ſehen, ſo können wir nicht umhin, nach deren 
Zweck zu forſchen, der anderswo liegen muß als in einem Selektionvoriheil. 
Die gefchledtliche Fortpflanzung löſt gewiffe Aufgaben (Entwidelungreiz, 
Bariationfpielraum, Beftändigfeitregulator) auf dem Wege erfennbarer mechanis 
ſcher Hilfsmittel, die bei der ungefchlechtlichen Fortpflanzung zwar auch gelöft 
werden, aber nicht durch uns erkennbare mechanifche Hilfsmittel. Es iſt nicht 
ausgeichloffen, daß auch bei der ungefchlechtlichen Fortpflanzung namentlich 
der höher organijirten Arten ſolche mechaniſche Hilfsmittel beftehen, die wir 
blos noch nicht erfannt haben; aber jedenfalld find fie dann fehr viel ver- 
borgener und zugleich unvollkommener als die durch die gefchlechtliche Fort: 
pflanzung dargebotenen. 

Nun befteht aber der Fortfchritt der Organifation weſentlich darin, 
daß für die befonderen Aufgaben des Lebens immer mehr befondere mechanifche 
Hilfsmittel bereitgeftellt werden. Je höhere und mannichfachere Aufgaben 
das Leben zu bewältigen hat, je verwidelter und feiner feine Leiftungen werden, 
defto nöthiger wird die Mechanifirung des anfänglich autonom Vollbrachten 
durch materielle Strufturen und mafchinelle Vorkehrungen, damit die auto= 
nomen Reaktionen fi immer mehr ausfchlieglich dem Ausbau der Details 
und der Steigerung und Verfeinerung der Öefammtleiftung zumenden können. 
So bedeutet auch die gejchlechtliche Fortpflanzung eine dem Lebensprinzip 
Kraft erfparende Mafchinerie, die auf den niederen und mittleren Stufen 
der Organifation noch entbehrlich ift, auf den höchſten aber nicht mehr. Die 
weite Verbreitung ber gefchlechtlichen Fortpflanzung aud) auf den niederen 
Organifationftufen ftellt fih unter diefem Geſichtspunkt nicht als eine un- 
mittelbare teleologifche Forderung bar, fondern als eine mittelbare Bor- 
bereitung der hier zwar noch ganz wohl entbehrlichen, hier aber auch leichter 


28 Die Zukunft. 


zu präparirenden Maſchinerie für die höheren Stufen, wo fie unentbehrlich 
wird und fchivieriger nachzuholen wäre. 

Wenn die teleologiiche Bedeutung der gefchlechtlichen Fortpflanzung 
für das Pflanzenreich mit diefer Frafterfparenden Wirkung erſchöpft ift, fo 
erlangt fie im Zhierreich noch einen höheren Sinn. Während nämlid) die 
ungefchlechtliche Kortpflanzung im günftigften Fall nur bis zu einer einfeitigen 
miütterlihen Brutpflege führen kann, wird die gefchlechtliche Fortpflanzung 
zur Grundlage der Ehe, der Familie und der gefchlechtlihen Zuchtwahl. Sie 
führt die Gefchlechter durch die Gefchlechtäneigung zufammen und verbindet 
fie durch gemeinfame Brutpflege nicht nur mit ben Jungen, fondern aud) 
unter einander noch enger; fie veredelt den Typus durch gefchlechtliche Ausleſe 
bei der Gattenwahl. So wird fie zur natürlichen Grundlage der wichtigſten 
Semüthsbeziehungen und fozialsethifchen Einrichtungen und wirft an ber 
Berfeinerung und Höherbildung der Artiypen mit. Wenn wir heute noch 
in der Familie und Gefchlechtsliebe die Zelle der Staatenbildung und ben 


wichtigften natürlichen Stüßpunft des Geifteslebens nad der Gemüthsfeite 


bin fehen, jo dürfen wir nicht vergeflen, daß ohme die gefchlechtliche Fort⸗ 
pflanzung in unferer thierifchen Ahnenreihe der Dienfchheit diefe Naturgrund« 
lage ihrer Kulturentwidelung gefehlt hätte, und durfen bie Entftehung der 
geſchlechtlichen Fortpflanzung im Thierreih auch für biefen Erfolg als eine 
teleologifche Vorbereitungftufe in Anfpruch nehmen. 

Großlichterfelde. Eduard von Hartmann. 


Frankreichs Furcht und Hoffnung. 


aan der einzelne Menſch, vom Lebensgang gezwungen, ein gut Theil 
RZ feines Selbftvertrauens aufzugeben und von allen Einbildungen ab⸗ 
zulafien, fich zu einigermaßen richtiger Würdigung feiner Anlagen durch— 
gerungen hat, jo fommt er manchmal dahin, ſich nach der Zeit zurüdzufehnen, 
da fein unberechtigtes Selbftgefühl ihm zwar mehr denn einmal eine zu ver: 
meidende Niederlage zufügte, da aber die Selbftüberfhägung ihm auch 
wiederum eine Unternehmungluft, einen Wagemuth einflößte, an benen es 
ihm num gebriht. Es gereicht nicht unbedingt zum Guten, ſich fo zu fehen, 
wie man ift. Sich zu mehr befähigt glauben, al8 man, ftreng genommen, 
fann, iſt eine Stärke. 

| Wie dem Einzelnen, fo geht e8 auch den Völkern. Freilich bilden 
Nationaleitelfeit und Selbftüberfhägung eine ungemeine Gefahr für fie. 
Wie die Geſchichte lehrt, Tann fie die Neigung, ſich in ſchmeichelnden Illuſionen 
zu wiegen, an den Rand des Abgrundes bringen. Das fah man in Dänes 


1 A. 





Frankreich Furcht und Hoffnung. 29 


mark 1864 und in Frankreich 1870. Das Erſte, was alſo nach einem von 
Illuſionen herbeigeführten Zuſammenbruch nothwendig wird, iſt: die Erfüllung 
der Pflicht, dem Volk die Augen zu öffnen, ihm zu zeigen, daß feine ſcheinbare 
Macht Machtloſigkeit war, ihm ein lebendiges Bewußtſein feiner Schwächen und 
Fehler beizubringen. Cine undankbare, zeitraubende Aufgabe, die fi nur 
unter beftigem Widerftand löſen läßt, aber es ift die nächftliegende, unüber- - 
fpringbare. Iſt fie aber gelöft, dann zeigt fich, daß auch in der nothwendigen 
Verringerung des Selbfigefühles eine Gefahr Liegt, eine faft eben fo große 
wie in ber Einbildung. Denn die Vorftellung, die ein Gemeinwefen, eine 
Menfchengruppe, eine Nation von fich bat, ift eine Kraft im Dienfte diefes 
Gemeinwefens. Der Begriff, den ein, Vol fi über feine Zukunft, feine 
Sendung mad, wirb im hohen Grade mitbeftimmend für diefe Zukunft. 

So dialektiſch ift das Leben eingerichtet, daß die Wahrheit nicht immer 
zum Heil führt. In Renans „Priefter von Nemi* ift bie Hauptperfon ein 
großer Neformator, der fih harmvoll felbft befchuldigt, die Vorurtheile, 
auf denen das Selbftgefühl feiner Landsleute beruhte, gereizt und ausgerodet 
zu haben. Mit ihren Borurtheilen taugten fie allerdings nicht viel; ohne 
ein kräftiges Selbftbewußtfein aber taugen fie gar nichts. 

Ein Boll, da8 der Wirklichkeit wicht ind Auge zu fehauen vermag, 
ift zwar unftreitig der Gefahr ausgefegt, fehr unfanft aus feinen Träumereien 
geriffen zu werden; und wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht 
forgen. Doch ift feine Borftellung für ein Volt fo gefährlich wie die, im 
Rüdgang, im Niedergang begriffen zu fein. Und beftehe er auch nur in ber 
Einbildung: die Vorftellung fchon erzeugt Muthlofigkeit und: wirklicher Rück⸗ 
gang ift die unabweisliche Folge der Berzagtheit. 

Schon unter dem zweiten Kaiferreich war e3 in Frankreich Diode, vom 
Niedergang de8 Landes zu fprechen. Renan, der manchmal ein rechter 
Schwarzfeher fein konnte, proteftirte doch immer heftig gegen folche Reben: 
„Roh ift viel Geift in Frankreich“, war einer feiner Lieblingausſprüche. 
Im legten Denfchenalter aber ift der Niedergang Frankreichs in feiner eigenen 
Prefle und Literatur ein ftehendes Thema geworden. Ganz befonders haben 
zwei Thatfachen bei vielen Franzoſen den niederfchmetternden Eindrud des 
Nüdganges Hinterlaffen: erſtens der Umftand, daß die Bevölferung bes 
Landes nicht zunimmt, während die des mächtigiten Nachbarlandes mit 
reißender Schnelle wächſt, zweitens die überwältigende Niederlage von 1870, 
die durch einen neuen Krieg wettzumachen ſich ald unmöglich erwies, Der 
außerordentliche Auffhwung von Handel und Induſtrie in Deutfchland, deſſen 
erft feit einem Menſchenalter vorhandener meltpoliticher Einfluß, die Macht: 
ftellung Englands, die gewaltige Kraftentfaltung der nordamerilanifchen Frei⸗ 
ftaaten, verglichen mit der Armuth Spaniens und Italiens, die, ohne Aus⸗ 


/ 


30 | Die Zukunft. 


dehnungskraft, an den Erinnerungen einftiger Eroberergröße zehren, endlich 
der Sieg der Amerikaner über Spanien, — da8 Alles zufammen hat die 
Ueberzeugung von dem Niedergang ber lateinifchen Stämme und Staaten, 
im Gegenfage zur dem Wachsthum der angelfächfifchen und germanifchen, genährt. 

Großes Auffehen erregte baher das Buch von Demolins, „Die angel: 
fächfifche Ueberlegenheit“, das vor einigen Jahren den Franzoſen nicht nur 
Mar machte, daß fie überflügelt feien, fondern auch, woher diefe Entwidelung 
fomme. Daher nämlich, daß die Franzofen ein Volk feien, deſſen Kinder ftets 
von dem ihnen Nächſten Unterſtützung erwarten, die Angeljachfen dagegen eins, 
in dem Jeder nur auf fi felbft zähle Sogar ein Nationalift wie Jules 
Lemaitre lobte da8 Buch. Bald danach erfchien Bazalgetted Buch: „Worauf 
beruht die franzöfifche Inferiorität?“, dem nun als Fortfeßung, „Das Pro⸗ 
blem der Zukunft der Iateinifchen Stämme“ gefolgt if. Mit glühender 
Leidenſchaft ſucht und findet Bazalgette die Urfache des Elends der Iateinifchen 
Naffen, zumal all des über Frankreich gefommenen, in der römifch:fatholifchen 
Kirche. Daß die Reformation in Frankreich fcheiterte, daß die in Nantes 
zugeficherte Toleranz nicht gewährt, daß die Proteftanten ausgetrieben, daß 
felbft nach der Revolution das Konkordat gefchloffen und dadurch ber Kirche 
ihre Machtftellung zurückgewonnen wurde: in Alledem erblidt Bazalgette die 
Grundurſache des Unheils, dad Frankreich betroffen hat. Kein fremder Monarch 
oder Heerführer habe dem Lande auch nur annähernd ſolchen Schaden zu: 
gefügt wie feine eigenen berähmteften Monarchen, Ludwig XIV. und Napoleon, 
die es, Jeder auf feine Weife, Rom botmäßig machten. 

Ein Gegenftüd zu diefen Schriften ift Emile Pierrets Buch „Der 
moderne Geiſt.“ Auch diefer Fromme Autor fieht Frankreich von der alten 
Höhe gefunken; die Urſache aber findet er gerade barin, daß der Katholizis⸗ 
mus nicht nur feine Herrfchaft ber viele Seelen verloren habe, fondern daß 
die Regirung Alles daran fee, daS leichte und mohlthätige Joch der Kirche 
abzufhätteln. Er hofft mehr auf die Frauen als auf die Männer Franl- 
reihe. Der Mann, fagt er, „ift nicht fonderlich ſtark und Tann nicht viel 
Döfes anrichten, wenn die Frau nicht feine Mitſchuldige ift. Die antiklerifale, 
atheiftifche, freimaurerifche, revolutionäre Negirung, die wie ein Alb auf Frank: 
reich Taftet, weiß Das gar wohl und richtet deshalb in Staat3- und Privat- 
ſchulen ihre Angriffe auf das Weib.“ Mit Beifall führte er ein paar Worte an, bie 
1879 ein anderer Franzoſe ſchrieb: „In der Arbeiterbevölferung unferer Stäbte, 
wo die Frau um nichts weniger gottlos ift als der Dann, hat die Verderbts 
heit, die Unordnung, die Anarchie ihren Höhepunkt erreicht. In den großen 
Städten find manche Arbeiterverbände zu einer Verworfenheit herabgefunfen, 
die Alles übertrifft, was eine verderbte Einbildungskraft ſich nur vorftellen 
kann.“ Und ihm graut bei dem Gedanken an die furchtbaren Fortſchritte, 


Pi 





Frankreichs Furcht und Hoffnung. 31 


die im legten Vierteljahrhundert die Berberbtheit gemacht habe, — in Folge 
einer Bewegung, bie die Megirenden einen „Vormarſch“ nennen. 

Charles Richet fagte vor anderthalb Jahren in der Revue Scientifique: 
„Die großen foziologifchen Erſcheinungen ziehen ihre wmerbittlichen Geſchicke 
nah fih. In einigen Jahren wird Frankreich Feine große Nation mehr fein, 
fondern, im Bergleih mit mächtigen Nachbarn, ein Heines Volk wie Por⸗ 
tugal oder Dänemark." Dänemark muß fi hier leider häufig als Schreck⸗ 
bild aufgeftellt jehen. 

Nur zu begreiflich ift, daß man in Frankreich zu einer Zeit, wo die 
verfchiedenften Schrüftfteller, oft fogar mit ganz entgegengefeßter Begründung, 
zu bem felben, das Nationalgefühl tief demüthigenden Ergebniß gelangt find, 
mit frohem Staunen des ruſſiſchen Soziologen Novikow Buch L’expansion 
de la nationalit& francaise las, das den Franzoſen die geiftige Weltherr⸗ 
fchaft verkündete. Novilom, der Prototyp eines felbftbemußten, radi⸗ 
kalen, mit Wort und Schrift wirkfamen ARuffen von gutem Humor und zus 
verfihtlihem Glauben an die Zukunft, hat fiegeögewiffe Antworten auf alle 
Einwände und Bedenken. Die Abnahme der Geburten, meint er, Tönme 
eben fo gut ein Zeichen von überlegener Civilifatton wie vom Verfall des 

” Bolks fein. Wenn einmal die benachbarten Völker eine fo hohe Kultur: 
fiufe erreichen wie Frankreich, wird ſich auch bei ihnen die Zahl ber Geburten 
vermindern. Der geringe Zuwachs fei übrigens auf vorübergehende Urfachen 
zurädzuführen. Die Franzoſen fühlten fich in ihrem Heimathlande zufrieden 
und hätten keinen Drang nad erhöhter Probuftion. Wenn die Nachfrage 
nad „Händen“ fich neuerdings fteigerte, würde auch die Bevölkerung zunehmen. 
Im Ausland, etwa in Kanada, fei der franzöfifhe Stamm äußerſt fruchtbar. 
Kanada fei die befte Kolonie Frankreichs, wie die Vereinigten Staaten die 
Englands; daß Kanada politifch von Frankreich getrennt fei, habe nichts zu 
bedeuten. An der numerischen Schwäche der Franzofen trügen außerdem bie 
Kriege der Revolution und des Kaiſerthumes Schuld; ohne fie würde das 
Land 59 ftatt 39 Millionen Menfchen zählen. Endlich jei die Behauptung 
unwahr, daß die Franzojen nicht zu Tolonifiren verftünden. Der 1648 von 
Frankreich eroberte Elſaß fei zweihundert Fahre danach ganz franzöfifch ge- 
weien, während Irland, das den Engländern feit 1172 gehört, noch heute nicht 
Britifch fei. Eine militärifche Niederlage bedinge noch feinen geiftigen Nieders 
gang; nach Roßbach habe Frankreich, nad Jena Deutichland die Welt ber 
Geiſter beherrfcht. Bei nationaler Ausdehnung komme e8 hauptjäkhli auf 
die Sprache an; und Novilom kann mühelos nachweiſen, daß die franzöfifche 
Sprache, wenn fie unter den verbreitetften jetzt auch nur an vierter Stelle 
fließt, von Fahr zu Fahr Boden gewinnt. Frankreichs Literatur ergöge und 
feflele mehr als die eines anderen Landes und habe wegen ihres kosmopoli⸗ 


82 Die Zukunft. 


tifchen Geiftes das größte Publikum. Aus all diefen Gründen glaubt No» 
vifow, daß Frankreich wieder die geiftige Herrichaft über Europa zufallen 
werde. Sein anderes Volk babe fich fo völlig den Windeln des Mittelalters 
entwunden; nur in Frankreich gebe es wahrhaft moderne Inſtitutionen. Die 
Oberſchicht fpreche ſchon jet überall Franzöfifch, das in ein paar Jahr⸗ 
hunderten Dutterfprache oder literarifches Werkzeug von dreihundert Millionen 
Menſchen fein werbe. 

Mit folhen Hoffnungen tröftet Novikow Frankreich, das von fo vielen 
einheimifchen Unglüdspropheten entmuthigt ward. 

Kopenhagen. Georg Brandes. 


⸗ 
Damoklinos. 


es Damokles Urenkel, Damoklinos, 
Wie ſchämt er ſich der Feigheit ſeines Ahnen, 
Des Schmeichlers Damokles, des Fürſtenknechtes, 
Der vor den Höflingen zu Tod erſchrak, 
Da fein entfeßter, weibifh feiger Blick 
Des Schwertes Spitze niederzuden fah 
Juft auf fein Haupt — pfui, hündifche Ahnenfeigheit! —, 
Indeß ein Haar des Schwertes Fallen hemmte. 
„Weh, mein gefymäht Geſchlecht! Weh, unfer Name, 
Der ewig jenes Shwädlings Mafel trägt!” 


Und ganz geheim an feiner Kammer Dede 
Bängt er ein Schwert an einem Haare auf: 
„Ich bebe nicht!” Und ftellt fi unters Scdywert. 
„sh will den Fleck von unferm Namen tilgen, 
Dor allem Volke will ih morgen ſtehn, 
Ich, Damoflinos, ich, des feiglings Enkel; 
Dfui, feiger Ahn!“ Er höhnt zum Schwert empor 
Und heiliges feuer fprüht aus feinen Bliden. 
Sein Mund wird ftolz, da — weh! —, da fchreit er auf, 
Sein glüher Blick erlifcht, faum ſieht er nod: 
Ein müßig tändelnd Müdlein furrt durchs Zimmer. 
Noch rührt fein Flügel nicht das ftraffe Baar, 
Ein Müdenflügelden .. . 

Er aber zittert: 

„Wenn fie das Haar berührte! Wehe mir! 


Durch eine Müde fterben? Nein!“ 
Er flieht, 


„Was eilft Du for Heh! Hör’ dodh, 


Des Damofles Urenfel, Damoflinos!” 


Drag. = Bugo Salns. 


Er jagt dahin. 





Aphorismen. 33 


iphorismen. 
enn das Bishen Schwäche in der Philoſophie nicht wäre, fo wären bie 
Philofophteprofefioren die reinen Götter. 
% 

Die Probleme zu einem fcheinbaren Abſchluß zu bringen, ift eine Haupt- 
ſache in der Philofophie. Wer e8 darin zu einer beträchtlichen Fertigkeit gebracht 
bat, kann Profeffor diefes Faches werben. 

. * 

Wie ſollte es anders ſein, als daß ein Affe, der auf einem Baum ſitzt, 
ſich einem Philoſophen für überlegen hält, der darunter ſitzt. 

$ 
Vorausſetzungloſigkeit. 

Das heißt, daß man das Selbe vorausſetzt, was die Anderen vorausſetzen. 

$ 

Anfangs verlief die Welt theologiich, dann hiſtoriſch; und jetzt berrfchen 
Raturgejeße. 

3 
Mehr als ein Weiler beantworten kann. 
. Wird im Lauf ber Jahrtauſende die Menjchheit und das Wetter befler? 
3 
Die organifche Zweckmäßigkeit ift dazu da, von Darwin erflärt zu werben. 
L 


Geſchichte der Philoſophie. 
Wenn toten Helden ein lebender Totengräber gegenüberfteht, behält immer 
Diefer Recht. Wo er fie binlegt, bleiben fie liegen. 
$ 
Literaturgefchichte. 
Die Kunſt, Gedanken Anderer jo zu erzählen, daß man den Schein erwedt, 


man habe jelber welche. s 


Um die ewigen Polemiken zu befchränten, follte man verſuchen, bie 
Bhilologen geiftig zu beichäftigen. 


Mit dem Hintern auf Büchern —: wiſſenſchaftliche Grundlage des Juriſten. 
$ 


Ein anftändiger Arzt darf fih nichts zu Schulden kommen laffen, als 
daß er feine Patienten umbringt. 
Münden. Paul Nikolaus Coßmann. 


8 


24 Die Zukmft. 


Südweitafrifanijche Sfizzen.*) 
Ein afrtlanifher Werktag. 


5) em Berwaltungchef Liegt die allgemeine Polizeigewalt und bie Strafrechts⸗ 
pflege über die Eingeborenen feines Bereiches ob. Hierin unterſtützt ihr 
der Stammeshäuptling. Ferner leitet er die geſammte Verwaltung, zieht Steuern 
ein, regelt die Landverkäufe, richtet Polizeiftationen ein, befämpft die Viehſeuchen, 
baut die Wege und Brunnen. Er wohnt mit einer Anzahl weiber und ſchwarzer 
Polizeimannſchaften und zahlreichen Arbeitperfonal auf einer geräumigen Station. 
Diefe enthält Wohnräume, Bureaux, eine Kaſſe, das Eingeborenen-Gefängniß, 
Küche, Badofen, Vorrathskammern, Proviantlager, Inventarien⸗ und Materialien- 
depot3, Munitionraum, Montirungsfammer, Poſtamt, Werkitätten, Pferdeunter- 
ftände, Viehkrale und Dergleihen mehr, was zum wirthichaftlichen Leben einer 
größeren Niederlaffung in einer halb entwidelten Kolonie gehört. Zum Station- 
ganzen zählt ferner: ein Garten, Wagenpark, Pferde, Maulejel, Zugochſen und 
Schlachtvieh. In den Bureauz blüht das Schreibweien. Draußen am „Schwarzen 
Brett” reiht ih Verordnung an Verordnung. Der Betrieb einer folden Station 
läßt an Bielfeitigfeit und Lebhaftigkeit nichts zu wünfchen übrig. Gar mancher 
Rolonialfreund zu Haufe würde darüber baß erftaunen. 

Sechs Uhr morgens fällt mit europäiſcher Pünktlichkeit ein Schuß, darauf 
ein Ochſe. So ſchlachtet es fich beiler mit ungelibten Leuten. Das Fleiſch kommt 
in bie Fleiſchkammer und wird in Portionen zerlegt. Im Badofen röftet das 
Brot. Bor dem Gefängniß jtehen, in Säde gehüllt, in einen Häuflein klappernder 
Mijere die Gefangenen. Der Polizeifeldwebel theilt fie zur Arbeit ein. Die 
ihwarzen Poliziſten esfortiren mit geladenem Gewehr die einzelnen Gruppen 
nach den verſchiedenen Richtungen. In der Küche brodelt in großen Kefjeln 
der Neid. Vor dem Proviantamt wird die Koft an die ſchwarzen Arbeiter aus⸗ 
gegeben. Bom Felde kommen bie Ochſen herein und werben eingejpannt. Die 
Bureauz Öffnen fih. In den Werkftätten ift e3 jchon lebendig. Aus dem Garten 
tönt dad Quietſchen der Bewäfjerungpumpe herüber. Mein Bambufe pugt das 
dicke Baradepferd, das ihm bei jedem SKarbätjchenftrih mit angelegten Ohren 
nad dem Hofenboben ſchnappt. Die Arbeitmühle beginnt zu Happern. Da wird 
geſchmiedet, geſchloſſert, gemalt, gemauert, getifchlert, geklempnert, geſchuſtert, 
gejchneidert, gejattlert, gezimmert. Ein emfiges Getriebe. Bald belebt ſich der 
Hof mit weißer und fchwarzer Bevölkerung. Die Einen laufen Munition, bie 
Zweiten gehen zur Poſt, die Dritten zur Zollabfertigung. Diefer will eine 
Frachtordre, Jener meldet feine foeben eingetroffenen Wagen an. Der Eine 
fommt, eine Farm zu kaufen; der Andere zeigt einen Viehbiebftahl an. Dem 
iſt über Nacht der Grenzitein von feinem Grundftüd verfchwunden, bei Jenem 
eine Viehkrankheit ausgebrochen. Ein Anfiebler liefert einen friſchen Hyänen- 
fopf ab und fordert jeine Prämie. Ein anderer beantragt ſtandesamtliches Auf- 
gebot. Die Schwiegermutter legitimirt fih. Nah dem Schwiegervater fragt 
fein Menſch. Die Braut zeigt etwas „lebhafte Yarben“. 


*) ©. „Zukunft“ vom 29. Auguft 1903. 


Südmweftafrifanifche Sfizgen. 35 


In ber Kafje werden Steuern eingezahlt, Beträge abgehoben, Beftellicheine 
ausgejchrieben, die verſchiedenen Poften auf die Etatstitel verrechnet. 

Bor der Station fteht, von Hirten umringt, blöfend und brüllend eine 
ganze Landwirthſchaft. Ich foll die Erbichaftsthetlung vornehmen. Die Böde 
werden von den Schafen geidhieden und Alle gefragt, ob fie zufrieden find. Der 
Kapitän friegt feinen Antheilochſen. 

Ueber Nacht find in der Kneipe zwei Radaubrüder einander in die Haare 
gefahren. Am Morgen kommen fie zur Polizei und Jeder verlangt für ben 
Anderen Beitrafung. Mit einigen befchwichtigenden Worten werden fie jachlich 
an die Luft gefegt. Bon „oben“ fommt die Dieldung, bas Wafler jei in Dingsda 
am Trandportwege ausgegangen. Einer beklagt fi, da „unten“ hätten die - 
Hereros Wafjerzoll von ihm verlangt. Dem ift eine Kuh fortgelaufen. jener 
fchleppt jeinen Wagentreiber heran, ber ihn beftohlen habe. Am Iedernen Gängel⸗ 
band wird ein auf frifcher That ertappter Viehdieb eingebradt. Vor dem Thor 
fteht Schon die Schaar der Großleute mit dem Kapitän an der Spibe. Gie 
kommen berein, ftellen ihre Stöde an die Wand und lajlen fi) auf der Bank 
im Berathungzimmer nieder. Endloſe Verhandlungen beginnen. Da find wieder 
taufenderlei Angelegenheiten zu beſprechen. Ich berathe, beichwichtige, drohe, 
ermahne. Dann kommen bie Gerichtsfigungen: meift Viehdiebftahl. Der 
Thäter lügt wie gebrudt, vertheidigt fi mit unglaublihem Wortjihwall, erzählt 
von Adam und Eva, aber antwortet nie auf die Trage. Jetzt laffe ich den 
Kapitän heran. Er ftellt‘ ein Kreuzverhör an und treibt geſchickt die faulen 
Kunden in die Enge. Die Sache ſcheint klar und wird kurz zu Papier gebradit. 
Dann erfolgt Antrag nad Schema F.: ein paar Monate und bie üblide Zur 
that. Alles nidt. Die bewußte Mehlkiſte wird wieder bei Seite geichoben. 
Schon fommt ein neues Bild. Ein Händler bietet Schlachtvieh an. Der Pros 
viantmeifter tarirt e8 ab. Der Dann kriegt fein Gelb. 

Inzwiſchen ift „Pot“ eingetroffen. Man thürmt einen Berg Briefichaften 
vor mir auf. An alle ſechs Dienftftellen gerichtet, die ich in meiner Perjon 
vereinige. Die Couverts fliegen, Anmweifungen werben ertheilt unb bie Schrifts 
ftüde nach Dienitftellen gefichte. Dann gebt e8 an die Arbeit. Da wird be 
richtet, gemeldet, angeorbnet, mitgetheilt, begutachtet, nachgeforſcht. Aftenheft 
nad Aktenheft durchitöbert. 

Es klopft. Ein ſchwarzer Rod erſcheint: der Miifionar mit einem An- 
liegen. Am Sonntag haben fie während des Gottesdienftes gefegelt! Er Hat 
betrunfene &ingeborene gejehen! Hter fcheinen ihm feine Weiberechte gefährbet, 
dort legt er gegen eine Regirungmaßnahme feierlich Proteſt ein. Miffionare 
proteftiren ſtets. Aber nur die Proteftanten. 

Durdreilende — Kaufleute, Anfiedler, Mineningentenre — machen mir 
ihre Aufiwvartung. Ein Negerweib beflagt fi, daß ihr Junge von jeinem Dienſt⸗ 
bern zu viel Prügel friegt. Ein .paar ſchwarze Saufbrüber wollen einen Kauf 
erlaubnißfchein für Schnaps haben. Ich fage, ich tränte auch feinen Schnaps. 
Da meint der Eine, er habe es „jo im Magen.“ Ich ſchicke ihn zum Lazareth» 
gebilfen. Der giebt ihn eine böfe Mixtur: er fommt nicht wieder. Der Andere 
meint, er habe jo lange feinen Schnaps getrunten. ch erwibere, dann habe 
er fih ja an die Enthaltfamfeit gewöhnt. Der Dritte kriegt ſchließlich feinen 
Schein, weil er feine Schulden bezahlt Bat. gi 





36 Die Zukunft. 


Draußen wird eifrig an den neuen Gebäuden gemauert; Lehm gefnetet; 
Ziegel geftrihen; Holz berangefahren; Ziegelöfen gefegt. In Reihen kommen 
die Negermweiber mit ihren Kindern bahergezogen und bieten Gras für die Pferbe 
zum Berlauf an. Stunden lang boden fie ftumpffinnig umber, bis fie ihren 
Becher Reis oder Mehl für das Bündelchen erhalten. Der Amtsjchreiber, der 
Rafienfügrer, der Polizeifelbiwebel, der Propiantmeifter: Jeder legt eine dide 
Unterfchriftenmappe vor. Ich jchiebe Berichte und Alten weg unb fange an, 
zu unterjchreiden. Mein Diener, zugleih Soc, meldet, das Eſſen ſei ange: 
richtet. In einer Biertelftunde tft der materielle Menſch befriedigt. Der Kaffee 
wird ſchon wieder am Schreibtiih eingenommen. So geht es weiter, bis ber 
Sonnenball ſich abendlich röthet. Das Pferd ſcharrt vor der Thür. Ein Furzer 
Ausritt. Der Abend bricht herein. Die zweite Mahlzeit wird eingenommen. 
Dann brennt die Lampe wieder Über Büchern und Papier. Der Sandmann 
fommt. Noch eine Eigarette, dann in bie Falle. Im Traum fchreibe ih an 
meinen Berichten weiter. Der Morgen graut. Ich drehe mich auf die andere 
Seite. Die Sonne fteigt bedenklich höher. Ich bekomme Gewiſſensbiſſe. Bon 
draußen tönt ſchon das neue Tageögetriebe zu mir herein. Entſchluß! Ich 
Ipringe auf. Die Badewanne fteht bereit. Die Toilette tft beendet, — und 
das Alltagsleben hebt von Neuem an. 

Ein „Afritaner” von Ruf bat Südweltafrifa dad Land der Yaulheit 
genannt. Ich beantrage hiermit, den Ausſpruch cum grano salis zu nehmen. 


Neujahbrsftimmung. 


Heute tft Neujahr! Der Tag der Unbeicheidenheit und des Selbftbetruges, 
wo der Menſch in einem Meer von Wünfchen plätfchert und dabei mit fich felbft 
Verſteck jpielt. Goldene Berge begehrt und erhofft er; in der Dunkelkammer 
feiner innerjten Ueberzeugung aber erwartet er höchſtens ein Häuflein Flitter- 
gold. So geht es zu auf beiden Halbfugeln, aljo auch in SW., dem füdlichen 
Web unferer kolonialen Xaftverfuche. 

Neujahr! Zu Haufe gleich einer Apotheofe auf der Menfchheit Wollen, 
Sehnen, Hoffen, Streben, Wirken, Schaffen. ch glaube, der einzige Tag, an 
dem ein gemeinfamer ibdealiftifder Zug bie gefammte Kulturmenfchheit durch⸗ 
weht. Der Tag, der die Sehnſucht nad Zuſammenſchluß zu gemeinjamen 
Bielen und Zweden in allen Strebenden flüdtig erwedt. Denn Alle beugen 
fi in gleicher Weile vor Chronos, diefem gewaltigiten ber Erdentyrannen. Un 
foldem Tage jpürt man daheim den faufenden Schwung des Beitenrabes, der, 
fonft vom geichäftigen Haften des Werljahres übertönt, unjeren Geiſt für wenige 
Stunden berausreißt aus der ftidigen Utmofphäre der Alltäglichkeit. Hier, in 
SW. aber, automatiſch⸗nüchtern wie beim Zahlenſtreifen eines Tarameters, kippt 
00 über, 01 ſpringt ein: der Jahreswechſel tft ohne Fahrtunterbrechung voll: 
zogen. Das ift unfer Neujahr... Aber Hoffentlih nur für Den, der ſich den 
ſelben thörichten Gedanken überläßt. 

In der Sylveſternacht hielt ich ein geiftreiches Zwiegeipräch mit dem phos- 
phoreszirenden Schädel Moltkes über die großen Dajeinsräthjel. Da, plötzlich, 
flammte ed auf: und von rotbglimmmender Gluth verzehrt, ſank das beinerne 
Traumphantasma in ſich zu einem Aichenhäufchen zufammen und ließ mid), fo 
flug als wie zuvor, Über der Welträthjel tiefftes verbußt zuräd. Wars ein 


Südweſtafrikaniſche Skizzen. 87 


Symbol? Wer kanns jagen? In Afrika gedeiht Leine Metaphyſik. Dort 
liegen die Dinge hart bei einander. Ich hatte am Tage vorher über Moltke 
in der Zeitung gelejen, Edermann mit Goethe belauſcht, ein Protokoll über ein 
entftandenes Feuer aufgenommen und einen weißgrinfenden Negerichädel zur 
Beize in die Sonne gelegt. Voila tout! 

Am Neujahrsmorgen brachten mir meine Teute ein Ständen, aus dem 
ich die Meberzeugung ihrer Anhänglichkeit und erneut die Thatſache jchöpfte, dag 
der Baß, unfer mufſikaliſches Schmerzenstind, ſich noch immer nicht jo recht ber 
Harmonie gewifienhafter Notentonftellation anzubaſſen vermochte. Dann erhielt 
ber Miſſionar feinen Choral. Profane Weijen, bie mit größeren Bwifchenpaufen 
folgten, ließen auf Trankopfer jchließen. Wahrſcheinlich im bewußten ſüßlichen 
Profelgtenwein vom Kap, womit biefige Miſſionare über Befuche zu quittiren 
pflegen. Auch unfere Weihnacht haben wir gehabt; mit Pjeudobaum. Ein 
kaukaſiſcher Bandit mit höchſt ehrwürbigem Bart, einem Piftölchen im Gürtel 
und Strippe zum Biehen vertrat den Knecht Nupredt. Ein Naffael, einer von 
denen, die man ihrer fchlechten Haltung wegen nit in Kinderzimmer hängen 
joll, baumelte jtilmildernd über ihm. Kleine Geſchenke wurden werloft, ein gemein 
ſames Mahl ſchloß fih an. Wir fuggerirten einander Eis, Schnee, Ofenwärme, 
Lichterglanz, Heimathduft und was ſonſt noch äußerlich und innerlich dem fenti- 
mentalen Deutſchen „Weihnachten“ bedeutet. Die Leute halfen mit Bier und 
Punſch nad. Ich aber ſchlich mich bei Zeiten nach Haufe. 

Sentimentalität ift die einzige beutfche Waare, auf ber in Südweſtafrika 
noch fein Einfuhrzoll Laftet. 


Ein gerettetes Idol. 

Die Buren find in ihrer Geſammtheit weder das Urbild ftumpffinniger 
Reaktion der engliſchen noch die idealifirten hochſittlichen Freiheitrecken der deutſchen 
Beleuchtung. 

Seit gierige Hände in den gelben Eingewetden ihres Landes mühlen, 
haben jie die Einheitlichfeit, die zur Beit bes eriten Treffs wohl noch beitand, 
eingebüßt. Heute giebt e8 ſolche und „ſolche“ Buren. 

Hatte ih da von der legten Sorte Niederbeutfcher ein paar Exemplare 
in meinem Bezirk, die wie zerzaufte Rübezahls ausfchauten. Sie waren mit 
ein paar Weibern behaftet, denen man zurufen modte: „Waſſer thuts freilich 
nicht allein, wenn Ihr Euch reinigen wollt!" Die Sippe trug einen abderitijchen 
Stumpfſinn zur Schau. Wenn bie bei der Krüger⸗Feier in Köln im Original- 
Einbande mit auf dem Ballon erjchienen wäre: der Andrang wäre noch größer 
gewejen. Dieje Stammesbrüder bauften zwifchen nadten Felsklippen, inmitten 
einer troftlofen Szenerie, in einer Lehmhütte, die mit alten Säden eingedeckt war. 
Sie bauten ihre Kaffern, daß die Yappen flogen — falls fie melde anhatten —, 
fangen aber, nad} der Vorſchrift, jeden Abend dem Herrn einen Yubgefang. Sehr 
andadhtvoll würde auch dem Frömmſten dabei nicht zu Muth geworben fein. 

Bum bejtimmten Termin fommt der fehon legenbäre ſchwarze Viehräuber, 
deilen Bande die wilden Klüfte bergen, vom Berge ber, den Behnten vom Vieh 
unjerer Freunde zu fordern. Es find ihrer fünf ftramme Burjche. Ich fagte 
ihnen, fie jollten der Behörde Helfen, den Sterl zu fangen; fie feien in jeder 
Hinficht die Nächten dazu. „Hih. Hm.. Jaa..“ Ich wies fie auf die ausgefeßte 


40 Die Zunft. 


Kolonie wird reformirt; an Haupt und Gliedern. Jeder entwidelt fein Wirth⸗ 
Ihaftprogrammı, vor dem die Weisheit des Kolonialrathes zerbleiht. Die Tiſch⸗ 
platte erdroͤhnt; die Flaſchen Elirren; die Pfeifen qualmen. Im Parorysmus 
Schalt heiſerer Kehlen lallende Disjonanz in die afrikaniſche Wundernacht hinaus. 

Da erhebt fih unvermittelt in feiner ganzen Gardelänge ein alter Witbois 
Kämpfer und brült: „Silentium! Es fteigt: Ein Profit der Gemüthlichkeitt 
Der Wirth fingt bie Weiſe vor!’ 


Africanus minor. ° 

Als Handwerker, Kaufmann, Soldat, entgletiter Landwirt und „Ver⸗ 
Iorener Sohn“ kommt er zu uns berüber; findet bald Hier, bald bort fein täglich 
Brot — auch eine Flajche Bier muß bei dem Brote fein! — und afflimatifirt 
ih. Ein kategoriſches Streben erfüllt ihn: felbftändig, fein eigener Herr zu 
werden! Um jo fchneller und gründlicher, je weiter er daheim von diefem Biel 
entfernt geweſen ift. Man wandert doch nicht aus, fich auch ferner fauren Monats⸗ 
lohn in perſönlicher Abhängigkeit zu verdienen. Die Zeit veritreicht, der große 
Augenblick ift nah. Der Mann mit dem Drang nad) oben, der es ſchon ganz, 
leidlich verfteht, feine Mutterfprache mit Kaffern- und Burenbrocken zu verhungen, 
faßt einen Entſchluß: er ſucht fich einen Kreditgeber. Ich empfehle den heimath- 
lien Mittelftandpolitifern dringend das Stubium ſüdweſtafrikaniſcher Kredit⸗ 
verhältniffe. Der Realiſt pumpt fi Waaren, Karte, Trekkochſen und zieht ins 
„gandelsfeld“, den Negerbuſch, um Zalmiringe und Khakihoſen in Ochſen und 
Ziegen zu verwandeln. Das fieht die Regirung nicht gern. 

Auch der Idealiſt pumpt fid Waaren, Karre, Trekkochſen. Außerdem 
aber — er ift eben das Opfer ſeiner Weltanſchauung — Baumaterialien, Brunnen» 
geräth, Zuchtvieh und wird „Farmer“. Er dentt: Großgrundbeſiber. Das ſieht 
die Regirung gern. 

Als Steppengebieter, ein König unter den Schwarzen, von keinem Zwang 
umſchränkt, verdient der Realiſt, wenn es ihm gut geht, gerade genug, um ſeinen 
Kreditgeber in Bewilligunglaune zu erhalten. Geht es ihm ſchlecht — Das iſt 
die Regel —, ſo decentraliſirt er den Pump und wartet der Zahlungbefehle, um 
mit verbindlichſtem Bedauern zu erklären: „Keia!“ Das heißt: „Mer ha'n nix!“ 
Das geflügelte Wort „ft ja Alles da!“ ift in S.W. nicht heimathberegjtigt. 

Der Idealiſt figt — aud als abjoluter Herr — zwiſchen Lehm und 
Wellblech mit jeinem ſchwarzen Gefinde in rauher Dorneneinfamkeit und denft 
über die hundert „Wenns“ nad, mit denen ein ſüdweſtafrikaniſcher Wirthſchaft⸗ 
betrieb zu rechnen bat. Er fieht nicht die Rauchfäule feines Nachbarn, dieweil 
er meift feinen hat, und fommt mit der Behörde — wie angenehm! — nur in 
Berührung, wenn er fie braucht. Seine ſchwarze Haushälterin focht und wäſcht 
für ihn und theilt, nah dem Grundfag: „Es ift nicht gut, daß der Menſch 
allein jei”, jein von feiner Haft verftörtes Leben. Eine weiße rau ift jelten 
und theuer. Eine ſchwarze will zwar auch behängt und befchentt fein, ift aber 
doch ein gutes Theil bequemer und billiger. An dem Brofamen heifchendem 
Anhang fehlt e8 aber aud ihr nid. 

In dieſem Negermilieu fühlt fih unfer Mann wohler, als e8 dem kul—⸗ 
turellen Fortſchritt dienlih ift. Sein Bildungsgrab legt dem menschlichen Hang 


Südweſtafrilaniſche Skizzen. 


nad unten fein Hemmniß in den Weg. Er paßt fich geiftig einem Land an, 
bag für die Dauer dem Gebildeten zur Richtſtätte feiner ideellen Welt wird. 
Das natürlihe Beharrungvermögen und die hiftorifche Scham des Auswanderers, 
nicht mit leeren Taſchen zu den Seinen zurüdzufehren, tragen dazu bei, ben 
Grundheren -an jeine dürre Scholle zu fejleln. Bor der heimathlichen Enge, 
vor perjönlicher Abhängigkeit, aljo vor der Rückkehr, zittert er. Braucht er 
Bargeld, fo bewirbt er fih um eine „NRegirungfracht”, die er gewöhnlich nicht 
erhält. Dann greift er kurz entfchloflen in den Kral und bringt ein paar Schlacht⸗ 
ochſen auf die Station, bie ein rationeller Betrieb noch nicht für reif zum Verkauf 
erklären würbe. Bargeld zahlt nur bie Regirung. 


Trotz Alledem ift diefer meift in der Weißgluth fühweftafrifaniicher Wirth. 
ſchafterfahrungen gehärtete Dilettant als Kolonift geeigneter für unfer Land als 
der deutfhe Bauer. Der paßt hierher, wie der preußiſche Kanzleirath in eine 
jübamerifanifche Verwaltung. Beide ftänden mit ihrer Tüchtigkeit an verfehrter 
Stelle. In Südweſtafrika herrſchen beſondere Lebensbedingungen. Daran ändert 
alle Privatdozenten⸗Weisheit nichts. 

Der gegebene Mann für unſer Land, in rein wirthſchaſtlicher Beziehung, 
iſt der Bur. Er iſt in ſeiner zwiſchen Natur⸗ und Kulturvolk ſchwebenden Eigen- 
art mehr Erzeugniß des Bodens als der Raſſenmiſchung. Sein Land aber iſt 
dem unſeren verwandt; wenn es auch nur die verarmte Seitenlinie darſtellt. Der 
Bur bringt Weib, Kind, Vieh und Alles, was ſein iſt, mit und lebt bei ſeiner 
Anſpruchloſigkeit und ſeiner patriarchaliſchen Wirthſchaftorganiſation um ſo 
beſſer und billiger, je verheiratheter er iſt. Der deutſche Farmer dagegen krankt 
an einer Familie. 


Uns aber, beſonders aus Rückſichten volkiſcher Romantik, mit Buren auffüllen: 
Das wäre ein ſchwerer politiſcher, ſozialer und kultureller Fehler. Bald würden die 
niederdeutſchen Stammesbrüder rufen: „Nieder, deutſche Stammesbrüder!“ 


Ueber dem Realiſten und Idealiſten ſteht als dritte Kategorie der Eklektiker. 
Der baut eine Wellblechbude am rechten Ort und holt ſich eine Schankkonzeſſion. 
Das iſt der einträglichſte Farmbetrieb in Südweſtafrika. 


Tagebuch. 

14. VIII. Htute find fünfzig Dienſtbriefe eingegangen. 

1. IX. In China find Wirren ausgebrochen. Eine Expedition wird aus⸗ 
gerüftet. Wer doch mit dabei fein könnte! Da fcheint fi etwas Weltrummel 
zu entwideln. Hier roftet das Schwert in der Scheide, die Feder aber gleitet 
tajtlos Über das Papier. Ein paar Miffionare ermordet. Mir fällt dabei ein 
Wort des alten, milden Yontane aus einem Brief an Harden ein: „Wenn ich 
Iefe, daß wieder ein Mijjionar ermordet ift, thut mir der arme Kerl furchtbar 
leid; aber von Prinzips wegen kann ich ihn nicht bedauern. Ich finde es an- 
maßlich, wenn ein Schuitersjohn aus Herrenhut vierhundert Millionen Chineſen 
befehren will!” Charity begins at home! 

24. XI. &3 fängt an, Heiß zu werden. Bald find wir wieder in Gluth 
und Heufchreden getaucht. Ich gedenke mit Sorge unferer Thiere. Fällt in 
diefem Jahr der Regen nicht reichlicher, jo müflen wir fie mit Verordnungen füttern. 


42 | Die Zukunft. 


13. VII. Mein Diener tritt aufgeregt herein und meldet, draußen jet ein 
großer Stern mit einem langen Schweif! Es fehlte nur noch ber Zufaß: „ber 
mich zu jprechen wünſche.“ Ich ging hinaus und erklärte ihn für einen Kometen. 
Danach wird der Diener jo Elug als wie zuvor geweſen fein. 

25. VII. Der legte Intranfigent, ber Ortsjude, hat Frieden mit ber 
Regirung gemadt. Un feinem Geburtätage trank er ih Muth, damit er mein 
Antlig ertragen Tönne. Ich lieh ihn zappeln und kehrte dann nach Peking zu⸗ 
rüd. Hämiſche Leute munfeln, die Saffern hätten ihn im Transvaal eines 
fhönen Tages ſchlankweg über den Deichielbaum gezogen. Das wird wohl aber 
nur der Sonkurrenzneib eingegeben haben. 

13. X. Meine Yamilie ift um zwei Baviane vermehrt worden. Sie 
baben wor der Thür ein Häuschen befommen, find aber durch fefte Riemen in 
threm Berjtörungradius befchränft. Steht der Wind darauf, fo jpfire ich in meinem 
Bimmer ihres Weſens einen ftarfen Haug. Der große geht bei feinen Liebes» 
bieniten etwas brutal zu Wert. Er bat dem Tleinen ſchon das ganze Fell blutig 
geknipſt. Dem kleinen haben die Hunde beim Yang einen Daumen abgebiflen. 
Cr wird täglich regelrecht verbunden. 

7. J. Mein neuer Bambufe Hat die erften Senge bejehen. Am Nach—⸗ 
mittag bringt er mir dafür ein hölzernes Milchgefäß mit Schöpflöffel aus 
Mutternd Pontok als Präſent. Ich revanchire mich am näditen Tage durch 
einen Gürtel. Ich hätte durch fofortige Erwiderung des Geſchenkes grob gegen 
die gute Sitte verftoßen. 

16. IH. Eine Jagderpedition tft aus Deutfchland eingetroffen. Der eine 
Theilnehmer tjt fein Neuling mehr in Afrika. Er dat die Reife in Angola 
gemacht, die der Tronenorbentliche Drefier als die feine befchrieb. Der war aber 
nicht der erfte „Afrikaner“, der dem Mitteleuropäer die Hude vollgeichnurrt bat. 
Der zweite Jagdkumpan: ein gemüthlicher Sektpfropfen mit leichtem Auftern- 
glanz im Blid. Er hörte nie zu, quittirte aber über dad Nichtgehörte ftet3 mit 
einem: „om... Sa... Sehr intereffant! Wirklich ſehr intereflant!” Das 
glaubte er Afrika ſchuldig zu fein. Vom Lotterbett feines mit Wein- und Bier- 
fiiten vollgepfropften Salon⸗Ochſenwagens aus jah er fih Afrika an. So be- 
wahrt man fich die Diftanz für das Pathos heimathlicher Berichterftattung. 

Ya, ja, fieben Wochen durch die Wildniß und nur zwei Nächte bavon 
nicht in den felben Kleidern; in den Sand geftredt und mit Mondſchein zugededt: 
Das macht den Menjchen mit der Eigenart eines Landes vertrauter. Ein drei⸗ 
zehnftündiger Ritt — in drei Abſchnitten —, um am nächſten Mittag die Labung 
ipendende Pfütze zu erreihen: Das läßt die Natur in anderer Auffaffung er: 
ſcheinen. Lömenbräu und Steinberger Kabinet jchmeden beſſer als Salz: und 
Jauchewaſſer. Dazwilchen gähnt die Kluft einer ganzen Weltanfchauung. 

Wer ſich ald Globetrotter braun einlappen fann, muß von Allen „da 
draußen“ begeiftert fein. Daß er dabei meilt Schein für Wirklichkeit nimmt, 
verſchlägt ihm ja nichts. Im Segentheil. Ein Land lernt aber nur Der kennen, 
dem es fih auch in jeiner Erbarmunglofigkeit offenbart Hat. 


Fritz Treffer. 


2 





Mafjener. 43 


Maffener. 


err Budde, der Berkehrsminifter, hat vor Kurzem erflärt, bie Staatsbahnen 

feien\ für das Publikum, nicht das Publitum für die Staatsbahnen da. 
Diefe verblüffende Neuigfeit war fehr willlommen. Im preußiichen Beamten- 
ftaat findet der Einwohner ganz natürlich, daß er fi) als dienendes Glied den 
öffentlichen Inſtitutionen einzuordnen bat, während in Staaten ohne Uniforms 
zwang jeder Bürger verlangt, daß bie gemeinnügigen Unftälten fi) feinem Be- 
dürfniß anpafien. Hoffentlid madt Herr Budde Schule, in feinem eigenen und 
in anderen Reflorts. Wenn fih im Publikum erſt ein neuer Geiſt, eine mobernere 
Auffafjung von den Rechten des Einzelnen und ben Pflichten der Organe, bie 
von ber Geſammtheit für die Geſammtheit geichaffen find, eingebürgert hat, dann 
wird es fi) vielleicht auch zu dem Entihluß aufraffen, die felbe Denkart auf 
fein Berhältniß zu Altiengefellfchaften zu übertragen. Noch begnügt fi der 
deutfche Aktionär leider damit, willenlofer Sklave der Direktion und des Auf- 
ſichtrathes jeiner Gefellichaft zu fein, unb bedenkt gar nicht, daß er Beiden das 
Amt und die Macht verlieh, von der er fi nun tnechten läßt... Das Beilpiel 
lehrt, daß nicht der Slaube an das Gottesgnadenthum, wie man gemeint hat, 
der Autorität Anerkennung fidert. Borftand und Auffichtrath einer Altiengefell- 
ſchaft find Kreaturen der Generalverfammlung, die ihnen den Stuhl vor die 
Thür jeßen kann, wann immer es ihr beliebt. Der beutfche Aktionär aber fieht 
feine Direktion und feinen AuffidtratH vom Nimbus amtlicher Befugnig um⸗ 
ftrahlt und blidt zu ihnen wie zu einer hochwohlweiſen Behörde empor, deren 
erhabenes Walten er zu rejpeftiren bat. Wann wird Das anders werden? 

Skandale von der Art deſſen, den in dieſen Tagen die Maſſener Berg- 
baugeſellſchaft dem erftaunten Blic bot, müßten eigentlich diejen falſchen Nimbus 
ſchleunig befeitigen. &röblicher find Aktionäre ſchon lange nicht getäufcht worden. 
Der Fall reiht fich würdig gewiſſen Vorgängen an, bie im Lauf der legten Jahre 
aus Ländern mit minder ftrenger Gefebgebung gemeldet wurden unb über die 
unjere Moraliften dann ftolz die Nafe rümpften. Ich will die Handlung des 
Stüdchens ruhig erzählen. ALS die Zechenbefiger von Rheinland-Wejtfalen um 
die Septembermitte zur Erneuerung des Kohlenſyndikates zujammentraten, er- 
klärte die Maſſener Gejellichaft, die Entſcheidung über ihren B itritt bis zum 
breißigften September Hinausfchieben zu mäflen, da zur Zeit Verhandlungen 
weges des Berkaufes ihres Bergwerkseigenthumes an ein Hüttenwerk fchwebten. 
Dieje Erklärung ftimmte bie Börje natürlich zu dem Glauben, irgend ein größeres 
Hüttenwerk bewerbe ſich um den Bergwerksbeſitz von Maſſen; jolde Bewerbungen 
waren in den legten Monaten ja auch ſchon an andere Bechen berangetreten. 
Und nun begann, wie fich von felbit verjteht, das Rathen. Wer wirbt um Maſſen? 
Nach einander wurden Gute Hoffnung, Königsborn und die Rombacher Hütte 
genannt. Umpgehend famen Dementis von Gute Hoffnung, Königsborn und von 
der Rombader Hütte. Maſſen ſelbſt jedoch blieb ftill, als ınan Gute Hoffnung, 
ftill, ald man Königsborn, fiill, al8 man Rombach nannte. Inzwiſchen wurden bie 
Kurſe der Mafjener Aktien wild getrieben: ehe man noch recht drauf geachtet hatte, 
waren fie um faft fünfzehn Prozent höher. Zu dieſem hohen Kurs wurden Altien ge- 
fauft und der Theil der alten Aktionäre, der dumm genug war, fi) narren zu laflen, 


44 Die Zukuuft. 


klammerte fich in dieſem Freudentaumel an jeinen Befig wie an etwas Unfchäßbares. 
Allzu Bald gerieth die Hauſſe freilich wieder ins Wanken. Bweifel erwadten. Aber 
die Maflener, dachte man, hätten doch ficher nicht jo beharrlich gejchwiegen, wenn 
Alles nur Qualm geweien wäre. Da kam ein Wink. Man vernahm, die entſcheidende 
Auffihirathsfigung, in der über den Verkauf von Mafien ein Beſchluß gefaßt werden 
follte, jei um vierundzwanzig Stunden verjchoben worden. Alfo nur noch ein 
kleiner Aufigub: dann wurde die Sade ganz fidher perfekt. So träumte der 
Unterthanenverftand des Aktionäre, der noch am Grabe bie Hoffnung aufpflangt. 
Es fam aber anderd. Der nächſte Tag bradte die Auflihtrathäfigung und als 
Ergebniß eine Erklärung: Maſſen wird am breißigften September den neuen 
Synbilatsvertrag ruhig mitunterfchreiben; denn „ein Kaufangebot ift bisher nicht 
eingelaufen”. Das war ſtarker Tabak. Im erften Moment wußte man nicht 
recht, was man an dieſer Mittheilung mehr anftaunen jollte: die Unverfroren- 
beit, womtt die Berwaltung allen bisher giltigen Begriffen von öffentlidem Anftand 
ins Gefiht ſchlug, oder die Dreiftigleit der vorausgeſchickten falſchen Meldungen, 
mit denen die Kurſe getrieben und Käufer geködert worden waren. Aber ſchließlich 
mochten die Aktionäre jelbft ihr Sinterefie wahrnehmen. Diefen Standpunkt 
finde ich nicht Elug gewählt. Heute mir, morgen Dir. An dieſem Auffichtrath 
und an diefer Direktion follten die Aktionäre einmal ein Erempel ftatuiren, das 
alle anderen Auffichträtde und Direktoren warnen und jchreden würde. Recht 


ſchön, denkt Mancher; wo aber giebt das Beleg ung die Möglichkeit, die Schul⸗ 


digen zu erreichen und zu züchtigen? Die Maſſener haben die Lücken bes Ge⸗ 
ſetzes offenbar fehr genau ftudirt, bevor fie fich unterfingen, gegen deflen Geiſt 
jo fe zu verftoßen. Ich ſchade aljo der guten Sache jchwerlid, wenn ich ver- 
tathe, dab man das Gejeh vergebens durchitöbern, vergebens in feinem Wortlaut 
die Möglichkeit juchen wird, den Schwindel nad) Gebühr zu jühnen. Ad, diejes 
Gefeg! Wie viele kluge Köpfe, die zu anderer Arbeit zu brauchen gewejen 
wären, find daran erlahmt! Man ſchuf ein neues Aktiengeſetz und ein neues 
Börjengefeb. Bis ins Heinjte Edchen hinein ſollte der Schlechtigkeit heimge- 
leudtet, auf jede nur denkbare Qumperei eine Strafe gejeßt werden. Das Gele 
jah aus wie cin Eifenbahnmwagen, deflen ſämmtliche Thüren und Fenſter mit 
Verboten beflebt und bepinfelt find: Nicht rauchen, nicht Hinauslehnen, feine 
Obſtkerne werfen, nicht muthiwillig die Nothleine ziehen, nicht fpuden! Und fiehe 
da: die liebe Niedertradht fand doch einen Unterfchlupf, wo fie vor dem harten 
Geſetz geborgen bleibt, und eine Lumperei folgt gemächlich der anderen: der viel- 
gerühmte Segen des Börlengejeges hat ſich in Fluch verwandelt. Alles Unheil, das 
der Terminhandel zu bringen vermochte, fchrumpft ins faum noch Sichtbare zu⸗ 
jammen, wenn man es dem fyftematifchen Schwindel vergleicht, den das Verbot 
bes Terminhandels auf dem Kaſſamarkt gezüchtet Hat. Der Terminhandel Hatte 
in fich felbjt wenigjteng ein Heilmittel gegen Betrug; das Kaflagefchäft aber er- 
möglicht jeder gewifjenlojen Clique, den Markt zu beherrjchen und den Vetter vom 
Lande zu rupfen wie ein junges Huhn. Vom Geſetz haben aljo die Mafjener 
Aktionäre nichts zu hoffen. Diejes Gejeg kann fi nicht einmal da immer ſiegreich 
behaupten, wo es ausdrüdliche Beftimmungen trifft, und noch weniger natürlid 
jeinen Geiſt da zur Geltung bringen, wo fein Buchitabe verjagt. 

Der Tall Maſſen ift nicht vereinzelt. Kurz vorher haben wir die Kurse 


Mafiener. 45 


treiberei in den Aktien der Rheiniſchen Metallmaarenfabrik erlebt. Da wurde 
die Sache freilich nicht gar jo grob angepadt; dafür war die Mache um fo dbauer- 
bafter. Man fing plöglih zu wilpern an, die Erhardt⸗Geſchütze, bie von der 
mit Krupp konkurrirenden Geſellſchaft bergeftellt werden, feten nicht nur von 
fremben Regirungen feft erworben, fondern hätten jogar Ausficht, vor den Mugen 
unferer Dtilitärverwaltung Gnade zu finden. Woher jtammte dad Gerücht? Zu 
und fan es aus Düfleldorf, dem Stammfig der Dtetallmaarenfabrif. Und 
aus Düfleldorf kamen fpäter offizielle Meldungen der Gejellichaft, die diefen 
Gerüchten entgegentraten. Scließlih war man genau fo Flug wie am Anfang: 
nur hatte fich inzwiſchen ber Werth der Aktien beträchtlich verändert. Im Ganzen 
wars, ber Wirkung nad), faum anders als bei Mafjen; das Ende war im Grunde 
noch ſchlimmer. Daß die düſſeldorfer Berwaltumg in falic gewählter Stunde red- 
felig wurde, wird die Aktionäre vielleicht das Geſchäft mit Defterreich often, 
das jchon eingefädelt war, als das verfrühte Rellamegetrommel und die dadurch 
verurfachte Sturstreiberei die dfterreichiiche Konkurrenz in Harnifch brachte. Auch 
in dieſem Fall hat man bis heute nicht gehört, daß bie Aftionäre irgendwie gegen 
bie Berwaltung vorgegangen ſeier, um arbeit zu ſchaffen. 

Auch ein konſtitutioneller Staat kann freilich nicht von einer permanenten 
Bollsverfammlung regirt werden; auch eine Republik Braucht zu ihrer Berwal- 
tung Minifter und eine Negirung. Die Auffihträthe und Direktionen unſerer 
Altiengefellf haften bergen aber unter republikaniſchen Formen den: nadten Ab- 
ſolutismus. Schade nur um die Miethe, die für die Schaupläße der General- 
verfammlungen bezahlt wird. Der gutgläubige Aktionär, ber fi aufs Intri⸗ 
guiren nicht verfteht und nur weiß, daß in dem Unternehmen ein Theil feines 
oft ſauer erworbenen Vermögens ftedt, kommt faft niemals zum Wort. Giebt 
es eine Debatte oder gar eine Szene, jo wird mit vertheilten Rollen agirt und 
nur der Himmel weiß, welche Sonberinterefien da aus den Masken reden. Rafft 
fi) aber wirklidh einmal Einer aus der contribuens plebs zu einer wohlbered- 
tigten Erkundung ober Veſchwerde auf: wehe ihm! Das fehlte gerade noch, daß 
jeder beliebige Theilhaber am Geſchäft wagen dürfte, fih ums Geſchäft zu be- 
fümmern! Er wird jo herb abgemtejen, daß ihm die Luſt vergeht, feine Naje 
hinfüro in diefe Sachen zu fteden; ober er wirb ind Bureau der Geſellſchaft 
eitirt, wo ihm unter vier Augen und unter didftem Siegel der Verſchwiegenheit 
die dümmſten Redensarten aufgetiiht werben, fo dumm, wie fie felbft der Herr 
Direktor in Öffentlicher Verſammlung nicht vorbringen dürfte, ohne fich lächer- 
li zu maden. Der Aktionär aber nidt verftändnißinnig, als Hätte er nun 
das erlöjende Wert vernommen, geht mit einem Gefühl der Erleuchtung nad) 
Haufe und betet, daß ihm Direktion und Auffichtrath erhalten bleiben, fo rein, 
fo jhön, fo Hold. Das Drolligite an der Sache ift, daß ber Aktionär, der über 
Auffichtrath und Vorſtand herfiele, wenn es ſchief geht, zu den größten Selten- 
beiten gehört. Geflucht wird nur dem Bantlier, der Einem die Aktien verfauft 
bat. Die Ehrfurcht vor Auffichtrath und Direktion bleibt unvermindert, felbft 
wenn die Welt — und bie Bank — zuſammenkracht ... Un ber Börje geht 
wieder einmal Horader um: hinter jedem Buſch lauert das Schredigefpenft ber 
„amerilanifchen Gefahr.” Laßt, Ihr Herren, doch eine Weile Horader Horader 
jein und jeht, ob Ihr den Aktionär nicht zu einem freten Dienfchen erziehen könnt! 


Dis. 
5 


46 Die Zukunft. 


Nietzſche über Seichner. 


Dr Richard Wagner-Denfmal-Romitee ift noch in letzter Stunde ein Schrei» 
n ben zugegangen, das e8 über die Abfage ber berliner Stadtbehörben und 
der von Wahnfried beherrſchten Kreife zu tröften vermag. Das Schreiben iſt an 
den Präfidenten des Komitees, den Föniglich-preußifchen Kommerzienrath und Par- 
fumeur-Chemifer Herrn 2. Zeichner adreifirt und von dem bekannten Philologen 
Profeſſor Dr. Friedrich Nietzſche abgefaßt, der zu den nächſten Freunden des Mei⸗ 
fter8 von Bayreuth gehörte und daher befler ald mancher heutige Wortführer beur- 
tbeilen Tann, in welcher Weiſe Richard Wagner würdig zu ehren ift. Er wendet fih 
ſcharf gegen die von intereffirter Seite verbreitete Behauptung, das Denkmal ſelbſt, 
bie Perſönlichkeit unſeres Vorfigenden und die Art unferes Feſtplanes ſeien unver- 
einbar mit dem Weſen und Werk des genialen Dichter-Romponiften. Wir müfjen 
ung, wegen ber Schroffheit einzelner Säße, verjagen, das ganze Schreiben zur öffent» 
lichen Kenntniß zu bringen, und begnügen und mit ber Wiedergabe ber fachlich wich⸗ 
tigften Stellen. Da beißt e8: ‚Richard Wagner war ein unvergleichlicher histrio, 
der größte Mime, das erftaunlichfte Theatergenie, das bie Deutſchen gehabt haben. 
Er wurde Muſiker, er wurde Dichter, weil der Tyrann tn ihm, fein Schaufpieler- 
genie, ihn dazu zwang. Er Bat die Unbedenklichkeit, die jeder Theatermenſch hat. 
Man tft Schaujpieler damit, daß man eine Einficht vor dem Reft der Menſchen vor- 
aus hat: was als wahr wirken foll, darf nicht wahr fein. Der Sat it von Talma 
formulirt: erenthält die ganze Pfychologie des Schaufpielerd; er enthält auch deſſen 
Moral. Wagners Mufik ift niemals wahr. Aber man bält fie dafür: und fo ift es 
in Ordnung. Auch im Entwerfen der Handlung ift Wagner vor Allem Schaufpieler. 
Sn der Gefchichte der Muſik bedeutet Wagner die Herauflunft des Schaufpielers, 
Er hat uns die Theatrofratie gebracht, den Glauben an den Vorrang des Theaters, 
an ein Recht auf Herrichaft des Theaters Über die Künfte, Über die Kunft. Das 
Theater ift eine Form der Demolatrie in Sachen des Geſchmackes, das Theater ift 
ein Maflenanfftand, ein PBlebiszit gegen den guten Geſchmack. ‘Dies eben beweift 
. der Fall Wagner: er gewann die Dlenge, er verdarb den Geſchmack; er verbarb felbft 
fürdie Operunferen Geſchmack. Wagners Schaufpielerpathos wirft jeden Geſchmack, 
jeden Widerftand über den Haufen.‘ Aus diefen Feſtſtellungen folgert Wagners 
beiter Freund, unfer Wirken fei ganz im Sinne des verewigten Meifters gemwejen. 
Er findet, daß ‚unfer Inſtinkt das Rechte traf‘, al3 wir die Ausführung des Dent- 
mals dem weltberühmten Profeſſor Eberlein übertrugen, lobt, als vollfommen ſach⸗ 
gemäß, unfer Programm und richtet jeine fchärfiten Pfeile gegen die Len!e, die bes 
bauptet haben, ein für den Theaterbetrieb arbeitender Großinbuftrieller paffe nicht 
an die Spibe de8 Wagner-Denkmal⸗-Komitees. Wörtlich ſchreibt er: ‚Hätte ich mit 
zu wählengehabt, fo hätte ich meine Stimme feinem Anderen gegeben als bein Liefe⸗ 
ranten der föniglichen Theater in Berlin und Brüffel, dem E. finder der bemährteften 
Fettſchminke.“ Wir glaubten, unferem verehrten Herrn Präſidenten, deſſen außer: 
ordentlich jelbitloje Thätigkeit fo vielfach angefeindet worden ift, die Genugthuung 
ſchuldig zu fein, die ihm die Veröffentlichung diefes Schreibens bereiten muß und 
fehen, nach ſolchem Zeugniß de3 berufenften Richters, getroft dem Urtheil der Nach⸗ 
welt barüber entgegen, obwir im Geift des unijterblichen Meiftersder Töne gehandelt 
‘haben, als wir fein Lebenswerk unter das Patronat des Herrn Leichner ſtellten.“ 





— — — — — — — — — — — — — — —— 


Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: D Harden in Zerlin. -- Verlag der Zutunfti in Berlin. 
Druck von Albert Damde in Berlin Schöneberg. 


Berlin, den 10. Oktober 1905. 
111 


Bebel und Genoffen. 
11.*) 


Menacer sans frapper en politique, c’ost se d6couvrir. 


B" ich zum Genofjen Bebel zurückkehre, muß ich über die Rechtferti—⸗ 
gungverfuche der vier Öffentlich von mir der Unmahrhaftigfeit ange 
Hagten Genofien ein paar Worte fagen. Genoſſe Bernhard beftritt feinen 
irgendwie wefentlichen Punkt der Anllage und führte als mildernden Umftand 
nur an, er fei in Dresden „beftürzt” geweſen und habe nicht die Möglichkeit 
gefunden, auszusprechen, was er über mich und meine Wochenſchrift auf dem 
Herzen hatte. Das Bewußtſein folcher Verſchuldung — die geradeer eigenem 
Wollen, nicht den Umftänden zuzuschreiben hatte — hielt ihn aber nicht von 
dem unanftändigen Verſuch ab, mic) in Nebenpunften der Lüge zu zeihen. 
Der Verfuc blieb freilich erfolglos. Feftgeftellt wurde, daß mein Entſchluß 
ihn, wider feinen Wunfch, veranlaßt Hatte, in der Parteitagsmoche hier feinen 
Artikel zu veröffentlichen; und ferner, daß ich ihm ſchon im Auguft geraten 
hatte, die Mitarbeit an der „Zukunft“, um in der Partei Ruhe zu haben, fo 
ſchnell wie möglich aufzugeben und ſich eine eigene Finanzwochenſchrift zu 
gründen, für deren erfte und ſchwerſte Lebenszeit ich ihm die Gefchäfts- 
räume und den gefammten Upparat meines Verlages unentgeltlid) zur Ber- 
fügung ftellte. Diefes Anerbieten beglücte ihn damals. „Dann kann ichs 
machen“, rief er, der vorher über Mangel an Kapital geftöhnt hatte, undbat 
feine Gattin ins Zimmer, um ihr „Hardens fabelhafte Liebenswürdigkeit“ 
mitzuteilen. Was er vier Wochen danad) in Dresden that und unterlich, 


*) ©. „Bulunft“ vom 26. September und 3. Oftober 1903. 
4 


Die Zukunft. 


babe ich vor vierzehn Tagen erzählt. Genoſſe Braun, der, nebft feiner Frau, 
in materiellen und literarijchen Fährniffen eines wirthfchaftlich nicht nur der 
Bhiliftermoral wideriprechenden Lebens Jahre lang von mir Hilfe erbeten 
und erhalten hatte, fand es jett „unter feiner Würde”, auf meine Anklage 
präzis zu erwidern, und glaubte, durch groben und gröbften Schimpf feine 
Sache beifern zu koͤnnen. Keine Silbe des in den beiden letzten Heften über ihn 
Geſagten ift entträftet worden, konnte entfräftet werden. Doch er ftand auf 
verlorenem Bojten, wurbe von den eigenen Parteigenoffen mit Ausdrüden 
tiefiter Verachtung überjchüttet: und fo mag man ihm die traurige Taktik 
verzeihen. Unverzeihlich aber war undift dns Verhalten des Genoſſen Goehre. 
Er, der vor ein paar Jahren noch das Evangelium von der Kanzel her⸗ 
ab verfündet Hatte, griff nun nad) den ſchäbigſten Mitteln journaliftifcher 
Troßknechte. Silbenftecherei und Schimpfwörter follten den Thatbeftand 
verdunfeln: daß Genoſſe Göhre Stimmung und Beichluß feines Barteivor- 
ftandes kannte, al8 er feinen Artikel in der „Zukunft“ veröffentlichte, und 
daß er in feiner Erklärung vom zwanzigften April 1903 wiſſentlich Unwahres 
behauptet, in feiner dresdener Rede wiſſentlich Wahres verfchwiegen hat. 
Auch andere Lüge wurdeihmnachgewiejen. Das Hinderte ihn, ald er fich zum 
Verzicht auf fein Neichstagsmandat gezwungen fah, nicht, wider befjeres 


Willen die Behauptung aufzuftellen, er habe meine „Verdächtigungen als 


Fälſchungen entlarvt”. Nicht Verdächtigungen, fondern ermweislich wahre 
Thatjachen hatteich gegen ihn vorgebracht; undtrog vielfachen Bemühungen 
iſt ihm nicht gelungen, eine meiner Angaben in ihrerBemeistraftzuerjchüttern. 
Schade, daß der Dann, den einst fo frohe Hoffnung empfing, dem Kampf um 
politiſche Macht nicht fern blieb; der firtliche Wilfe war in ihm ſchwächer als 
der Ehrgeiz, der jtarfe Verſucher. Klüger als die Drei handelte Genofje 
Heine. Ede noch die Anklage gegen ihn erfchienen war, veröffentlichte er im 
„Vorwärts“ eine lange Schutzſchrift. Zweck: die Wirkung zu mindern, die 
in feiner Partei die Enthüllung der Thatſache haben mußte, daß er den Feld⸗ 
zug gegen den Genoſſen Mehring als Stratege geleitet hatte. Jeder halb» 
wegs erfahrene Vertheidiger räth dem Angeklagten, belaftende Momente, die 
in der nädjiten Stunde der Beweisaufnahme ans Licht fommen müjlen, 
lieber ſelbſt, als Handle jich3 um unerhebliche Dinge, vorzubringen. Doch 
die Schugfchrift trug auch das Merkmal fchlechterer Aovokatenpraxis; fie 
war nicht von dem Streben nad) Wahrhaftigkeit diftirt, fondern von dem 
Bemühen, durch große und kleine Entjtellungen des Thatbejtandes den Geg- 
ner ind Unrecht zu jegen. Ich müßte ganze Seiten füllen, wenn ich alle in- 
genauigkeiten des heiniſchen Schriftſatzes nachweiſen wollte. Das ift einft- 








Bebel und Genoffen." 49 


weilen nicht nöthig. Zwei Proben werden genügen. Er jagt („Vorwärts 
Nr. 228): „Ich ſchickte die Briefe (Mehrings) mit Dank zurück ... 
In der ſelben Zeit ſchrieb ich Herrn Harden einige Zeilen über eine Theater⸗ 
aufführung und erhielt bald darauf von ihm feine Brochure Kampf⸗ 
genoffe Sudermann‘ mit einer Dedilation”. Der Brief, den er meint, ent- 
hielt erfteng bieBitte, ihm Gelegenheit zu geben, „die fo angenehme und an- 
regende Blauderei (mit mir) fortzufpinnen” ; zweitens Nachrichten und Grüße 
von Herrn und Frau von Vollmar; drittens die Aufforderung, über den 
Geifteszuftand eines feiner Klienten ein Literarifches Gutachten abzugeben; 
viertens eine fpöttifche Erwähnung des Herrn Sudermann, die mir den 
Anlaß bot, dem Spötter meine Brochure zu fchiden. Das nennt Heine 
„einige Beilen über eine Theateraufführung”. Der Brief ift vom fechsten 
Februar 1903 batirt; underft zwei Monate fpäter ſchickte er endlich die von 
mir entliehenen Briefe Mehrings zurüd. (Der die verjpätete Rückſendung 
entjchuldigende Brief, aus dem im vorigen Heft ein Stüd abgedrucdt wurde, 
tft nicht, wie dort Irrthümlich ftand, am fünfzehnten, jondern am fünften 
April 1903 gefchrieben.) Zweite Brobe. Herr Rechtsanwalt Heine citirt aus 
dem Gedächtniß, er habe mir (nad der neulic) erwähnten „Dedifation“)ge- 
Schrieben: „Die politifche Wahrhaftigkeit zeigt jich darin, daß mar den Muth 
hat, nicht mehr zuglauben, was man nicht mehr glauben kann, und nicht zu fa- 
gen, was man nichtmehr ſagen kann. Diefen Muth haben Siebewiefen.” Das 
babe ich, fügter hinzu, aufmeine Haltung in einer ſechzehn Jahre zurückliegen⸗ 
den Zeit bezogen. Daß ich vor ſechzehn Kahrenan literarijche Thätigkeit noch 
nicht dachte und meine erften Apoftata-Artifel im Sommer 1890 erfchienen, 
mag hingehen, beleuchtet aber die Genauigleit heinifcher Darftellung. Doc) 
was hat er mir in Wirklichkeit gefchrieben? „Das Wefen der politijchen 
Wahrhaftigkeit ſteckt tiefer, in dem Muth, Nothmwendiges zu erfennen 
und zu vertreten, auch wenn es Einem zumider ift. Es ift wohl nicht 
nöthig, zu jagen, daß Sie fich diefen Ruhm vindiziren können; vielleicht 
aber hören Sie es gern aud) von Jemand, der im fehr wejentlichen 
Punkten, vielleicht den wichtigften der heutigen Tagespolitik, anderer 
Meinung als Sie über das Nothwendige iſt.“ Genofje Heine hat alfo falfch 
citirt und den Sinn feines langen Briefes (vom zehnten Februar 1903) bis 
zur Unkenntlichkeit entftellt; denn diefer Brief lobte nicht meine in ferner 
Vergangenheit, fondern meine in „heutiger Tagespolitik“ bewieſene Wahr: 
Baftigleit. Und daß der Vertreter des dritten Neichstagsmwahlfreifes mir 
ſolches Lob geipendet habe, follte den Parteigenoffen verjchwiegen werden. 
4* 





50 Die Zukunſt. 


Die beiden Proben genügen zunächft wohl; ich koͤnnte Ihnen manche andere 
gefellen, will hier aber heute nur wiederholen, was ich im „Vorwärts”“ auf 
Heines Schriftſatz geantwortet habe. 


Herr Heine druckt Theile aus Briefen ab, die er an mich gerichtet hat, 
und meint dann, ich würde mich vielleicht darauf berufen, daß dieſe Briefe 
mit „Hochachtungvoll und ergebenſt“ ſchließen. Das iſt fein übler Witz. Die 
konventionelle Formel würde freilich nichts beweiſen. Herr Heine aber verſucht, 
durch Weglaſſungen ſeinen Briefen den Charakter der Intimität zu nehmen, 
den ſie hatten. Der, den er mir nach ſeiner Rede aus Dresden ſchrieb, ſchließt 
mit „beiten Grüßen”; ber ſechs Tage vorher aus Tegernſee geſchriebene, intim 
eingeleitete, ſchloß mit dem Sat: „Bollmars, bei denen ich zwei Tage zu⸗ 
‚gebracht habe, und meine Frau laſſen Sie beftens grüßen.” Ich glaube, daß 
folde Worte doch etwas mehr beweiſen als Hochachtungvoll und ergebenit”. 
Ich babe Herrn Heine Zweierlei vorzuwerfen. Erftens, daß er mich durch 
eine Depefche verlodt hat, ihm einige Briefe des Herrn Mehring — bie er 
früher zur Anficht erbeten und Donate lang behalten hatte — nad) Dresden 
zu ſchicken, und daß er diefe Briefe, die er, wie ich annehmen mußte, aus⸗ 
fchließlich zur Abwehr gegen mid, auf bem Parteitage durch ein Flugblatt 
verbreiteter Unmwahrbeiten benugen wollte, ohne irgend eine Autorilation 
Herın Bernhard übergab und von diefem Herrn zu einem Angriff auf Herren 
Mehring benußenließ. Ich hätte die Briefe Herrn Bernhard nicht anvertraut, 
babe fie ihm, ber dringend darum bat, verweigert und hätte, wenn ich Schoen- 
lanks und Mebrings eigene Briefe gegen Mebring benugen wollte, Längft in 
meiner Beitfchrift dazu Gelegenheit und Grund gehabt. Herr Heine hat das 
ihm anvertraute Eigentum mißbraucht, e8 mir erft nad) zwet ſchroffen De: 
peſchen, in denen ich es forderte, zurüdigefandt und, ftatt mich, wie er ange⸗ 
boten hatte, gegen Unwahrheiten zu ſchützen, mich in den Verdacht gebracht, 
ich hätte gegen Herrn Mehring eine Intrigue angezettelt. Sollte die Affaire 
Schoenlanf vorgebracdht werden, fo mußte Herr Mebring von diefer Abficht 
vorher benachrichtigt werden. Herr Heine, dem allein, deffen Takt und frimi- 
naliftischer Anftandspflicht ganz allein, auf feine Bitte, die Briefe anvertraut 
waren, hat ſich durch fein Berhalten eines, wir ich finde, ungeheuerlichen Ber- 
trauensbruches ſchuldig gemacht. Der zweite Bormurf, den ich ihm made, ift: 
daß er in Dresden fein Verhäliniß zumir und ſein Urtheil über mich wifjent- 
lich falſch dargeftellt Hat. Dafür bringt meine Wochenschrift ben Beweis... Herr 
Heine, der fi), obwohl er allein der Anftifter zum Angriff auf Herrn Mehring 
war, tief im Hintergrund hielt, den Objektiven fpielte und mir das Odium 
aufbürdete, ich hätte dieſes unfchöne Heldenſtück injzenirt, Herr Heine be- 
bauptet in feinem Schriftfaß, ich Hätte „‚vernichtende Enthüllungen’‘ über ihn 
in Ausficht geftellt. Die Behauptung ift unwahr. Ich Habe weder die Macht 
noch die Neigung, den Herrn zu „vernichten. In der mir aufgezwungenen 
Fehde war mein Biel, zu beweifen, baß die Herren Bernhard, Braun, Göhre, 
Heine ihre Beziehungen zu mir und ihr Urtheil über mein Wirfen vor der höch⸗ 
ften Rechtsinftang ihrer Partei wider befferes Wiffen falfch dargeftellt Haben. 
Ob diefer Beweis gelungen ift, kann, troß allen Verdrehungen und erbärm- 


- —— — 


"Tr 


Bebel und Genoſſen. 51 


lichen Metizenzen, einfach aus bem vorgebradgten und noch vorzubringenben 
Material erfannt werden. Wer es unbefangen prüft, wird willen, ob aus den 
Neden der vier Herren zu merken war, wie fie zu mir und meiner Wochen: 
ſchrift Jahre lang und Bis in die legte Zeit ftanden. War Das aber nicht zu 
merken, dann haben fie gegen mich, dem von ihren Genoſſen unüberbietbare 
Schimpfreden zugefchleudert worden waren, unehrenhaft gehandelt. Denn 
„wer ber Maſſe zu Liebe unterläßt, was Ehre und Pflicht erbeifchen, ift ein 
verächtlicher Demagoge.” Das jagt Herr Rechtsanwalt Heine, der mir vor 
fünf Wochen Spontan mitteilte, er ſehe eine „Ehrenpflicht“ darin, auf dem 
Barteitage offen für mich, für die Reinheit meiner Motive und für die Un- 
parteilichkeit meiner Zeitſchrift einzutreten. 


Diefer Replif folgte eine Duplif des angellagten Rechtsanwaltes, die 
einigermaßen zerknirſcht Hang, doch an vielen Stellen wieder der Wahrheit 
ausbog. Das wichtigfte Zugeftändniß: „Herr Harden hat mir in der That 
niemals den Wunfch zır erkennen gegeben, gegen Mehring vorzugehen; weder 
bat er mich noch habe ich ihn für irgend welche Intrigue benugen wollen.” 
Die wichtigfte Ableugnung: unfere Gefpräche feien nicht intim gewefen. Ich 
fonnte mich mit Dem Hinweis auf die Thatfache begnügen, daß Heine vorher 
auch feinen Briefen den Charakter der Intimität abzuftreiten verfucht hatte, 
babe ihn aber öffentlich aufgefordert, mich zu verklagen und fich als beeideten 
Zeugen vernehmen zu laffen; ich wolle auf das Rechtsmittel der Widerflage 
verzichten und noch zwei oder drei andere Zeigen vorladen: dann werde feft- 
zuftellen fein, ob die Meittheilungen, die wir austaujchten, mit Fug als in- 
tim zu bezeichnen find. Die jelbe Aufforderung richtete ich an die Herren 
Bernhard, Braun, Göhre. Wenn ich in der Nothwehr Briefitellen veröffent> 
liche, heißt es in dem Lager, wo die politische Berwerthung eines von Miguel 
als Student an Marr gejchriebenen Briefes wie eine Heldenleiftung gefeiert 
wurde: Das thut fein Sittfamer. Wenn id) gejprochene Worte anführe, wer- 
den fie abgeleugnet. Diefes Gebahren efelt mic) nachgerade an. Jedes hier 
über die vier Genoſſen gefagte Wort ift wahr; und ich könnte, wäre ich grau- 
fam und rachſüchtig, noch mehr über Einzelne von ihnen jagen. Wollen fie 
die Wahrheit meiner Darftellung beftreiten, dann follen fie den Ort auf- 
Suchen, woder Eid das Gedächtniß ſchärft und die Zeugnißpflicht feige Zungen 
zum Reden zwingt. Thun fie es nicht: zur Entfchleierung folluforifcher Ver» 
juche fehlt mir nun endlich der Raum und die Beit. " 

Der Abgeordnete Heine hat im „Vorwärts“ erzählt,erhabevoneinem 
Brief, den er mir am elften September 1903 aus Tegernſee fchrieb (und 
den er, mit Weglaffung aller Intimität verrathenden Stellen, abgedrucdt hat), 
eine Abjchrift zurücdbehalten. Warum wohl? Er hat politifch und perjön- 


62 Die Zulunft. 


lich wichtigere Briefenicht kopirt, troßdem ers ins Berlin, neben feinem An⸗ 
waltsbureau, bequemer gehabt hätte. Und jest, im Gebirge, in der Hoch⸗ 
. ftimmung eines von Sonnenglanz und Mondfchein Beglüdten, plagt er 
ſich mit Abfchreiberei? Mir war diefe Mittheilung ungemein werthvoll, 
weil fie das legte Räthſel diejer politifchen Tragifomoedie löſen half. Der 
tegernfeer Brief hatte im Meritorifchen (mie die öfterreichtiche Amtsſprache 
jagt) einen gegen den früherer Briefe völlig veränderten Ton; als ich ihn ge» 
leſen hatte, jagte ich zu einem Freund: „Heine wird in‘Dresden nicht für mid) 
ſprechen.“ Ende Auguft hatte er mirgejchrieben, er werde in die Debatte 
über die „Zukunft“ eingreifen. Ein paar Tage danach hatte er feinem Ge⸗ 
nofjen und Klienten Bernhard ein Plaidoyer fürdie Zukunft“ vorgetragen, 
von dem dieſer Genoſſe mir fagte: „Wenn Heine die Rede in Dresden wirk- 
lich Hält, werden Sie fich jehr über ihn freuen”. Jetzt Ichrieb er plöglich: „Ich 
habe den Wunjch, möglichft wenig in die Debatte einzugreifen,” Dazu aller- 
lei bisher nie auch nur angedeutete Vorbehalte. Natürlich traue er mir nicht 
„ehrenrührige Beweggründe” zu; natürlich müffe „der Wahrheit gemäß her⸗ 
vorgehoben werden, daß Sie ſich über die Bedeutung der Sozialdemokratie 
- für die Arbeiter auch anerfennend ausgefprochen haben.“ (Natürlich wurde 
in Dresden weder das Eine noch das Andere hervorgehoben.) Aber was über 
Rußland und über die Sozialdemokratie in der „Zukunft“ geftanden habe, 
lei nicht zu rechtfertigen; auch habe er ſchon im Winter einmal die Abficht ge- 
habt, ſich mit mir über die Form meiner Bolemif auszufprechen, und hoffe, 
dazu noch Gelegenheit zu finden. Diefen Sat läßter, ohne eine Lücke im Brief 
anzudeuten, beim Abdrud fort. Warum? Weildiefer Satz an einem Punkt die 
Unmahrhaftigfeit feiner dresdener Rede bewiefen hätte, in der e8 hieß: „Ich 
habe Harden ausgefprochen, daß ich feinen perfönlich-gehäffigen Ton auf 
das Schärffte mißbillige.” Aus dem tegernjeer Brief, der eintraf, als die 
von Deine telegraphifch erbetenen Briefe ſchon nach Dresden abgeſchickt fein 
mußten, wußte ichalfo, daß der Rechtsanwalt fich jedenfallsnichtin die Schuß: 
linie jtellen werde. Die Gründe ſolcher Zurüdhaltung konnte ich nur ahnen. 
Jetzt kenne ich fie. In oder bei Tegernjee ift Genoffe Heine, vielleicht nicht 
ohne fremde Nachhilfe, zu der Einficht gelangt, daß die Vernichtung Meb- 
rings viel wichtiger ſei al3 die Bertheidigung Hardens und daß, wer Mieh- 
ring an den Leib wolle, ſich vor dem Verdacht ſchützen müffe, mit Harden 
intim zu fein. In oder bei Zegernfee hat ein Fühler Schlaufopf ungefähr fo 
geiprochen: „Bebel tobt gegen ung, hat die unbarmberzigfte Abrechnung in 
Ausjicht gejtellt und möchte ung am Xiebften aus dem Parteiverbande drän- 


Bebel und Genofien. 58 


gen. Das iſt, bet der durch Bernfteins Präſidialthorheit bewirkten Erregung, 
nicht ungefährlih. Unferen Auguft fennen wir ja aber nicht feit geftern: 
wenn er ſich einmal nach Herzensluft ausgetobt hat, wird er ruhig und 
läßt mit fich reden. Wir findgeborgen, wenn er den heißeften Zorn gegen die 
‚Zukunft‘ auswettert. Wahrfcheinlich tritt er dann furioso für Mehring 
ein, den er gern als Vertrauensmann im ‚Vorwärts‘ hätte, und ift ein Bis- 
chen blamirt, wenn wir Mehrings Briefe auftauchen laffen. Zwei Fliegen 
würden fo mit einer Klappe gejchlagen: ben Mehring wären wir los und 
Bebel verlöre an Breftige und müßte fichin der Hauptdebatte zähmen. Dem 
Harben aber jchreibt man einen diplomatifchen Brief, der im fchlimmften 
Fall jpäter als Rechtfertigung zu benugen ift. Auch ift er ein netter Kerl, 
wirds, wenn ihm Alles erklärt ift, nicht übelnehmen, gern wieder mit ung zu- 
fammenfiten und unſereStrategie lachend loben.“ So ward es gemachtundein 
Ziel wirklich erreicht: Bebels Rede gegen die „Reviſioniſten“ war, nach den 
boraufgegangenen Wuthgemittern, eher zahm als wild und dem „Komoedien⸗ 
jpiel” wurde nicht, wie er verheißen hatte, ein Ende mit Schreden bereitet. 
Die Rechnung Hatte aber ein Loch. Die „Zulunft” und ihr Heraus— 
geber wurden in Dresden jo über alles Erwarten ſchmählich verleumdet 
und die Genofjen Bernhard, Braun, Göhre, Heine zeigten fich in ihrer 
Untreue und Unmwahrhaftigfeit auch nod) jo unklug, daß ich, wenn ich mir 
Selbftachtung bewahren wollte, nicht ſchweigen durfte. Und das Schlußbild 
war: Bebel triumphans. So gehts in der Bolitif Jeden, der, wider La⸗ 
martines Warnung, droht, ohne zufchlagen zu Fönnen. Mit folchen Mittel⸗ 
chen werden die Bollmarifchen nicht viel wirken; fie follten jich an das Schick⸗ 
Sal der Girondiſten erinnern und fragen, ob Thiers nicht Recht hatte, als er 
jchrieb: Tout parti modere qui veut arröter unparti violentestdans 
un cerele vieieux dont il ne peut jamais sortir... Iſts aber nicht 
allerliebjt, an ſolchem Zufallsbeiſpiel zu erkennen, wie Parteikriſen entjtehen, 
Parteigejchichte gemacht wird? Genoſſe Mehring fühlt das Bedürfniß, mich 
wieder einmal zu verrufen, und juggerirt feine aberwitzige Weisheit dem 
@ snoifen Bebel, der in mir zugleich die ſoienſaſſiſcher Kegerei verdächtigen 
zenoſſen Braun und Göhre treffen will. Die ſputen fich, jede nähere Be- 
ehung zu Zeitſchrift und Herausgeber jfrupellosabzuleugnen, und ihre Hin- 
ermänner reiben bie Hände, da Auguft der Schredliche ſich an mir ausraft. 
Bon beiden Seiten wird des Schlechten aber allzu viel gethan und das End- 
srgehriß ift: offener Schimpffrieg Aller gegen Alle in der Partei, fchlimme 
Hwächung des norddeutjichen Fähnleins der nicht mehr blind an Marx 


64 | Die” Zunft 


Glaubenden, von denen dreiffiziere ſchlapp geworden find, und die Enthül- 
lung eines Mangels an Kohäſion, wie er fonft nur anluftförmigen Körpern 
beobachtet wird, deren Raumgrenzen die Wucht äußeren Drudes beftimmt. 
Das konnte fein der Partei fern Lebender wirken. Das hat mit feinem Flug⸗ 
blatt Genofje Mehring, mit feiner tegernfeer Taktik Genoſſe Heine vollbracht. 

Der Anhalt des Flugblattes wurde zuerft in der vom Genofjen Meh⸗ 
ring redigirten Leipziger Volkszeitung veröffentlicht; am neunten September 
1903. Wenn ich die Abficht gehabt hätte, das Lügengeknäuel fofort zu ent- 
wirren, wäre meine Antwort im Heft vom neunzehnten September erjchie- 
nen: alſo nach Schluß der Barteitagsdebatte über die „Zukunft“. Das hatte 
der Pſeudologe richtig berechnet. Auch lagen die zur Abwehr der luſtigſten 
Lügen nöthigen Briefe, auf Wunfch des Genoſſen Heine, vom elften bis zum 
zwanzigften September in ‘Dresden. Doch ich wollte damals nicht antworten. 
Erſtens, weilder VerfafferMehring hieß; zweitens, weilich, feitim Februar 
die Frage der Mitarbeit an der „Zukunft“ erörtert wurde, mir vorgenom⸗ 
men hatte, jeden Verfuch einer Einwirkung auf den Beſchluß der Partei: 
inftanzen zu meiden. Ich ſchwieg aljo auch jest; und das Flugblatt wurde in 
vierhundert Exemplaren im Trianonfaal vertheilt. Da lafen die Genoffen 
wundervolle Häubergefchichten. Harden ift Mehring „nachgelaufen“, hat 
fich für einen Sozialdemokraten ausgegeben und verjchwiegen, daß er für 
Bismard ſchwärme, dem er ſich dann ſchlankweg, verkauft“ hat. WeilMehring 
dieſe Thatſache erfuhr, Hat er die Aufforderung, für die „Zukunft“ zu ſchrei— 
ben, „von vorn herein abgelehnt” und bald danach „auf jeden perjönlichen 
Verkehr mit Herrn Harden verzichtet.” (ALL diefe unfauberen Lügen find 
hier ſchon am vierten März 1899 sine ira, mit Mehrings eigenen Wor- 
ten, widerlegt worden; thut nichts: nach vier Jahren, meint er, find fie 
wieder jo gut wie neu.) Die „Zukunft“ ift ein „Klatjchblatt”, deffen Haupt: 
aufgabe in der Verleumdung der Sozialdemofratie befteht, und „Ehren 
Harden, der aud) nicht über die einfachfte politifche Frage das einfachfte fad)- 
liche Wort zu jagen weiß” (deffen recht jugendliche Apoftata- Bücher von 
Ehren: Deehring aber 1892 als „glänzende literarijche Broduftionen, als bie 
Erzeugniffe eines tiefen und tapferen fozialen nftinftesaußerordentlih hoch 
geſchätzt“ wurden), ift fogar von der Hyperfonfervativen Kreuzzeitung, derer 
fi) „anbiedern” wollte, Hinausgeworfen worden. (Natürlich habe ich zur 
Kreuzzeitung nie aud) nur die loſeſten Beziehungen gehabt oder gejucht.) Und 
jo weiter. Citate aus meinen Artikeln, wie der gewifjenlofefte ſpaniſche Pro- 
furator fie nicht gegen einen Dynamitanarchiſten dem Gerichtshofe vor: 





—Bebel und Genofien. 55 


legen würde. Dann der Nothichrei: „ES ift mir unmöglich, den ſchmutzigen 
Blödſinn noch weiter abzufchreiben.“ Der Artikel, der in diejem wackeren 
Sozialdemokraten fo ftarfe Unluftgefühle weckte, vertheidigte die Sozialde: 
mofratie gegen die breSlauer Rede des Kaiſers und enthielt, neben anderen, 
die jeden Genoffen freuen mußten, die Sätze: „Die Sozialdemokratie gehört 
zu den Dingen, die man erfinden müßte, wenn ſie nicht ſchon beftünden. Ihrer 
Keinen, unjichtbaren Drillarbeit, die den Ehrgeiz jpornt und dem Xeben der 
Aermiten felbft, der ing Koch geiſtlos monotoner Arbeit Geſpannten einen 
Inhalt giebt, ift zum großen Theil der angeftaunte Fortſchritt der deutfchen 
Induſtrie zu banken; und der befonderen Art ihrer Agitation die Ruhe, die 
jeit einem Halbjahrhundert in Deutfchland herrſcht... Der müthendjte 
BourgeoiS müßte zugeben, daß feine uns befannte politifche Organi- 
fation je einer Kaffe fo fchnell und jo mwejentlich genügt hat wie den 
deutjchen Arbeitern die Sozialdemofratie.” Nach folchen Proben wird der 
Leſer begreifen, warum der Fall Mehring mir in den Berufsfreis des 
Pſychiaters zugehören ſcheint; nur ein Menſch, deſſen Geiftesthätigkeit krank⸗ 


haft geſtört iſt, kann ſo kindiſche Fälſchung wagen. Einerlei. In Dresden, 


dachte ich, wird man den Armen auslachen. Da ſitzen auch außer den Bern⸗ 
hard, Braun, Göhre, Heine ja noch Leute, die feit Jahren die „Zukunft“ 
fennen, und andere, bie eigene wehe Erfahrung gelehrt hat, daß man folcher 
Eitatenfammlung, die den Köller weit überföllert, nicht trauen dürfe. Da 
wird man die Sache einfach komiſch finden. Komiſch, daß die Liebe zu Bis- 
mard wie die ärgite Todfünde von einem Mehring verdammt wird, der als 
jech8unddreißigjähriger Mann, nachdem er ſchon einmal Sozialdemofrat ge- 
weſen war, ſchwärmend „den genialen Staatsmann Bismarck“ gerühmt hat. 
Daß Liebknecht und Bebel gegen fatirifche Kritik von einem Manne verthei- 
bigt werden follten, der Bebels Bauernfriegsgeichichte „eben jo albern wie 
anmaßlich“ genannt und von Liebfuecht gejagt hat, er ſei „geiftig entartet”, 
Schüge die „infamfte Korruption“, habe die Maſſen entjittlicht und greife im 
Kampf nad) den „gemeinften Verleumdungen“. Daß jedes Spottwort über 
die längjt zur Großmacht erwachfene Partei als fluchwürdiges Verbrechen 
von einem Manne denunzirt wird, der in der Zeit hitzigſter Sozialiſten— 
verfolgung jchreiben und druden laffen konnte: „Unter den unermeßlich 
reihen Gaben, mit welchen das unvergleichliche SXahr 1870 unſer Vater- 
land begnadete, war nicht die geringfte die gänzliche Zerjchmetterung der 
deutjchen Sozialdemofratie”. Und: „Die Fabrikinſpektoren ſchildern über- 
einſtimmend die Arbeiter in allen Gegenden, die ergiebige Werbepläße der 
5 





56 Die Zukunft. 


Sozialdemokratie waren, aldein dumpfes, träges, jederthatfräftigen Selbft- 
Hilfe unfähiges &efchlecht”. Und endlich: „Die ſozialdemokratiſche Agitation 
war ein fühl berechneter Verfuch ſchlauer Demagogen, die beftehende Ord⸗ 
nung der Dinge gewaltfam umzuftürzen ... Sid) hiergegen zur Wehr zu 
jegen, die Waffe zu zerbrechen, die nach feinem Herzen gezücdt wurde, war 
nicht nur ein Recht, ſondern eine Pflicht des Staates." Wer jo — nicht als 
Süngling,fondern als einMann,derfich früher felbft zur Sozialdemofratiege- 
rechnet, inihrem Namen fünfJahre vorher gegen Treitſchke öffentlich das Wort 
geführt Hatte — wer fo über die vom Sozialiftengejeg gefnebelte Partei und 
deren Führer urtheilen fonnte, hat das Recht verwirkt, felbft dem Ihlimmften 
„Scharfmacher“ heute das Schaffot zu errichten. Das, dachte ich, würde 
man auch in Dresden fagen; und das Täppijche Flugblatt zu dem Uebrigen 
legen: zu den Alten der Krantengejchichte Mehrings. Es kam anders. Der 
beredtefte und angefehenfte Führer der Sozialdemofratie ſprach, ohne auch 
nur ein Stündchen an die Fritifche Sichtung des Materials zu wenden, Alles 
nad), was der als zuverläffig bewährte Genoſſe Mehring ihm vorgefagt hatte. 
Sprach? Brüllte, heulte,jchrie. Und von den dreihundertfechSunddreißig De⸗ 
legirten fand Feiner eine Silbe für mi. Ein Gaft fogar, der öfterreichiiche 
SenofjeDr. Adler, der doch triftigen Grund gehabt hätte, zu ſchweigen, trug 
zu dem Scheiterhaufen ſchnell nod) ein Spähnlein herbei. 

Der Abgeordnete Bebel hält e8 offenbar für höchft originell, in feinen 
Neben, die ich jetzt betrachten muß, mich ftet3 „Herrn Witkowski-Harden“ zu 
nennen. Er wußte nicht, daß ich feit dreizehn Jahren den Beitunglejern tau- 
jendmal unter dieſem Doppelnamen vorgeführt worden bin, in hundert Bei- 
tungen, von der StaatSbürgerin bi$ zum Kleinen Kournal. Solche Bezeich- 
nung jollteein vages Mißtrauen gegen mich weden. Konntees auch. Wer feinen 
Namen wechjelt, ift, zumal wenn er Wirkung auf öffentliche Angelegenheiten 
erftrebt, mit Recht verdächtig; mit um jo größerem Recht, wenn der neue 
Name deutjch Elingt, der abgelegte jemitifchen Beiklang hatte. Gewiß, denkt 
dann der Lejer, hat diefer Streber den Namen gewechlelt, um die Spur jü- 
diſchen Urjprunges zu verwifchen und fich nicht die Karriere zu verderben. Das 
Borurtheilift begreiflich. Ich habe darunter gelitten und mußte, fo leicht mir 
eine Widerlegung geweſen wäre, ſchweigen, weil eine öffentliche Erörterung 
diejer Dinge meiner alten Mutter argen Schmerz bereitet hätte. Syın Früh—⸗ 
ling habe ich fie verloren; und darf nun reden. Herr Bebel erzählt, er habe 
meinen Vater gefannt, einen guten Demofraten, mit dem zu verfehren 
ihm eine Ehre gewefen jet; mit dem Sohn zu verkehren, würde er nicht für 

















Bebel und Genoffen. . . 57 


eine Ehre halten. Vielleicht, weil er ihn eben nicht kennt; doch: wie es Euch 
gefällt. Die jelbe Gefchichte von Vater und Sohn hat übrigens Knecht Meh⸗ 
ring Schon mehr als einmal erzählt; aud) er will mit meinem Vater intim - 
verfehrt haben. Als Politiker muß ich fragen, was mit diejer Gegenüber- 
ftellung denn eigentlich bezweckt werden joll. Einen faßbaren Sinn fünnte - 
. fie doch nur haben, wenn der Vater ein Märtyrer feiner Ueberzeugung, 
der Sohn ein Streber wäre, der um jeglichen Preis in die Sonne zu font: 
men fucht. Hier liegt die Sache anders. Mein Vater war Kaufmann und 
hatte niemals Gelegenheit, feinem politiichen Glauben irgend ein Opfer zu 
bringen. Und mir, dem viermal wegen politifcher Bergehen Beitraften, über 
zwölf Monate Eingeiperrten, von allen herrfchenden Gewalten Bopfottirten, 
folite jelbjt Bebel nicht nachſagen, daß ich in die Sonne will undeinder Ueber- 
zeugung zu bringendes Opfer ſcheue. ch könnte ihm beweien, daß ich Ver- 
fucyungen widerftanden habe, die den Ehrgeiz, die Eitelkeit, die Gewinnſucht 
loden und einem Kränkelnden die Gefangenschaft fparen konnten ; und bilde 
mir nicht ein, auf ſolche Widerftandsfraft ftolz fein zu dürfen. Als Sohn 
muß ich mic) freuen, daß mein Vater gelobt wird, — mags immerhin auf 
meine Koften gejchehen. Ich habe ihn nicht gefannt; nicht ingefunden Tagen. 
Als ich erwuchs, Hatte eine ſchwere Piychofe ihn heimgefucht und in meinem 
Gedächtniß lebt der Unglückliche nur als ein verjtörter Geift, der Tag und 
Nacht mit fich felbft laute Ziviefprache hielt und die Seinen mit graufigen 
Wahnvorftellungen quälte. Genug... Der leichtfertige Verleumder, der 
mich zwingt, hier meine Scham zu entblößen, kann mic) nicht zwingen, diefe 
unſäglich traurigen Zuftände bis ins Einzelne zu fchildern. Wer fie ahnen will, 
leſe, was Hebbel am achtzehntenSeptember1838 in fein Tagebuch ſchrieb. Diei- 
ne arme Mutter jah ſich durch) Gründe, die aud) das Geſetz als zur Löſung des 
Ehebundes ausreichend erkannte, genöthigt, das Haus zu verlaffen, indem fie 
dreißig Jahre lang nur ihrem Mann und den Kindern gelebt hatte. Ich blieb, 
ein Knabe, der feine Kindheit, feinen Strahl alltäglicher Kinderfroheit ge- 
fannt hatte, beim Vater, mußte mindeitens bis zur Ehejcheidung bei ihm 
bleiben, in dem und für den feine Stimme gemeinfamen Fühlens ſprach. 
Eine entſetzliche Zeit, der ich entlief: zur Mutter. Wurbe zurücgeholt und, 
troß den Bitten des Gymnaſialdirektors, der den blutjungen Primus der 
Sekunda bis zum Beginn der Studentenjahre fortbilden wollte, in ein Kauf: 
mannsgejchäft geſteckt. Das war das Letzte. Ich lief davon. Mit zwei, drei 
Thalern in der Taſche, ohne warmen Rod, omnia mea mecum portans. 
Acht Tage, acht Nächte obdachlos in Berlin. Vier, fünf Stunden bei einer 
5 


58 Die Zukunft. 


Taſſe Kaffee im heißen Raum. Dann fchidte ein Winfelagent den noch nicht 
vierzehnjährigen Knaben zu einer jämmerlichen Schaufpielgefellfchaft. Thea- 
ter: Das bedeutete mir Freiheit, des Freiſten fogar, und obendrein Kunft. 
Den Knabenwahn, der mich in Planwagen und als Baffagier vierter Klaffe ein 
Jahr lang durch allerlei Kandftädtchen trieb, habe ic) mit meiner Gefundheit 
theuer bezahlt. Waraberfelig. Da der Vater mich durch die Polizei ſuchen ließ, 
hatte ich, der lieber untergehen als heimgeichleppt werden wollte, den Namen 
angenommen, den ich jeitdem trage; für eineWeile war ic) Jogeborgen, denn mit 
wandernden Komoedianten nimmts die Meldebehörde nichtallzu genau. Aus 
diefer Zeit ſchon kann ich Herrn Bebel Theaterzettel vorlegen, aufdenen Herr 
Maximilian Harden, der dumme Junge, als Darfteller des Muſikus Miller 
und ähnlicher Rollen verzeichnet ift. Dem Schredensjahr folgte ein ftilleres. 
Der Vater, deſſen Lebenslicht im Erlöjchen war, hatte das Suchen aufge- 
geben; der auch körperlich noch unentwidelte Sohn fpielte in einem Haus, 
wo in den Pauſen Afrobaten und Gymnaſtiker auftraten, nah bei Berlin den 
Marquis Pofa und Mortimer. Meint Auguft Bebel nicht, der Drang nach 
Freiheit müſſe recht ſtark in einem Knaben geweſen fein, der täglich ins Nejt - 
zurüdfriechen konnte und im Elend blieb, um jich nicht brechen zu laſſen? 
Glaubt er, daß proletarifches Empfinden mir nach foldyem Erleben fremder 
als ihm fei?... Nach dem Tode des Vaters begann ein neuer Lebensabſchnitt. 
Der Kranfe hatte fein Vermögen verloren, aber die Güte eines älteren 
Bruders ermöglichte mir, das Allernöthigfte nachzulernen. In dem Kleinen 
Kreis, der den Bürger die Welt dünkt, hatte die Familiengefchichte Lärm 
gemacht; geräufchvolle Hauskonflikte, Scheidung nad) dreißigjähriger Ehe, 
Flucht und Abenteurerleben eines Sohnes: fama creseit eundo. Mutter 
und Kinder erbaten und erhielten von der Behörde die Erlaubniß zum Na- 
menswechſel; nicht, weil Eins von ihnen fich Etwas vorzumerfen, eine fchlechte 
That zu verbergen hatte, ſondern, weil ſie ſich von einer finfteren Vergangens 
heit Löfen wollten, die läjtiger Sfandaljucht Anlaß zum Zufcheln bot. Geit- 
dem ift ein Vierteljahrhundert verjtrichen. Ich blieb bei dem einmal er- 
wählten Namen. Denn mochte ich num zum Schaufpielerberuf zurückkehren 
oder ein anderes Ziel zu erreichen fuchen: für die fleine Welt des Nachbar: 
klatſches follte meine Familie nicht mit meinen Schickſalen verfettet fein. Ehe 
ich eine Zeile fürdie Deffentlichfeit ſchrieb, ehe ich auch nur an literarifche Thä- 
tigfeit noch gar an den Schriftftellerberuf dachte — zu den erften Verfuchen 
trieb mich, offen geftanden, jpäter die bitterfte Noth —, hatte ich das gefegliche 
Necht erworben, den Namen zu führen, den ich jeit den Knabenjahren als 


armen 


Bebel und Genojjen. 50 


Bühnenpfeudonym trug; nur diefen Namen: der meines Vaters gebührt 
mir nicht. Und als fechzehnjähriger Knabe war ich, dernieinnere oder äußere 
Beziehung zum Glauben Ifraels gehabt hatte und während der Schulzeit 
Schon nur in den Lehren neuteftamentlicher Religion unterwiejen worden 
war, zum Chriftenthum. übergetreten, das dem jungen Sinn die höherer 
Kultur entjprechende Glaubensform ſchien. Das Alles ift traurig, trauriger 
noch, als e8 hier Hingt; aber nicht himpflich. Oder will Jemand behaupten, 
ber Knirps, der Mime werden wollte, habe Namen und Glauben geändert, 
um Karriere zu machen? Behaupten, ich wäre heute nicht der Selbe, der ich 
bin, mit Allem, was id) erreicht und nicht erreicht habe, mern ich noch den 
Vramen meines Vaters trüge? Zaufendfache Verbächtigung wäre mirerjpart 
geblieben ; und hätteich zu ahnen vermocht, wohin meinLebensweg führen wür- 
de: nie hätteich miraud) noch diefe Laftaufgebürdet. Denn für die Feinde eines 
politiſchen Schriftftellers ift8 garzu bequem, wenn fiedem Gehaßten nachwis⸗ 
pern können: Der Kerlhieß früher anders, muß alſo ficher ein fauler Kunde fein. 
Daß von Moliere und Voltaire bis zu Novalis und Lagarde, big in unfere 
Tage hinein mancher Schriftiteller, um fich und jein Geſchick von der fozia- 
len Schicht, in die er geboren war, deutlich zu jcheiden, feinen Namen ge- 
ändert hat, wird nicht beachtet. Und daß Laffalle, deffen Vater, mie meiner, 
ein’jüdifcher Seidenhändler war, feinen Geburtnamen durd) Anhängung 
eines e franzöfirt hat, ift Herrn Bebel offenbar fein Aergerniß. Das ift feine 
Sache. Ich habe nicht als ftrebfamer Yiterat, Jondern als Kind meinen Na— 
men gewechſelt; nicht, um Karriere zu machen, fondern, um mich unerträg> 
lichem Drud zu entziehen, der mid) in einem Kaufmannsladen verfümmern 
laſſen, zur Feindjchaft gegen die befte Mutter erziehen wollte. Das ift ers 
weislich wahr, kann, wann und wo es nothiwendig wird, bewiejen werden. 
Bevor ſich noch der leiſeſte literarifche oder gar politische Trieb in mir regte, 
ſtand mir nach Geſetz und Kirchenbud) fein anderer Name zu als: Marimilian 
Felix Ernft Harden. Machts Bebel Vergnügen, mid) anders zu nennen: 
meinetiwegen. . . Daich feinen Schmußfled zu verbergen habe, fann ich ertra⸗ 
gen, daß mir die letzte Hülle vom Leibe gerijjen wird. 

Nichts ift, nichts war jezu verbergen; und ichdarfam Endeverlangen, 
nicht nach härterem Necht gerichtet zu werden als andere Menſchen, die auf 
gebahnten Normalwegen an die Guellen der Bildung geführt worden find. 
Wer als Kind nicht forgenlos Fröhlich war, wird es niemehr. Wer als Knabe 
gehungert, gefroren, auch ſeeliſch und geiftig gedarbt hat, behält den bitteren 
Nachgeſchmack auch in hellerer Zeit auf der Zunge. Ererbte pſychiſche Be— 


— — 


— — — 


60 Die Zukunft. . 


laftung, deren Gefahren durch ganz abnorm verfrühte Selbftändigfeit in 
dem unreinen Milten Heinften Komoediantenlebens, dann durch überhaftetes 
Lernen gefteigert werben, im Elternhaus täglichen Hader, draußen Ver- 
führung der efelften Art: Das ift wahrlich fein heiteres Los. Da es doch eint- 
mal fein muß, fpreche ich hier, als hätte ich das abgejchloffene Leben eines 
Fremden vor mir. Und fage, ruhig und aufrichtig: Er hat ſichs, unter den 
ichwerften Verhältniffen, felbft gezimmert, Stüd vor Stüd; hat Keinen je 
jo gequält wie fich jelbft, Keines Fehler Harer als die eigenen erkannt ; auch die 
Rieſenlücken in feinem Wiffen; aber er hat, fo gut ers nad) der Verſpätung, 
mit wunden Nerven, noch konnte, zu lernen, im Urtheil gerechter zu werden 
verfucht ; auch wer ihn nicht ausftehen kann und feine Schreiberei unleidlich 
findet, ſollte ihm zubilligen, daß er feinen Willen nie feig beugen ließ, nieſich 
ing Frohnjod) dudte und daß er in Fährniſſen der verfchiedenften Formen 
ein anftändiger Kerl geblieben iſt. Deshalb wars eigentlich nicht nöthig, 
gerabe ihn totzuhetzen ... Doc) wir find ja noch nicht beim Nefrolog. Das 
iſt wahrfcheinlich nur Schweningers Berdienft oder Schuld. Ein Stärferer 
wäre zufammengebrochen. Jeder Lump, vor einem Jahr mußte ichs dem 
täppiichen Falſchmünzer Sudermann zurufen, wiſcht ſich an meinem Kleide 
die ſchmutzigen Stiefel ab. Die Freunde — ein paar der berühmteften Nanıen 
Europas find darunter — fchweigen. Der beftochene Schreiber, der Spion 
findet irgendwo in der Preſſe einen Bertheidiger von Huf; ich nicht. Die Tem: 
peramente find eben verschieden. Ich habe nie thatlos zugejehen, wenn neben 
mir ein Menfch Äberfallen wurde; zumal einer, der mic) halbwegs werthvoll 
dünkte. Andere begnügen ſich in folchen Fällen, dem Opfer der Strolchthat 
brieflich ihre Hochſchätzung, Bewunderung, Verehrung zu betheuern. Und 
ftehen manchmal nad) einer Weile, um ein fetteres8 Günftchen zu ködern, jelbft 
wider mid) auf. Wenn ich, im unbejtrittenen Rechte der Nothwehr, dann 
in meinen mit Hochjchäßung, Bewunderung, Verehrung bis oben volige- 
ftopften Briefichranf greife und die Lügner an den Pranger ftelle, an den fie ge- 
hören, Flingts, ganz wievon der Lippe der von Ibſens Schöpferodem belebten 
Heuchlerfippe: So was thut man nicht! Privatbriefe find heilig! Gau— 
nermoral, die ohne das heilige Hecht auf Zug und Trug nicht ausfommen 
kann. ch brauchte fein fonvenienzwidriges Wehrmittel zu wählen, wenn 
die Bewunderer, die Berehrer weniger jchweigfam wären; brauchte an den 
Bebelquark höchitens zehn Heilen zur wenden, wenn im Zrianonfaal ein 
einziger Tapferer gejagt hätte, was Pflicht ihm zu jagen gebot. Das geſchah 
nicht. Das gefchieht mir nie. Und fo iſts nad) Jahren fchuftiger, kaum 





— 


Bebel und Genoſſen. 61 


durch ein vernehmbares Zufallswörtchen karger Anerkennung unterbrochener 
Hetze dahin gekommen, daß Herr Auguſt Bebel vor Millionen ſprechen durfte: 
„Herr Harden hat die Vergangenheit gewiſſer Mädchen.“ Ich weiß nicht, 
was er damit meinen kann, meinen könnte. Ich bringe heute nicht einmal 
mehr Zorn gegen den eisgrauen Zribunen auf, den diefes Wort mehr {chän- 
det als mich. Doch Aehnliches hat er ja immer gelejen. In den größten, 
ſchmutzigſten, aljovornehmften Zeitungen. Und Niemand hat widerjprochen. 
Und die heldenhaften Genoſſen haben den Verkehr mit mir, den fie ‚Jahre 
lang fuchten, ja wirklich wie den Umgang mit gewiſſen Mädchen verhehlt. 

Ich vermuthe, daß Sankt Auguftinus mit feinem Schimpf jagen wollte, 
ich hätte Bismard als ein Projtituirter gedient. Denn Bismard, ſprach er, 
habe id) eingefangen, weil ich witterte, daß Hunderttaufende an ihn zur ver: 
dienen ſeien. Bismarck hat mir „Artifel diktirt“; „und wenn er nicht gejtorben 
wäre, fehriebe er heute noch, für die „Zufunft‘.” Merkwürdig. Anno 1890 
gabs in Deutjchland doc) viele Zeitjchriften und Zeitungen, gabs, auch wohl 
nach Bebels Anficht, doc) manchen vorurtheillofen Verlagsgeichäftsmann: 
fein einziger aber faın auf den Gedanken, an dem geftürzten Kanzler jei ein 
großes Stüd Geld zu verdienen. Vielleicht glaubten fie, was täglich in jozial- 
demofratischen Blättern ſtand: der, Säkularmenſch“, der bornirte Junker, der 
Depeſchenfälſcher habe ſo gründlich abgewirthſchaftet, daß kein Hund mehr ein 
Stück Brot von ihm nehme. Vielleicht ſagten die Moſſe, Ullſtein, Leſſing & Co. 
auch zu ihren Leuten: „An Bismarck wäre zwar ein Mordskapital zu ver- 
dienen; daich, Sie wiſſens längjt, aber jtetS nur reinfter Ueberzeugung folge, 
wollen wir auch fernerhin für den alten Kanzler die Schmähung, für den jungen 
Kaifer den Weihrauch referviren“. Möglich. Wars aber fo, dann weiß ich 
nicht, warum die Genoſſen die „bürgerliche Prefie jchelten ; dannijtjie, ein 
Produft ſelbſtloſer Meberzeugungtreue, höchjten Ruhmes würdig. Doch wir 
wollen ernjthaft reden. ALS ich für Bismarck zu fprechen begann, war an 
ihm wahrhaftig nichts zu verdienen. Alles neigte der neuen Sonne zu. Und 
ich glaube, fo iſts geblieben. Vielleicht hat der Befiger der Hamburger Nach— 
richten an Bismarck Geld verdient. Sicher ifts nicht; und diefes Blatt war 
von 1890 big 1898 wirklich la feuille de M. de Bismarck. Erweislid) — 
und längft erwieſen — tit aber, daß bie Blätter, die fonjtwo auf Zod und 
Leben die bismärckiſche Politik vertraten, die Weftdeutjche Allgemeine, eine 
Weile die münchener Allgemeine Zeitung, die Berliner Neuften Nachrichten 
und andere, aus der Defizitwirthichaft nie herausfamen;, und fiewurden von 
geichiekten, tüchtigen Journaliſten bedient und fämpften für eine der reichen 


I 


62 Die Zukunft. 


Bourgeoiſie wohlgefällige Klafienpolitif. Wenn, zum Beiſpiel, die Leip— 
ziger Neuſten Nachrichten beſſere Geſchäftsreſultate erzielten, ſo lags nicht 
an Bismarck, ſondern an der von richtigem Inſtinkt geſchaffenen Orga— 
niſation und andemfrifchen, forſchen, niemals langweilenden Stil des Leit— 
artikelſchreibers Dr. viman. Ich hätte behaglicher gelebt und gewiß auch 
mehr Geld verdient, wenn ic) den Ruhm der herrſchenden, nicht der ent- 
thronten Macht gejungen hätte. Das mag Herr Bebel glauben oder nicht 
glauben; er mag aud) bezweifeln, daß fünf politiiche Strafprozeſſe einen 
nicht von Parteianwälten Nertheidigten ein hübfches Stück Geld Foften, daß 
der „Zukunft“ durch das Bahnhofsverbot, das ein Schlauer Geſchäftsmann 
durd) Wohlverhalten leicht bejeitigen fonnte, die SXahreseinnahme um zwölf— 
bis fünfzehntaujend Mark geſchmälert worden ift und daß eine Beitjchrift 
vor der Gefahr völligen Ruins fteht, wenn ihr Herausgeber und Haupt: 
mitarbeiter, wie mir gejchah, als Kaijerbeleidiger tm Yauf von zwei Jahren 
fait dreizehn Monate lang hinter Schloß und Riegel fit. Wies dem Verehr— 
ten beliebt. Nun aber ift feit Bismards Zod ein Luſtrum vergangen. Ein 
Blatt, das von ihm lebte, müßte bald nad) ihn geftorben fein. Und wenn 
Herr Bebel einen Bertrauensmann in die Friedrichſtraße ſchicken will, wird 
ihn aus den Büchern bewiejen werden, daß die „Zukunft“ nod) nie fo reichen 
Ertrag gebracht hat wie, troß fortwährender Bahnhofsſperre, in ihrem elften 
Lebensjahr. Womit zugleich dann beiwiejen wäre, das ich mein Geld — diejes 
viel beichwagte Geld, von dem ic) verdammt wenig Genuß habe, das die 
meiften Zeitungfchreiber miraber nicht verzeihen können — nicht bismärckiſcher 
Gunſt verdanfe. Am Ende bequemt er id), den Boten zu fenden, wenn ich 
ihm vorher verrathe, was für ihn, wohl fo ziemlich für ihnallein, nod) immer 
Geheimniß ift: daß ich nie die bismärckiſche Klaſſenpolitik vertreten habe, 
niemals, und daß in meiner befonderen Yage das Bekenntniß zur Berfönlic): 
feit Bismarcks gejchäftlichen Schaden eher als Nuten brachte. 

Nach einem Erleben, von dent ich einen Theil hier heute entjchleiern 
mußte, nach knapp zweijährigem literarifchen Bemühen wurde ic) von Bis- 
marc eingeladen, ihnzu befuchen. Der zweiten Einladung folgte ich. An die 
Gründung der „Zukunft“ warnoch nicht zu denfen, wurde noch nicht gedacht. 
Der Mann, der jelbft dem Wunfd), dverSehnjucht unerreichbar fchien, ging und 
fuhr Stundenlang mit mir durch feine Wälder, hielt mid) Tage lang unter 
feinem Dach zurück und fagte dem kaum einem kleinen Kreis befannten Anz 
fünger, er werde, als ein Freund des Hauſes, ſtets willkommen fein. Oft 
war id) dort; und ſchied nie, ohne von dem Gütigſten zu hören, er bedaure, 





Bebel und Genojien. 63 


daß ic) abreifen müſſe. Wenn ic) den Riejen blind vergöttert, mit Haut und 
Haar mid) ihm verjchrieben hätte, dürfte fein Gerechter mid) ſchelten; denn 
es ijt fein Alltagserlebniß, nad) vermwüfteter Kindheit als fnapp Dreigigjähriger 
in die Intimität — fehr viel intimere, jehr viel länger dauernde, als nich dem 
Genoſſen Heine verband — aufgenommen zumerden, aufSpazirgängen und 
. Fahrten fein einziger Begleiter zu fein, auf ausdrüclichen Wunſch den Stein: 
berger Kabinetswein des Kaiſers mit ihm zu trinfen, ſich von ihm ‚Freund 
nennen zu hören. Es war das große Glück eines armen Lebens; ein Glück, 
das viel’und Vieles aufwiegt. Und wenn ich, Herr Bebel, auf Etwas 
jtolz fein darf, fo darauf, daß id) felbft gefundenen Glauben nie dem großen 
Danne geopfert habe; nicht eine Sefunde lang. In dem Artifel, den ich 
nad) meinem erften Bejuch in Friedrichsrun jchrieb, ift gejagt, ich wolle 
nicht, könne nicht Bismärcfer sans phrase jein; ift gejagt, Bismarck et 
„durch diplomatijche Aufgaben hypnotiſirt“ gemejen und habe dns moderne 
deal des Sozialismus verfaunt, aber man folle „ihm gnädig verzeihen, daß 
er 1815 ineinem märkiſchen Junkerhauſe geboren ward.” Und fo iftS geblie- 
ben; zu Dußenden könnte ich Beijpiele dafür anführen, daß ich Bismarcks So— 
zialiftenpolitif ftet3 befämpft habe. Leicht wurde mirs nicht, denn es war jein 
eınpfindlichfter Bunft ; aber ich könnte nicht weiter athmen, wenn ich jeanderg 
geichrieben Hätte, als ichin der Stunde des Schreibens fühlte und dachte. Das 
erjte Heft der „Zukunft“ brachte die Wiedergabe eines Gefpräches mit dem 
Erzbiſchof von Stablewski, der die Polen vertheidigte, einen jozialpolitifchen 
Aufſatz vom Profeſſor Brentano, einen wilden Artifel gegen die bourgeoije 
Prejie: lauter ‘Dinge, die der Fürſt Höchft ungern fehen mußte und jah. Als 
ich dann wieder in feinem Zimmer faß, fagte er, namentlich der „polnische 
Artikel” ſei ihm nicht unbedenklich erfchienen; aber er maße fich nicht an, 
„geicheiten Freunden die Wahl ihres Weges vorzufchreiben”. Er hats nie 
gethan, hat mir nie mit einer Silbe angedeutet, was er gejchrieben, was 
nicht gejchrieben wünſche. Auch die berühmten „Informationen“ waren in 
Friedrichsruh nicht einmal für Reporter zu holen ;der Beſucher, der freilich un— 
Ichäßbaren Hiltorienjtoff heimtrug, hatte aus der berliner Zagespolitifmehr 
zu erzählen als zu erfahren. Noch heute willen nurWenige, wie abgejperrt, 
wie vereinjamt und gemieden der Mann im Sachſenwald lebte, ohne oftaud) 
nur ein Echo der Maſchine zu hören, die feine Hand in Gang gebracht hatte. 
ALS die „Zukunft“ drei Jahre beitand, kams zum unvermeidlichen Kon— 
flift. Der Fürft, der für jedes von mir geichriebene Wort von der Preſſe 
und von der Regirung verantivortlid) gemacht wurde, ließ, =als ih Stumm 


en” 


61 Die Zutunft. 


angegriffen hatte, in den Hamburger Nachrichten verkünden, meine Wochen- 
Schrift ſei „in die jozialdemofratifche Richtung hineingeglitten". Das offi- 
ziöfe Telegraphenbureau trug die Botichaft in alle Winde. Und als ich in 
Friedrichsruh anfragte, ob dieBanppulle von dortgefommen ſei, erhielt ich, 
in einem fehr höflichen Brief, die Antwort: e8 fei nicht zu vermeiden, daß 
„bei vorfommenden Meinungverjchiebenheiten beide Herren ſich aud) öffent- 
lich divergirend ausfprechen” ; und der frühere Kanzler könne den Verdacht 
nicht zulaffen, daß er „bie Aufreizung der Beſitzloſen gegen die Bejikenden, 
der Arbeiter gegen die Unternehmer billige”, wie fie in einzelnen’ meiner 
Artikel „zu Tage getreten ſei“. Stiefelleder ;nicjt wahr? Am jechzehnten März 
1895 beſprach ich hier das Intermezzo und fagte: „Ich werde der Thatjache, 
daß ich in fozialdemofratifchen Blättern ein Stipendiat der Schönhaufener 
Stiftung und ein Bravo von Friedrichsruhgenannt und ineinem bismärtfis 
chen Blatt als Sozialdemofrat denunzirt werde, die tröftende Gewißheit 
entnehmen, daß mein Bemühen, zugleich dergroßen Perſönlichkeit Bismarcks 
und dem lebensfräftigen Kern der fozialen Reformgedanken gerecht zu wer- 
den, nicht ganz erfolglos geblieben iſt.“ Ein Jahr lang und länger ftodte 
aller Verkehr. Diemfturzvorlage war gefommen. Herr von Stumm |chrieb 
mir, Herr von Köller lieg mir durch feinen Adjutanten fagen, fie wüßten 
genau, daß Bismard meine fozialpolitifche Haltung im höchften Grade miß⸗ 
billige. Das wußte ic) auch; und fonnte es leider nicht ändern. Gut, ſprach 
der Adjutant: dann wird der Fürſt fid) öffentlich Ichroff von Ihnen los⸗ 
jagen. Das würde mir wehthun; meine politiichen Artikel aber follten nie 
mehr fein als der Ausdrud perfönlichen Wollens; und losfagen kann man 
jich nur von einem zur Gefolgſchaft Verpflichteten. So weit fams nicht. Und 
als ıch fpäter, wiederholter Anregung folgend, nach Friedrichsruh gereift war, 
hörte ich bejchämt das milde Wort: „Zrog Ihrem avancirten Sozialismus, 
den id), in meinen Jahren und bei meiner Vergangenheit, nicht mitmachen 
fann, möchte ich Sie unter meinen Freunden nicht miſſen“. Das alte Ver— 
hältniß wer wieder hergeftellt. Den angenehmen Verkehr mit dem zweiten 
Fürften Bismard, einem der liebenswürdigften und auf dem Gebiet inter- 
nationaler Politik gebildetften Männer, die ic) je fennen gelernt habe, hat 
meine angebliche „Vertretung fozialdemofratischer Tendenzen“ mich aber ge⸗ 
foftet. Und die echten Bismärcker haben mir nie verziehen, daß ich gegen jedes 
Ausnahmegefeg war und den Herosdanicht vergötterte, wo er in feinen alten 
Tagen mir fterblich fchien. Gegen KRöller und Stumm, für Otto Bismarck, das 
märkiſche Wunder, und gegen den Dann, der die Scinen nad) einem So⸗ 


Bebel und Genojfen. 65 


zialiftengefeg rufen ließ, für Getreidezölle und dennoch für eine Kultur, die 
zwifchen Lehre und Leben endlich die fefte Brüde ſchlägt, für Kanitz und 
Ibſen: folche Politik mag inkonſequent fein, bligdumm, trotzdem fie im mo⸗ 
dernften Lande von den modernften StaatSmännern fo ungefähr heute ver: 
treten wird, — ein Profitgieriger, Genoſſe Bebel, hätte diefes Wageſtück nicht 
unternommen. Der hätte fi) vom Ballaft eigener Ueberzeugung früh be- 
freit und ſich al8 Wortführer der reichften Klaſſen etablirt, der Klafjen, denen 
ich die bitterfte Wahrheit nicht erfpart Habe, wenn fie mich Wahrheit dünkte. 

Was mirnnthwendige Wahrheit ſchien, habe ichaud) überdie Sozial- 
demofratie gejagt. Nichtiges oder Falſches, mit Fug oder Unfug: eine Partei, 
dieden Anfprucherhebt, dem Hoͤchſten das Herbftezu jagen, müßte fich ſchämen, 
wenn fie ſolche Kritik nicht geitaften wollte. Ich weiß fchon: der Ton, der 
berüchtigte „perfönlich-gehäffige Ton“ ; will aber die Gracchen, die über den 
Aufftand Klagen, heute nicht allzu ernft nehmen und hoffen, daß Herr Bebel 
nicht mehr für fich heifcht, als ein Reichsfanzler verlangen kann und, wenn 
er nicht ganz unklugift, wirklich nur verlangt. Undesift einfach nicht wahr, was 
verbreitet wird: daß die Sozialdemokratie Hier „beftändig gemein beſchimpft 
worden iſt“; von mir nicht ein einziges Mal. Nicht wahr, daß ich je ge- 
ſchrieben Habe, Bebeljei zum Kinderjpottgeworden ; nur: er fei recht gealtert. 
Iſt Das ſchon Verbrechen, da man ungeftraft doch ein Jahrzent lang dem 
Monarchen jagen durfte,er ſei noch recht jugendlich?.. Was aljo bleibt? Nach 
demPrimadonnenartifelhabeichBebelaufgefordert,hier,vor dem felben Bubli- 
fum, zu dem ich |preche, über feine Bartei und deren Ziel zu jagen, was ihm 
‚beliebe. Er antwortete grob, ich duplizirte noch gröber. Er jchickte mir meinen, 
ich ihm jeinen Brief ohne Begleitwort zurüd. Damit war die Sache erledigt; 
und als er zum ersten Deal wieder von mir erwähnt wurde, rühmte ich jeine 
„ausgezeichnete und darum unbeachtete Rede” zum Kafernirungsgejek. In 
allen feitdem erjchienenen Heften wird er kein ihm zugejchleudertes Schimpf- 
wort finden. Kein einziges, — bis zum dresdener Parteitag. 

... Ich fomme ohne Beroration zum Schluß. Fanatikerwuth möchte 
jett die vier ungetreuen Genoſſen am Liebften verbrennen. Das wäre nicht 
gerecht. Denn der Hauptſchuldige heißt noch immer : Auguft Bebel. Der hat 
Aengftliche eingejchüchert und gegen Einen, deifen Weſen und Wirken er nur 
aus grundfalicher Darftellung fannte, die Maſſe entflammt, bis fie bereit 
war, jeden Anbersdenkenden niederzubrüllen. Die vier Genofjen waren feine 
Helden und haben gegen mich unverzeihlich gefehlt. Die Partei aber Sollte 
fie pardonniren. Sie werden die Lehre fo leicht nicht vergeifen. Ind dann 
braucht Herr Bebel nur noch dafür zu ſorgen, daß in feiner Partei, wieam Hof 
undim Rathguter Könige, auch wider den Wunſch und die Laune des höchſten 





66 Die Zufunft. 


Autobiographie. 


Ein Traum. 


Taeronani gehört zu den Worten, bei denen fich mir die Därme im 
Leib umdrehen. Wenn die japanifchen Rittersleute fich vor verfammelter 
Mannſchaft eigenhändig den Bauch auffchligten, muß ihnen ähnlich zu Muth 
gewefen fein. 

Neulich träumte mir, ich hätte meine Autobiographie in Geftalt einer 
Erbſenſuppe aufgetiicht: Xöffelerbfen mit Sped, in einer goldenen Suppen- 
fehüffel. Mein Leben war die Erbfenfuppe; und zugleich faß ich davor und 
aß mich gleichfam felbft auf und ließ meine Freunde mitefjen. Im Traum 
geht Das befanntlich fehr gut; und manche Leute halten deshalb das Träumen 
für die höhere Wirklichfeit. Es klann aber auch die tiefere fein; und das 
Höhere mit. dem Tieferen zu vermechfeln, ift nur den naiven Seelen erlaubt, 
die mit Bemußtfein fürd Unbewußte ſchwärmen. Die dürfen auch das liebe 
Vieh um jenen göttlichen Geifteszuftand beneiden, in dem die Scheingebilde 
diefer Welt, von keinerlei Selbftbetrachtung getrübt, ſich noch mit grenzen- 
Iofer Klarheit durcheinanderwurfchteln, jo dag man ohne jeden Apparat auf 
mindeftens hundert Kilometer Entfernung — oder wo fonft das wahre Jenſeits 
beginnt — eine brünftige Hirfchkuh wittern kann. Sie haben freilich fehr 
Recht, diefe Herren Unbewußtler: leben läßt fich auch ohne Vernunft, fterben 
noch leichter, die Wiſſenſchaft ift „im Grunde nur“ Irrſinn, die Kunft „im 
Grunde nur“ höherer Wahnſinn, im Grunde ift überhaupt Alles nur Wahnfinn, 
im Grunde ift auch der Wahnfinn vernünftig, im Grunde ift Alles einerlei, 
im Grunde ift Gott und der Lehmkloß das Selbe, im Grunde ift nichts als 
feelenvoller Dred, im Grunde ift jeder Gründling ein Wunderthier und ... 
an Naivetät ift jeder Ochſe dem größten Genius überlegen. 

Alfo in jenem göttlichen Seelenzuftand befand ich mich in meinem 
Traum. Es war ganz naid, obgleich nicht ganz einfach. Die Erbſenſuppe 
war, wie gefagt, mein Leben; fie war aber auch zugleich das Leben ber 
Menfchheit. Die einzelnen Exbfen, bie in der Iehmigen Brühe ſchwammen 
mit ihren unverdaulichen Hülfen — es waren, wie gejagt, LXöffelerbfen und 
die meilten Hülfen waren fchon ziemlich außgefocht, manche fogar ganz leer —, 
Das follten natürlich, wie mir fofort ohne Nachdenken Kar war, die einzelnen 
Menschen fein; und die Spedbroden waren meine Freunde. Bei näherem 
Zuſehen wollte mir allerdings feinen, als feien auch Feinde unter den 
Spedbroden. Und vor diefer Brühe ſaßen wir nun, ich mit meinen Freunden 
und Feinden — und ringsherum noch viele andere Menfchen — und mußten 
fie ausefjen. Aus einer goldenen Schüffel, wie gejagt, mit einem goldenen 





Autobiographie. 67 


Löffel. Das follte gewiß den Kunftgenuß bedeuten; oder auch blos den 
Lebensgenuß. Ich dachte aber im Traum nicht nad) darüber. Denn die 
Sache war fo wie fo ſchon genußreich genug; man mußte fi blos auf die 
Kunft verftehen, die ſchönſten Broden herauszufiſchen und die leeren Hüljen 
den Andern zu lafien. 

So faßen wir alfo und verzehren und — uns felber und ung gegen- 
feitig — und die Brühe wurde nicht alle. Denn wenn ich den Löffel zurüd- 
that und weitergab, dann fhwammen die Erbfen und Spedbroden, bie ich 
foeben meinte verfchludt zur haben, ſchon wieder luſtig drin herum; und eben 
fo ging e8 den anderen Miteffern. Biele fchnitten ein böfes Geficht dazu 
und die Mahlzeit fchien ihnen efelhaft; aber fobald fie den Köffel ergatterten, 
fchludten fie gerade am Gierigſten, wie um den Efel zu erjtiden, oder ans 
unbewußtem Neid. Die Trigten, weil fie fi) immer bemübten, fo tief wie 
möglich vom Grunde zu fehöpfen, natürlich die meiften leeren Hülfen. 

Da ſchwamm obendrauf ein herrlicher, merkwürdig rundgerathener 
Broden, nach dem faft Jedermann angelte; Das war mein Nachbar Liliencron. 
Ich Hatte ihn Schon zahllofe Male zu mir genommen und er- fhmedte mir 
immer beffer; der richtige Kernſpeck, kräftig und füß, fehr zart durchwachſen 
und derb geräuchert, fo daß ich ihn gerade den armen felheinrichen am 
Allerherzlichiten gönnte. Sie fchöpften aber immer daneben, immer zu tief, 
und thaten dann, als verfchmähten jie den köſtlichen Broden, der ſich nicht 
-untertunfen ließ. Und viele Andere fchöpften zu flach und krigten ihn eben 
fo wenig zu fafjen; er wutjchte dann plöglich von-felbft in die Tiefe, kam 
aber immer gleich wieder hoch, wie eine Boje in der Brandung, das reine 
Wundermännden Stehauf, mit einer riefigen Wupptizität. 

Da waren aud) noch zwei fernere Kernbroden, die immer obenauf 
ſchwammen und mir vorzüglich mundeten; fie fchillerten in den fublimften 
Negenbogenfarben, aber durchaus verfchieden, der eine mehr ind Kometen⸗ 
fpeftrum, der andere mehr orionnebelhaft, und wurden nur von Wenigen 
begehrt. Das kam daher, weil fie den Efelheinrichen leicht in den Löffel 
gingen; Die meinten dann, die ewige Seligfeit gefiſcht zu haben, aber ſobald 
fie den Nachgeſchmack fpürten, fchnitten fie ein noch übleres Geficht, — und das 
fchredte die übrigen Zifchgäfte ab. Der üble Nachgefhmad fam aber gar 
nicht von den beiden Spedbroden, fondern blos von der Exbfenfuppe, in 
der fie ſchwammen und worin fie felbft fich recht wohl befanden. Denn Das 
war ja, wie ich im Traum deutlich fühlte, die große Erbfenfuppe der Menſch⸗ 
heit; und wenn fie auch manchem Efelheinrich zumider war und meinen übrigen 
Säften ziemlich gewöhnlich vorkam, fehmedte fie mir und meinen Freunden 
doch ungewöhnlich gut im Traum. Und bie beiden feltfamen Kofthappen, 
die biegen Scheerbart und Mombert. 


68 Die Zunft. 


Ich wollte fie, die fo vereinfamt in der riefigen Schüffel herum⸗ 
fhwammen, gerade einmal zufammenbugfiren und auch noch Konrad Anforge 
und Peter Behrens zum fo und fo vielten Male mitausichöpfen: da kam 
mir ein unrechter Broden in den Löffel. Es war ein eigenthämlich dider 
Broden, ein förmlicher Kloß von einem Broden, der eine wahre Spedichwarte 
hatte, mit einer aufgeſchwemmten Feitſchicht, die Jeden aufs Rojigfte anlachte; 
einen Namen will ich hier nicht nennen, denn ich fchreibe feine „Stedbriefe”. 
Zwei der grundfäglichiten Efelheinriche, die den Xöffel fo gewaltig bands 
babten, daß ich fie ftet3 bewunderte, Strindberg und Przybyszewski, hatten 
mid ſchon vor ihm gewarnt; er fei im Grunde felber ein Efelheintich, wenn 
auch durchaus kein gewaltiger, und fie mußtens doch eigentlich wiſſen. Aber 
ich hielt ihn für meinen Freund; und er war mir auch anfangs glatt ein- 
gegangen, bis mir fehlieglich doch übel danach auffließ. Seitdem vermieb ich 
ihn; und nun glitt mir der Burfche doch wieder in den Köffel und ich follte 
ihn wohl ober übel herumterfchluden. Und Das war doch meine Erbfen- 
fuppe, in meiner goldenen Schüſſel, die ich mir felber erträumt hatte! Und 
num wollte mir diefer dickſchwartige Fettkloß, der noch dazu mitaß aus meiner 
Schäffel und mir in corpore gegenüberfaß und mich immer noch roſig an⸗ 
lächelte, die ganze Mahlzeit verderben? Ich fand Das empörend und wurde 
wüthend. Sch ſchmiß ihm, nun plößlich gleichfalls vom Ekel Abermannt, 
mit aller Gewalt den Löffel zu: er folle gefälligft fich ſelbſt aufeſſen — 
und fühlte, wie mir die gelbe Tunke mit voller Wirt ind Geficht ſpritzte. 
Ich rieb mir die Augen unb machte auf. 

Der theofophifch gebildete Leſer möge verzeihen, daß ich mich einiger- 
maßen erleichtert fühlte nach diefem Traum. Denn wenn ich auch Löffel: 
erbfen mit Sped für einen veritabeln Götterfhmaus halte, war mir die 
grenzenlofe Miteſſerei allmählich doch etwas peinlich geworden, was ich erft 
jet, als ich wieder wie ein gewöhnlicher Menfch nachdenken konnte, im vollen 
Umfang nadhfühlte. ch befann mich mit wahrem Hochgefühl auf meinen 
beichränften Unterthanenveritand. Ich erinnerte mich mit Vergnügen, daß 
ih am achtzehnten November 1863 geboren war und immer noch lebte, nicht 
etwa im Reich der freien Geiſter, fondern im deutfchen Königreich Preußen. 
Ih dachte dankbar dem Myſterium nah, daß ich der ältefte Sohn eines 
Foörſters bin, nicht etwa eines Föniglichen mit einem vergoldeten Adler am 
Dienfthut, fondern blos eines vogelfreien Revierjägers, worauf ich ſtolz bin 
wie ein dummer Junge. ch zog mir das Nachthemb aus und wuſch mir 
ben Kopf. | 

Als ich diefen nachher im Spiegel befah, diefen weltanfchauenden Aus⸗ 
wuchs von mir, den jeber Hand Narr mir mal abhaden kann, ſchien mir 
der Traum mit einem Mal doc wieder gar nicht fo unvernünftig. Nur 
über Eins vermochte ich nicht ind Klare zu kommen: 





Autobiographie. 69 


Ich hatte noch manche anderen Freunde unter-den Spedbroden ſchwimmen 
fehen, wahre Freunde, gute Freunde, unglaublich wahre und gute Freunde, 
fo zum Beifpiel Franz Servaes und Wilhelm Schäfer, Meier-Graefe und 
Marimilion Dauthendey, Yranz Ever8 und Fidus, Johannes Schlaf und 
Arno Holz, Franz Oppenheimer umd Karl Ludwig Schleich, die Brüder 
Hart und Bruno Wille, Wilhelm Bälſche und Willy Paftor, Papa Heil: 
mann und Otto Erid, Signor Rodelfo und Signor Ludovico, auch jenen 
naiven Menfchenfreund, der fih mir eines ftürmifchen Tages auf einem 
Dampffhiff zwifchen den griechifchen Inſeln vorftellte, fich einen Freund 
meines Dichtend und Denkens nannte, wir lategorifch den vernünftigen Willen 
als moniftifhen Grund alles Dafeins nachwies und fih dann plöglich um: 
drehen mußte, weil ihn bie Seekrankheit anwandelte und feinen vernünftigen 
Willen zum Ausbruch brachte. Sie Alle und woch ganz andere Namen, 
auch manchen „großen Toten” darunter, hatte ich in der Iehmgelben Brühe 
fchwimmen fehen, in diefer Brühe, die mein Leben fein follte —: nur nicht 
den Namen jenes Mannes, der mich liebte wie kein anderer Menſch und ber 
ih nur den Menfchenfohn nannte. Und auch die Namen meiner alten 
Eltern nicht, die doch mit ihren je fiebenzig Jahren mein Leben vielleicht 
viel grünblicher Tieben als ich felbft mit meinen Inapp vierzig. Und auch 
das Weib nicht, das mid, liebt. Und auch bie Frau nicht, die mich einft 
zu lieben glaubte und der ich meine Kinder verdanfe. Und biefe meine brei 
Kinder auch nit. Was hatte Das zu bedeuten? 

Ob fie „im Grunde“ vielleicht doch Eins mit mir find? Im Grunde 
der großen Erbſenſuppe? — Wie fagte doch jener Alte aus Indien, beffen 
Name der Menfchheit entfallen it? „Iener Einäugige, der den Weltraum 
bewacht im Bodenlofen, Der mag es wiffen; aber vielleicht weiß auch Er es 
nicht!“ So fagte er; oder fo ähnlich. 

Wers aber etwa nicht glauben will, Dem will ich ein anderes Liedlein 
fingen: 

O Phantafie, 
allwiſſende Lügnerin, 
Dich Liebe ich, 

ih Menſchengeiſt, 
ewig! 


Dem Herren Unbewußtlern aber empfehle ich, fich lebenslänglich chloro⸗ 


formiren zu laflen. 


Richard Dehmel. 





70 Die Zukunft. 


Aus dem Sucdthaus.*) 


an neunten Januar 1895 früh am Morgen wurbe ich mit dem gewöhn- 
2 lien „Transport” von Hannover nach Celle gebracht, — gefeflelt. Es 
war ein bitter Falter Tag, mittags neun Grad unter Null. | 

Ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren erzählte mir unterwegs, 
daß er wegen Blutfchande zu mehreren Jahren verurtheilt fei. Mich ſchauderte, 
nicht nur wegen der Strafthat, fondern noch mehr wegen ber Art des Diannes, 
einer ftumpfen, flachen Natur ohne Saft und Kraft. Er leugnete feine Schulb. 
Ich babe nachher feine Alten mir angefehen; er war auf das Beugniß jeiner 
Frau und daraufhin verurtheilt, daß der Arzt bei ber Tochter, einem „ver⸗ 
dorbenen“ Mädchen von fechzehn Jahren, wieberholt Spuren des Umganges mit 
einem Manne feitgeftellt hatte; und immer dann, wenn die Frau ihren Mann 
diefes Umganges beſchuldigt Hatte. Die Tochter hatte nicht ausgefagt. Eine 
hohe Wahricheinlichkeit fpricht für die Schuld des Verurtbeilten; für „bewieſen“ 
kann fie fein Menſch anjehen, der nicht mit kriminaliſtiſchem Vorurtheil ar bieje 
Dinge geht, mit jener Anfidht, die ein Staatsanwalt in Hannover in einem 
Blaiboyer in die Worte Hleidete: „Bedenken, meine Herren Geſchworenen, tauchen 
in faft allen Tsällen auf, wenn ber Ungellagte leugnet. Es würden wenig Per: 
urtheilungen ohne Eingeftänbniß erfolgen, wenn nur folche gefällt werden follten, 
bie in feinem Stadium Anlaß zu Bedenken gegeben haben. Wenn dem Strafe 
richter Bedenken an der Schuld eines Beichuldigten auftauden, fo hat er dieſe 
Bedenken zu prüfen, ob fie ſtark und ftichhaltig genug find, die Verurtheilung 
zu hindern.” Als ic Das gehört hatte, ging ich nah Celle zurüd mit an- 
berem Urtheil über die vielen Gefangenen, die ihre Unſchuld betheuern. Eine 
rau, die ihren Mann haßt, tit Fein Beuge, auf den man dieſen Mann ins 
Zuchthaus bringen follte, und der Befund des Arztes an einem Mädchen, befien 
„Verderbniß“ erwieſen ift, auch nicht. Ich erfuhr fpäter, daß gerade in Pro- 
zeflen um geſchlechtliche Verbrechen der Schuldbeweis oft ein fehr bedenklicher 
tft. Das ift erflärlich, weil es fi da in den meiſten Fällen um ein einziges 
Zeugniß handelt; und jelten um ein einmandfreies. 

Das Zuchthaus in Celle birgt etwas mehr als ſechshundert Gefangene. 
Es liegt am Flußufer der Aller. Dan fieht es, wenn man mit bem Zuge von 
Hamburg nad) Hannover fährt, an der linten Seite de Zuges. Die Front 
fieht nach der Allee, die in Celle die Straße zum Bahnhof bildet. Nicht ums 
freundlich ift das äußere Bild. Als meine Schwefter mich beſuchte, ſah fie nur 
biefen vorderen Theil des furchtbaren Haufes und ich ließ fie bei der Meinung, 
daß biefem Eindrud das Ganze entſpreche. Belucher folder Anſtalten werben 
eine ähnliche Dieinung nach Haufe bringen, denn auch der Anblid des Inneren 
giebt von den Umftänden und ber Verfafjung der Befangenen fein Bilb. 


*) So heißt ein Bud, das man viel lejen, von bem man viel reden wird; 
und doch ifts ein furchtbar ernſtes Buch und kann, über Modeerfolge hinaus, für 
ben Strafvollzug in Deutfchland faft fo wichtig werden wie Doſtojewskijs Meifter- 
gedicht für das ruffiiche Strafreht. Ein Buch, aus dem eine Perfönlichkeit in paden- 
den Lauten tiefften Menſchenwehs fpricht. Es erfcheint in diefen Tagen bei Johannes 
Räde und foll bann befprodhen werben. Als Probe heute bier nur ein Fragment. 








Aus dem Zuchthaus. 7 


Wir wurden in bie Vorhalle des Vorbaues geführt und in Reihe und 
Glied aufgeftellt. Ein Beamter nahm die Perfonalien auf. Der Erfte, ber 
befragt wurde, war der Mann, der mir auf der Fahrt feine Geſchichte erzählt 
hatte. „Was haft Du gemadt?” Und auf die Antwort hörte ich die Kritik: 
„Alſo Schweinigel.” Bei mir genügte die Namensangabe; natürlich waren wir 
Alle angemeldet. „Wie Haft Du Dich ins Unglüd geftürzt!" meinte nachher der 
felbe Beamte. Das war das einzige milde Wort, das ic} von ihm gehört habe. 

Wir wurden num big Nachmittag von Einem zum Anderen geführt. Zu- 
nächſt ins Bad. Als ich im heißen Wafler in der Wanne lag, fam der Barbier, 
ein Gefangener, ber wegen Mordes angeklagt gewejen, wegen Tobfchlages ver- 
urtheilt wor. Wir mußten ung aus bem heißen Waſſer aufrichten, uns auf bie 
Kante der Wanne jeben und wurden jo rafitt und über den Kamm geſchoren. 
Das verbunftende Wafjer an meinem Leibe verurjachte bei ber Wintertemperatur 
eine folche Kälte, daß ich nicht ftillhalten konnte, fondern vor Froft Elapperte 
und mich ſchüttelte. Der Barbier ließ mich endlich ins Waller zurüd gehen 
und rafirte und fchor mich in diefer Lage. Aus dem Bad ging es zur Ein- 
Heidung auf einen falten Boden. Jeder erhielt zwei dunkelbraune Tuchanzüge, 
eine hellbraune ade, Handwerkerſchürze, Wäſche, Bettdeden, ein Paar Schube, 
ein Baar Pantinen aus Leder, Kamm, Zahnbürfte und ähnliches Geräth. Nach 
einigen weiteren Borftellungen — beim Direktor, im Sefretariat, bei dem In⸗ 
fpeftor für die Arbeiten — ging es zum Arzt. Mich fror in ber mangelhaften 
Bekleidung, in der wir auf Kalten Korridoren ftehen mußten. Ehe wir einzeln 
zum Arzt bineingeführt wurden, mußten wir uns im Xazareth, in dem geheizt 
war, in Gegenwart der in ihren Betten liegenden ober umberfitenden Kranken 
entlleiden, wurben gewogen und hatten dann, entkleidet, troß der Heizung ſtark 
frierend, zu warten, bis wir an die Reihe kamen. Nadt ging es Über einen 
falten Korribor ins Zimmer des Arztes. Der auskultirte mich und ftellte feit: 
„Krepitationen in beiden Lungenſpitzen.“ Ich bin erblich nicht belaftet, Hatte 
auch nie einen Lungenkatarrh gehabt und kann nicht umbin, ben Strapazen ber 
Aufnahme in Celle an dem falten Tage nach den ſchwächenden Wirkungen eines 
anfpannenden Prozeßverfahrend die Anfänge des ſchweren Lungenleidens zuzu⸗ 
ſchreiben, das fi) im Laufe meiner Strafhaft entwidelt bat unb von dem id 
noch heute, fünf Jahre nach meiner Entlafjung, nicht geheilt Bin. 

Nachdem die widerwärtigen Prozeduren ber Aufnahme erledigt waren, 
wies man mir eine Belle an; nachmittags gegen drei Uhr. Sie war gänzlich 
ungebeizt, bei nahezu zehn Grad Réaumur Kälte. Ich war in jenen Tagen 
gar nicht kritiſch geftimmt und hatte mir ſelbſt verſprochen, mich durch nichts aus 
der Faſſung bringen zu laſſen. Aber diefes Hineinftoßen eines eben aus warmer 
Wollkleidung in ein Leinenhemd geftedten Menſchen in eine kalte Zelle empörte 
mid doch. Meine erfte Probe auf meinen Borfag, durch nichts mich erbittern 
zu lafjen, wurbe noch durch den Aufjeher erfchwert. Es war, wie ich fpäter 
erfuhr, derjenige, der den Gefangenen von allen am Meiſten verhaßt war, bet 
der Behörde aber als der „zuverläffigite” galt, wie mir ein Borgefegter von ihm 
fagte. Auf feinem jehr Kleinen Körper jaß ein Kopf, deffen ftarke, aber bittere 
Phyſiognomie mit der Hleinheit der Geftalt in einem eigenen Kontraſt wirkte. 
Waſſerblaue, helle Augen ohne Tiefe, aber ſtahlhart, von Tyalten umgeben, ähnlich 


6 


72 Die Zukunft. 


denen, bie den jpähenden Seemann Tennzeichnen, aber mit einer feindlichen, 
fpürenden Zuthat; tiefe Falten an beiden Seiten des Mundes vollendeten den 
Eindrud einer argen Berbitterung. Diefem Manne war ich aljo zunädjft gäny 
li anheimgegeben; ich vermeide den Ausdrud preisgegeben, obwohl er zuträfe, 
denn der neu anfommende Gefangene würde fich für die ganze Tyolgezeit eine 
ſchwere Stellung jchaffen, wenn er mit feinem erften Aufſeher etwa in Streit 
oder Zwieſpalt gerietfe. Ich wußte Das noch nit, als ich kam, habe bie 
Sitten und Triebfebern bes Lebens in bem Haufe erft nachher durchſchaut. Aber 


mir fam mein Entihluß zu Hilfe: nad außen zu Allen zu fchmweigen, foger - 


im Inneren vor mir felbft feine Regung von Bitterkeit, feine Empfindung eines 
Gekränkten zu dulden. Ale Bewegung in mir febte ich jofort in diefen Ent- 
ſchluß um, fo daß ich mich immer gegen mich ſelbſt kehrte. Ohne e8 zu willen, 
hatte ich damit die Regel und Vorſchrift getroffen, die für meine Lage im Zudht« 
haus eben fo vortheilhaft wurde wie für meine eigene innere Entwidelung. 

Wenn man fragt, wie diefer wohlthätige Entichluß entitand, jo kann ich 
darauf nur eine unvolllommene Antwort geben. Ich bin Jahre lang befangen 
religiös geweſen. Religiöſe Befangenheit nenne ich die Neligiofität, die nicht 
wagt, dem Zweifel ins Geficht zu jehen, Kritik einfach ablehnt und im Grunde 
mehr oder weniger mit Vorftellungen und Empfindungen zujammenfließt, die 
fi vor der Kritif als Aberglauben enthüllen ... ALS ich verurteilt wurde, lag 
biefe Befangenheit Hinter mir, doch nur infofern, als das religiöfe Intereſſe in 
mir geringer geworden war. Ich war durch das Reben dahin aufgeklärt worden, 
daß die Religiofität feinen fittlichen Maßſtab bietet... . Als im Gefängnik in 
Hannover Alles um mid zujammenbrad, wußte id, baß ich nicht wieder zu 
jener Befangenheit zurüdfehren würde, bie hinter mir lag, — jeit Jahren. 
Aber ich ging daran, mein Leben zu muftern und — id war dreiundbreißig 
Sabre alt — feine Mängel zu mellen; ich jah, dab meine Auseinanderfegung 
mit aller willenichaftliden und politiicden Erkenntniß lüdenbafter Dilettantis- 
mus, Spiel des Moments, kurz, gar nichts, daß mein Leben eben damals an 
der Schwelle der Einfiht und Weisheit angelangt war. Ich jah aber auch ein, 
daß ich mich mit der Religion nur wie ein Flüchtling auseinandergeſetzt hatte, 
und Alles in mir verlangte auf allen diefen Gebieten gründlicdere Arbeit. 

Noch war ich weit entfernt davon, ein ehrlicher Diann zu fein in dem 
Sinn, in dem ich es fpäter wurde, fold ein ehrliher Mann, der fi) nicht ſelbſt 
betrügt; wenigitens fich felbjt mißtraut und Fritifirt und deshalb ſeltener durch 
fih felbjt betrogen wird als die Menjchen in der Regel. Ungeſondert floffen 
bet mir noch die Borjtellungen, Neigungen, Wünſche und Zwecke durdeinander. 
Das erſte Ergebniß ber beginnenden Stlärung war der Entſchluß zur Selbit- 
kritik, der fich vereinigte mit dem anderem, durch meine Lage gebotenen: mich 
duch Niemand und nicht8 erbittern zu laſſen. 

Schwer fürwahr Hat es mir der Aufjeher gemacht, defien Aeußeres fchon 
eine Dual und aufreizend für mich war, beilen Stimme mir Bein verurjadte. 
Uber ich erinnere mich, daß ich am zweiten Tage in Celle abends nad) Einfluß 
mir vorbielt: Was mag der Dann erlebt haben! Sicht man nidt die Falten 
bes Grames auf feinem Geſicht? Vielleicht, wahrfcheinlich, gewiß ift er weit un⸗ 
glüdlicher, al3 Du bift! Und ich wurde ruhig und innerlich mild, mitleidig gegen 
den Dann. Das befam mir gut, machte mich zufrieden und faft glüdlich. 














Aus dem Zuchthaus. 173 


Wir waren auf dem „mittleren Zellengang”, wie die „Station“ amtlich 
hieß, vierundzwanzig Gefangene. Ich vermied jede Berührung mit ben anderen, 
meift jüngeren Leuten. Nach der „Hausordnung“, die in jeder Belle hing, war 
jede Unterhaltung der Gefangenen unter einander verboten. Als bald nad 
meiner Einlieferung eines Morgens ein junger Mann, der das Efjen tragen 
half, mich im Vorbeigehen fragte, ob ich Djtfriefe jei, in diefem Falle fein Lands⸗ 
mann, gab ih ihm Feine Antwort. In dieſem abjoluten Schweigen jollte nad 
der Borjchrift der Tag vergehen, follten auch folche Arbeiten, die gemeinfam zu 
erledigen waren, erledigt werden. Ohne daß ein Wort gewechjelt wurde, ver- 
richtete der Barbier feine Arbeit an und. Tage gingen hin, an denen die ®e- 
jpräde in nichts beftanden als in einigen Worten, die wegen der Wrbeit mit 
dem Aufjeher oder dem Werkführer zu mwechjeln waren. 

Mir waren Stuhliige aus Rohr zum Flechten übergeben. Das Rohr 
wurbe dur Oeſen im Sig gezogen; die entitandenen Quadrate wurden durch⸗ 
flodten, bis das befannte Geflecht ſolcher Site herausfam. Die Arbeit tit 
leicht zu erlernen, aber fie erfordert immerhin llebung, wenn man das vorge⸗ 
fchriebene Penſum, etwa drei Site täglich, erledigen will. Bei längerer Uebung 
läßt fich diefes Penfum übertreffen. Das volle Benjum zu liefern, ift der Ge⸗ 
fangene erft nach dreimonatiger Lehrzeit verpflichtet. Ich lernte die Arbeit ſchnell, 
aber jie wurde mir bald dadurch erjchwert, daß das ſcharfe Rohr mir die Hand 
verlegte, wozu noch ſtarke Froſtbeulen famen. 

Der Froſt dauerte an: Es war bitter kalt in den Zellen. Die Anitalt 
tft eine von dem Älteren; die Räume für gemeinfame Haft überwiegen. Weil 
teine Gentralbeizung vorhanden tft, wurden bie Zellen einzeln burch einen kleinen 
Ofen vom Korridor aus gehetzt, aber in der Negel nur morgens einmal; die 
humaneren Aufjeher Jorgten mit beſonderer Aufmerkfamfeit dafür, Daß wenigftens 
vormittags die Kacheln des kleinen Ofens heiß wurden, aber für gewöhnlich 
wurde die Temperatur in der Belle nur ganz vorübergehend — etwa eine halbe 
Stunde am Tage — erträglich; gegen Abend war ber Ofen längft eifig und bie 
Temperatur der Belle jehr froſtig. Mich fror bei ber mangelhaften Kleidung 
furdtbar. Die unteren Extremitäten waren in der Negel gefühllos vor Kälte. 
Ich erfuhr nachher, daß in einer Zelle ein Thermometer hing und ein befonderes 
Bud vorhanden war, um nad jenem Thermometer die Zellentemperatur zu 
beitimmten Xageszeiten einzutragen. Aber unter dem Schreibwerk folder An- 
ftalten ift fehr viel — darunter auch die Statiftit —, was den meilten Be- 
amten als werthloje Schrulle gilt, darunter aud das Thermometerbud. Auf 
jeden Fall profitirt nur eine Zelle von dem Meßinfiırument. Noch ſchlechter als 
tn den übrigen Zellen wurde in der Regel in den Strafzellen gebeizt, die unter 
und — im unteren Zellengang — lagen. Mir wurde nachher mitgetbeilt, daß 
einem im Dunfelarreft geſteckten Gefangenen nachts — dieſe Gefangenen müſſen 
auf der bloßen Pritſche Ichlafen — ein Fuß erfroren und dadurch eine dauernde 
Berfrüppelung herbeigeführt worden war. Auf jeden Fall muß ich die Einzel- 
heizung der Bellen anklagen als eine die Geſundheit zerrüttende und ben Ge- 
fangenen im älteren Wintern dem gquälendften Froſt ausjebende Einrichtung. 
Sie wirkt um fo zerrüttender, als ber Mangel an Fett in der Gefängnißkoſt 
den Körper ohnehin ausmergelt, jo daß meine Haut rauh und meine Nägel vor 


6° 


74 Die Zunft. 


Sprödigkeit fo brüdig wurden, daß ich fie mit einem Meſſer nicht ſchneiden 
fonnte. Noch jebt habe ich die Wirkungen diejer rabilalen Entfettung — id» 
bin ohnehin mager — nicht überwunden. Es ſcheint, daß die völlig verfehlte 
Ernährungmethode die Fähigkeit der Berbauungorgane, Fett zu „verfeifen” und 
dem Organismus zuzuführen, dauernd gejchädigt Hat. 

Es war aljo ein ſchwerer Anfang für mich. Aber ftärker als alle Schwierig«- 
feiten waren mein natürlider Muth und mein Wille, mein Entfchluß zum Cr 
tragen, zum leberwinden und Weberwältigen der Leiden, äußerer und innerer. 

Sch erfuhr nichts von meinen Umgebungen. Das große Haus war mir 
nod beinahe jo fremb wie meinen Zefern jet. Ich war felbit von dieſem mit 
mir zu gleidem Geſchick verbundenen Leben jo weit entfernt und abgejchloflen, 
als follte ich nie dem Schickſal der anderen Gefangenen und dieſen felbit näher 
treten. Als an einem Tage bei glinftiger Gelegenheit ein zu zehn Jahren Zucht⸗ 
haus verurtheilter Paftor fi mir näherte — er war bem Ende der zehn Jahr 
nah und hat fie mit unglaublicher Naturkraft überftanden —, lehnte ich den. 
Mann ab, der ımir außerdem zumider war. 

Der Erfte, der mir ein freundliches Wort jagte, war ein bumaner Auf- 
jeher; er nahm eine Gelegenheit wahr, mir Muth zuzufpredden, was nicht ein« 
mal nöthig war; aber es that mir dennoch wohl, der Ubjicht wegen, die der 
Mann verfolgte, ald er mir fagte, er babe ſchon mehrere gebildete Männer eine 
längere Strafe rüftig überjtehen jehen; „es gebt Alles.“ 

Eines Tages öffnete fi die Thür und herein trat ein Mann, den ich 
mit Erftaunen anfehen mußte. Ein hagerer Rieje mit langem, dunklem Bollbart, 
großer, aber nicht plumper Nafe, mit feinen, fympathiihen Händen und mit 
den Mienen eines echten Heiligen. Er jah nicht wie ein Paftor, auch nicht wie: 
ein Schwärmer aus, aber wie ein Diann, defjen Milde jo groß iſt wie die Rüftig- 
keit feines Geiftes. Ein Dann, deſſen Aeußeres ſchon unvergeklich ift; wie 
viel mehr aber noch feine Seele, die nicht minder klar vor mir fteht als jeine 
Beftalt! Der Anftaltpaftor. Wenn ich nicht aus vielen anderen Gründen zu- 
frieden fein müßte mit dem Schidfal, das mid aus einer verfehlten Bahn ge- 
riffen und die Lücken meines Lebens und Wefens ergänzt bat, fo wäre der Gewinn 
der Belanntichaft mit diefem Abgefandten der edelften Menjchlichkeit allein im 
Stande, die furchtbarjten Leiden aufzumwiegen, die ich im Lauf der drei Jahre aus- 
geftanden habe. Es ift ſchwer, dieſem Manne genug zu thun und gerecht zu werben. 
Er lebt nun bald ein halbes Menſchenalter als der Vertraute ber Leidenden im 
Budthaufe. Sein mäcdtiges, aber gejundes Gefühl trug den unendlichen Sammer 
dieſes Hauſes mit ſich umher. Manchmal, wenn er zu mir kam, redete aus 
feinen Augen und Mienen ein Schmerz, wie eines Heilands Leid; ich jah ihm 
an, wie viele Elende den felbftfüchtigen Trofi der Ausſprache und des Mitleideng 
bet ihm gefucht hatten. Uber er blieb nicht bei Gefühlen und Worten: er war 
der Dann der That für die Elenden. Cr jchrieb für fie, wenn fie ihren Familien 
Etwas zu fagen Batten, er ſchrieb und forgte für Arbeit und Unterkunft, nicht 
— bequem — durch einen Verein für Entlafjene, dem ſich Gefangene nur ungern 
anvertrauen, jondern, wenn es irgend anging, felbit. Das thun auch andere 
Baftoren; aber es ift ein Unterſchied in diefem Handeln. Wie verfuhr er mit 
feinen Freunden! Denn er wurde in Wahrheit der Freund der Gefangenen, 








Aus dem Zuchthaus. 75 


wenn er fie fennen gelernt hatte. Ohne Vorbehalt öffnete er fi ihnen, nahm 
ihr Bertrauen in Anfprud, wie fie das feinige. Obwohl der thätigfte und un⸗ 
bezahlbarjte von allen Beamten des Haufes, aud vom Standpunkt des Staats- 
zweckes weitaus nüßlicher als alle übrigen Beamten der Anftalt zufammen, hatte 
er doch nicht3 von einer „Beamtenjeele”; und ich glaube fogar, daß er den 
character indelebilis de8 Beamtenthumes im Grunde haßte oder mißachtete. 
Fromm, war er doch wunderbar frei, gewillt und fähig, jeder willenfchaftlichen 
Wahrheit ins Gejicht zu jehen. Hinter ihm lagen Dogmen und Sagungen und 
doch lebte er in dem Idealbilde der Evangelien fo jehr, daß man eben jo wohl 
fagen kann, dies Bild lebte in ihm und führte durch ihn eine neue Exiſtenz. 
Boltaire wars, der gejagt bat, feit Chriftus habe es nur einen Chriften gegeben: 
Franz von Aſſiſi. Auch ich ſchätze diejen Heiligen ſehr hoch, aber fein Gefühls⸗ 
Teben war troß allen praftifchen, politiichen, ein Jahrhundert die Welt erſchüttern⸗ 
den und beberrihenden Wirkungen des von ihm gegründeten Franziskanerordens 
doch allzu myſtiſch, um ein Abbild der geſünderen Perſönlichkeit zu fein, die ung 
die Evangelien ſchildern. Jedenfalls war der Dann, der eines Tages in meine 
Belle trat, ein geiftig volllommen gefunder, harmoniſcher Dann, in dem alle 
drei Beſtandtheile der geiltigen Perjönlichkeit: Wille, Verſtand und Gefühl, groß 
und ſtark ausgeprägt waren. 

Bartgefühl durchdrang all feine Borgüge und erhöhte ihre Wirkung. Er 
preßte und drückte keinen Menſchen bierhin, dorthin; er „fiſchte“ nicht mit feiner 
Liebenswürdigfeit, feiner Tyürforge, ſondern gab fi) ohne Berechnung; er hätte 
«3 für eine Anmaßung gehalten, ohne bejondere Herausforderungen fein Urtheil 
einem diejer Leute aufzunötbigen, denn er wußte, wie leicht man irrt, und hatte im 
Laufe der Jahre gelernt, auch das Urtheil des Nichterd nicht zur Grundlage 
des feinen zu machen. Uber echt, wie feine Liebe, war auch fein Zorn, den ich 
nur „im Kollegium”, als Hörer feiner Predigten, kennen gelernt Habe; es ging 
aber im Haufe die Sage, daß auch in feinem Sprechzimmer diefer Zorn ftark 
hervorbrechen fonnte, wenn ihm frecher Cynismus gegenübertrat, den ed aud) 
im Budthaufe giebt, wenn auch nicht häufiger als fonft im Leben. 

Diefem Mann verbanfe ih mehr ald irgend einem anderen Dienfchen. 
Er ift nie darauf ausgegangen, mich zu belehren oder zu „beilern”, fondern hat 
wohl gelegentlich gejagt, daß er es fei, der aus meiner Gejellichaft Gewinn ziehe. 
Uber eben mit jener tendenzlojen Hergabe feiner echten Perfönlichkeit iſt er mir 
zur Hilfe gefommen in meinem Berlangen, „zu mir ſelbſt“ "vorzubringen und 
„echt“ zu werden. Ein „orthodorer" Stümper, der ſich ſelbſt täujcht und in 
feiner Befangendeit nur ein blinder Blindenführer ift, wirkt bei allem guten 
Willen, den auch er bat, in den Gefängnijlen mur wie ein täppilcher Tölpel, 
mag er au noch fo viel „Erfolg* haben und Sünder belehren und „beilern”, 
ja, mag er auch manches wirklich Gute thun und hervorrufen. 

Ich habe meinen Lejern das Licht in diefem dunklen Haufe voriveg gemalt. 
Es wirkt um fo ftärfer, als es in der That, wie auf einem Bilde Correggios, 
von einer einzigen Perjönlichleit ausgehend, in beftändigem Kampf und Kontraft 
war mit Finfterniffen, die feine Nacht fo jchwarz gebiert und denen des Ab⸗ 
grunds didjter Dampf nicht gleichkommt. Hans Leuß. 


s 


76 Die Zukunft. 


Salfche Propheten. 


a3 Schlagwort des Tages ijt wieder einmal: Amerila. Wie Leo XII., 

jo iſt endlid nun aud die amerikaniſche Hochkonjunktur, nachdem fie 
Sabre lang totgefagt worden war, gejtırben. Und über den Leichnam des Löwen 
beugt fich mit fpöttifchen Mienen bie Zmwergenfippe, deren Weisheit höchiter 
Schluß die billige Erfenntnik war, daß nichts auf Erden ewig daure. Wer 
einem Wiegenkind propbezeien wollte, es werde eines Tages Sterben müſſen, würbe 
ausgelacht werden. Bier aber fpiegelten Kritiker von Beruf fih im Hochgefühl 
einer Million, die fie Tag vor Tag verkünden hieß, das Ende fünne nicht auS- 
bleiben. Und fiehe: es ift wirklich nicht ausgeblieben. Doch trat e8 erft nad 
einem langen Leben ein, das Mühe und Aufwand reichlich gelohnt bat. Des⸗ 
halb wendet der Berftändige ben Blid von den Totengräbern, die heute laut 
frobloden, weil ihnen der erſehnte Sarg nad langem Barren nun body in bie 
Hände fiel, und ſchaut nachdenklich auf die entjeelte Hülle, die fie beftatten wollen. 

„Bir würden gar Vieles beiler erkennen, wenn wir e8 nicht zu genau 
erkennen wollten; wird uns boch ein Gegenftand unter einem Winkel von fünf» 
undvierzig Graden erſt faßlich“: die Wahrheit diejes goethiſchen Gedankens ift 
wieder einmal dur die Art erwieſen worden, wie in Deutichland die ameri« 
kaniſchen Wirthichaftverhältnifle der legten Zeit beurtheilt wurden. Nie ift ein 
Ding fo gedanfenlos verworfen, freilich auch nie fo unklug gepriefen worden 
wie das raſch aufgeichofjene Amerika von deutſchen Beobadtern. Die Tadler 
traten vier Jahre zu früh, die Lobredner vier Jahre zu fpät anf. Beide ſchärften 
ihren Blid nad Kräften, um die Oberfläche zu durchdringen und ben Stern zu 
erfafien. Und Beide blieben in einem falſchen Geift befangen, der viel von ihrem 
eigenen Wefen, aber nichts von Dem verrieth, was den dkonomiſchen Aufſchwung 
der Vereinigten Staaten erzeugt hat. 

Bezeichnend war don der Umftand, daß Hervorragende Perfönlichkeiten 
der deutſchen Kaufmannswelt erjt, ald Amerifa und alles Amerikaniſche Jahre 
lang von blindem Haß verunglimpft war, den Muth fanden, über ben Ozean 
zu fahren und das Land Veipncecis no einmal zu entdeden. Man hatte fich 
allzu lange vor der Berkleinerungfucht gebeugt. ALS die Bosheit fi an der 
ehernen Mact der Berhältnilje die Zähne jtumpf gebifjen Hatte, wagte man, 
ihr zum Troß, endlich dem Yankeethum offen zu huldigen. Da war es natürlich 
gerade zu ſpät. Einſt trieb Deutſchlands Politiker der Zug nad Italien; jegt 
fonnte man von einem Zug nad; Amerika reden, der unjere Gejchäftspolitiker 
in Bewegung brachte, — leider erjt am Ausgang der Blanzperiode oder mindeſtens 
erit, al& der Höhepunkt überfchritten war. Die Liſte der distinguished visitors, 
die ſeitdem aus Deutichland über den großen Teich zur Freiheitftatue dampften, 
fonnte fich ſehen laffen: ein Prinz aus königlichſtem Seblüt, ein Geheimer 
Kommerzienrath, ein Kommerzienrath ohne Geheimniß, Generaldireftoren, Bank⸗ 
Direftoren, ein inaftiver und jogar ein aftiver preußiicher Staatsminifter. Mehr 
als Einer von ihnen hat nach feiner Rückkehr das Bedürfniß empfunden, den 
deutichen Mitbürgern feine Impreſſionen zu übermitteln. Was man da Alles 
lernen konnte! Herr Doktor juris Salomonfohn, Direktor der Distontogefelle 
haft, war, in Goldbergers Fußſtapfen, den Dingen bejonders tief auf den Grund 


Falſche Propheten. 77 


gegangen. Kein Wunder, daß ihm der Aufjichtrath geſpannt laufchte, al3 der 
Direktor bas Bild entrollte, das er von feinem Ausflug mitgebracht hatte. So 
wird denn in den Protofollen der Disktontogefellihaft für ewige Zeiten ver- 
zeichnet bleiben, daß in Amerika die Pflege der Schönheit unb ber Luxus bei 
Männern nicht minder al bei Frauen Alles überfteige, was Herr Doftor juris 
Salomonfohn jemals zuvor in Paris oder London gefehen hat. Daß ber Akt 
deö Raſirens beim Amerikaner nicht, wie bei und, eine läjtige, möglichit rafch 
abgethane, fordern eine funftvolle, ſorgſam gehegte Prozedur tft, die ungefähr 
eine halbe Stunde Beit in Anjprud nimmt. Daß aber aud Dies bem wahren 
amerifanijchen Dandy nicht genüge, ſondern er ſich noch die Zeit nehme, durch 
Manicure, Pebicure, Gefihtsmaffage und ähnliche Künſte ſich verſchönern zu 
laſſen. Daß in Amerika die Geſchäfte der Wahrfager blühen wie in feinem 
weiten Lande, daß die prädtigften Kirchen in New-York den Gejundbetern gehören 
und daß die Amerifaner auch auf dem Gebiete des Theaterwejens mit Energie 
Wandel jchaffen. Ipsissima verba. Und diejer reihe Schag an Erfahrungen, die vor 
Herrn Doktor juris Salomonjohn Niemand gefammelt hatte, ift noch nicht einmal 
das Bedeutendfte, wa3 von feiner Studienreiſe durch das Archiv der Diskontogeſell⸗ 
ſchaft der Nachwelt erhalten bleibt. Der ftrebfame Gejchäftsinhaber unjeres älteften 
Bantinftitutes, das im Geruch fteht, fonfervativ zu fein wie ein Junker, ift viel 
weiter gegangen. Er hat fi, wie er mit lobenswerther Gewifjenhaftigleit dem Auf- 
ſichtrath berichtete, ernjthafte Mühe gegeben, amerikaniſchen Induſtriellen das Trin⸗ 
ken am Tage beizubringen, ein Uebel, das ihnen bis zur denkwürdigen Landung 
des Herrn Doktor juris Salomonſohn auf dem Bier von New⸗-York fremd geweſen 
war. Zum Slüd lächelte jeinem Bemühen fein Erfolg: bie waderen captains of 
industry blieben ftandhaft und erfparten jo dem Herrn Doktor jede Verlegenheit, die 
iym etwa erwachſen konnte, wenn fpäter ſeine Speſenrechnung von Geheimrath von 
Hanjemann geprüft wurde. Daraus, daß es ihm „nicht gelang, jemals einen der 
oberen oder der niederen Beamten, welche die Tyreundlichfeit hatten, mich durch 
die indujtriellen Etabliffements zur geleiten, dazu zu bringen, beim Frühſtück oder 
fonft während des Tages Wein, Bier oder andere alkoholiſche Getränke zu ges 
nießen“, hat Herr Doktor juris Salomonfogn ohne Iweifel tiefe Schlüffe auf 
den Urgrund bes amerifanifchen Booms gezogen. Er war, jo geitand er, in 
ben Glauben ausgezogen, die Yankees jeien nur eine Abart bes Engländer- 
thumes. NRüdhaltlos, wie es einem charaktervollen Manne geziemt, hat er nad) 
jeiner Rückkehr zu Herrn von Hanjemann gejagt: Pater, peceavi! Denn ber 
Amerifaner, wie er fi ihm in der Stunde der Erleuchtung auf amerifanischem 
Boden offenbarte, unterjchied fi vom Engländer „beinahe“ jo weſentlich wie 
der Staliener vom Deutſchen“ und erinnerte ihn „in ganz frappirender Weife” 
an „den mir wohlbefannten Argentinier”. Wenn der Auffichtrath; der Disfonto= 
gejellichaft auch bei diefer Stelle nicht unter ber Wucht der ihm zu Theil ge- 
wordenen Belehrungen zufammenbrad, dann beſaß er überhaupt keine Nerven... 
oder er hörte nicht zu. Der Herr Doktor hat aber feinem Erfennerdrang aud) 
nach der eben erwähnten Errungenfchaft noch feine Zügel angelegt. Er wollte 
das amerifanijche Xeben bis auf die Neige Eoften. Ihm follte es ſich in den 
geheimften Tiefen offenbaren und er war fejt entichlofien, nicht Heimzufehren, 
ehe ihm das Yankee⸗Orakel alle Fragen beantwortet hätte, die ein Wallenjtein 


78 Die Zutunft. 


der Yinanz am Vorabend eines großen Ringens noch zu ftellen dat. So ging 
er bin, ergriff eine Laterne und fuchte nach einem amerikaniſchen Peſſimiſten. 
Ich nehme an, dab in der Doftorlaterne Petroleum des Standard Dil Truft 
brannte; die Beleuchtung wird aljo wohl tadellos gewefen fein. Trotzdem war 
das Ergebniß des Forſchungzuges volllommex negativ. „Ih kann fagen, daß 
ich wirklich mit der Laterne nad einem Peſſimiſten geſucht babe, ohne ihn zu 
finden; zwar wurden mir auch ſolche namhaft gemacht, doch ſtets ‘zeigte ſich 
ihon nach kurzer Unterredung, dab diefer Pelfimismus einer Prüfung nicht 
Stand hielt.“ Wohl den Aktionären einer Bank, wo ſolche Grünblichleit in 
ber Behandlung ber allerwidtigiten Themen zu ben Ueberlieferungen bes Haufes 
gehört! Dem Löblichen Eifer, ber fich dabei zeigte, wird wohl auch ber prubeite 
Theilbaber des Gejchäftes verzeihen, daß Herr Doktor juris Salomonſohn ſelbſt 
por der heiklen, aber bedeutjamen Trage nach den Fortpflanzungverhältniſſen der 
Amerikaner nit Halt madte und zu Protokoll erklärte, daß die moberne ame: 
rikaniſche Frau eine zunehmende Abneigung befunde, ihren natürlichen Beruf 
als Mutter zu erfüllen. Shocking, aber wahr. Wenn die Männer, bie Gelegen- 
beit Hatten, den Bericht des Direktor aus erfter Hand entgegenzumehmen, aus 
diejer Enthüllung nit das Kapital zu fchlagen verftanden, das börfenmäßig 
aus ihr zu holen war, jo beweift diefe Thatſache aufs Neue, daß bei ber Dis⸗ 
tontogejellichaft ftet8 nur der Sache um der Sade willen, niemals einem auch 
noch jo entfernt unlauteren Zwede gedient wird. Wortkarge, projaifche Na⸗ 
turen wie Herr von Hanjemann haben Herrn Salomonfohn vielleicht übelgenommen, 
daß er an einzelnen Stellen — wie da, wo er von ben „hohen Bergen von 
Kiiten und SKaften in den Straßen“ oder von den „80000 Schweinen und 
80000 Rindern in den Schladhthäufern von Chicago“ ſprach — in einen Stil 
verfiel, der an manche jchöne, aber poetilche Seite aus „Soll und Haben’ ge- 
mahnte. Aber auch Herr von Hanfemann mußte fi durch die imponirende 
Sicherheit reichlich entichädigt und verſöhnt fühlen, womit Direktor Salomon» 
fohn aus feiner Amerilareije das Fazit zog, daß „meines Erachtens mit einer 
Fortdauer der günftigen Lage der amerikaniſchen Induſtrie für einige Zeit zu 
rechnen jet. Das war vor wenigen Monaten. Seitdem iſt der Rückſchlag in 
der amerifanijhen Induſtrie allen Augen fihtbar geworden. Das thut aber 
nichts zur Sade. Nicht fo fehr auf die Nichtigkeit wie auf die Beſtimmtheit 
der Meinung kommt es in wirtbichaftliden Dingen an, wenn man vom finan- 
zielen Standpunkt aus an ihre Betrachtung geht. Und an Beftimmtheit, da⸗ 
neben auch an unbedingt Überzeugendem Lokalkolorit, ließ es Herr Doktor juris 
Salomonjohn nicht fehlen: Die ftarfe Hiftorifche Aber, die er bejigt, verbot ihm 
zu feinem Glüd übrigens, fein Diktum ohne eine weiſe Einfchränfung zu laſſen. 
Aus dem Born diefer Ader jhöpfend, fügte er hinzu: „Daß dieje Situation 
nicht ewig dauern kann, lehrt die Geſchichte aller Völker.” Und wenn Herr Salomon⸗ 
john von der Geſchichte aller Völker fpricht, fo ift Das Leine bloße Redensart. 
Er weiß, was er jagt. Das zeigt der Nachſatz: „Die fieben fetten und die fieben 
mageren Jahre der biblifden Geſchichte wiederholen ſich allerorten.” 

Berichte wie diefer — und feine Art blieb durchaus nicht vereinzelt, wenn 
auch andere durch ein ſchweres Aufgebot ſtatiſtiſcher Artillerie der leichten Reiterei 
der Gedanken eine befjere Dedung zu geben verjuchten — waren natürlich ge- 





Falſche Propheten. 79 


eignet, der Welt deutichen Handels und Gewerbes endlich die Augen zu Öffnen. 
Set, da man aus dem Munde jo kompetenter Beurtheiler darüber untere 
richtet war, was ein amertlanifcher Dandy mit feinen Yingernägeln und Hühner: 
augen madt, da der Urgrund der amerikaniſchen Hochkonjunktur in die Be— 
leuchtung der Laterne Salomonjohns gerüdt, Die Ueberfüllung der amerikanifchen 
Schlachthäuſer mit Rindern und Schweinen und die der Cityſtraßen mit Kiften 
und Kaſten als unumftößliche Thatjache feitgeitellt war, — jet erit erfannte 
man Amerikas Größe, aber zugleich mit der Größe auch die Unmöglichkeit, daß 
ſolche Rieſenmacht in der nächſten Zeit dahinfchwinden fönne. Und faum war 
diefe Erfenntniß gereift, da kam das nicht mehr länger Bermeidlicde: die ameri⸗ 
kaniſche Eijen- und Stahlinduftrie gerietd ganz offen ins Rutſchen. 

Ich babe mic in den legten Tagen oft gefragt, ob ſich Hinter den unzeit⸗ 
gemäßen Berfuchen angejehener Deutichen, die amerikaniſche Projperität zu ver⸗ 
herrlichen, nicht etwa doch ein tieferer Sinn verberge. Jedenfalls war bie Wirkung: 
fo vortHeilhaft für das heimiſche Wirthichaftleben, daß man verſucht fein fünnte, 
an eine großangelegte Aktion macchiavelliftiichen Gepräges zu glauben, — wenn 
man unter den Betheiligten nicht vergebend nah einem Talent vom Schlag 
Macchiavellis ſuchen müßte. Die Thatſache, ba Amerifas Wohlſtand von deutſchen 
Autoritäten noch zu einer Zeit gepriefen wurde, wo ſchon der heftige Kursrück⸗ 
gang aller amerilaniihen Börfenwertde die Furcht vor einem wirthichaftlichen 
Bufammenbrud der Union erregen mußte, bat bewirkt, daß unfer Publikum. 
gegenüber den erften, faum mehr mißzuverftegenden Meldungen aus Pittsburgh, 
durch die der Abjchied von der guten Konjunktur befiegelt wurde, in fait ſtoiſcher 
Ruhe verharrte. Diefer erfte Eindrud aber war enticheidend. Das Publikum 
Tieß fich nicht nur nicht einſchüchtern — es hielt nicht einmal den Athen an —, 
ſondern kaufte und bejtellte weiter, blieb bei feiner Gefchäftöfreudigkeit und Unter: 
nehmungluſt und zeigte das vollfte Vertrauen zur Lage des heimiſchen Marktes, 
dem, davon war es überzeugt, Fein fremder Einfluß, aud feine amerikaniſche 
Krifis Etwas anhaben fünne. In diefem Glauben hat die Bevölkerung, und 
zwar ihr konſumirender wie ihr produzirender Theil, nicht geirrt; nad den 
Prophezeiungen konnte e8 aber auch anders fommen und zu beklagen wäre ge- 
wejen, wenn die unerwartete Erregung das Publikum zunächſt auf einen falichen 
Weg gedrängt hätte, von dem e3 erſt nad) großen, überflüſſigen Opfern wieder 
zurüdfinden fonnte. Richtig war die Annahme, daß der amerifanijche Rüdgang 
das neu erwachte Leben der deutſchen Induſtrie faft gar nicht berühren werde. 
Bon der jelben Seite, die den amerikaniſchen Wohlitand der legten Jahre bes 
Barrlich als Reporterlüge denunzirte, warb 1900, als in Deutichland die Wendung 
zum Scledteren fam, eine Hungerfrift von fieben — jage und jchreibe: fieben — 
Jahren für die deutſche Induſtrie in Ausficht geftellt. Diefe altteftamentarijche 
Theorie wurde aber jchon im vorigen Herbit durch die Praxis ind Wanken ges 
bracht und der Berlauf ber legten zwölf Monate hat ihr endgiltig den Garaus 
gemadt. Der Wachsthumsdrang Deutichlands und auch anderer Ränder hat fich 
jtärfer erwielen als alle noch jo fein auf dem Papier erflügelten Gegenbe- 
rechnungen. Und nun müſſen die Kaflandren, die fich vier Jahre lang die Hälſe 
über das Unheil wund geichrien haben, das über Deutfchland hereinbredden müfle, 
fobalb die Hocfonjunftur in Amerika auch nur zu weichen beginne, den unjag« 


s 





80 Die Zukunft. 


baren Schmerz erleben, mitanzufehen, daß es der deutſchen Induſtrie und fogar 
dem deutfchen Aktienmarkt vortrefflich ergeht. Seit dem Frühling des Jahres 
1900 war die Stimmung bei uns niemals fo zuverſichtlich wie gerade jetzt, troß- 
dem Amerika ein Stüd nad dem anderen von feinem &lorienmantel verliert 
und trotzdem fich an Betriebseinftellungen großer Werke, an Arbeiterentlafjungen, 
an Herabjegungen von Löhnen und Preijen zeigt, daß, was imper auch unfere 
Geheimräthe und Direktoren von Amerika zu erzählen wußten, die Bereinigten 
Staaten bod nur, gleich den europäiſchen Staatsweſen, ein Land mit begrenzten, 
nicht mit unbegrenzten Möglichkeiten find. 

Die armen Unheilspropheten! Erſt warteten fie Jahre lang auf den Krach, 
der nicht fommen wollte. Seht iſt er gelommen und fie fchicten ſich fchon an, 
zu triumphiren; denn bie Stleinigkeit, daß fie fi im Zeitpunkt um einige Jähr⸗ 
chen verrechnet haben, ficht fie nidgt an. Aber fiche da: der Krach will nicht krachen. 
Das nennt man Pech. Gehet Hin zu Goethe und lernet betradten! Dis. 


u 


Ein Brief. 


Se geehrter Herr Harden, in der Aera ber „Erklärungen, die unter meinen 
Parteigenoſſen nur jo Hin: und herfliegen, will auch ich nicht im Verborgenen 
blühen. Ich befleide fein Ehrenamt in der ſozialdemokratiſchen Partei, ich habe als 
Akademiker meinen llebergang zu ihr einjt nicht urbi etorbi in Brocduren oder Zei⸗ 
tungartifeln der ſtaunenden Mitwelt verfündet, ſondern mich als einfachen Mitjtreiter 
geräuſchlos in die Schlachtreihen geftellt; ich laſſe mich nichtin dies oderjenes Schub: 
fach einfchachteln und bin weder „Marxiſt“ noch, Reviſioniſt“, fondern Sozialdemos 
trat. Als folcher ſpreche ich auch an diefer Stelle und erachte es als meine Pflicht, 
der Wahrheit zur Ehre, in Nebereinftimmung mit anderen geiftig intereffirten Bars 
teigenojjen, zu erflären, daß die Entjchließung des Parteitages in Bezug auf die 
Nitarbeiterichaft an bürgerlichen Zeitfchriften, insbefundere der „Zukunft‘‘, als eine 
im höchſten Maße verfehlte und darum bedauerliche bezeichnet werden muß. Gerabe 
die, Zukunft“, deren Herausgeber mit einer bei temperamentoollen Bubliziften viel- 
leicht einzig dajtehenden Toleranz fie zu einem Sprechſaal für die verfchiebenartig« 
ften Anfichten mujtergiltig ausgeitaltet Hat, mußte Sozialdemofraten für Dars 
legungen ihrer Anſchauungen nach wie vor durchaus willfommen bleiben. Die Ge 
noſſen, die in einer Zeitichrift, wie es die, Zukunft“ im Hinblick auf ihre Verbreitung 
und die Art ihres Lejerkreijes ift, die Ideen der fozialiftiichen Drafjenbewegung zu 
propagiren vermögen, leilten diejer kaum geringere Dienfte als die nur in partei« 
amtlich geaichten Blättern fchreibenden. Wie aljo die jogenannte Disziplin, bie in 
gewiſſem Grade für eine große Partei unentbehrlid) ift, einen foldhen Bann über 
die „Zukunft“ rechtfertigen folle, bleibt unerfindli. Da die Sozialdemokratie von 
ihren Jüngern heiſcht, ihre Anfichten an jeder nur möglichen Stätte zum Ausdrud 
zu bringen, darf der Beichluß des Parteitages nimmer gutgeheißen werben. Daß 





Die rothen Primadonnen. 8l 


er aud durch die heftigen Angriffe auf Ihre Perſon nicht beiler wird, braudt ja 
nicht erst befonder3 betont zu werben. Es wäre unfchidlich, in dem von Ihnen ges 
leiteten Blatte jelbit über diefen Punkt fich näher auszulaffen. Nur fei gefagt, daß 
es Sozialdemokraten giebt, die e3 Heilig mit ihrer Parteipflicht nehmen und fi} ba- 
bei nicht ſcheuen, auch in fchroffem Gegenſatz zu vielen Ihrer Anſchauungen Ihre 
Publiziftenarbeit als eineder wenigen erfreulichen Erſcheinungen unferes öffentlichen 
Lebens zu bezeichnen. Das gerabe jeßt franf und frei herauszufagen, ift ber Zwec 
dieſer Zufchrift. Da es für die Sozialdemofratie fein ökumeniſches Konzil giebt, 
muß aud) der Parteitag der rüdhaltlofen Kritik der einzelnen Genoſſen unterliegen. 
Und wenn es ſich jelbjt um einen mit „großer Mehrheit" gefahten Beſchluß handelt, 
jo gebietet eben die Wahrheit, zuerflären, daß die Majorität in ſchweren Irrthümern 
eine gefährliche Entſcheidung getroffen bat. 
Mit vorzüglicher Hochachtung 
Ihr ergebener 
Victor Fraenkl, Rechtsanwalt. 


Die rothen Primadonnen. 


Piner ber freiſinnigen Rundreiſeredner ſoll, als er eben von einem Wahlfeldzuge 
für einen kandidirenden Parteigenoſſen zurückkam, den harrenden Fraktion- 
vettern ſtatt anderer Begrüßung die Worte zugerufen haben: „Wie einen König hat 
man mich gefeiert!" Vergeſſen war der unglückliche Ausgang der Redeſchlacht, ver⸗ 
gefjen die Wahl des fonfervativen Gegners; nur an den perjönlicden Triumph be- 
wahrte das parlamentariſch geſchulte Gedächtniß Liebendes Erinnern. Die Gefhichte 
ift vieleicht nicht wahr, doch ficher gut erfunden; denn fie beleuchtet jehr luſtig die 
Birtuofengefühle, die den commis voyageurs der öffentlichen Meinung auf ihren 
Saftipielfahrten durh „Stadt und Land“ anerzogen werden. Wie der virtuofe 
Schauspieler allmählich jede Rüdficht auf den Dichter, dem er doch dienen foll, ver- 
lernt, fo tritt für den virtuofen Agitator jchließlich jedes Intereſſe hinter die Freude 
an der befriedigten Eitelkeit zurück: ohne nach dem praftifchen Erfolg viel zu fragen, 
läßt er den Jubelſchrei erfchallen: „Wie einen König hat man mich gefeiert!" Dieſe 
Erfahrung hat man auch im fozialdemofratijchen Heerbann fchon gemacht und deshalb 
wurde auf dem Barteitage ber deutichen Sozialdemokratie das hübſche Wort von den 
„Partei-Primadonnen“ mit verftändnißvoller Heiterkeit begrüßt. Hoffentlich nimmt 
ein Witzblatt, ber Kladderadatſch oder die Luſtigen Blätter, fi) der Sache an und zeigt 
unsLiebknecht al3 beweglich Flagende Mezzoſopraniſtin, Bebel als Dramatifche, Singer 
als prächtig gepußte Stoloraturen-Sängerin, benen die Herren Auer, Fiſcher und 
Stadthagen ald Bertraute dam zur Seite treten mögen. 
Das Star-Syitem, von dem unfere Theater fich zu befreien ſuchen, hat na- 
mentlich in den links ftehenden politifchen Parteien recht hübſche Fortſchritte gemacht 
und die bewährteften Zugfräfte find ſchon längft nicht mehr in der Lage, allen Gaſt⸗ 


82 Die Zutunft. 


jpielanträgen, die an fie ergehen, Folge leiften zu können. &3 fehlt überall an Ra ch— 
wuchs und deshalb bleiben die Alten in ungeſchmälertem Nollenbeits, fo.lange fie 
noch einen Ton in ber Kehle haben. Die erite Folge davon ift, baß an bie Stelle 
begeijterter Ueberzeugung eine handwerkmäßige Routine tritt; und die zweite, daß 
bie Koryphäen in immer bebenklichere Abhängigkeit vom Lieben Publikum geratben. 
Beide Erſcheinungen haben ſich auch auf dem Parteitage der deutſchen Sozialde m o⸗ 
kratie gezeigt, für deſſen langwierige und meiſt langweilige Verhandlungen kaum 
ein paſſenderes Motto zu finden fein dürfte als die Sätze, die in Shakeſpeares Heinrich 
dem Sechsten Hans Cade zu ſeinen Getreuen ſpricht: 


„'s iſt für die Freiheit, zeigt Euch nun als Männer: 
Kein Lord, kein Edelmann ſoll übrig bleiben; 
Schont nur, die in gelappten Schuhen gehn, 

Denn Das find wackre, wirthichaftfiche Leute, 

Die, wenn fie dürften, zu uns überträten.“ 


Die Lohnſchreiber — es giebt auh proletariſche —, die mit aufgeblajenen 
Baden dem fozieldemofratiihen Parteitage ſchmetternde Yanfaren vorausjandten, 
werden nun doq in einiger Verlegenheit fein, wenn fie erklären follen, was denn gar 
jo Großes vollendet wurde. Den Irrthum dürfen fie nicht zugeben, denn das Weien 
und die Gefahren der Lohnſchreiberei beitehen ja eben darin, daß unter allen Um« 
jtänden der zahlende Auftraggeber gelobt werden und jeinem perjönlichen oder partei= 
lichen Intereſſe eine Kerze verbranntwerden muß. Auch die rothen Brimabonnen Haben 
ihre Claque, auch ihnen Lügen, fo oft fie die Bretter verlaſſen, eifrig klatſchende Hände 
Erfolge vor. Dem von Gunft und Haß nicht getrübten Blid aber muß das Ergebniß 
biejes Parteitages außerordentlich gering erjcheinen und es unterliegt feinem Zweifel, 
daßdiejes Urtheilinsgeheim auch von den ſozialdemokratiſchen Führern beftätigt wird. 
Aber auch dieje Bartei,dieangeblichdocdh von der heutigen &efellichaft nichts erwartet und 
nichts wänjcht und die deshalb auch weder Kompromiſſe zu ſchließen, noch „Rechnung 
zu tragen brauchte, hat von den Taktiken und Praftilen der Zunftpolitifer ſchon 
fo viel angenommen, daß man zwiſchen den Zeilen zu lejen verftehen muß, um ihre 
wahren Stimmungen zu erkennen. 

Die Fehde, die zwiſchen den Herren Liebknecht und Vollmar über die 
Stellung zum Staatsjozialtsmus ausgebrochen war, ift durch eine Refolution bei« 
gelegt worden; und eine Rejolution Hat jih auch mit dem Antijemitismus bejchäf- 
tigt, der eigentlih in einer Nede Bebels und in einer daran zu Inüpfenden Dis: 
kuſſion behandelt werden ſollte. Wer die Pſychologie der Parteien nur einiger 
maßen fennt, Der weiß, daß Nefolutionen meijtens von der Verlegenheit einge 
gebene Balliativimittel find. Herr von Bollmar ift und bleibt den norddeutſchen Pri⸗ 
madonnenverhaßt,weil er fich gar zu freimüthig als Boflibiliften befennt und damit 
dem durch die Wiühlereien der, ‚Unabhängigen‘‘ erregten Mibtrauen der Maſſen nene 
Nahrung giebt; die Größe feines Anhanges innerhalb der Partei nimmt aber ben 
führenden Genofjen doch den Muth, offen gegen ihn vorzugehen. Und der Antije- 
mitismus bat unter den Sozialdemofraten fo rapide Fortſchritte gemacht, daß 
man ernſtlich befürchten mußte, in der Debatte verſchämte oder laute Ahlwarbtereien 
zu erleben; deshalb wurde diejer interejlantefte Punkt der Tagesordnung vorfichtig 
umgangen. Offiziell wird Das natürlich mit nachdräücklichſter Entſchiedenheit be= 





Die rothen Primadonnen. 88 


ftritten, in Privatgejprächen aber geben ſelbſt die eifrigften Genoſſen es achſelzuckend 
zu. Vollmar bat eben feine Gruppe und Singer, der fein Bermögen der Bartei ver 
macht haben foll, ift ein noch viel mädhtigerer Mann; Beide ftügt außerdem noch 
bie Befürchtung, durch ihren Sturz könnten die Herren Bebel und Liebtnecht allzu 
mädtig werden. In diefem Knäuel perfönlicher Erwägungen und Rivalitäten ift 
Tchlieglich für die „Sache” faum nod irgendwo Plab. | 

Das größte Auffehen hat die Debatte über den „Vorwärts“ erregt und ber 
Ausſpruch des Herrn Liebknecht, die Redakteure müßten vor dem Parteitage ftehen 
wie „Indianer am Pfahl“. Wahrjcheinlich wollte Herr Liebknecht fagen, wie die 
Weißen am Pfahl ber Indianer. Das mochte ihm aber zu unhöflich Tlingen. Unb 
doch iſt die Gereigiheit des alten Herrn fehr begreiflich; denn die Thatſache, daß er 
als Leiter des fozialdemofratifchen Gentralorgans ein Sfahresgehalt von 7200 Mark 
bezieht, tft jeit Monaten dazu benußt worden, den ergrauten Führer offen und ver 
fteckt anzufeinden. Immer wieder famen aus dem Abonnentenfreife Briefe, die 
Auskunft darüber verlangten, ob denn wirklich ein ſolches „Miniſtergehalt“ bezahlt 
würde, und ein fehlagfertiger Redakteur gab fchließlich einem der Neugierigen im 
Brieflaften die Antwort: „Wenn Sie ben Betreffenden etwa anpumpen wollen, find 
Sie an den Unrechten gekommen!“ Das thörichte Gerede war durch die veriverfliche 
Taktik der Unabhängigen aufgebracht worden, die dabei ganz ſchlau mit den Eigen» 
thämlichkeiten der proletarifchen Ethik gerechnet hatten, mit ber Anfchauung, daß der 
Verſuch, fi auf unrechtmäßige Weile zu bereichern, eigentlich das einzigeunverzeih- 
liche Verbrechen ift. Brutalitäten und Unfittlichfeiten im Sinne des bürgerlichen 
Geſetzes werben in diefen Kreifen unendlich viel leichter vergeben als ein unlauteres 
Streben nad) Dem, was hier immer und überall fehlt: nad Geld und Gut. Nun 
tft e8 ja ar, daß Herrn Liebknecht ein folder Verbacht nicht einmal von fern 
treffen Tann; er ift im Vergleich zu feinen Chef: Stollegen fogar ſehr ſchlecht bezahlt, 
denn der Freiherr von Hammerjtein erhält 24,000 Marf und Herr Levyſohn 
18,000 Mark im Jahr. Aber die fozialdemofratifche Bartei hat dem Unverftänd« 
niß der Maffen ſchon zu oft nachgegeben, fie Hat die Lohnſätze für geiftige Arbeit 
allzu willfährig herabgeſetzt, ald daß fie über den neuften Anſturm fich verwun⸗ 
dern dürfte. Wenn ein Mann, der die „Ropfarbeiter” beichimpft, in ben Vorftand 
der Freien Volksbühne berufen, wenn den HBöglingen dieſes pädagogijch ge— 
planten Unternehmens ſchwarz auf Weiß das Recht zugeſprochen wird, über lite» 
rorifhe Werke in legter Inſtanz abzuurtheilen, dann ift es nur jelbftverftänd- 
lich, daß die Männer der ſchwieligen Fauſt am Ende glauben, die Arbeit des 
Herrn Liebknecht jei „ein Bappenftiel“ und könnte bequem in billigen Tagelohn ver- 
geben werben. Anftatt Das nun aber rüdhaltlos auszufpreden, erging Herr Lieb- 
knecht fich in den unglüdlichiten Motivirungen; was Coriolan zu thun verfchmähte, 
Das that er: vor den gerührten Quiriten führte er feine Wunden fpaziren, ſprach 
von der Nothwendigkeit, für feine Söhne zu jorgen, und erklärte endlich, nachdem 
er kurz vorher doch die Selbjteinihäßung für geiftigen Kapitalbeſitz verworfen Hatte, 
nicht er verdiene an der Partei, ſondern die. Bartei verdiene an ihm. 

Da ift nun ein freundlicher Irrthum, den uns das Toben der Claque ver- 
ftändli macht. Die Primadonnen erfahren immerzulegt, daß fie Runzeln und Fett⸗ 
anſatz haben, und Herr Liebknecht weiß ganz gewiß nichts davon, daß auch bie ihm 
am Nächten Stehenden mit feiner redaktionellen Thätigfeit äußerft unzufrieden find. 


84 Die Zukunft. 


Auch ein Gegner der Sozialdemokratie Eonnte früher mitunter feine Freude an der 
bandfeften Deutlichteit haben, mit der im ‚Vorwärts“ gegen bourgeoife Heuchelei 
und liberale Korruption zu Yelde gezogen wurbe. Durch allerlei perfönliche Einflüſſe 
aber und durch die Unkenntniß des journaliſtiſchen Großbetriebes, die ber neue alte 
Herr aus Leipzig mitbradhte, ilt das Gentralorgan fo gründlich nad) und nad) ver— 
wandelt worden, daß es fich heute den Zorn und die Geringſchätzung der Genoſſen zu⸗ 
gezogen hat und daß Herr von Bollmar unter beiterem Beifall jagen durfte, alle Vor⸗ 
würfe, die man dem „Vorwärts“ gemacht Habe, feiern nocd gar nichts im Vergleich 
zu denen, die man ihm zu machen berechtigt wäre. In der That unterfcheidet ſich 
das Blatt eigentlich nur noch dadurch von anderen ſchlechten Blättern, daß es 
feine Nachrichten bat, von den fulturell wichtigen Ereigniffen faum Notiz nimmt, 
und in einer rüden und Inotigen Sprache ſchwelgt. Im Uebrigen wird gelogen, ver- 
leumdet, entftellt und totgefchiwiegen, ganz wie... .. anderswo. Und Das wiflen Alle, 
aber jelten nur wagt Einer, den Parteibann zu brechen und offen das Ding beim 
Namen zunennen; verjtohlen nurtufcheln fie einander zu: „Deralte Liebknecht kanns 
nicht, ein Ruhegehalt nimmt er nicht an und die Partei muß ihn deshalb im Amte 
behalten.” Dan muß jchon die jozialiftifchen Weihen empfangen haben, um für ein 
ſolches Catonenthum, das lieber die wichtigfte Agitation jchädigt, als daß es mit 
wohlverdienter Benfion ſich zur Ruhe ſetzt, Verſtändniß oder gar Bewunderung auf» 
dringen zu fönnen. | 

Indeſſen trägt Herr Liebknecht nicht etwa allein die Schuld. Es wandert da 
nod eine Preßkommiſſion herum, an deren Spitze natürlich Herr Singer fteht, und 
bie ängitlich darüber wacht, dab nur ja jede Bejchwerde jedes Parteigenoſſen proto= 
folirt wird und in jedem Streit eined Unternehmers mit feinem Arbeiter dem 
Unternehmer ordentlich Eins auf den Kopf gegeben wird. Nun haben bekanntlich 
jelbft Unternehmer mitunter Recht; aber Herr Singer ift ein. ftrenger Herr und 
ſeufzend müſſen die Redakteure nachgeben, oft genug gegen ihre Ueberzeugung. Eine 
Beitung, die nad) perfönlichen oder parteilihen Intereſſen geleitet wirb, kann eben 
immer nur jo lange anjtändig und ehrlich fein, wie es die perjönlichen oder partei: 
lichen Intereſſen geftatten; ob ein annoncenfüchtiger Verleger oder eine demagogiſch 
um den Dtafjenbeifall bublende Kommiſſion den Gewiſſenszwang übt: Das ändert 
an dem Refultat nicht das Geringite. Gut jchreiben und mit dem Gefchriebenen 
nachhaltigen Eindrud machen kann man nur, wenn man völlig frei ift und von Fall 
zu Fall nach beftem Ermeſſen prüfen darf, 9 das Recht ift und wo das Unrecht. Die 
foztaldemofratijchen Zeitungjchreiber find aber zum größten Theile gerade folche Kulis 
wie ihre bourgeoijen Kollegen; ſyſtematiſch werden fie zurStlopffechterei erzogen, und 
wenn fie, mit noch blutigen Händen, vom Morden der Bourgeoiftie fommen, dann 
jegen fie fi) mit den VBorfämpfern diefer Bourgeoifie um ben Biertopf herum und 
find die beiten Freunde von der Welt. In beiden Lagern fechten Söldner und bie 
genarrtenZejernehmen die Geſchichte eruft, während die Wütheriche doch, nach einem 
Worte Leſſings, oft genug wie die Fleiſcherknechte reifen. 

Die liberalen Ganzklugen haben zu dem Parteitage behaglich geſchmunzelt 
und aus dem Gehege ihrer Zähne dann bejonders meije Betrachtungen herausſchickt. 
Erfteng, jagten fie, find Das feine Arbeiter, die hier tageır; für den Mancheftermann 
ijt ein Arbeiter ohne Hohle Wangen und zerlumpte Kleider überhaupt nicht denkbar; 
der Mancheſtermann baut zwar mit beicheidenem Profit Arbeiterwohnungen, aber 


Die rothen Primadonnen. 85 


er weiß nicht, daß ber Induſtriearbeiter darauf Hält, bei feitlichen Gelegenheiten 
ſchmuck und fauber zu erfcgeinen. Darin meinten fie: „Dieſe Leute wollen die Welt 
umgeftalten und haben nicht einmal bie nöthigen Kräfte, um eine ordentliche Zeitung 
zu machen!” Das ift wieder ein Irrthum, denn mit ganz verihwinbdenden Ausnahmen 
find heute alle Kournaliften Sozialdemokraten und in Schaaren würden fie, troß 
Singers Preßmaſchine, der Bartei des Umſturzes zulaufen, wenn dieje fie nur aus⸗ 
kömmlich bezahlen wollte. Drittens fagten die liberalen Herren: „Sieb, fieh, die 
einſt fo wilde Sozialdemokratie tft ja ganz janft geworden! Wir haben es ja immer 
gejagt, nur keine Gewaltmaßregeln, nur feine Aufregung, laissez faire, laissez 
aller, Alles wird fchon gut werden.” Und Das ift der dritte und ſchwerſte Irrthum. 

In ber harten Schule des Sozialiftengefeges haben die jeigen Führer einige 
Refignation gelernt; fie find alt und müde, möchten Ruhe haben und legen fi, ut 
aliquid flat, aufs Prophezeien. Nur bei ganz bejonders feierlichen Gelegenheiten 
wird noch die revolutionäre Walze eingelegt und die parifer Commune verberrlicht; 
‘ für den Alltag muß ein bequemer Poſſibilismus aushelfen, ber mit dem Möglichen 
rechnet und bei Stihwahlen mit Richter, dem Soztaliftentöter, Geſchäfte auf Gegen- 
jeitigfeit abichließt. Die Mafien aber, denen man jo lange den Mund wäflerig gemacht 
bat, werden ſich auf die Länge mit jo magerer Koft nicht abjpeilen laflen, ſie werden, 
wenn ber Worte genug gewechjelt find, aud) endlich Thaten fehen wollen, und da bis 
dahin der verjühnliche Saprivismusabgewirthichaftet Haben wird, fo kann ein ſchroffer 
Bujammenftoß der feindliden Mächte nicht ausbleiben. Heute herricht in ber Sozial⸗ 
demofratig vielfach gefällige Routine und demagogiſche Liebedienerei; aberbie rothen 
Primadonnen find alt, und wer die Vorgänge hinter den Couliſſen des Parteitages 
aufmerkſam beobadjtet hat, kann fich nicht darüber täufchen, daß der Zuſchauer un. 
gebuldiges Bilden und Trampeln ſchon bis zu den Sternen dringt und daß die 
nächſte Debutantin die alten Lieblinge über den Haufen rennen wird, namentlich, 
wenn ſie feine Hände und den trogigen Muth ber Uebertreibung hat. 


% * 
* 


Das ift der fürchterliche Artikel, der auf dein Dresdener Barteitag mit ſolcher 
Wonne am rohften Schimpfwort gejcholten wurde und der jeitdem noch immer, wie 
die Erinneruug an die größte Todfündeder Apofalypfe, durch die ſozialdemokratiſchen 
Blätter ſpukt. Bor elf Jahren ift er hier veröffentlicht worden. Schwere Strafthaten 
verjähren in dieſer Zeit; meines Verbrechens Strafbarfeit ſcheint aber ewiglich währen 
zu follen. Das Heft iſt einzeln jchon längſt nicht mehr zu faufen; deshalb wollte ich 
dieſes Hauptbelaftungmaterial der Trianonanklage hier dem Blid der Betrachter 
nod einmal zeigen. Deshalb ; nicht etwa, weil ich den Artikel gut finde Ich würde 
in — erwareiner meiner erſten Berfuche aufdem flüftigen Gebiet politifcher Kritik — 
heute nicht mehr jchreiben. Erſtens, weil die Sozialdemokratie fich wejentlich ver- 
ändert bat und der „Vorwärts“ ganz unvergleichlich beffer geworden ift; zweitens, 
weil ih mich in gründlichere Prüfung politifcher Vorgänge gewöhnt und die rothe 
Partei näher kennen gelernt habe. Einzelnes aber dünft mich heute noch wahr: und 
nicht Unwichtiges. Zum Beifpiel: daß inder Sozialdemofratie „vielfach demagogiiche 
Liebedienerei herrſcht.“ Daß die Maffe fich nicht immer mit Worten abfpeifen laſſen 





86 | Die Zukunft. 


wird. Daß aud) die ſozialdemokratiſchen Zournaliften recht oft nicht jagen dürfen, 
was fie benfen, recht oft friedlich und freundlich beim Bier mit den Schreiben der 
Artikel zufammenfigen, die fie eben erſt als ſchurkiſche Ausgeburten verfommener 
Dourgeoismoral gebrandmarkt haben, daß aljo der gen Himmel lodernde Zorn nicht 
jtet8 ganz heilig ernſt zu nehmen ift. Richtig ober falfch : ſicher feine Anſicht, bienach elf 
Jahren noch Flüche verdient. Der Primadonnenſcherz war von Sozialdemokraten jelbft 
auf dem Parteitag gemacht und belacht worden; und Primadonnen nennt der Sprach⸗ 
gebrauch nicht, wie Herr Bebel zu wähnen ſcheint, Bänkelſängerinnen, ſondern Künſtle⸗ 
rinnen, bie wirklich was können, — auch wenn fie ſchon ſacht altern, eitel, herrſchſüchtig 
und nach Applaus Lüften find. Im Jahr 1892, nach der Exkommunikation der, Unab- 
hängigen“, gehörte Herr Bebel zu den Alten, die ihre Ruhe haben, ihre Glanzrolle be⸗ 
halten wollten und thörichten Radikalismus verwarfen. In Erfurt hatte er, ein Jahr 
vorher, geſagt: „Die Maſſe ſchließt ſich uns nicht an, weil ſie nach reiflichem Nach⸗ 
denken unſere Ziele als die Ziele der Menſchheit erkennt, ſondern, weil wir die einzige 
Partei ſind, die für die Arbeiter in die Schranken tritt und die Ausbeuter an den 
Pranger ſtellt.“ Seitdem hat er, vielleicht, um nicht zum alten Eiſen geworfen zu 
werden, ſelbſt nach der Rolle gegriffen, in der, wie ich annahm, eine neue Debutantin 
die alten Lieblinge überſtrahlen würde, ift er ſelbſt der Radikalfte der Radikalen ge⸗ 
worden. Und wie redet er nun? Ich will nicht aus ſeinen dresdener Wuthausbrüchen 
eitiren, ſondern aus dem Artikel, den er vor dem Parteitag ſchrieb. Bismarck, heißt 
es da, würde fi vor Laden den Bauch halten, wenn er Bernftein ſprechen hörte. 
Bollmar ift ein Schulmeifter, aber auch ein Geremonienmeifter und ein Salftaff (alfo 
ein Prahlhans), der „mit unnachahmlicherWürde vom hohenKothurn herab bozirt. "Die 
Fraktion fol aufdie niegezwungen werben. „Bollmar und Benofjen führen kautſchuk⸗ 
artige Gründe an, die für die Preisgabe aller ®rundfäge angeführt werden können“! 
Bollmar, der in Kniehoſen zu Hof geht, ift „ein Töftlicher Stoff für Witzblätter“. 
Die Zumuthung, Pflichten der Nepräfentation auf ſich zu nehmen, ift „bie vollen- 
dete Würdelofigkeit“ ; und doch ging fievon Barteiführern aus. „Unſere Revifioniften 
legen fi immer aufs Leugnen, jobald man Mare Auskunft von ihnen verlangt.” 
Sie „Juden die Bartei auf die jchiefe Ebene zu drängen.“ „Man höre endlich ein- 
mal in unferen Reihen mit dem Komoedienſpiel auf, immer wieder von Einigkeit 
und Einheit in der Partei zu reden." Korruption alfo und Komoedie ringsum. 
Wären die Zuftände wirklich jo ſchlimm, dann könnte meine Diagnofe höchſtens als 
etwas verfrüht getadelt werden. Ich glaube nicht, daß fie gerade in den von Bebel 
gerügten Punkten fo ſchlimm find. Wars aberunfühnbarer Frevel, daß ich, den ber, nad} 
des Genoſſen Mehring Meinung, „vom Buben Schoenlank mit jeinem Gift infizirte* 

alte Liebfnecht damals gräulich verleumdet hatte, 1892 ausſprach, was mir richtig 
ſchien? Daß ich dem erſten Staunen eines ſoeben in die Politik verſchlagenen Kunft- 
genießers ſatiriſchen Ausdrud juchte und vielleicht unglimpflicgen fand ? Ich glaube, 
der alte Urtifel wird Alle enttäufchen, die Graufiges von ihm erwartet oder wenigftens 
vermuthet hatten, er werde an Derbheit und Gehäffigfeit des Tones die Reden ans 
deutſche Volk erreichen, die in proletarifhen Blättern täglich zu lefen find, — an 
nähernd nurden Schimpffanonaden gleichen, mit denen ſeit Wochen nun fchon, der zu⸗ 
j ſchauendenBourgeoiſie zurWonne, biegübrer beöProletariates wider einander wũthen. 


Gerausgeber und verantu. rilicher Nedatteur: Er yarden in Berti. — "ertagl der Zukunft in Berlin. 
Druck von Abert Tamde in Berlin Schöneberg. 





Berlin, den 17. Oktober 1903. 
77001177 


Roc: Dippold. 


Seren eines Waaren hauſes iſt Mutter geworden. TrogdemEmil 
ihr hundertmal lachend geſchworen hatte, bei ihm habe ſie nichts zu 
fürchten; er kenne den Rummel und ſei nicht von geſtern. Als keine Selbſt⸗ 
tauſchung dann mehr Half, als ſie ihm das füße Geheimniß, wies im Roman- 
ſtil Heißt, ins Ohr flüftern mußte, ward der Uebermüthige blaß; ein ftilfer 
Abend und eine frühe Trennung. Daß fein Vater in folhen Sachen feinen 
Spaß verftand und einftweilen deshalb nichts zu machen war, wußte jie ja. 
„Alſo Kopf hoch, Bruſt'raus ... und fo weiter! Faule Kifte; aber wir wers 
dens ſchon fingen.” Alles war auch glimpflich abgegangen. Im Mai Hatten die 
Mãdel im Rayon die Köpfe zufammengeftedt. Enger ließ das Korſet ſich nicht 
ſchnuren; und eines Tages, bei ftarfem&remdenandrang, gabseine kleine Ohn⸗ 
macht.Die is dran!“ Doch ſie erholte ſich ſchnell, that bis zum Geſchäftsſchluß 
ſtramm ihren Dienſt und geſtand, fie habe ſich, zum erſten Mal, verleiten laſſen, 
in Halenſee bis nach Ein zu tanzen. Nach und nach kamen dieböfen Zünglein 
zur Ruhe. Und Emil hatte einen famoſen Einfall. „Wozu find denn die blöd» 
finnigen Reformleiderda? M.W. Fagon Regentonne.“ Sogings; und Ende 
Auguft agder vierzehntägige Urlaub geradegünftig. Fünf Tage Berfpätung: 
ber gemüthliche alte Doktor hatte dieVerftauchung des linken Fußes gern bes 
ſcheinigt. Fräulein war emfig und die Kundfchaft hatte nicht zu Magen. Das 
Kind war in dem Randftädtchen geblieben; bei der würdigen Dame, die es 
— „Diskretion Ehrenſache!“ — dem Schoß der Mutter entbunden hatte. 
Auf Emils Rath. „Sonft vennfte jeden zweiten Tag hin, die Bande riecht 
Lunte und Dufliegftaufs Pflafter." Die Haltefrau verpflichtet fich, jeden DIo> 
nat mindeftens einmal Bericht zu erftatten. „Sie find doch an keine Engel: 
7 


88 Die Zukunft. 


macherin nic) gelommen.” Der Doltor verfpricht, von Zeit zu Beit nad) dem 
Rechten zu jehen. Auch lebt eine Freundin im Drt. Die meldet im OÖftober, 
das Kleine fehe nicht befonders aus; fie wolle gewiß nicht hegen, aber das 
ewige Wimmern könne Einem das Herz abdrüden und mit der Sauberkeit 
jeis nicht allzu weither. Am felben Abend noch muß Emil fich hinfegen und 
an den Doktor jchreiben. „Damit die liebe Seele Ruhe hat: eingejchrieben.“ 
Antwort: Unfinn; mit dem Würmchen fei ja noch nicht viel Staat zumachen, 
aber wir Haben ſchon fümmerlichere durchgebracht, und wer von Vernach⸗ 
läjfigung rede, lüge in feinen Hals; die Freundin habe fich mit der Koſtfrau 
verzankt und finde ſeitdem plöglich Leinen guten Faden mehr anihr. „Na 
alfo! Wieder mal unnüt alarmirt. Sei friedlich und komm ins Apollo.“ 
Der Novemberbericht lautet günftig. „Dein Oskar holt jeden Morgen bie 
befte Milch ; und überhaupt...” Zwiſchen Weihnachten und Neujahr kommt 
die Todesnachricht; auf einer Poſtkarte: „Soeben fanft im Herrn entſchla⸗ 
fen. Näheres brieflich. Bitten Anweifung für Begräbnißfoften; auch wegen 
dem Sarge. Wir find Alle untröftlich.“ Der junge Arzt, der während 
der Feſtwochen den alten vertritt, macht mit dem Zotenfchein Schwierig. 
keiten. Die Obdultion ergiebt: völlig ungenügende Ernährung, Mangel an 
nothdürftigfter Reinlichkeit, Anwendung von Schlafpulvern; unmittelbare 
Zodesurfache: Zuführung verdorbener Mil) und als Folge Brechdurch⸗ 
fall, die der geichwächte Organismus nicht mehr zu überftehen vermochte. 

Die Staatsanmwaltfchaft erhebt die Anklage auf Grund des 8 222 
SGB: „Wer durd Tahrläffigfeit den Tod eines Menfchen verurfacht, 
wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren beftraft. Wenn der Thäter zu der 
Aufmerkjamteit, welche er aus den Augen fette, vermöge feines Amtes, Bes 
rufes oder Gewerbes bejonders verpflichtet war, fo kann bie Strafe bis 
auf fünf Jahre Gefängniß erhöht werden.” Die Haltefrau wird verhaftet. 
Senjation im Städtchen. Unter zweihundert Klatſchereien wird der Behörde 
auch die Gejhhichte von dem Alarmbrief der Freundin zugetragen. „Sie 
haben die unverehelichte Runge aljo gewarnt?" „Jawohl, Herr Richter.” 
„Eindringlich?“ „Jawohl, Herr Richter.“ „Mit dem Hinweis auf bie für 
Leib und Leben des Kindes drohende Gefahr?” „Jawohl, Herr Richter.” 
„Und trogdem hat die Mutter nicht Veranlafjung genommen, ihr Kind in 
Sicherheit zu bringen?‘ „Nein, Herr Richter; fiehatmir’nen pilirten Brief 
geichrieben.” „Worauf führen Sie dies unmenfchliche Verfahren zurück?“ 
„Bott, Herr Richter, Die ging mit Einem und da hatte fie wohl mehr ihr 
Bergnügen im Kopf; ſchon als Kind war fie immer für Theater und ſo was.“ 














Koch⸗Dippold. 89 


„Da Sie Ihre Pflicht in vollſtem Maß erfüllt haben, brauche ich Sie auf 
die Heiligkeit des Eides nicht ausdrücklich hinzuweiſen. Es wird Ihnen, wie 
ich ſehe, ſchwer genug, eine Jugendfreundin zu belaſten. Gerichtsſchreiber, 
nehmen Sie zu Protokol: Ich kenne die unverehelichte Runge von Kindes⸗ 
beinen an und wir find bis zu dieſer Stunde befreundet. Doch muß ich 
der Wahrheit die Ehre geben und, nachdrücklich auf die Heiligkeit des Zeugen⸗ 
eides hingewieſen, ausſagen, daß ſie ſchon in der Schulzeit durch boden⸗ 
loſen Zeichtfinn oft Aergerniß erregte und ich mich nicht wunderte, als ſie ſich 
in Berlin fpäter einem lübderlichen Lebenswandel ergab. Als ihre Unzucht 
Folgen hatte, kam fie hierher und fand bei der Mohr Aufnahme, einer längft 
der Engelmacherei verdächtigen Frauensperfon, die fie, ohne nähere Er⸗ 
tundigungeinzuzichen, Tediglich auf Grund eines Beitunginjerates, als Koſt⸗ 
tinderpflegerin wählte. Ich muß hier noch betonen, daß die Runge fich nicht 
Ihämte, ſich inunferer Stadt öffentlid) im Zuftande höchſter Schwangerfchaft 
mit dem Genoffen ihrer Unzucht zu zeigen. Ihre Kleidung war fo, wie man 
fie bei Zuftdirnen finden ſoll. Ste wäre alfo in der Lage geweſen, auskömm⸗ 
lich für ihr Kind zu forgen. Auf meinen Brief, der ihr meldete, das Kind 
jei in größter Gefahr und werde nicht am Reben bleiben, wenn eß nicht ſchleu⸗ 
nig von ber Mohr weggenommen werde, hat fie mir frech geantwortet: ich 
wolle nur wieder Stänlereien machen und ihre Angft einjagen; das Kind 
tönne gar nicht beſſer aufgehoben fein. Da ich die Briefe der Runge meinem 
Bräutigam verheimlichen mußte, wurben fie gleich verbrannt und kann ich 
fie deshalb nicht an Gerichtsftelle ſchaffen. Ich muß aber verfihern, daß fie 
auf mich-den denkbar jchlechteften Eindrud machten und ich mir ſchon da— 
mals jagte, die Runge müſſe nicht das geringite Muttergefühl haben. Na⸗ 
mentlich ift mir peinlich aufgefallen, daß fie in der Antwort auf meineWar- 
nung weitſchweifig von einem vergnügten Abend erzählte, den fie mit ihrem 
Unzuchtgefährten in einem jogenannten Zingeltangel verlebt und in einer 
Kneipe befchloffen habe. Ich habe davon auch meiner Tante Mittheilung 
gemacht, der Wachtmeifterswitwe Päpfe, die es beichwören kann. Mein Brief 
bat, obwohl er in den ftärkften Ausdrücken abgefaßt war und au das Gewiſ⸗ 
- jen apellirte, nicht die Wirkung gehabt, die Runge zuder Aufmerkſamkeit an⸗ 
zuhalten, zur welcher fie vermöge ihres Mutterberufes befonders verpflichtet 
war. Vielmehr hat fie mir in cyniſch roher Weife geantwortet, ihre Pflicht 
auch ferner vernachläfftgt ımd damit, wie ich feft überzeugt bin, aus bloßer 
Vergnügungſucht den Tod ihres Kindes verurfacht‘ ... . Einwendungen has 


ben Sie natürlich nicht? Schön. Das Protokol ift aljo gemäß 8186 StPO 
7" 


90 Die Zukunft. 


vorgelejen und von der Zeugin unterzeichnetworden. Siefönnengehen." Der 
Alleffor bringt dem Staatsanwalt felbftdie Akte. „Habe’ne feine Nummer ab⸗ 
gezogen und hoffe, im nächſten Bericht Einen ’raufzulommen. Kegeln Ste 
abends?" Und erzäͤhlt beim Frühſchoppen ſchmunzelnd, in der Sache Mohr wer- 
de es nochUeberraſchungen geben. Am nächſten Tag wird auch die Runge verhaf⸗ 
tet; vom Ladentiſch weg. Da die Hausordnung für ſolche Fälle ſofortige Entlaſ⸗ 
ſung vorſieht, weißfie,daß fie nicht zurückkehren und der Grund der Entlaſſung 
im Abgangszeugniß vermerkt werben wird. Sie iſt dringend der fahrläſſigen 
Tötung, begangen am eigenen Kinde, verdächtig; und aus aftenfundig ge⸗ 
machten Thatfachen (ihrem unzüchtigen Verhältnig zu dem Buchhalter Emil 
Schirmer) ift zu jchließen, daß fie Spuren der That vernichten und Zeugen 
zu einer falfehen Ausfage verleiten werde; auch ift Fluchtverdacht vorhans 
ben. Gemäß $ 112 StPO war alfo ein Haftbefehl zu erlaffen. 
Hauptverhandlung in ber Strafjache wider Mohr und Nunge... 
„Selbit diefes verthierte Weibsbild aber, hoher Gerichtshof, kann als ftraf- 
mildernd nod) für fich anführen, daß es in drüdender Armuth lebte und 
von der Sorge um ſein eigenes Fleiſch und Blut, von der fchweren Arbeit für 
Mann und Kinder in Anſpruch genommen war. Wir haben gehört, daß die 
Schlafpulver gegeben wurden, weil der Ehemann Mohr, der Ernährer bes 
Haufes, fonft um feine Nachtruhe gelommen und nicht im Stande geweſen 
wäre, das für den Haushalt Unerläßliche zu verdienen; und ferner ift that- 
fächlich feftgeftellt, daß der jüngite Rrnabeder Angefchuldigten Mohr ohne dau⸗ 
ernde Schädigung mit der felben Milch genährt worden ift wie das Koftlind. 
Das entſchuldigt nichts, erllärtaber Manches. Doch wie ſoll ich Worte finden, 
um den Leichtſinn, die Gewiſſenloſigkeit, die himmelſchreiend niedrige Ge- 
finnung der Runge zu ſchildern, die, um ihr Laſterleben ungeftört fortfeßen zu 
fönnen, zur Rettung ihres Kindes nicht einen Finger rührte? Ihres eigenen 
Kindes. Dasiftder weſentlichſte Unterfchted. Wir haben gelernt, dag zu den ele- 
mentarjten Empfindungen des Weibes das Muttergefühl gehört. Mehrnod): 
wir willen, daß jogar im Tierreich die Mutter Blut und Leben freudig für 
ihr Junges opfert. Das Geſchöpf, das Hier vor Ihnen fit und — auch 
darauf bitte ich zu achten! — im Berlauf diejer Verhandlung noch feine 
Thräne vergofjen hat, ift unter die Stufe der Thierheit herabgefunfen. Ent» 
fetten Blickes fehenwir das Bild ihres Lebens ſich vor ung entrollen. Ich er⸗ 
innerean die Ausjage des Fräuleing Erpler, einer Fugendfreundin der Ans 
geflagten Runge, und der Witwe Päpfe, einer echten, kernigen Soldatenfrau. 
Diele Zeuginnen, die fo offenbar bemüht waren, fo weit es die Eidespflicht 





Koch⸗Dippold. 91 


irgend geftattete, aus chriftlicher Nächſtenliebe die Runge zu entlaften, haben 
im ganzen Gerichtsjaal ohne Zweifel den Eindrud der Treue, ehrenwerther 
Zuverläffigkeit und firengfter Wahrhaftigkeit gemacht. Und dennoch ergab 
auch ihr Zeugniß, daß die Runge geradezu frevelhaft gehandelt hat. Sie 
war gewarnt und ſchlug die Warnung in den Wind. Sie wurde für leichte 
Arbeit überreichlich bezahlt, hatte — die Ziffern, die derdurchausglaubwürbige 
Zeuge Schirmer ung vortrug, find nicht einmal von der Vertheidigung be- 
ftritten worden — von ihrer Unzucht einen Ertrag, der ihr einen weit über 
ihre Verhältnijfe gehenden Luxus ermöglichte, und ließ ihr Kind, die Frucht 
threr Lüfte, in Schmug und Elend verkommen. Aufgedonnert wie eine öffent- 
liche Dirne, fchritt fie, am Arm ihres Buhlen, als habe fie fein Auge zu ſcheuen, 
am helfen Tag mit den fichtbaren Zeichen der Mutterfchaft durch die Straßen 
eines vom Spülicht der Großſtadt, Sottjei Dank, noch verfchontenDrtes. Und 
während ihr Kind fich in Krämpfen wand, faß fte unter anderen Freuden⸗ 
mädchen und lachte über die pumpen Späße der Clowns, über die Boten be- 
malter Jrauenzimmer. Das geſchah, nachdem fie eben erſt von der Freun⸗ 
din dringend gewarnt und die Yebensgefahr ihres Kindes ihr zur Kenntniß 
gebracht worden war. Ich vermuthe wohl nidyt ohne rund, daß fie ſchamlos 
in den Armen der Wolluft lag, als der Todesengel dem Heinen Bett nahte. 
Wenn jemals, jo hat hier Fahrläffigkeit unter erfchwerenden Umſtänden den 
Tod eines menjchlichen Wejens verurſacht. Fahrläſſigkeit ift die pflicht- 
widrige N:chtlenntniß der verurjachenden Bedeutung des Thuns oder Unter- 
laſſens. Daß die geiftigen Fähigkeiten der Angeklagten hinreichten, um den 
Erfolg ald Wirkung des Unterlafjens vorauszufehen, kann nicht bezweifelt 
werden. Wir haben nicht ein ftumpffinniges Dienftmädchen vor uns, fon» 
bern eine gebildete, ja, raffinirte Berfon, deren Scharfblid einen Mangel 
an Raujalitätvorftellung ausfchlicht. Trotzdem ich feljenfeft überzeugt bin, 
daß fie gleich nach der Geburt den Vorfat hatte, ihr uneheliches Kind, als 
ein Hemmniß ihres Tüderlichen Treibens, aus dem Wege zu räumen, erlaubt 
ber Buchftabe des Geſetzes Leider nicht, hier 8 217 StGB anzumenden. Um 
fo mehr aber find wir verpflichtet, die volle Strenge des Geſetzes gegen dieſe 
unfittliche Perjon walten zu laffen. Giebt e8 einen ernfteren Beruf, ein heili> 
geres Amt als das der Dlutter? In meiner langen Praxis ift mir fein Fall 
vorgekommen, der fo alle Kriterien de8 8222 StGB, Abſ.2, deckt wie diefer; 
feiner, der die mattherzige Unzulänglichfeit unferer von falfcher Humanität 
eingegebenen Strafgejege fo deutlic) zeigt. Humanität! Gottes Ebenbildern 
wollen wir fie, auch wenn fieirrten, niemals verweigern. Diefesentmenfchte, 





92 Die Zutunft. 


jeder natürlichen Regung bare Wefen aber...” „Die Straffammer bat, 

entiprechend dem Antrag des Herrn Staatsanmaltes, gegen die Angeklagte 

Runge auf das hödhfte Strafmaß von fünf Jahren Gefängniß erkannt.“ 
* % 


* 

Herr Kommerzienrath Rudolf Koch, Direktor der Deutfchen Bant in 
Berlin, ſucht für feine Söhne Heinrich und Joachim, Knaben von dreizehn 
und elf Jahren, einen Hauslehrer. Auf dem nicht mehr ungewöhnlichen 
Wege des Inſerates. Er würde einem nicht Jahre lang vorher erprobten 
Deanne nicht für eine Viertelftunde den Raffenfchlüffel anvertrauen, würde 
in die Effeftenabtheilung der Bank felbft zu untergeordneter Arbeit feinen 
Menſchen aufnehmen, der nicht klipp und Klar bewiefen hätte, daß er zuver⸗ 
läffig und in feinem Beruf tüchtig ift. Wenn er feinen Kindern einen Er⸗ 
zieber fucht, begnügt er fich mit einem Inſerat. Er könnte, mit einen Jahres⸗ 
einlommen von durdhichnittlich zweihunderttaufend Darf, einen reifen Dann 
engagiren, einen Doktor oder Profeſſor gar: er fahndet nach einem Studenten. 
Bierzig Offerten laufen ein. Wären in der Annonce etwa „glänzende Be- 
dingungen“ verheißen worden, dann hätten ſich, ftatt der vierzig, vierhundert 
Bewerber gemeldet. Die Wahl fällt aufden Studioſus Dippold, „weil er die 
beften Empfehlungen hat“. Woher? Danach wirdnicht ängftlich gefragt. Dip- 
pold bat im erften Semefter wüft gebummelt, die Nächte mit Proftituirten 
verbracht, fid) einer Xehrerstochter verlobt, den Vater der Braut um zwei- 
tauſendſechshundert Mark angepumpt und das Geld mit gemietheten Weis 
bern verlüdert. ALS der Darleiher davon hörte, hob er die Verlobung auf. 
Dippold ließ ſich dann in Berlinimmatrifuliren, arbeitete aberauch hier wenig 
und war unter den Kommilitonen als ein roher, jähzorniger, größenwahn- 
finniger Kümmel verrufen. Nicht fähig, einen lateinifchen Sag ohne grobe 
Fehler zu bilden. Berlumpt und verlogen. Dabei ein Frömmler. Des Mor⸗ 
gens bei dem Branntewein, des Mittags bei dein Bier, des Abends bei den 
Mädchen im Nachtquartier; in der Zwifchenzeit fchrich er Briefe über den 
gottjeligen Wandel des Chriftenmenfchen. Einzige Leiftung: ein paar Nach» 


bilfeftunden, die ihm nicht einmal die Fortfegung des Studiums ermöglich⸗ 


ten; alfo ohne Doftorhut Kehrt. Aber er hatte „die beften Empfehlungen” 
und befam, als er Inapp ein halbes Jahr in der Neichshauptftadt war, 
bie Stelle, für die Hunderte reblicher YJünglinge, Hunderte gereifter Päda⸗ 
gogen zu haben. gewejen wären. Nach kurzer Zeit fchon wird dem Unbe⸗ 
währten, faft nod) Fremden geftattet, mit den Zöglingen nad) Ziegenberg 
bei Ballenftedt überzufiebein. Das tft ein Gut des Herrn Banldireltors und 








Koch⸗Dippold. 93 


Kommerzienrathes. Da hauft er ohne jede Kontrole mit den Knaben. Papa 
tft von Geſchäften zu jehr in Anfpruch genommen und kann fich um die Er» 
ziehung der Kinder nicht fümmern. Mama hat nicht dasgeringfte Verftänd- 
niß für die Kinderpiyche, nicht die dunfelfte Ahnung von den Grundfäben 
moderner, halbwegs moderner Pädagogie und glaubt einfach blind, mas der 
Hauslehrer jagt. Ihre Jungen follen lernen, vorwärtslommen, Renommir- 
föhne fein. Gehis ohne Prügel nicht, fo muß eben geprügelt werden. Diejes 
Eiternpaar, das einen Thiergartenpalaft bewohnt und ein ftattlicheS Land⸗ 
gut hat, forgt nicht einmal dafür, daß Heinz und Joio — Kofenamen ge- 
hören auch in folcher zärtlichen Familie zum Thiergartenſtil — fo gut genährt 
werden wie der Sohn ihres Hausdieners oder Pförtners. Die Knaben hun⸗ 
gern und frieren; eine mit Mus befchmierte Semmel ift für fie ein Leckerbiſſen 
und fie werden auf Reiſen in die vierte Wagenklaffe gepfercht. Wie follten 
Papa und Mama daran denken, in Ziegenberg jeden Monat mindeſtens re: 
vidiren oder fid) etwa gar jede Woche den Küchenzettel vorlegen zu laſſen? 
Wozu hat man denn jchließlid) einen Hauslehrer? Und Mama hatte ſich ja 
anfangs wirklich felbft nach Ziegenberg bemüht. Dippold berichtet Fürchter⸗ 
liches. Beide Knaben treiben Tag und Nacht Manuftupration und find durch 
feine Ermahnung von diefem Lafter ab zubringen. Sie find ungeberdig, faul, 
frech, ohne die leifefte Spur fittlichen Gefühles. ‘Der Aeltefte hat geitohlen; 
zuerft im Elternhaus, wo er die Kaffe des Vaters erbrach und Edeljteine bei 
Seite brachte, dann in Reftaurationen und Läden. Er hat mit Falſchmünzen 
Automaten geplündert, in Kreditvereinen allerlei Waaren gefauft, ohne zu 
zahlen, und baserfchwindelte und erſtohlene Geld benugt, um — ein Dreizehn- 
jähriger — heimlich mit Proftituirten zu verfehren. Denen hat er Soldringe 
geſchenkt und das Luderleben erft aufgegeben, als er von den Frauenzimmern 
Iyphilitiich angeftedt war. Das Alles gefteht er ſelbſt. Zweifel? Hier iſt 
feine Namengunterfchrift. Papa ift von Gefchäften in Anſpruch genommen. 
Und Mama glaubt, „tief erfchüttert”, Alles, was Herr Dippold berichtet. 
Sie kennt ihre Kinder fo gut, daß fies glauben fann. Sie erkennt, mit dem 
Tallenblid wachſamer Mutterliebe, ben Lehrer fo genau, daß jieihm fchreibt: 
„Ich bedaure nur, daß Gott Sie nicht zwei Jahre früher in unfer Haus 
geführt Hat; manches Herzeleid wäre uns dann erfpart worden.” Eines 
Tages wird ihr gemeldet, Dippold habe die Knaben grauſam gefchlagen. 
Er leugnet aud) nicht. Die Züchtigung fei unbedingt nothiwendig geweien; 
er werde fie aber nicht wiederholen, denn fie reiche aus, um den Jungen 
das ewige Mafturbiren endlich abzugemöhnen. Wenn der Schimme! jid) 


v4 Die Zuhnft. 


an einer Glasſcherbe verlegt hätte, wäre eine Autoritätgerufen worden. Doch 
Kinder muß man ftreng halten. Und Papa, der jet gerade Bilanzfikungen 
bat, darf nicht beunruhigt werden. Ich dachte, fagt die Frau Kommerziens 
rath, „einen Augenblic daran, die Knaben nach der harten Züchtigung von 
einem Arzt unterjucdhen zu lajfen, that e8 aber nicht, weil Herr Dippold da⸗ 
von abrieth. Ich wollte auch wegen der ‚geheimen Sünden‘ einen Arzt zu 
Rath ziehen, unterließ e8 aber, weil Herr Dippoldfagte, er habe felbft Diedi- 
zin ftudirt, fei viel in Serankenhäufern gewejen und verftehe die Sache eben 
jo gut wie ein anderer Arzt.” Ob diefe Angabe wahr ift, wird nicht geprüft. 
In einem Haushalt, ber ſich für Zeit und Ewigkeit gejchändet fühlen würde, 
wenn der Kutjcher einmal bei Tiſch mitferpiren müßte, wird die Erziehung, 
Ernährung, Körperpflege, ärztliche Behandlung ber Kinder einem ver- 
bummelten Studenten anvertraut. Dippold mißhandelt die Knaben. Dippold 
wird vernommenund erllärt, die Mißhandlung ſei nöthig gewefen, eineärzt- 
Liche Unterfuchungeinzens undJojos würde ein FFehler fein und auf Therapie, 
Hygiene und Prophylaxis verſtehe er ſich fo gut wie irgend ein Doktor. Dip» 
polds Wort entjcheidet und Mama reift, beruhigt, getröjtet, entzücdt, nach 
Berlinzurüd. Durch Gottes Fügung wardein Juwel ihrem Haufegemonnen. 
Weihnachten find die Knaben bei den Eltern in Berlin. Papa ift of: 
fenbar auch während der Feiertage von den Geſchäften ganz in Anfpruch ges 
nommen. Und Mama weiß zwar, daß ‘Dippold ihre Kinder lahmgeprügelt 
hat, kommt aber nicht auf den Einfall, fte jet wenigftens vom Hausarzt 
unterfuchen zu laſſen; ſieht fich nicht einmal felbft die Heinen Körperchen ah. 
Ihre mütterliche Sorge befchränft ſich auf die Nachforjchung, ob die Jungen 
wirklich onaniren. Wenn fie Dippold8 Angabe glaubte, war fie zehnfach ver» 
pflichtet, eine „Kapazität“ um Rath zu fragen; denn daß Knaben von elf und 
dreizehn Jahren täglich zwölfmal, fünfzehnmal oder noch öfter thun, was Ju— 
das Sohn Onan (1Moſe, 38, 9, 10) mit dem Leben büßt, iſt am Ende Fein 
gleichgiltiger Alltagsvorgang. Frau Rofalie Kodiftanderer Dleinung. Wahr- 
ſcheinlich Hält fie fich felbft für eine Kapazität; undfiebringtdem gewählten Bes 
ruf Opfer, die faft über die Dienfchenfraftgehen. In einer Nacht, ſpricht fieftolz, 
„bin ic) wohl fünfmal in das Schlafzimmer der Knaben gegangen, bin dicht 
an ihre Betten herangetreien und habe zu ihnen gefprochen; ich gewann die 
Ueberzeugung, daß Beide feſt ſchliefen. Nachher fagte mir Heinz, fie hätten 
fich blos verſtellt.“ Das komplizirte den Fall. Entweder log der Hauslehrer 
fred) oder die Jungen betrogen die Mutter mit Gaunerlniffen. Frau Kom⸗ 
merzienrath Koch fand ſich nicht beiwogen, die Sache zu unterjuchen, und 





Koch⸗Dippold. 95 


ließaucoeurlöger die Kinder mit dem Lehrer wieder gen Ziegenberg ziehen. 
Warum nicht? „Unfer Gut ift ſehr idyllifch gelegen.” Neue Warnungen 
kommen. Ein Brief: „Dippold ift ein Schweinelerl, denn er frißt das Fleiſch 
mit den Händen vom Zeller herunter; er ift ein Sauferl, dern er hat ſich be» 
offen; er ift ein gemeiner Kerl, denn er hat umfittlichen Verkehr mit vielen 
Brauenzimmern. Dippold ift ein Schuft, ein Spigbube, ein Schurke. Dich, 
Mama, nennt er eine hochmüthige Trine, Karl (Kochs Sohn aus erfter Ehe) 
nennt er einen hochnäfigen Kerl, der Vaters Geld verpraffe. Heinz Koch. 
Geleſen: Jojo Koh.” Wahr oder unwahr: aus diefem Kinderbrief fpricht 
jo wilder Haß, fo leidenfchaftliche Rachſucht, daß fein Vater, feine Mutter, 
in deren Herzen auch nur ein Funke ernfter, vorjorgender Elternliebe glomm, 
fünf Minuten vor dem Entſchluß zaudern durfte, die Kleinen aufzufuchen 
und dem unbaltbar gewordenen Buftand ein Ende zu machen. Selbft wenn 
Alles erlogen war, was die Knaben fchrieben, war der Erzieher nicht länger zu 
brauchen, der fo wenig verftanden Hatte, ihr Kindergefühl an ſich zu Fetten. 
Eine Proletarierin hätte nach folher Kunde den Nothpfennig genommen 
und fid) in der nächſten Freiſtunde auf die Eiſenbahn gejett. Frau Nofalie 
Koch ichreibt einen Brief. Bon Berlin find fünf, ſechs Stunden Fahrt ;auchdie 
Koften eines Extrazuges wären in dem Budget des Bankdirektors kaum 
wahrnehmbar. Frau Koch fchreibt einen Brief. Antwort, wie zu erwarten 
war: Alles erfunden. Heinz ſei überhaupt nicht mehr zurechnungfähig; doch 
hoffe der Tehrer, cand. iur. Dippold, ihn zu heilen. „Wir wollen Alles in 
die Hand des Allmächtigen legen, der es ficher zum Guten lenken wird.“ 
Dann folgen Briefe, die melden, die Knaben litten an Schwindelanfälfen, 
Folgen der Mafturbation. Traurig, denft Mama; thut aber nichts. Unter 
ihrem Zeugen«id hat fie Später ausgeſagt, als fie von der Selbftbefledung der 
Knaben gehört habe, ſei ihr erfter Gedanke gewejen, nur der Xehrer könne 
Heinz und Jojo zu ſolchem Laſter verleitet Haben. Ihr Tester Gedante fcheint 
geweſen zu fein: Was Dippold thut, ift wohlgethan. 

Im Januar 1903 war Mama ein Weilchen in Ziegenberg. Sah 
nicht8 und hörte nichts. Auch Papa kam; erfuhr, Dippold jei — gerade an 
diefem Tag — mit den ungen auf den Broden gellettert, und reifte, ohne 
fie gejehen zu haben, vergnügt wieder ab. „Wenn fie ſolche Tour machen 
lönnen, müfjen fie ja ferngefund fein.” Ungefähr drei Wochen danach klopft 
im Morgengrau auf dem idyllisch gelegenen Gut eine zitternde Kinderhand 
an das Fenfter der Gärtnerwohnung. Heinz. Fünf Uhr früh. Eisfälte. Der 
Knabe halb angezogen. Wimmert um Hilfe. Der Yehrer habe ihn und ſei⸗ 


96 Die Zukunft. 


nen Heinen Bruder aus tiefem Schlaf gewedt und einen dien Stod an 
ihren Leibern zerfchlagen; er werbe fie gewiß noch umbringen. Heinz hatauf 
dem Rüden, den Armen große blutige Wunden; Wangen, Augen und Hänbe 
find angejchwollen. Das Würmchen bettelt um Hilfe, umeinen Biffen Brot; 
denn es ift von Hunger entlräftet. Bald darauf holt Dippold feinen Schtt- 
ler zurüd. Der Gärtner führt nach Ballenftebt und erzählt dem Bürger- 
meifter das graſſe Erlebniß. Der telegraphirt an den Heren Bankdirektor 
und Kommerzienrath Rudolf Koch, Berlin, Thiergartenftraße 74. Und nun 
ift8 aus mit der Qual. Nun wirddem Hallunfen das Handwerk, das ſchmaͤh⸗ 
liche Handwerk gelegt und noch am felben Tag figen die Kinder ficher im 
prunlenden Elternhaus und werben mit Liebe gepäppelt. Nicht wahr? 
Nein. Herr Rudolf Koch hats nicht fo eilig. Neunundzwanzigſter 
Januar. Mitten in der Hochjaifon. Vielleicht Gäfte zu Tiſch. Vielleicht zu 
Gwinners Majeftät geladen. Auffichtrathsfigung. Irgend ein neuer Con» 
cern zu bilden. Schließlich iſts ja kein Fall, der Eltern zu fofortiger Reife 
drängen müßte. Here Rudolf befpricht die Sache mit Frau Roſalie. Das 
Beſte wird fein, den Schwiegerjohn hinzuſchicken. Aittmeifter a. D. Hat 
alfoimmer Zeit. Famoſer Einfall. Und Frau Rofalie thut noch ein Uebriges. 
SiebittetderrnDr. Vogt, einen Gehirnanatomen, SchülerForels und Günſt⸗ 
ling Krupps, nach Fiegenbergzu fahren. Sagt ihm aber nicht8 von der Toben 
Mißhandlung. Mehr kann doch wirklich kein Gerechter verlangen. DerSchwie⸗ 
gerſohn hats eiliger als der Schwiegerpapa. Er mußſchnell nach Berlin zurück, 
ſieht den verſpätet eintreffenden Hirnſchnittmacher nur noch zwei Minuten und 
benutzt die Friſt, um ihm zuzurufen: „Der Dippold iſt entweder ein Schuft 
oder ein Idealmenſch!“ Dieſe wunderſame Alternative des Reitersmannes 
hätte manchen Kontroleur wohl zum Mißtrauen geſtimmt. Herrn Dr. — 
jetzt, wie es icheint, auch ſchon Profeſſor — Vogt nicht. Ein Doktor vom Lande 
hätte den Jungen befohlen, ſich auszuziehen, und dann die Spur der Miß⸗ 
handlung, die Wunden und Eiterbeulen, am Leib der Geſchundenen entdeckt. 
Mit ſolchen Rückſtändigkeiten giebt der moderne Direktor eine Hirnſchnitt⸗ 
muſterſammlung ſich nicht ab. Unterſuchung? Veralteter Blödfinn. Herrn 
Dr. Vogt genügt ein Geſpräch mit dem Kandidaten Dippold. Der ſagt, eine 
ärztliche Unterſuchung würde ſeine Autorität bei den Schülern mindern. 
Alles komme von der ewigen Maſturbation. (Was den Arzt nicht etwa vers 
anlaßt, ſich wenigſtens mal die Genitalien der Kinder anzufehen.) Züch⸗ 
tigung jei nöthig, doch werde nur der dafür geeignetfte Körpertheil manch⸗ 
mal mit einer bünnen Gerte bearbeitet. Der Arzt antwortet, jehr vernünftig, 








Koch⸗Dippold. 97 


Prügeln nüge nicht und die üble Folge der Onanie werde von Laien beträcht- 
lich überjchägt. Läßt ſich Dippolds Erziehungmethobde ſchildern, verfchreibt 
ein Schlafpulver, räth, Heinz und Jojo jeden Monat einem Neurologen vor⸗ 
zuführen, und dampft ab. Gemeinfame Meldung des Ritt: und des Schnitt 
meifters: Alles in fchönfter Ordnung. Der Lehrer hält mit den Schülern 
fogar weihevolle Andachtübungen und ihr Wohl, er jagt esja felbft, Liegt ihm 
Tag und Nacht am Herzen. Herr Dr. Vogt ſchließt feinen Bericht — in 
dem weder von Kontrole noch von Neurologie mit einer Silbe die Rede ift — 
mit der Frage: „Wie find Sie, Frau Kommerzienrath, nur zu diefem idealen 
Menichen gekommen?“ Frau Rofalie ift felig. Wenn ihr Dippold, der neu⸗ 
lich den Wunſch ausſprach, wie Chriftus am Delberg zu ruhen, nur erhalten 
bleibt! Er drohte, den Dienft zu fündigen. Mama jendet ihm „taujend Dank 
und fünfhundert Mark Exrtrahonorar als Anerkennung Ihrer großen Auf» 
opferung.“ Um dieſes Reſultat zu erreichen, war Heinz früh um Fünf, blu- 
tend, halb nadt, balb verhungert, dem Haus entlaufen, der Gärtner nad) 
Ballenftedtgefahren, vom Bürgermeifter an die Eltern telegraphirt worden. 

Noch mehr wird erreicht. Dippold erklärt, nur bleiben zu wollen, 
wenn er mit den Knaben nach Drofendorf, in feine Heimath, überfiedeln 
bürfe. In Biegenberg, wo Gärtner und Dienftboten ein Erziehungſyſtem 
beſchwatzen, daß fienicht verftehen, fei nichts Rechtes zu machen; namentlich 
nicht mit Heinz, der moralifch ganz verfommen fei. Der Lehrer brauche volle 
Nude, „die Kontrole durch Herin Dr. Vogt wolle er fichgern gefallen lajjen“ 
(was man ihm nachfühlen kann). Frau Kommerzienrath willigt ein. Herr 
Kommerzienrath fchreibt an jeine Söhne, er billige Alles, was Dippold ans 
ordne, der fie zu tüchtigen Menſchen erziehen werde, wenn jie ihm aufs 
Wort gehorchten. Alfo auf nad) Drojendorf, das auch „idylliſch liege”. Am 
ftebenzehnten Februar 1903 wird die Neife angetreten. Bon Ballenjtedt bis 
Hof vierter, von Hof bi8 Nürnberg dritter Klaffe. Acht Tage danach ſchreibt 
Frau Rofalie an den „idealen Lehrer“: „Nun ift Alles geichehen, um Ihren 
Willen zu erfüllen. Im Drojendorf wird Niemand Sie ftören, am Wenig⸗ 
ften Jemand aus unferer yamilie”. Worauf Kommerzienraths fröhlichnad) 
Nizza reien; denn auch ein unter ber Laſt der Gefchäfte faft zufammens 
brechender Bantdirektor, der „die Sorge für die Kinder feiner Frau über: 
laffen muß“, hat die Pflicht, den März an der Riviera zu verrepräfentiren. 
Am zehnten März liegt Heinz Koch tot im Bett. Der Lehrer hatteden Sterben» 
ben, der flehentlich bat, Tiegen bleiben zu dürfen, mit Fußtritten in Bewegung 
gebracht, zu Turnübungen und einem eisfalten Bad gezwungen. Als Heinz 


98 Die Zukunft. 


Schlecht turnte, mußte Joachim ihn mit einem Stod prügeln. Als er zwei⸗ 
mal ohnmächtig wurde, brüllte Dippold: „Das Xuder verftellt ſich blos!“ 
Dem B:rröchelnden wird ein Knebel in den Mund geftopft. Beim Entlleiden 
und Säubern der Leiche muß Jojo helfen. Dann wird der Bezirksarzt ge- 
rufen; „zu einem Schwerkranken“. Dippold jehildert ihm zwei Stunden 
lang die Berruchtheit der Familie Koch. Der Arzt will den Kranken jehen. 
Iſt ſchon tot. Ergebniß der Xeichenfchau: der ganze Körper zerichlagen; über> 
all blutige Striemen und eiternde Wunden; von Syphilis oder onanijtifcher 
Ausfchweifung leineSpur. Aud) Joachim wird nun endlich unterfucht. Ge— 
fiht, Bruft, Rüden, Beine, Arme mit Blut unterlaufen. Das Kind, Das 
vom Scharlad) her ein Obrenleiden bat, ift durch Schläge am Kopf arg ver- 
letzt, Tonnte gerettet werden, ftand aber vor der jelben Gefahr, der fein Bruder 
erlag. Das war der Befund am zehnten März. Zwölf, dreizehn Tage vor- 
ber hatte Mama an den Hauslehrer gefchrieben: „In Drojendorf wird 
Niemand Sie ftören, am Wenigften Jemand aus unferer Familie.‘ 
Unterdemdringenden Verdacht, durd) „Körperverlegung mittels eines 
gefährlichen Werkzeuges“ den Tod Heinzens herbeigeführt zu haben, wird 
Dippold verhaftet. $226 StGB: Zuchhaus oder Gefängniß nicht unterbrei 
Jahren. Der Erfte Staatsanwalt des bayreuther Nandgerichtes verfichert, 
die Sektion Babe den entjetlichiten Anblid geboten, den er fich vorftellen fönne. 
Schwurgerichtsfache. Vorunterfuhung und Hauptverhandlung bringen 
Thatjachen ans Licht, die in einem Pfennigkriminaltoman wie alberne Ueber 
treibungen wirken müßten. In mancher Nacht hat der Lehrer ſechs dicke Stöcke 
an den Schülern zerprügelt. Die Knaben mußten die Schläge laut zählen; 
bis zu fünfzig. Dazu famen Fußtritte und Fauftichlägeauf Geſicht, Schädel, 
Genitalien. Nachts mit Striden auf den Tiſch oder die Matrage gebunden. 
Oft mußten die Jungen im falten Zimmer Stunden lang nadtvordem Bett 
jtehen ;barfuß, mit Froftbeulen, durch den Schnee laufen; einem in raſcheſtem 
Tempo fahrenden Wagen nachrennen, bis fie athemlos zufammenbrachen; 
mit entblößten Unterlörper turnen oder Herrn Dippold, der fidh auf dem 
Sofa räfelte, Küßchen geben; in ihren Betten wurden faft täglich breite Blut: 
flecfe gefunden. Der Lehrer legte ſich ſplitternackt zwifchen die Schüler, miß⸗ 
handelte fie und redete ihnen jo Lange ein, fie hätten Manuſtupration getrie- 
ben, daß fies endlich zugaben. Allesgaben fie zu. Onanie, Diebjtahl, Betrug; 
am nur ein Bischen Ruhe zu haben. Einmal bedrohte Dippold den älteren 
Knaben mit offenem Meſſer; mehr als einmal jchlug er den jüngeren mit 
einer Eijenftange. Zwei Schuldfragen: vorfägliche Rörperverlegungmittels 


Koch⸗Dippold. 99 


gefährlichen Werkzeuges (Joachim), das Selbe mit tötlichem Ausgang (Hein- 
rich Koch); beide (Fragen werden von den Geſchworenen bejaht, mildernde 
Umftände nicht als vorhanden angenommen. Sämmtliche Sadjverftändige 
— zu ihnen gehört, troß der ziegenberger Leiftung, auch Herr. Dr. Bogt — 
erklären, „die freieWilfensbeftimmung de8Angeflagten let nicht ausgeſchloſſen 
geweſen“. Keine Phantafie vermag einen gräßlicheren Jallzu erträumen. Der 
Gerichtsſpruch aber bleibt um ſieben Jahre unterbemhöchften zuläffigenStraf- 
maß. Herrn und Frau Kommerzienrath Koch werden vor, während und nach 
ihrer Beugenausfage Mitleidsovationen bereitet und Trauerkränze gewunden. 
Kein noch ſo ſanft mahnendes, vorwerfendes Wort. Und der Vertreter der 
Staatsanwaltſchaft beginnt ſeinen Schlußvortrag mit den Sätzen: „Im 
großen Publikum war der Glaube entſtanden, das Ehepaar Koch ſei an dem 
Tode des Kindes mindeſtens moraliſch mitſchuldig. Die öffentliche Verhand⸗ 
lung hat dieſen Glauben gründlich zerftört. Der Angellagte hatte die Frech⸗ 
heit, zu behaupten, die Eltern fümmerten fich nicht um ihre Kinder. Die Vers 
handlung hat ergeben, daß die Eltern nicht die geringſte Schuld trifft." 
- * * 


* 

Der Fall Runge ifterfunden, kann aber morgen in jedem Landgerichts⸗ 
bezirk Wirktichleit werden. Der Fall Koch-Dippold hat ſich in der erften 
Oltoberdekade am Rothen Main vor Alldeutichlands entjegtem Auge abge» 
ipielt. Alldentichland hat feitdem wieder einen Oger. Einen wirklichen, der 
in der Geſchichte der Scxualpſychopathie fortleben wird. Bald iſt ein Halb⸗ 
jahrtauſend verftrichen, ſeit Gilles de Rays hingerichtet wurde, der Marſchall 
von Frankreich, der achthundert Kinder, hundert in jedem Jahr, geſchändet, 
unter wollüſtigen Schauern getötet und die hübſcheſten Köpfchen zum An⸗ 
denken aufbewahrt hatte. Genau hundert Jahre, feit Donatien Alphonje 
François Marquis de Sade auf Bonapartes Befehl nach Charentongejchleppt 
und bis an ſein Lebensende in die Irrenzelle geſperrt wurde. Gilles de Rays 
hatte ſich an ſuetoniſcher Gräuelmalerei berauſcht. Der célèbro Marquis gab 
den Paräſtheten des Geſchlechtsempfindens die Histoire deJustine ou les 
malheurs de la vertu und die Histoire de Justine ou les prosperites 
du vice, — die berühmteften, berüchtigtjten Xeufelsbibeln ferueller Per— 
verfion. De Sade, der Schaffende, war interejjanter al8 De Rays, der Ans 
empfinder. Nevolutionär bis ins Mark der Knochen; überzeugtes Mlitglied 
des Pikenklubs, wo er dem Angedenfen des unermeßlichen Marat eine Weihe⸗ 


rede hielt; Tod den Tyrannen und Haß dem Herrgott feine Loſung; feine 5 


Weltanſchauung fteht ein amoralijches, von bösartigen Molekeln bewegtes 


100 Die Zutunft. 


Menfchenmafchtnenreich; fein Hauptvergnügen war, während der Paarung 
Frauen dieAdern zu Öffnen oder ſtark blutende Fleiſchwunden beizubringen; 
war ſolche Luſt nicht zu haben, jo begnügteer fich, feine Tiichgäfte mit Kantha⸗ 
riden zu vergiften. Wo Grauſamkeit fich der Wolluft gefelite, jprach die Fran- 
zöfifche Literatur ſchon feit dem Jahr 1810 von Sadismus; und nicht denn Na⸗ 
men zwar, doch die Anomalie hat, von indiſchen Mythologen bis auf Nova⸗ 
lis, Görres, Kleift, Blumröder, Feuerbach, Kombrofo, mancher Künftler und 
Gelehrte gelannt. Richard von Krafft-Ebing gab 1886 dieerfte umfaſſende 


Kaſuiſtik und ſchränkte zugleich den Begriff des Sadismus ein, zu deifen Er- 


Härung er zwei Tonftitutive Elemente anführt: in überreizbaren Weſen ent⸗ 
fteht im jeruellen Affelt der Drang, dem Gegenftande der Begierde Schmerz 
zu bereiten, um fo die Macht der Einwirkung zu deutlichftem Bewußtfein zu 
bringen; die Erobererluft de8 Mannes wird unter pathologijchen Bebin- 
gungen zum Verlangen nad) jchrantenlofer Unterwerfung und mitleidlofer 
Peinigung des Weibes. Im zweiten Bande von Feuerbachs Sammlung 
„Merkwürdiger Kriminalrechtsfälle” fteht die grauſe Gefchichtevon Andreas 
Bichel, dem Mädchenſchlächter; und ber „Königlich Bayeriſche Wirfliche 
Frequentirende Geheime Rath“, der den Bichel nicht geräbdert, fondern ent- 
bauptet jehen wollte, leitet fie mit den Sägen ein: „Eine menschliche Seele 
ohne alles menfchliche Gefühl, Verbrechen, die an Grauſamlkeit, Tüde, Kalt- 
blütigleit das Höchfte erreicht haben, was des Menſchen Wille zu erreichen 
vermag: Dieſe find der Gegenftand dieſes Vortrages. Ich bedarf aller Kräfte 
der Selbftüberwindung, um bei dem empörten Gefühl ſchwer beleidigter 
Dienjchheit jene Ruhe zu bewahren, welche die Pflicht de3 Amtes von mir 
fordert." Faſt beifer noch als auf den von Lombroſo mitgetheilten Fall des 
Berzeni, auf den Frauenmörder von Whitechapel und auf Kraffi- Chings 
Knabengeißler pafjen diefeWorteauf Dippold, den Bauernjohn und Priefters 
zögling, der nad verfrühter, wüfter und langer Ausjchweifung konträre 
Serualempfindung fadifcher Neigung vereint. Ein Lehrer, der feine Schüler 
jchändet und fie dabei noch, um feinZuftgefühl zu fteigern, langfam zu Tode 
martert: Priapos felbjt hat Gräßlicheres am Hellespont niemals erſchaut. 
Penthefilen und Mefjalina erröthen ſchamhaft in ſolchem Anblid; und Katha⸗ 
rina von Medici, die das Auge an den gepeitichten Gliedern ihrer Hofbamen 
mweidete, fteht wie ein harmlos Lüfterndes SXüngferchen neben dem Bayern 


aus Drofendorf, der in die Gräuelreihe der De Rays und De Sade gehört. 


Und dennoch... Trogdem Erjten Staatsanwalt am bayreuther Lands 


2 gericht will die Frage noch nicht verſtummen, ob Dippold allein ſchuldig 


Koch⸗Dippold. 101 


ift. „Wer eine wegen jugendlichen Alters hilfloſe Perſon, die unter feiner 
Obhut fteht, in hilflofer Lage vorfäglich verläßt, wird mit Gefängniß nicht 
unter drei Monaten beftraft. Wird die Handlung von leiblichen Eltern 
gegen ihr Kind begangen, fo tritt Gefängnißftrafe nicht unter drei Monaten 
ein. Wenn durch die Handlung der Tod verurfacht worden ift, tritt Zucht- 
hausftrafe nicht unter drei Jahren ein.” Unzählige Mütter hat diefer 8221 
ſchon ins Zuchthaus gebracht; und nicht immer wards mit dem, Vorſatz“ gar 
fo genau genommen. Bon einem Borjat kann in unjerem Fall nicht bte Rede 
fein; doch der nächite Paragraph, der nicht nur imfingirten Fall Runge anges 
wandt wurde, bedroht Eltern, deren Fahrläſſigkeit den Tod eines Kindes her; 
beiführt, mit der Maximalſtrafe von funf Jahren Gefängniß; und auch die fahr- 
laͤſſige Körperverletzung wird beſonders ſtreng an Denen geahndet, die, ver⸗ 
möge ihres Amtes, Berufes oder Gewerbes beſonders zu der Aufmerkſamkeit 
verpflichtet waren, welche fie aus den Augen fetten.” Die Nichtanfpannung 
der Aufmerkſamkeit, jagt Geheimrath von Lifzt, erfcheint als Willensfchuld; 
und er fügt binzu,der Mangel an Borausficht erfcheine auch al8 Verftandes- 
ſchuld, wern die Frage nach dem geiftigen Können des Thäters bejaht werben 
möäffe. „tahrläffigkeit ift die pflichtwidrige Nichtlenntniß der verurjachenden 
- Bedeutung des Thuns oder Unterlaffens; pflichtwidrig ift die Nichtkenntniß, 
wenn der Thäter fie hätte erlangen follen und können.“ Nach diefer Norm 
werden Leute eingejperrt, die nicht bedacht hatten, daß in der Tafche des Ueber⸗ 
rodes, den fte in der Theatergarderobe abgaben, eine Schußwaffe jtede, die 
fi) entladen und einen Menfchen verlegen könne. Sollte und konnte das 
reiche Ehepaar Koch, nad) Allem, was warnend vorausgegangen war, Kennts 
niß davon erlangen, daß ihrer Kinder Leben unter der unumjchränlten, 
untentrolirten Herrichafteines durch Yüderlichkeit aus dem Gleis geworfenen 
Burfchen gefährdet fei? Sollte und konnte das kluge Baar Kenntniß vom 
Borleben Dippolds erlangen? Einem frömmelndenHechtsfandidaten die ärzt- 
liche Behandlung zweier Kinder anvertrauen, deren pſychiſche und phufifche 
Geſundheit e8 zerrüttet wähnte? Sollte, konnte, mußte feftgeftellt werden, 
alferfpätefteng nach der Depeiche de8 Bürgermeifterd von Ballenftedt, wie 
in Biegenberg und im nicht minder idylliſch gelegenen Drojendorf das große 
Wort Hippels gedeutet wurde: „Erziehen heißt: wecken, was ſchläft, fühlen, 
was brennt, mit Schnee reiben, was erfroren ift"?... Unſere Rechtspflege 
kann in guten Stunden auch mild fein. Wir haben, nur wir, nod) Staat 
anmälte und Richter, die an die altmodifche Mär von den bis zu völliger Er: 
ſchlaffung überbürdeten Bankdireftoren inniglich glauben und von Hupfa 


102 Die Zukunft. 


und Borchardt, von den Rogengäften der Qurustheater, von Spielchen und 
anderer Klubluft, von den Kleinen und großen Diners nicht mehr gehört haben 
als der neue Pharao einft von Joſeph. Und wir haben kein Femgericht, das 
ſolche ſpottbillige Ausrede mit TFıiedlofigkeit ftraft und den Sündern wider die 
einfachite, kaum fchon als Menjchenpriviteg zu betrachtende Elternpflicht das 
Saftrecht auf Waffer und Feuer abjpricht. Aqua et igne interdietus. 
Lang iſts her. Nicht einmal das fanftere Recht des Bürgerlichen Gefegbuches 
für das Deutjche Reich tritt unbarmberzig ftet8, ohne Anſehen der Perſon, 
in Kraft. Da fteht im $ 1666: „Wird das geiftige oder leibliche Wohl des 
Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für bie Berfon 
des Kindes mißbraucht oder das Kind vernachläjjigt, jo hat das Vormund- 
fchaftgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu 
treffen.” Das gilt, nad) $ 1686, auch für die elterliche Gewalt der Mutter. 
Wo aber wäre Jojo beffer aufgehoben aldunter der Obhut von Papa, ber die 
Söhne aus erſter Ehe zu „erſtklaſſigen Menſchen“ erzogen, und von Mama, 
die dem Echinder „für feine Aufopferung ein Ertrahonorar von fünfhundert 
Mark“ geſchickt hat? Jetzt wird fich im Haufe THiergartenftraße 74 für den 
zufällig überlebenden Knaben ja vielleicht ſogar ein Unterrichtszimmer frei» 
machen lafjen. Und am Ende entbürdet die Deutfche Bank den allzu ge> 
plagten Papa bald beträchtlich ... Wir find Human. Wohin nun das Auge 
blickt: Mitleid, Theilnahme, judenchriftliche Dienfchenliebe. Und das Peit> 
motiv: Furchtbar, daß eine jo vornehme Familie ohne die Spur eigenen Ver⸗ 
ſchuldens jo grauſam heimgejucht ward. Es ift eine Luſt, zu leben. 

In einer Mußeſtunde follten die Mitleidigen einen Gelehrten fragen, 
ob der unverehelichten Runge die Deuttergewalt nicht gefchmälert worden 
wäre, wennihr Kleinesden Brechdurchfall überitanden und die Anklage wegen 
fahrläjjiger Körperverlegung dennoch Erfolggehabt hätte. Inzwiſchen wollen 
wir Ungelehrten uns ausmalen, wie es in Bayreuth gelommen wäre, wenn 
ein rauherer Gerichtshof Herrn oder Frau Rod) oder Beide der Fahrläflig- 
feitdringend verdächtig gefunden und — wegen Gefahr der Kollujion mit Jojo 
und anderen fommerzienräthlicher Macht unterftellten Zeugen — in Unter- 
ſuchunghaft genommen hätte. Dann wurden fie nicht beeidet, waren alfo 
auchnicht „durchaus glaubwürdig“, hätten gegen allerlei beſchworenen Dienſt⸗ 
botenklatſch zu kämpfen und vielleicht manches unzärtliche Wort herunter⸗ 
zuſchlucken gehabt. Und der Vertreter der Anklage hätte dann im Schluß⸗ 
vortrag wahrſcheinlich von der ao valtigen ſozialen Lehre dieſes Prozeſſes ges 
ſprochen, der in blutror'yin 2 ch z.ichen die alie Wahrheit erneue, daß 
forgende Elternlicbe allein reichen wie armen Kindern fichere Häufer baut. 

* 





Ein Gerichtshof Über Weltliteratur. 103 


Ein Berichtshof über Weltliteratur. 


m Jahre 1753 ftiftete Loviſa Ulrika zu Stodholm ihre Akademie für . 
fchöne Literatur; und zur fchönen Literatur wurde damals Geſchichte, 
alte Spraden, Alterthumer, Munzenkunde und Uehnliches gerechnet. ALS 
Guſtav III. 1786 diefe Zufammenftellung von Wiſſenſchaft und Literatur als 
unförmlich erkannte, ftiftete er die Schwedische Alademie für feine Belletriften 
und Tieß Archäologen und Archivare in der umgebildeten Akademie bleiben, 
bie nun Alademie für Literatur, Gejchichte und Archäologie genannt wurde. 
Die Schwediſche Akademie follte „eine Vereinigung von Schwedens hervor: 
ragendſten Dichtern fein, ohne Nüdjicht auf ihre gefellihaftlide Stellung“. 
Das fcheint ja Harer Befcheid zu fein. Aber wie hat man die Statuten 
befolgt, die man unermüdlich als Grundgefeg citirt? Ja, in ber Schwedifchen 
Alademie fiten jegt: zwei ReichBardhivare, ein Reichsantiquar, ein Univerfitäte 
bibliothefar; außer ihnen Profefforen, Bifchöfe und ein Geſandter; Feiner 
bon dieſen Herren ift „literariſch“ in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, 
Bon der ganzen Geſellſchaft find nur Bier Dichter, aber auch nur in ihren 
Mußeſtunden. Kein einziger hat fein Leben ungetheilt der Dichtlunft gewidmet. 
Warum die Hiftorifer da figen? Früher war die Geſchichte Lobrede 
und wurde zur Literatur gezählt; aber jet ift die Geſchichte Wiſſenſchaft 
und darum follten Annerftedt, Ddhner, Hildebrand und Hjärne ruhig in 
ihrer Akademie für Gefchichte und Archäologie figen bleiben und ſich nicht 
in die Vereinigung für Schwedens hervorragendfte Dichter drängen (bie da 
berausgebrängt find). Bon einer Seite ift eingemandt worden, die Gefchicht- 
ſchreibung fei Kunft. Gut; aber dann müßten unfere Hiftoriker in die Kunſt⸗ 
alademie Hineinzulommen fuchen, wo fie wohl mit offenen Armen — vom 
Grafen Rofen*) empfangen werden würden. Und Beofeffor Mommſen hätte 
die „Lönigliche Medaille* bekommen follen, aber nicht den Nobelpreis. 
Darum figen die Bifchöfe da? Weil fie geiftliche Redner find, ant- 
wortet man. Sind, fürs Erfte, Billing, Rudin und Nundgren Redner? 
Ft es Beredfameit, eine Rede niederzufchreiben, fie auswendig zu lernen und 
fie laut zu verlefen? Fürs Zweite: Will ein fo empfindliches Gewiſſen 
wie da8 Rudins feine prophetifche Wirkjamfeit unter die Kategorie Dichtung 
zählen und meint er, das Wort Gottes, das er verfündet, gehöre zur Schön⸗ 
fiteratur und werde am felben Tag beurtheilt wie Anatole Frances „Frivo⸗ 


*) Bei der kürzlich vollzogenen Erſatzwahl für den verftorbenen Lyriker 
Grafen Snoilsky wählte die Schwedifche Alademie ben Maler Grafen Rojen, der 
fih aber durch die Öffentlide Meinung veranlaßt fah, abzulehnen, worauf der 
Hiftoriker Profeffor Hiärne gewählt wurde. (Der Ueberfeger Emil Schering.) 


8 


104 Die Zukunft. 


fitäten“ ober die „Gottlojigfeiten” des Epikuräers Sully: Prudhomme ?*) 
Nein: Beredſamkeit ift etwas Anderes und ift eine feltene Gabe im ſchwe⸗ 
difchen Lande; ift mandmal im Reichstag zu finden, oft in Klubs, niemals 
auf der Kanzel. Hört man an einem offenen Grabe geiftliche Beredfamkeit, 
fo ift es von einem Laien. Alfo können wir ungeftraft die geiftlichen Reduer 
aus der Akademie ftreichen. Gefchriebene Beredſamkeit können alle Schrift- 
fteller leiften — und viel beſſer —, aber die wird nicht dazu gerechnet. 

Barum figen die Sprachforſcher bort? Sie follen die ſchwediſche 
Sprache pflegen und ausbauen, fagt man. Nein, gute Herren! Die Sprache 
ift ein Iebenbes Weſen, da8 aus der Zeit hervorwächſt. Die Sprade ent- 
ſteht, aber wird nicht gemacht. Bei den Menſchen der Zeit entfteht fie und 
die Dichter nehmen fie auf, firiren fie und geben fie gefchliffen und eingefaßt 
zurüd. Die Wörterbuchverfafier fammeln und ordnen fie dann aus dem 
Schriften der Dichter; und fie find Diener, nicht Herren. Die ſchwediſche 
Sprache der Zeit mit ihrem großen Reichthum an Worten und Formen ift nicht 
aus dem Wörterverzeichniß der Alademie geholt, jondern fie ift aus den be— 
fonderen Sprachen aller Klaffen, der Induflrie und der Berufszweige bereichert 
und jängft durch die Mundarten aufgefrifcht. Alfo fort mit den Wortwurzlern! 

Warum figen bie Literaturhiftoriler da? Profeſſor Liunggren hat 
meines Wiſſens feine Literatur gefchrieben, wohl aber über Literatur. Diefer 
Alademietyp wird jegt zu Denen gerechnet, die felbftverfländlich in die Akademie 
gehören, und wir haben noch mehr Kandidaten diefer Art. ber die Akademie 
follte ja eine repräfentative Verſammlung Derer fein, die die Literatur der 
Zeit fchreiben. Nein: die Literaten der Zeit find ausgefchloffen, aber bie 
Literaturhiftoriter gehören felbftverftändlich hinein. Das ift Gerechtigkeit und 
Bernunft. Zu den Selbftverftändlichen gehörten jüngft auch die Ueberſetzer. 
So faß Kullberg da als UWeberfeger Taſſos, Strandberg als Ueberſetzer 
Byrons und Rydberg kam nicht als Dichter hinein, fondern als Ueberfeger 
von Goethes Fauſt. Wugenblidlich werden wieder zwei Ueberfeger als Kan⸗ 
didaten genannt. Das ift ja wunderfchön. Wer über Literatur fchreibt und 
wer Literatur überfegt, gehört ganz natürlich in die Akademie; ausgeſchlofſen 
find aber Alle, die ihrer Zeit die Literatur fchaffen. 

Warum figt der Hiftologe Profeffor Regius in ber Vereinigung ber 
Kiteraten? Er ſelbſt ftellt wohl nicht fo große literarifche Forderungen ı 
fi, wie bie Bosheit behaupten wollte; aber als Wilfenfchaftler figt er 
der Akademie der Willenfchaften, — und mit Recht. Das ift doch gen 
Warum dann noch in ber Alademie für Literatur? 


*) Sully-Prudhomme hat des Materialiften Qucretius „De rerum natura‘ 
überjegt und im Vorwort feine Zmeifel an ben höchſten Dingen ausgeſproche 
Das müßte Profeffor Rudin lejen, fofern er es nicht gelefen hat, ehe die Akadem. 
Sully-PBrudhomme den Nobelpreig für Literatur „idealer Richtung” gab. 





Ein Gerichtshof über Weltliteratur. 105 


Sigt der Staatsrat von Ehrenheim der Literatur wegen da? Das 
glaubt man. Früher wurde ein verabfchiedeter Staatsrath Landeshauptmann; 
jest wird die Akademie für ihn als Sinekure benugt, wie das Poſtamt früher 
für den Major. 

Und dann ift da des Befandte B. Kenne ich nicht! 

Schließlich die vier Literaten Melin, Nyblom, Gellerftedt, Wirfen: Di- 
fettanten und Verfefchntiede, die fich unfinnig durch die Gefellichaft geehrt fühlen. 

Das ift die Schwediſche Alademie! 

Die Schwedifche Akademie war um 1880 eine lächerliche Einrichtung, 
die man in Titerarifchen Kreifen nicht im Geringften beachtete. ALS aber in 
den neunziger Jahren biefe Inftitution durch Nobels Stiftung zum Gerichts- 
Hof über die moderne Weltliteratur erhoben wurde, da war die Alademie 
Etwas. Aber da mußte fie felbft, wenn fie Ehre im Leibe hatte, ſich für 
infompetent erffären und ſich als Yorum ablehnen. Denn Richter dürfen 
nicht in unbelannter Sache und nicht nach Hörenfagen richten. Wie viele 
von den Mitgliedern der Akademie lefen Literatur? Wie viele befuchen Theater? 
Hat Profeffor Rudin oder Biſchof Billing Zolas Romane gelefen oder Ibſens 
Stüde gejehen? Ich weiß e8 nicht; aber wagt der Profeffor und der Bifchof 
in der Jury zu figen, ohne die Alten des Prozeſſes eingefehen zu haben, dann 
ift ihr Leichtſinn und ihre Unbedachtſamkeit ftrafbar. Das erſte Urtheil, dag die 
Alademie zu Gunften des nicht des großen Preifes würdigen Sully: Prudhomme 
fällte, war eine Ungerechtigkeit; das zweite Urtheil zu Gunften Mommfens war 
‚ eine Ungefeglichkeit, denn Gefchichte ift Wiflenfchaft und nicht Kiteratur. 

Ein Menfchenalter von Ungeredhtigfeiten in ihren Preisverleihungen 
Hat die Akademie auf ihrem Gewiffen. Dazu find num Ungefeglichleiten ge- 
tommen, da fie ihre Statuten willfürlich auslegt und da fie foeben dem letzten 
Willen eines Verſtorbenen Gewalt angethan hat; denn Alfred Nobels Teftas 
ment ift nicht refpeftirt worden. Diefe Inſtitution hat der heranwachſenden 
Jugend ein fchlechtes Beifpiel gegeben, da fie gezeigt hat, daß Ungefetzlich- 
feiten und Umngerechtigleiten den höchſten Schuß genießen, und fie muß zur 
Verantwortung gezogen werden, da fie PBarteilichfeit und Willkür übt, fährt 
fie aber fort, den literarifchen Nobelpreiß in der felben Art wie bisher zu 
vertheilen, dann wird fie Schande über unfer Land bringen. 

Alfred Nobels Gedanke war fehön: er wollte unferem unbemerlten. 
Baterlande eine Hegemonie in der Literatur fchaffen; aber er fannte weder 
die Literatur noch die Akademie. Die Literatur der Zeit ift der Roman und 
das Drama; doch unter den vier literarifchen Beiligern der Alademie ift fein 
Romancier, fein Dramatifer. Achtzehn unliterarifche Räthe und nicht ein 
tompetenter Richter. Das ift kein Gerichtshof! Das ift nichts! 


Stodholm, September 1903. * Auguſt Strindberg. 
ge 


106 Die Zukunft. 


2imoralifche Kriegsgeſchichte. 


SR Wiffenfhaft wird jemals ausgelernt; am Wenigften die der Gefdichte. 
Sie ift von einer Mannichfaltigkeit, einem Reichthum wie Teine zweite, 
benn alle Wiſſenſchaften gehören ihr bis zu einem gewiſſen Grad an. Erſchwert ſchon 
Das ihren Betrieb, jo gejellt fi) noch Hinzu: die Aufbewahrung und die Art ihres 
Materiald. Das pflegt weit verjtreut zu fein in Archiven, Bibliothefen und 
Saminlungen und ift ſtets aus den Ereigniffen heraus, unter beitimmten Ver⸗ 
bältniffen, erwachien, weshalb fi oft der Thatbeftand nur ungenügend, noch 
jeltener der genaue Zufammendang und am Seltenften Gründe und Urſachen 
feftitellen laflen. Hier ift eine Wechſelwirkung zwilchen dem Dtaterial und dem 
Denken und Empfinden bes Forſchers nötdig; denn es kommt nicht nur darauf 
an, was, ſondern auch, wie man es ſchildert. Auffafjung und Geftaltung erweifen 
fi für den nichtzünftigen Qefer oft wichtiger als die Genauigkeit von Daten 
und Bahlen. Ye nad der Denk. und Empfindungmweife kann diefe Auffaflung 
nun bei dem felben Gegenſtand weit auseinandberflaffen. Solde Fälle bietet 
bie Geſchichte liberall; und oft handelt es fi) dabei um die hervorragendſten Per- 
fonen und die wichtigften Ereigniffe. Das ijt beflagenswerth, weil e8 der ganzen 
Wiſſenſchaſt einen Zug von Unfertigfeit giebt, ihr den Stempel der Unficherheit 
verleiht. Aber bei der allgemeinen Sachlage läßt es fich nicht vermeiden; ver⸗ 
ſchiedene Menſchen betrachten den felben Gegenftand eben verfchteden. Immerhin 
follten bier gewifje Grenzen beftehen. Wird gegen die Gejege der Moral verftoßen, 
dann finkt die Geſchichte, troß all ihren Entdedungen, troß ihrer technifhen Höhe, 
zur Dirne herab und vergiftet, ftatt zu erziehen. 

In vollem Umfang können folche Verirrungen natärlid nur in abge 
ſchloſſenen Leiftungen bervortreten; aber fie find auch ſchon in Einzelfällen fühl« 
bar, die das Denken und Empfinden des Schreibenden wibderjpiegeln. Bei der 
Verwirrung der Geijter, die jet vielfach herrfcht, bietet die neufte Geſchicht⸗ 
literatur natürlid) zahlreiche Fälle, wo der vorurtheillos Dentende den Kopf 
fhütteln muß. Ich will einen folden Fall auswählen und erläutern. Er ift 
dem Leben Napoleons entnommen. WUuf feinem egyptilchen Feldzug erſchien 
ber damalige General Bonaparte vor Jaffa. Der türkiiche Befehlshaber des 
Plaßes verweigerte die Uebergabe, der Ort wurde von den franzöſiſchen Truppen 
erjtürmt, die ein entjeßliches Blutbad anrichteten und Alles niedermachten, deſſen 
fie Habhaft wurden. Dabei fielen ihnen dreitaufend Gefangene in die Hände. Diele 
Kriegsgefangenen ließ Napoleon töten. Den Hergang ſchildert General Keim in 
dem von mirherausgegebenen Werk: „Napoleon J., Revolution und und Kaiſerreich“ 
folgendermaßen: „Der Obergeneral felbjt berichtet: ‚Alles mußte über die Klinge 
fpringen; die Stadt, der Plünderung bingegeben, erlitt alle Schreden eines mit 
Sturm genommenen Ortes.‘ Aber damit begnügte Bonaparte fi diesmal nidt. 
Er befahl, am folgenden Tage dreitaufend Gefangene, die, in Moſcheen ge 
flüchtet, die Waffen gejtredt Hatten, an das Meeresufer zu führen und dort zu 
töten, ‚dabei aber ſolche Vorfihtmaßregeln zu treffen, daß nicht ein Einziger 
von ihnen entrinnen könne‘. Ein Augenzeuge berichtet über ben Vorgang: ‚Es 
war Befehl gegeben worden, all diefe Gefangenen mit dem Bajonnette nieder- 


Amoralifche Kriegsgeſchichte. 107 


zuftoßen, um bie Patronen zu fparen, bie anfingen, fnapp zu werden. Am 
Morgen vor den Abmarſch vertheilte man die Unglüdlichen auf die Halbbrigaben. 
Es wurden Vierecke gebildet, Front nach innen; dann gingen wir mit dem Ba» 
jonnette auf dieſe lebendigen Dlaffen vor. Alle wurden getötet. Die Soldaten 
gehorchten dem Befehl mit einem Gemifch von Abſcheu und Schreden.‘ Diefes 
Maſſaere von Jaffa ift wohl das dunkelſte Blatt in der Gefchichte napoleonifcher 
Sriegführung. Dan hat verfucht, es mit der harten Nothwendigkeit bes Krieges 
zu entjchuldigen, weil e8 an Lebensmitteln gefehlt habe, die Gefangenen unter 
wegs zu ernähren; fie im Freiheit zu fegen aber unthunlich gewejen wäre, weil 
fie doch wieder bie Waffen gegen die Franzoſen ergriffen Haben würden. Diefe 
ganze Beweisführung bricht unter den eigenen Berichten Bonapartes zufammen, 
in denen er meldet, daß man allein in Jaffa 400000 Nationen Zwiebad und 
20.000 Eentner Reis und kurz vorher in Gaza 300000 Rationen Zwieback ſowie 
fonftige große Vorräthe an Nebensmitteln erbeutet habe. Der Mangel an Lebens: 
mitteln konnte demnad nicht die entfcheidende Urjache der entjeglichen Schlädhterei 
fein. Der Obergeneral wollte in crjter Linie ein Exempel jtatuiren, das weit 
in den Orient hinein ben Schreden feines Namens verbreiten follte. Daß ihm . 
das Diitführen und Bewachen der Gefangenen an fich läftig fein mußte, mag 
zugegeben werben. Das Tann aber niemals einen folchen unmenſchlichen Maſſen⸗ 
nord Wehrlofer entſchuldigen. Es bat mit einer faljchen Sentimentalität nicht 
das Geringite zu thun, wenn man dieſes erbarmungloje Hinwegſetzen über die 
Geſetze ber Dtenfchlichleit, des Chriftenthumes, des Völkerrechtes und felbft des 
Krieges als Das bezeichnet, was e8 war, als einen Alt, würdig eines graufamen 
orientalifchen Deipoten.“ 

Bergleiden wir Hiermit die Darftellung des felben Gegenſtandes, bie 
Roloff in feinem Wert „Napoleon I.” giebt: Der europäiſchen Artillerie konnte 
Saffa nicht lange Stand halten; e3. wurde erftürmt, geplündert und die ganze 
Garniſon getötet. Ein Theil der Truppen, an zweitaufend Mann, batte fid 
ergeben, aber ihr Schidfal wendeten fie damit nicht. Napoleon konnte fie aus 
Mangel an Provtant nicht ernähren und aus Mangel an Truppen nicht Über 
waden: entlaffen konnte er fie nicht, weil fie jogleich die Reihen feiner Tyeinde 
verftärkt Hätten; es blieb alſo nichts übrig, als fie Alle, einem Urtheil der 
Tranzöfiiden Generale entſprechend, erſchießen zu laſſen. Barbariſch erſcheint 
das Borgehen auf den erſten Blick; und mehrere Tage lang bedachte ſich Napoleon, 
ehe er ben Spruch feiner Generale vollzog: aber die erfte Nüdficht des Feld⸗ 
Herrn, das Heil der eigenen Armee, machte die Grauſamkeit unvermeidlich. Sie 
äft keineswegs ohne Beilpiel in ber Kriegsgeichichte und widerſpricht humani⸗ 
tären Anſchauungen nit mehr als die Praxis des achtzehnten Jahrhunderts, 
Die Kriegsgefangenen zum Dienft im Heere bed Siegers zu zwingen.“ 

Wohl jeden Denkenden wird diefe Verjchiebenheit der Anſchauung über 
die jelbe Sache befremden, um fo mehr, als bie Rollen gewiſſermaßen vertaufcht 
find, als der gediente und erfahrene Solbat der Menjchlichleit, der militäriſch 
unerfahrene Hiftorifer der foldatiihen Gewaltthat da8 Wort redet. Suchen 
wir uns dieſe befremdliche Erſcheinung zu erflären und prüfen zunächſt die 
Darftellung des Gelehrten. Da heißt es: „Napoleon konnte die Gefangenen 
aus Mangel an Broviant nicht ernähren.” Längſt ift dieſe von dem Schuldigen 


108 Die Zukunft. 


und feinen Anhängern verbreitete Mär widerlegt. Wegen bes Nahrungmangels 
und aus zwei anderen Gründen joll denr Sieger „nichts übrig“ geblieben fein, 
als die Generale um ihr Uxtheil zu befragen und die Leute bann erfchießen zu 
lafien. Als ob ein Höchſtkommandirender, nun gar ein Napoleon, an das Urtheil 
feiner &enerale gebunden wäre, al8 ob ein Feldherr nicht felbit die volle Ber- 
aniwortung trüge, weil nur er zu befehlen hat und Niemand fonft! Es liegt 
auf flacher Hand, daß ber fchlaue Korfe feine Gründe hatte, wenn er das Urtheil 
feiner Untergebenen einholte; er wollte die Verantwortung und mit ihr die üble 
Nachrede von fi ablenken: und wie man fieht, gelang ihm diefer Verſuch bei 
gewifien Hiftorifern. Der gutmüthige Napoleon braucht mehrere Tage, um den 
Sprud feiner Generale zu überdenken, bevor er ihn vollzieht und nad} der „erſten 
Rückſicht des Feldherrn“ die Unglücklichen erſchießen Täßt. Erſchießen? Wir 
hörten doch eben, daß er ſie, wie Raubthiere, mit dem Bajonnett ermorden ließ. 
Durch den Sprud der Generale, die „erſte Rückſicht“ und das Erſchießen iſt 
der fürdterlide Borgang in eine Beleuchtung gerüdt, die ihn dem unkundigen 
Leſer als ziemlich harmlos erjcheinen läßt. 

Die „erite Rückſicht“ eines Feldherrn — eine Verwäflerung von suprema. 
lex — ift nit „das Heil der eigenen Armee“, fondern suprema lex und 
ultima ratio find der Sieg, bad Niederwerfen des Feindes. Das Heer ift nicht 
Selbftzwed, jondern Mittel zum Zweck; fein Heil kommt deshalb erft in zweiter 
Linie und oft ift eine ganze Armee dem Erfolge geopfert worden. Ein Feld⸗ 
berr von der Sorte des Yürften Schwarzenberg blidte freilich mehr nad hintere 
auf jein Heer als vorwärts auf den Feind; aber darum hat er auch fo viel 
Unheil, jo viele Halbheiten angerichtet. Alſo der Satz von ber „erften Rück⸗ 
ſicht“ ift eben fo falſch, eben fo ſchwarzenbergiſch halb wie alles Andere, nur 
ganz und gar nicht napoleoniſch. 

Bonaparte konnte bie zweitaufend Mann übrigens jehr gut mitführen; 
vielleicht als Laftträger von Proviant und Munition unter ftrenger Androhung, 
baß jeder Widerftand und jeder Fluchtverſuch den Tod bebeuteten. Die Bwei- 
taufend hätten feine Drientalen und überdies nicht meift zum Kriegäbienft ge- 
preßte Leute fein müffen, wenn fie nicht blind gehorcht hätten. Napoleon bat 
bieje einfache und nächſte Löfung nicht einmal verfucht; augenjcheinlich, weil fie 
im, wie Keim richtig jagt, läftig war und er den Mord als Schredimittel 
brauchte. Der Mord war demnach thatſächlich nicht Vollzug eines Urtheils ber 
Generale, jondern eine Talt berechnete politifhe That, der Gedanke eines der 
größten Menſchenverächter, den die Geſchichte kennt. 

Die Anficht des Erzählers läuft darauf hinaus: Alles, was einem Feld⸗ 
beren für feine Armee nothwendig erfcheint, ift nicht nur erlaubt, fonbern ge» 
boten. Man vergegenmwärtige ſich aber, wohin folde Annahme führen Tann, 
ja, führen muß. Hält.man, wie Ludwig XIV., eine Wüſtenei als Grenze gegen 
das Nachbarland für nothwendig, — nun, fo verbrennt man eben bie Dörfer und 
Städte; find Einem Gefangene befonders Läftig ober beeinfluffen fie gar bie 
ganze SKriegführung ungünstig, wie im Loirefeldzuge 1870, fo jchlägt man fie 
einfadh tot; hat man Hunger, jo nimmt man dem Bürger fein Brot ohne Ent- 
gelt; und giebt ers nicht gutwillig, dann Hilft Blei und Bajonnett; wird eine 
Feſtung vom Feinde belagert und die Einwohner verfürzen bie Nahrung: gut, 





Amoraliſche Kriegsgeſchichte. | 109 


—8F 


ſo läßt man ſie verhungern; und gefällt ihnen Das nicht, ſo macht man ſie kalt. 
Dieſe Anſchauung des Hiſtorikers verträgt ſich nicht mit den Grundbegriffen 
unſerer Kultur, an der die Welt Jahrtauſende lang gearbeitet hat. Und dann: 
was für den Feldherrn „erſte Rückſicht“ iſt, ift es ſchließlich für Jedermann; 
ſein „Heil“, das ſeiner Familie, erſcheint jedem Menſchen als „erſte Rückſicht“. 
Hungert Jemand, ſo hat er, kraft der Lehre vom „Heil“, das Recht zu Dieb⸗ 
ſtahl und Mord, zu jeder Gewaltthat, um ſich Nahrung zu verſchaffen; ift er 
obdachlos, jo verdrängt er Den, der ein warmes Stübchen bejist. Das wäre 
der Krieg Aller gegen Alle. Neben bem „Ich“ aber beitehen Geſellſchaft, Staat 
und Menjchheit; ihnen ift das „Ich“ nicht über-, jondern untergeordnet. Für 
ben Teldherrn gelten neben dem „Heil“ feiner Armee bie Gefeße der Menſch⸗ 
Iichfeit und die des Krieges, worauf ſchon Keim hinwies. Moloff jagt, das Ver⸗ 
Balten Napoleons wideripreche humanitären Anſchauungen nicht mehr als bie 
Praxis des achtzehnten Jahrhunderts, die Striegsgefangenen zum Dienft im Heer 
des Siegers zu zwingen. Erſtaunt fiegt man: auf der einen Seite werden 
Wehrloſe mit Bajonnettftichen abgefchlachtet, auf dex anderen werden Gefangene 
dem Heer bes Siegers als ehrliche Soldaten eingereibt, und zwar zu einer Beit, 
wo das Nattonalgefühl noch ſchwach enitwidelt war und die Truppen zum großen 
Theil aus geworbenen Berufsfoldaten beftanden, bie bald diefem, bald jenem 
Landesherrn dienten, wenn er nur zahlte. Und dieſe zwei bimmelfernen Dinge 
follen auf gleiden „humanitären Anichauungen‘ beruhen! 

Biehen wir die Summe. Ein Rorgang, ber wohl zu erllären, aber nicht 
zu entichuldigen ift, wird beſchönigt und gerechtfertigt. Damit berühren wir eine 
traurige Seite ber modernen Geſchichtauffaſſung. Sie zeigt geradezu eine Ver- 
wirrung ber fittliden Grundbegriffe. Sie predigt die Philofophie der Selbſt⸗ 
ſucht, den Gotzendienſt des Erfolges. Während bei einem Napoleon und bei 
fonftigen ‚großen Männern’ Alles erlaubt erjcheint, Alles mild beurtheilt wird, 
verfährt man Außerft ftreng, wo der Erfolg fehlt oder gar das Unglück einzog. 
Der Erfolg ift der Gott. Und leider nit nur für viele moderne Hiftorifer, 
fondern für einen großen Theil der modernen Menfchheit. Aber es Handelt fich 
babet nicht allein um abgeftumpftes Deoralgefühl, fondern — mildernd müflen 
wird hinzuſetzen — aud um unflares Denken. Das verräth in unferem Yall 
Thon der Stil. Im eriten Sag Roloffs heißt es: Die ganze Garnifon wurde 
getötet; unmittelbar darauf find noch zweitaufend Mann am Leben. Wo fommen 
diefe zweitaujend Mann plößlich ber, wenn alle niedergemadt waren? Unklarer 
Stil beweift unklares Denten, — nur zu oft die Wurzel alles Uebels. So 
kommt es, daB ein Berufshiftorifer, ohne mit ber Wimper zu zuden, rechtfertigt, 
was ein Dann des Degens rüdhaltlos tadelt. 

Beachtenswerth finde ih, daß Männer, die ſolche Anſichten vertreten, 
Lehrer an deutihen Hochſchulen find. Wer will fih da wundern, daß der Idea⸗ 
lismus aus dem Etudentenleben weicht und jErupellojer Selbſtſucht Platz madt? 


Brofeflor Dr. Julius von Pflugk⸗-Harttung. 


Er 


110 Die Zukunft. 


Der neue Rirchhof. 


SD Totengräber von Petzenhauſen, einem zwifchen ben lebten Bergſchwaden 
nordwärts des Harzes gelegenen wohlhäbigen Bauernborf, hatte nad) ge» 
zaumer Zeit wieder einmal hart bei ber Kirhmauer ein Grab gegraben unb 
beſah nun kopfſchüttelnd die Schädel und Gebeine, bie auf dem friiden Erb: 
baufen lagen. Er paßte einige Schenkel zufammen, fuchte die entſprechenden 
Knochen und Schädel dazu und fand, daß er die Ueberbleibfel von mindeftens 
fünf ehemaligen Bebenbäufern vor fi hatte. Der alte Detje nahm den beft- 
erhaltenen Schädel in die Hand, betrachtete ihn eine Weile, ſann und grübelte 
und kraute ſich in der grauen Bartkrauſe. Er maß bie hohe Schädelſtirn mit 
ben gefpreizten Fingern, nidte lebhaft und rief noch lebhafter: „Dat maut Andreis 
Battermann ſien!“ Andreis Battermann, ber alte Dorfphilofopb, wie ihn mal 
Einer genannt hatte, Andreis, der bei allem Ungemach feines Qebens nie ein Kopf⸗ 
bänger war, auch feinen Kopfhänger um fich bulbete, der immer, wenn das Seil 
feiner Hoffnung ihm jählings zerriß, die beiden Enden unverdroſſen wieder zu⸗ 
ſammenbrachte und dabei ſang: 

„Wir wollen den Adam nochmal ſchmieren 

Und die Kunſt nochmal probiren.“ 

Detje prüfte und maß den Schädel noch einmal und nickte wieder, wäh⸗ 
rend ihm eine feine Thräne ins Auge ſchlüpte. So ein ſtarkes, ungewöhnliches 
Gehäuſe mit der charakteriſtiſchen Bucht da hinten, — 's litt gar keinen Zweifel: 
Das war Andreis Battermann; und Detje konnte es wiſſen, denn er hatte ihn 
gut gekannt, auf der Erde und ſozuſagen auch unter der Erde, denn er machte 
die Gräber ſchon ſeit mehr als vierzig Jahren und hatte auch dem alten Andreis 
dies Grab gegraben. 

Wie er den Schädel noch fo ſinnend betrachtete, wars ihm auf einmal, 
als würbe er ihm auf der Hand lebendig, als hörte ex wieder Andreis Batter- 
manns Stimme: 

„Wir wollen den Adam nochmal fchmieren 
Und die Kunft nochmal probiren.“ 

Detje legte den Schädel raſch, aber jehr behutſam Hin und fchüttelte 
energiich den Kopf. „Nein, Anbreis Battermann, Das wollen wir nit! Jetzt 
nicht mehr und jedenfalls bier nicht mehr. Jenſeits, ja wohl, — aber bier ſollſt 
Du Deine ungeftörte Ruhe haben, denn es muß ein neuer Kirchhof angelegt 
werden oder ih will nicht mehr Totengräber fein.“ 

Als die Kirhthurmsglode fchlug und bie Kinder aus der nahen Scdule 
ſchreiend daherwirbelten, ſchloß Detje das Kirchhofsthor und warf einige Schuten 
voll Erde Über die Knochen. Schon aber drängten fi die Kinder am Xhor, 
zwängten die Nafen dur das Bitter und fuchten jchauerluftig die Gebeine zu 
erfpähen; etliche Buben Eletterten bereit3 über die hohe Mauer und kamen dem 
Grabe fo nah, wie fie e8 vor der manchmal drohend aufgeredten Totengräber⸗ 
ſchute nur magen fonnten. 

Schon feit fünf Jahren redeten fie in Pebenhaufen davon, daß man 
endlich einmal mit dem Stnochengerappel aufhören, alfo einen neuen Kirchhof 
anſchaffen müffe. Und nod immer war fein endgiltiger Entſchluß zu Stande 





Der neue Kirchhof. 111 


gelommen. Wie es denn dem Nothmendigen, fpringt es aus bem alten Gleis, 
in fol einer Dorfgemeinde einmal fo geht: es wird nicht auf den Schoß, fondern 
vor die Hörner genommen. 

Zwei Parteien rangen mit einander um das llebergewicht; aber die eine 
wor nur fehr Klein. Und diefe Feine Partei fagte: es jei ein Skandal und 
ihr Gefühl leide es nicht länger, daß man die Ahnen und Urahnen alle dreißig 
Sabre, mandmal auch viel früher, aus ber geheiligten Ruhe beraufhole und 
Tage lang nadend und blos in der Sonne liegen lajje; hätten fich doch beim 
legten „Haßlabend” gar etliche Burſchen mit den Schenkelknochen der Großväter 
geprügelt. Man folle die ehrwürbigen Gebeine endlich ruhig laffen und Dbft: 
bäume darauf pflanzen, Dann könnten die Ahnen die Gemeinde noch für alle 
Zukunft in den Bäumen fegnen, bemerkte dazu der Geiftliche, ber natürlich zu 
biefer Partei bielt. Die große Partei aber fagte: aufs Gefühl fomme es hier 
nicht an, ſondern aufs Geld; und jo ein neuer Kirchhof Tofte viel Geld. Wenns 
jedoch aufs Gefühl anfäme: warum es dann nicht auch ein ganz ſchönes Gefühl 
fein könne, wenn Einer von Beit zu Zeit mal feine Ahnen wiederjehe und 
fi die Knochen für den Großvater oder die Großmutter wieder zufammenftellen 
könne. Es ſei doch von Alters ber jo geweien, dab immer wieder von vorn 
angefangen wurde, wenn man Die Reihe „rum“ war; warum es nun nicht in 
Zukunft fo bleiben folle. 

Der Großlöiner Hornhart, der das große Wort bei dieſer Partei führte, 
erinnerte grobwigig an AnbreiS Battermann, ber immer gejagt babe: „Wir 
wollen den Adam nochmal ſchmieren und die Kunſt nochmal probiren.” Hornhart, 
befien großer Hof im Oberborf eine ftattliche Breite zwiſchen der langen Dorf: 
ftraße und ber biden alten Feldhecke, die das Dorf einfäumte, herriſch ausfüllte, 
hätte es nicht nöthtg gehabt, fo fehr aufs Geld zu fehen; denn um den Antheil, 
ber auf ihn kam, brauchte er nicht einmal ein Kalb zu verlaufen. Uber die volliten 
Säde ftehen am Steifften. Und ift Einer voll von Gold und Geld, Tann er 
nicht auch noch voll von Gefühlen fein. Das Eine [chließt, wenn nicht immer, 
jo doch allzumeift, da8 Andere aus. Der Eine hats Geld und der Andere dad 
Gefühl. Das ift einmal fo in der Welt, und wärs anders, ich meine, fo würde 
e3 auch wohl möglich fein, daß an den langen Pappelbäumen jüße Feigen wüchſen, 
da fie doch Bla genug Haben. 

Der Kirchenvorftand rieth hin und ber und fagte fi: Könnten wir nur 
bem Hornhart da8 Horn ausbrechen! Ya, darauf fam e8 in der That an, denn 
wie die Dienfchheit Üiberhaupt, fo beitand beſonders die peßenhäujer Gemeinde 
in ihrer weitüberiwiegenben Mehrheit aus Heerdenvieh, das nur nach den Hammel: 
börnern an der Spige fit. Da man dem Großkötner alfo nicht mit dem 
Gefühl beitommen konnte, mußte mans denn mal mit etwas Härterem verfuchen. 
Der Kicchenvorftand Flügelte eine Lift aus. Warum fol nicht aud ein Kirchen⸗ 
vorſtand einmal liftig fein, falls er fih durchaus nicht anders helfen kann? 

Man richtete an Hornbart ganz vertraulich die Anfrage, ob er wohl von 
feiner überm Dorf gelegenen „Breiten Koppel” ein Stüd für den neuen Kirch— 
bof hergeben würde. Gelbitverftändlid, fügte man umjtändlich hinzu, falls es 
überhaupt einmal zur ernitlihen Anlage eines neuen Kirchhofes komme. Nun 
gehörte Hornhart burchaus nicht zu jenen lofen Bauern, die fich fo leicht einen 


112 Die Zuhmft. 


Acer abhandeln laflen; er hatte aber längft im Stillen überſchlagen, weld ein 
vortheilgaftes Geſchäft jo eine Kirchhofsanlage für den "Aderverläufer werden 
könne. Erftens war in biefem ungewöhnlichen alle fider mit einer Berviel- 
fachung des ortsüblichen Aderpreifes zu rechnen. Man konnte alfo für den 
abzuftehenden Morgen gut drei andere wieder Taufen, zumal feit einiger Zeit 
in Petzenhauſen Aecker genug feil waren. Wurde aber — fo überlegte Horn=- 
bart weiter — der neue Gottesader in richtiger Weife auf feiner Breiten Koppel 
angelegt, fo hatte er die Kirchengemeinde völlig in feiner Hand; bei der gewiß 
einmal nöthig werdenden Vergrößerung des Kirchhofes Fonnte fie nur von ihm 
kaufen, er mochte fordern, was er wollte. Und er wollte fordern, was er mode. 

Freilich war das Sterbenstempo in Petzenhauſen immer ein ſehr lang- 
fames gewejen; fonnte aber in Zukunft nicht einmal ein Trab oder Galopp 
daraus werden? Konnten nicht allerhand Epidemien hereinbreden? Wie im 
vergangenen Jahr in Grofjendorf, wo in wenigen Wochen zehn Alte und fünf- 
zehn Junge vom Typhus dahingerafft wurden? Ueberdies galt es als eine 
große Ehre, das Land zum Gottesader hergegeben zu haben; man Tonnte fid 
bei Gott und den Menfchen angenehm und wichtig maden und befam nod einen 
Haufen Geld dazu. 

Der Kircdenvorftand hatte gemuthmaßt, daß Hornbart fo ähnlich denken 
würde. Und er hatte fich nicht verrechnet, wie fich alsbald Herausftellte. 

Hornhart, ein großer, ſtarker Mann mit einer kurzen, aber jehr runden 
Stirn, that freilich erft ganz „weithin“. Denn er war ein Diplomat und ließ 
fi) nicht in die Stube guden, ehe nicht Alles hübſch zurechtgeitellt war. Alſo 
fetne Breite Koppel! He ja! Das ſei eine Koppel, wie fie Seiner im Dorfe 
babe, — Keiner! Und eine geeignetere Stelle für den neuen Kirchhof gebe es gewiß 
rund um Petzenhauſen herum nicht mehr. Aber fol eine Koppel lafje man 
ſich doch nicht zerjchneiden. Zumal, wenn mans nicht nöthig habe. 

Ter Kirchenvorfteher, der es übernommen hatte, dem Großkötner auf dem 
Bahn zu fühlen, wußte nun fchon, woran er war; dennoch ftellte er fih, als 
fönne er drei große Bohnen und fünf Kleine nicht jo auf ber Stelle zuſammen⸗ 
zählen. Es fei ſchade, bedauerte er, als er fchon über den langen Steinweg 
zurückſchritt So ein Stüd aus Hornharts „Breite” hätte ſich gar zu gut für 
den neuen Gottesacker gecignet. ' 

He nun, man [höhe ja doch fein Brot in den ungeheizten Badofen, 
meinte Hornhart entgegentommend. Das Sterben wäre ja nun einmal nicht ab» 
zuichaffen, und da man mit der Zeit doch um den neuen Kirchhof nicht herum« 
käme (Aha! machte der Stirchenvorfteher innerlich), fo könne man die Sache noch 
einmal beſprechen. Er jehe ja ein: mit dem fatalen Snochengerappel müſſe es 
wirklich ein Ende nehmen. Und wo fo gute Gründe feien, da wolle er lie” 
lich kein ſolcher Unmenſch fein, daß er nicht für eine gemeinfame chriſtliche Sad 
ein Opfer bräcdte (Aha! machte der Kirchenvorfteher, aber nur wieder ganz bt, 
ih). Es Habe eben jedes Ding feine zwei Seiten, ſchloß der Großlötner; man 
müſſe e3 nur mal ummwenden. Und er Habe es umgemwandt. 

Was fol ich Weiteres fagen?. 

Der Kirchenvorjtand hielt den Großlötner bei den Fittichen und der Groß⸗ 
fötner wieder meinte, er bielte den Sirhenvorftand bei den Fittichen, — und fo 





Der neue Kirchhof. 113 


kam e3 zwifchen Morgen und Abend zu einer Vereinbarung, wonach ber neue 
Kirchhof wirklih auf Hornharts Breiter Koppel überm Dorfe angelegt werden 
ſollte. Natürlich gegen eine Summe, die den Sad ſteif und ftrad! machte. 

Daß die Obrigfeit den Handel zu beftätigen Hatte, der Kirchenvorſtand 
darum einen entjprechenden Vorbehalt maden mußte, ſchlug Hornhart in feiner 
plößlicden Begeifterung für den neuen Kirchhof nicht weiter an; an biejer Be: 
ftätigung konnte ja aud) gar nicht gezweifelt werben; dazu war der neue Kirch⸗ 
Hof zu nöthig und Hornharts Gewicht zu gewichtig. So gründlich war jeine 
Befinnung umgejchlagen, daß er fogar mit dröhnender Stimme beftritt, über- 
haupt je gegen den neuen Kirchhof gewejen zu fein, eben jo wenig wie er gegen 
das Sterben felbit jei. Was man braude, braude man; und ein Kirchhof jet 
feine Kirmeß, die man feiern oder nicht feiern könne, je nachdem man Luft habe. 

&3 war fein Mann und fein Menſch in Pebenhaufen, der es mit dem 
Großen und Gewaltigen verderben wollte, der fich erfühnt hätte, auch nur ein- 
mal mit der Uchfel zu zuden, wenn Hornhart ihn ins Auge nahm. Sie nidten, 
wenn er ſprach, und fagten Ja, wenn er nidte, gaben es ihm aber um fo Träfti- 
ger, wenn er nicht dabei war. 

Man flug bie erſten Planken um den neuen Gottesader, — und Thon 
jagte auch ber Tod ins Dorf, ihm feinen erften Tribut zu bringen. 

Die endgiltige Prüfung und Genehmigäng durch die Obrigleit ftand zwar 
nod immer aus; Tonnte es aber baran fehlen? Auch geweiht war die neue 
Ruheſtätte noch nicht, doch follte Das zugleich mit dem erften Begräbniß ges 
fcheben. Alſo ging Detje auf ben neuen Ader und grub das erfte Grab. 

Während jonft in Pegenhaufen bie Toten auf dem leßten Gange nur 
von den Angehörigen und Nachbarn begleitet murden, betheiligte fih bei dieſem 
außergewöhnlichen Begräbniß die ganze Einwohnerſchaft am Gefolge, 

Sogar ber Herr Amtshauptmann war aus der Kreisitadt gelommen, um 
bei der Einweihung gegenwärtig zu fein. Der vornehme und gefürditete Herr 
ſprach vor allem Volt mit Hornhart und lobte und ehrte ihn fo, daß der ohne 
bin jchon jehr von fich eingenommene Großkötner dann no einmal fo ftolz in 
dem großen Gefolge einherichritt. Jeder Blid, mit dem er um fih warf, ſchien 
zu jagen: Habt Ihrs gefehen? Mit mir bat der Amtshauptmann geſprochen! 
Sa, wäre ich nicht, fo hättet Ihr noch lange, ha, noch lange feinen neuen 
Kirchhof gekriegt! 

Der Leichenzug ſchlug einen fehr umftändliden Weg ein, um an bem 
alten Kirchhofe vorüber zu kommen. Dean bielt hier einen Augenblick an, fah 
und nidte nad den alten Gräbern hinüber, als wärs ein Abſchiednehmen ber 
Toten von den Toten. Und die Cypreflen und Tannen, die da und dort auf 
en eingefallenen Gräbern ftanden, die wilden Roſenbüſche an der Kirchhofs- 

tauer und die ftolzen Schwadronen der Brenneflel, die längd der Mauern und 
ı manden Grüften Wade hielten, die Lilien und Nelken zwifchen dem üppig 
ıchernden Gras und Kraut, — fie alle hoben fi) und gudten über die Dauer, 
rickten wieder und neigten fich, al3 verftänden fies gar wohl, was jegt in Peßen- 
aujen vorging, und als wären fies gern zufrieden. 

Dem alten Totengräber aber, der der Feierlichkeit wegen mit der blanfen 

Schute am Ende des Zuges ſchritt, — dem alten Totengräber wars, als hörte 
Andreis Battermann aus dem lebten neuen Hügel rufen: 


114 | Die Zukunft. 


„Wir wollen den Adam nochmal ſchmieren 
Und bie Kunſt nochmal probiren” 

Der Alte mochte fih in feinem frommen Xotengräbergemüth gegem bie 
Stimme aus der Erde fträuben, wie er wollte: er hörte fie jo deutlich wie vor 
dreibig oder vierzig Jahren, hörte fie deutlicher als all die hundert feinen und 
groben Stimmen bes langen Leichenzuges, die zufammenjtrebten in dem alten 
Sterbelied aus dem Kirhengelangbuth: 

„Ale Menſchen müflen jterben, 
Alles zleifch vergeht wie Heu!” . . . 

Der alte Totengräber ſetzte wiederholt fräftig mit ein, verfiel aber jede3- 
mal in Andreis Battermanıs Lied. Er ſchüttelte es in fi ab, machte mit 
ber Schute, ald ob ers wie einen Elebrigen Erdkloß darauf hätte, merkte aber, 
daß ſichs weder abichütteln noch wegichaufeln ließ, daß es feftfaß wie ein Kobold. 
Er empfand diefen ſeltſamen Zuſtand halb wie eine geilterhafte Fopperei, Halb 
wie eine Sünde, weil er meinte, daß fein Sinn nicht ernft genug zu dem Herrn 
über Leben und Tod gericätet ſei. Und in der Ungemibheit über dad Wahre 
in feinem augenblidlihen Zujtande fühlte er fich in feiner Seele gedrängt, dem 
Herrn, deſſen ſchrecklichen Ernft er in dem ungewöhnlich langen ſchwarzen Zuge 
verförpert fah, um Geduld und Bergebung zu bitten. Aber ſelbſt in diejen 
Gebetsfeufzer fang Andreis Battermann: 

„Wir wollen den Adam nochmal jchmieren 
Und die Kunſt nochmal probiren ... 

Berzweifelt fchüttelte Detje fi aufs Neue, daß Alle, die vor und neben 
ihm gingen, einander bedenklich anjahen und ein Melodieende zurüdblieben, das 
dann auffällig nachdröhnte. Und die Schuljugend, die mit ihrem Lehrer dem 
Sarge in geordneten Zuge voranſchritt, begann mit weithin tönenden Bellen 
Stimmen ben fechsten Vers des tröftlichen alten Sterbeliedes: 

„O Serufalem, Du Schöne, 

D wie helle glänzeit Du! 

Wie ein lieblich Lobgetöne 

Hör ich jetzt in ſtiller Ruh! 

O, der großen Freud’ und Wonne! 
Seo gehet nuf die Sonne, 

Jetzo geht mir an der Tag, 

Der kein Ende nehmen mag.“ 

Der lebte Vers dauerte bis an den Handmeiler, der oben vor dem Dorf 
ftebt. Noch drei Strophen mehr: und er hätte bis zu dem neuen Friedhof ge- 
reiht. Doch horch! Dig, Lerchen waren ſchon dabei, das Lied fortzufegen; nur 
daß fie einen anderen Text und eine andere Melodie wählten. 

Ein finnender Bauer am Ende des Zuges ſah ihnen nad, nidte und 
fagte zu feinem Nachbar, dem Totengräber: die ins Unendliche aufiteigende Lerche 
zeige ihnen, welden Weg die Menſchenſeele nehme, während ber Leib bier zu 
Grabe getragen werde, und daß der neue Kirchhof überhaupt nicht unfere bleibende 
Stätte ſei. Detje nidte und fagte: „Wir wollen den Adam“ ..., brach aber 
topffchüttelnd ab, ſchob Andreis Battermann fanft bei Seite, lauſchte angejtrengt 
auf die Lerche und überfegte ihr Lied anftößig laut in: „Nah'n Himmel is’t 
wiet, wiet, wiet hen ...“ 


Der nene Kirchhof. 116 


Nah dem Himmel iftS weit, weit, weit bin! Sa, fo fang die Lercde 
„wohl; aber wäre der Weg auch noch jo weit, brauchte doch Feine erlöfte Seele 
fo viel, in ben Himmel zu fommen, wie eine Lerche braude, um mit ihrem 
Liede aus dem grünen Klee in die hohen Lüfte zu fteigen, meinte der Bauer. 

Sie wunderten fi) Beide, der Bauer und der Totengräber, daß fie durch 
die Lerche auf folche Gedanken gekommen waren. Und es fiel ihnen ein, daß 
fie auf dem Wege zum alten Gottesader noch niemals eine Lerche gehört hatten; 
auch aus diefem Grunde wäre es gut, meinten fie, daß fie einen neuen Friedhof 
im freien Felde befommen hätten, wo bie Lerchen alle Tage ihre Himmelsleitern 
binaufftiegen. Da gewöhne fich die Dienfchenjeele um jo eher an den Weg und 
an feine Richtung. 

Als die Spige bed Zuges den Kirchhof erreichte, trat Hornhart in ge 
wichtiger und geräufchvoller Weije aus dem Gliede, um mit rafden Schritten 
voranzugehen. Er fühlte fich gewiflermaßen als Gaftgeber des Todes und fchritt 
Allen voran als Erfter auf den neuen Kirchhof, um fozufagen die Honneurs zu 
machen. Der Herr Paftor gab ihm im Vorbeigehen noch einmal die Hand, um 
ihn zu ehren; und wenn auch ber Herr Amtshauptmann die Hand nicht ausitredte, 
fo ließ er es do an einem mwohlwollenden Zuniden, das Alle jehen Eonnten, 
nicht fehlen. Detje eilte mit feiner Schute an den Rand des Grabes, gudte 
hinunter und ſchüttelte leife den Kopf. 

Der Paſtor erhob feine Stimme und hielt eine ergreifende Predigt über 
das Wort: „Der Menſch tft wie eine Blume auf dem elde; wenn ber Wind 
darüber gebt, jo ift fie nimmer ba und ihre Stätte kennet fie nicht mehr.“ 

Und dann fams, was Detje ſchon vorausgejehen, aber leider — um ben 
neuen Friedhof nicht zu gefährden — für fich behalten ober als nicht „der Rede 
werth“ bezeichnet hatte: jähe Waſſerſpritzer fchoflen aus dem Grabe empor, als 
die Träger den Sarg in dem weißen Laken binunterließen, und ınan hörte ein 
klatſchendes und ſchöͤlendes Geräuſch. Das Waller, das fi in dem Grabe an- 
gefammelt hatte, war Über dem Sarge zufammengefchlagen. Die Träger ftodten 
eine Weile, fahen einander aus fahlen Geſichtern an, zogen die Stride unwill- 
fürlich wieder an und mußten den Sarg dod ganz hinunterlaffen, fo daß er 
im Waſſer völlig verfhwand. Ein Graufen ging durch alle Reihen. Die Frauen 
und Mädchen unter den Angehörigen des Toten verhüllten ihre Gefichter, wandten 
fid ab und weinten laut. Der Amtshauptmann, der nun an den Brabesrand 
trat, zog eine finftere Miene, jprach leife mit dem Paftor und fchüttelte energifch, 
den Kopf. Die am Nächſten Ttanden, hörten, wie er fagte: „Zu hoher Grund» 
waflerftand!” Der alte Totengräber aber hörte nur wieder Andreis Battermanns 
Stimme: „Wir wollen”... Aber nun fchüttelte und fchaufelte er nicht mehr. 
Nun nidte er; nun begriff er, warum ihm das Lied des alten Dorfphilofophen 
all die drei Tage lang nicht mehr aus dem Sinn fommen wollte. Faſt hätte 
erö dem ftolzen Hornhart laut und triumphirend ind Geficht gerufen: 

„Wir wollen den Adam nochmal ſchmieren 
Und die Kunft noch einmal probiren!” 

Die heillen und für alle Seiten jehr aufregenden Verhandlungen, die 
dem unvorjichtigen Begräbniß folgten, um ben Kirchhofshandel wieder rückgängig 
zu maden, follen uns bier nicht mehr aufhalten. Auch um das Loch, das Horn. 


116 Die Zukunft. 





harts Patriotismus auf einmal befommen hatte, wollen wir fchnell herumgehen. 
Dean muß einem fo großen, eigenfüchtigen Manne immerhin Einiges zu Gute 
halten, meinten die gutwilligen Petzenhäuſer und thatens au; denn fie fehen 
nach ihrer Art einmal lieber ins Gleiche als ins Ungleiche. 

Dahingegen hielt Hornhart den Pegenhäufern nichts zu SBute Eine 
Schlange voll Gift und Grift fraß an feinem Herzen, umwand unb ummidelte 
ihn, zifchte und ſtach nach Allen, die in jeine Nähe kamen. Aber was er auch 
anftellte, um feinen Vortheil und jeine „Reputation“ zu wahren: e3 half ihm 
nichts. Die Breite Koppel mußte den Leichnam wieder herausgeben und mußte 
es „von Rechtes wegen“. Der Vorbehalt war es, der vertradte Vorbehalt, der 
den Großkotner „unterfriegte”. Hornhart, bis ind innerfte Marl verwundet, 
ging Tage lang nicht mehr von feinem Hofe. Er brütete Rache. Ja, Hätte 
man noch den Toten wieder auf den alten Kirchhof bringen wollen! Aber nicht! 
Nein, wie es in der erlafienen Verfügung von oben herunter ganz kurz und 
knurrig hieß: unverzüglich fei ein beſſerer Plab auf grundwaflerfretem Boden 
zu ſuchen. Sa, darin fah er nun noch die Hauptlränfung. Als ob es in der 
ganzen pegenhäufer Gemarkung einen befferen Pla gäbe! Einen befleren Blag!! 

Wie Hatte doch Undreas Battermann gelungen? Hornhart, Du Tannteft 
ja das Lied fo gut! Paßte e8 nicht auch auf die jetzige Qage, ba man die Kunſt, 
einen neuen Kirchhof zu finden, nochmal probiren mußte? 

Ohnmächtig mußte er zufehen. Seine eigene Stimme, mit der er fi 
jo energifch für den neuen Kirchhof entichieden Hatte, band ihn, ſchmiedete ihn 
an; fie war eine That, die nicht ungelchehen gemacht werben konute, und-wären 
Hornharts Hörer noch fiebenmal fo Hart und groß gemwefen, als fie waren. 

Nah gründlicher, Tachverftändiger Bodenunterfuhung wurde ber neue 
Kirchhof nun unterhalb des Dorfes angelegt, wo überall milder, burchläffiger 
Untergrund war. „Wir wollen die Kunſt noch einmal probiren“, fagte der alte 
Detje, ald er die Schute wieder zur Hand nahm; denn e3 galt jeßt, bie Leiche 
aus Hornhart8 Ader wieber auszugraben und als erite auf dem neuften Fried⸗ 
bof zu beitatten; womit dann zugleich die Einweihung verbunden werben follte. 

Der feierliche Tag rücte heran. Und das erite Grab wurbe gegraben. 

Dan ſah nah dem Wafler, fand aber feine Spur. Das Grab war fpröd und 
troden wie eine Feldfurche am hellen Sommertag. Als man am anderen Dlorgen 
aber wieder an das Grab kam, war es faft bis an den Rand voll lauteren 
Waſſers. Der Kirhenvorftand entjegte ſich und beichloß fofort die Aufſchiebung 
ber Feier. Doch Hatte fih das Grab noch lange vor Mittag wieder völlig ge- 
leert, und als der Abend kam, war es wieder rauh und troden wie eine Feld⸗ 
furche unter der Sonne. Die Leute fchüttelten die Köpfe, und da es nicht geregnet 
hatte, konnte fi Niemand, am Ullerwenigften der Totengräber, erflären, wı 
das Wafler gefommen fei. Man wartete auf den Morgen; und fiehe: als ı. 
im Näherkommen einen Stein ins Grab warf, fprigte das Wafler hoch em) 
Man rief Sachverſtändige herbei; fie gruben und forjchten den ganzen T 
zerbrachen fich die Köpfe, riethen bin und ber, konnten aber feine Urjade fin. 
und meinten am Ende, da müſſe der Teufel feine Hand im Spiel haben. 

Was die Sahverftändigen im Scherz geäußert, ging bald als grauje, 
voller Glaube dur Hof und Haus und der Schauder wurde noch größer, ” 


Der neue Kirchhof. 117 


der Nachtwächter, der zufällig einmal um Mitternacht erwacht war und nad) dem 
neuen Friedhof ansgelugt Hatte, mit allen heiligen Verſicherungen erzählte, er 
babe einen Mann Über den Kirchhof hinwegſchreiten jehen, der fei fo groß ge- 
weien wie ein Pappelbaum und fo breit und ſchwarz wie ein Schornftein und 
babe Schritte gemacht, wie wenn zwei große Pappelbäume im Sreuz überein⸗ 
andergelegt würden. Biele lachten, benn fie wußten, daß ihr Nachtwächter nichts 
wußte, wenn er nichts geträumt hatte. Uber Deije nidte, und ald er am 
. nädften Morgen früh näher zufab, fand er ganz friiche und ganz eigenthüm- 
liche Yubipuren, die hin zum Grabe führten und wieder ber und fo ungewöhn: 
lich groß und breit, fo ſeltſam boppelfüßig erfchienen, daß fie unmöglich auf 
einen gewöhnlichen Menſchenfuß zurüdzuführen waren. 

Den ganzen Tag dauerte das Laufen der Neugierigen nad) dem Grabe. 
Nur Hornhart fehien gegen ſolche Neugterde gefeit zu jein; doch fpähte er gar 
oft aus dem Eulenlocd feines Haufes nad dem neuen Kirchhof hinaus, grimmig 
und böhnifch lachend, wenn er die ab- und zugehenden Menjchengruppen ſah. 

Es fiel kein Lit vom Himmel; und ſchon kam der Kirchenvorſtand zu⸗ 
fanımen, um auch biefen zweiten Kauf wieder rüdgängig zu machen... Es fiel 
Tein Licht vom Himmel; aber es ſchoß empor aus der Tiefe der Hölle. 

Am achten Dlorgen ward, nachdem man bad Grab gegraben Hatte, als 
plöglih ein vielftimmiges, furdtbares Geſchrei ind Dorf bineingellte. Zwei 
Fuüße, zwei ganz gewöhnliche Menſchenfüße, die in breitfohligen, biden Stiefeln 
ftafen, vagten aus dem Grab und eine Mütze lag am Grabesrande! Barm- 
berziger Heiland! Es währte lange, bis man fi überwand und ben Leichnam 
beraudzog. Er war fteif und ftrad und bie eine Hand hielt das Tragholz um⸗ 
klammert, das zwiichen den beiden großen Eicheneimern auf dem Grabesboden 
lag... „Horndart! Hornhart!” ſchrien Alle; und wie beſeſſen rannten die Meiſten 
som Kirchhof hinweg. 

a, nun war das Näthjel gelöft, nun fand fih aud, wie man Alles 
durch das Vergrößerungsglas der aufgeregten Phantafie geiehen Hatte. Aber 
daß Hornhart eigens das Waller in das Grab bineingetragen habe, um ſich 
darin zu ertränfen, konnte man doch nicht gut annehmen. Ohne Zweifel Hatte 
er, um fi zu rächen und bie neue Kirchhofsanlage zu hintertreiben, das Wafler 
über Nacht in das Grab hineingetragen. Dabei war er ausgeglitten, Topfüber 
ins Grab geitürzt und Hatte fih das Genick gebroden. 

Biele unter den Alten wollten fich freilich mit dieſer natürlichen Erflä- 
zung nicht begnügen. Die Einen meinten, ber Teufel habe ihn binabgeftoßen und 
ihm dabei den „Hals umgedreht”; Andere wieder und darunter Detje, der Toten. 
gräber, dachten fich8 jo, daß die Toten, die fo oft aus ihrer Ruhe geftört wurden 
und jo lange vergeblich auf den neuen Kirchhof warten mußten, an Hornhart 
Rache genommen und ihn mitternacht3 zwiſchen Zwölf und Eins mit bürrer 
Hand binabgeftößen hätten. Im Reich der Toten gelte eben Andreas Batter- 
manns Philojophie nicht mehr, erflärte Detje, der Totengräber, der immer nod) 
nicht von dem Sprüdlein loskommen konnte. 


& 


Heinrih Sohnrey. 


118 Die Zukunft. 


Ein Sanderziehungheim. 
Gemeinfame Erziehung von Knaben und Mädchen. Programm bei 
Landerziehfungheims Laubegaſt. Berlin, Gerdes & Hödel. 


Ich übergebe der Deffentlichkeit den Plan einer Schulgründung, die im 
diejem Herbft in Angriff genommen werden fol. Denn die frage der gemein 
famen Erziehung ift in der Theorie wenigitens |pruchreif geworden. An einer 
ernsthaften Verwirklichung der Idee fehlt es aber in Deutfchland. Andere länder 
find uns längſt in der Ausgeftaltung diejes Gedankens voraufgegangen. Ich 
babe nach Profeffor Rein die Zahlen angeführt. Hier genügen zwei Zahlen: 
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika folgten im jahre 1895 in dem 
größeren Städten 93 Prozent der Öffentlihen Schulen diefem Syitem; in Nor- 
wegen ift durch das Schulgeſetz von 1896 die gemeinfame Erziehung für Staat 
faulen eingeführt worden. Was über die pädagogiichen Erfolge berichtet wird, 
ift geeignet, unjere Hoffnung zu ftärten. Der nächſte Zweck — und barum auch 
der nädjfte Angriffspuntt — ift die Möglichkeit gleicher Bildung für Frauen 
und Männer. Wenn wir den Streit mit Vertretern einer verblichenen Welt» 
anſchauung ablehnen, jo werden alle möglichen Einwände paralyfirt, jobald man 
den Begriff „Bildung“ in der Allgemeinheit faßt, die ihm gebührt. Die Aufe 
gabe der Schule iſt nicht die Vorbildung für beitimmte Berufsarten. Diefe 
elende Auffafjung bat allerdings die rauen von ber Theilnahme an jeder höheren 
Bildung ausgeſchloſſen; fie bat aber auch unfer gefammtes Bildungwefen in 
ungejunde Bahnen gebracht. Denn fie mußte mit der Differenzirung der Lebens⸗ 
verhältniſſe zu der Unterjchiedlichkeit der ‚„‚Bilbungideale‘' führen, über der die 
Einheitlichkeit unſerer Weltanjhauung verloren zu gehen droht. Da ſchon bie 
Lebensintereſſen unjer Volk bedauerlicher Weife in Gruppen theilen, die einander 
nicht mehr verftehen: wo foll e8 dann noch einen gemeinfanen Boden geben, 
wenn nicht die Bildung ihn ſchafft? Wohl machen fi) Bedenken geltend, die 
fih auf phyſiologiſche und piychologiiche Verſchiedenheit der Geſchlechter berufen. 
Die Sonderart zu leugnen, ift eine Thorheit; fie aus der Welt ſchaffen zu wollen, 
ein nutzloſes und verberbliches Unterfangen. Denn in der Differenzirung bat 
das Leben den Reichthum an Motiven zu feiner Fortentwickelung. Wir müflen 
diefe Sonderart verftehen und mit ihr rechnen; alle Einrichtungen (kleine Klafſſen, 
Bufammenarbeit männlicher und weiblicher Lehrkräfte, jede möglicde Verbindung 
von Schule und Leben) müllen von dieſer Nüdjicht geleitet fein. Aber unter 
diefem beilfamen Zwang erhält der Unterricht Fülle und Leben. Doc unjere 
Hoffnungen gehen weiter. Die Erfahrung lehrt, daß jedes Geſchlecht, für fi 
allein erzogen, die Eigenthämlichkeiten feiner Geiſtes- und Gemütbsanlagen 
potenzirt, oft über die Grenze hinaus, die gegenjeitiges Verftehen noch möglich 
macht. Und wenige Beijpiele genügen, um zu zeigen, daß durd dauernde Be 
rührung und Wechſelwirkung auf beiden Seiten Tugenden geftärkt, Härten ges 
mildert, Schwächen zurüdgebrängt werden. Wenn nun im Leben überall Männer 
und rauen neben einander jtehen müjlen: warum foll dieſe Wechſelwirkung 
erſt beginnen, wo die abgejchloffene Entwidelung eine Beeinflufjung erfchwert, 
vielleicht unmöglich madt? Wir brauchen für eine neue Zeit auch ein Neues 
in den Verhältniß von Mann und Weib: den Begriff echter, freier Kamerad⸗ 











Ein Landerziehungheim. 114 


haft auf der Grundlage gegenjeitigen Verftändnifled und gegenjeitiger Achtung. 
Aber dazu genügt gemeinfamer Schulbefuh nicht: dazu gehört das gemeinfame 
Ssugenbleben, das fo gefund und fo frei geftaltet jein muß, daß e8 jede Ein- 
wirkung gejtattet und jede Entwidelung ermöglidt. Und nun kommt das andere 
ichwerwiegende Bedenken: die fittliche Gefährdung. Allen Vorurtheilen und aller 
Unfenntniß gegenüber ſage ih: Geſunde und natürliche Lebensweiſe, Zuſammen⸗ 
fein in einem frohen reinen Kreis mit Erwachſenen, befonnene Yührung und un- 
merkliche Aufjicht, Urbeit, die den Körper müde macht und den Geift von unnügen 
Phantafien ablenkt, die Achtung, die in dem anderen Geſchlecht Unberes jehen 
läßt als das Mittel zum Sinnenreiz, und die natlirlicde Scheu, die dem Verkehr 
die Grenzen zieht —: Das find .die Mittel, die Schambaftigkeit ftärker und ge- 
fünder zu erhalten als alle Abjperrung, die doch ein Unding und eine Unmög- 
lichkeit ift. Die Engländer haben in ber gemeinjamen Erziehung auf Grund 
Jahk langer Erfahrungen das befte, vielleicht das einzige Mittel zur Bekämpfung 
der moral insanity erfannt. 

Was die gemeinfame Erziehung vorausjegt und fordert, find Verhältniſſe 
in der Zufammenarbeit von Schule und Haus, die wir heute nicht haben. Soll 
aljo der Gedanke verwirklicht werden, fo muß er fich jelbft die Verhältniſſe ſchaffen. 
Er kann es durch eine Erziehunganftalt, die Leben und Unterricht als geſchloſſene 
Harmonie fo organifirt, wie dieſe Idee am Fruchtbarſten wirken kann. Diele 
Möglichkeit ift gegeben in einem Landerziehungheim. Seit 1898 giebt es Land⸗ 
erziehungheime auf deutidem Boden Name und Organtijation ftammt vom 
Dr. Hermann Ließ. Er wollte einen „Schulſtaat“ jchaffen, wo das Leben nad) 
dem Grundſatz der Einfachheit, Gejundheit und Natürlichkeit geordnet fein, der 
Unterridt ein Theil des Lebens werben, das Leben und der vertraute Umgang 
mit den Lehrern, die Meiſter und Führer find, erziehen jollte. Beröffentlihungen 
aus diefem Heim haben bie Kunde von der Ausgeſtaltung dieſes Lebens in weite 
Sreije verbreitet. Die Idee des Landerziehungheimes ift heute anerkannt als 
ein Weg zur Gejundung unjeres Unterrichtö- und Erziehungweſens. In der Uus- 
geftaltung diefer Idee ift für uns der Weg gegeben, Das zu erreichen, was wir 
dem jungen Geſchlecht, aus der Erkenntniß unferer Mängel heraus, wünfchen: 
ein veicheres und edleres Verhältniß der Geſchlechter, das in dem Gefühl echter, 
‚ freier Kameradichaft, in gegenfeitigem Verftehen und Achten mwurzelt, und beiden 
Kraft und Geſundheit, Leibliche und geiftige Friſche, feiten Willen, Freiheit des 
Gedankens und der That, Muth und Freude zum Leben. 

Ich babe in einem Abfchnitt meiner Brodure „Unfer Heim und unjer 
Leben‘ geichildert; ih Tann natürlich bier die Einzelheiten nicht bringen. Das 
Grundſätzliche kann ein lebendiges Bild nicht geben. Zunächſt mußte ich den 
Gedanken des „Schulſtaates“ für uns ablehnen, obwohl das Landerziehungheim 
immer als ein „Eleiner Wirthichaftitaat‘ charakteriſirt wird. Gedanken Tyichtes 
gaben die Anregung dazu, Gedanken, die werthvoll fein mögen, für uns aber 
unfrudtbar find. Denn die gemeinfame Erziehung bat ihr natürliches Vorbild, 
an das fie in ihrer Ausgeftaltung fih anlehnen muß, nicht im Staat, jondern 
in der Familie. Ein Heim fol geichaffen werden. Dieſen Heimcharafter zu 
wahren und zu pflegen, tft unfere Aufgabe. Daraus ergiebt fich eine Zahlbe- 
ſchränkung, die eine große Ausdehnung des Wirthichaftbetriebes weder ermöglicht 


9 


120 Tie Zukunft. 


noch erfordert (der Schulftaat Haubinda mit feinen ungefähr 1400 Morgen hat in 
ſechs Klaſſen etwa 120 Schüler), und dazu gehört das Zuſammenwirken von Män- 
nern und Frauen an bem Werk ber Erziehung. Zu einem gefunden und natur 
gemäßen, freien und tüchtigen Leben fol die Knaben und Mädchen ein Heim auf 
dem Lande vereinen. Einfache ländliche Verhältniffe erhalten ben Geiſt Des 
Kindes frifch und aufnahmefähig. Der geiftigen Arbeit hält Törperliche bie Wage, 
da die Böglinge an der Arbeit, die bie ländliche Haushaltung erforbert, im 
Garten, in der Werkftätte, theilnehmen. Um fo mehr fühlen fie fi dann als 
Glieder zu einer lebendigen Gemeinſchaft verbunden, zu der auch Lehrer und 
Lehrerinnen mit ihrer ganzen Perjönlichleit gehören. Der Körper wird geübt 
und geftählt durh Turnen, Spiel, Lauf, Wandern u. f. w. Uebrigens Hat 
Dr. Lahmannn (Weißer Hirſch) es freundlich übernommen, in allen ärztlicdden 
und hygieniſchen Dingen uns fachmänniſch zu berathen und zu helfen. Das 
Zutrauen zu der Lörperliden QTüchtigkeit erzieht im Kinde gefundes Seldſtver⸗ 
trauen. Größere Reifen in die Ferne und Fremde erweitern ben Blid und 
belfen dem Unterricht, der überhaupt ſtets mit dem Leben in engem Zufammen- 
Hang bleibt, aus ihm jchöpft und es wieder durchdringt. 

Ein dritter Abſchnitt beipricht „‚Bildung und Schulplan.“ Yud hier 
nur einige Grundſätze. Die leitende Erfenntniß ift die, daß die Bildung, im 
der fich alle Gebtldeten eines Volkes zufammenfinden follen, das Ergebniß ber 
nationalen geiftigen Kultur fein muß. Alle ſprachliche Schulung, logiſche und 
äfthetifche, wird an unferer Dtutterfprache erworben. Wir ftellen die Ziele der 
ſprachlichen Bildung hoch, denn fie ift das weſentlichſte Stüd aller Bildung. 
"Wir lernen denken durch bie Sprade. Die fremde Sprade ift Bildungzweig, 
nicht Bildungträger. Mit diefer Anerkenntniß fchaffen wir uns die Möglichkeit, 
neben ber für Alle gleichen Allgemeinbildung jede Zufammenjtellung der zu 
erlernenden Fremdſprachen der Wahl frei zu lafien. Damit wird aber biefer Unter 
richt auch fo entlaftet, daß er weniger Zeit und Arbeit beanfprucht. Wir orönen 
den Lehrplan fo, daß wir unferen Schülern die Möglichkeit geben, nad neun- 
jährigem Beſuch der Anftalt die Maturitätpräfung entweder an einem Gymnafium 
oder einer Dberrealjchule zu beftehen. Ueber die Bedeutung der einzelnen Wiflens- 
fächer, über Umfang und Gang des Unterrichtes babe ich in meiner Brochure ge= 
ſprochen. Belonders ausführlich Über den deutfchen Unterricht, der, wie nicht erft 
beiwiejen zu werben braudt, das Fundament jein muß. Hier will id nur nod 
andeuten, daß auch der Kunjt und Literatur bei uns mehr Raum und Beit ge 
währt werden fol, als es gewöhnlich in den Schulen geichieht. 

Wir find uns ſehr wohl bewußt, daß wir Schwierigkeiten zu erwarten 
haben, die in Berhältnilfen und Borurtheilen liegen, aber auch foldhe, bie das 
Problem uns bietet. Und wir find uns der vollen Verantwortlichkeit bewußt. 
Können wir Halten, was wir verjprecdhen, jo Haben wir das Unjere gethan, einer 
Idee zum Siege zu verhelfen. Beitigen wir die erhofften Nefultate nicht, fo 
würde vielleicht für lange Zeit das Syftem als untauglich bingeftellt werden. 
Wir jehen ohne leichtfertige Illuſionen in die Zufunft, aber do mit dem Muth 
und mit dem Glauben, der Alles wagt im Vertrauen auf die gute Sadıe. 


Hermann Hoffmann. 





Nationales Petrolaum. 121 


Nationales Detroleum. 


hre der Stadt Köslin! Dort, gan, nah am Strande der Oftfee, haben ſich 

ſechsundzwanzig gut beutihe Männer, die in Theer und Delen handeln, 
zuſammengethan, um einen Rütliſchwur gegen ben fremden Tyrannen zu leiſten, 
der in feiner Yankeeheimath Kohn Rockefeller genannt wird, in die Lande Her- 
manns des Cherusfers aber unter der firma der Deutſch Amerikaniſchen Petro⸗ 
leumgeſellſchaft fih eingeichlichen Hat und von Bremen aus allen Teutonen den 
Fuß auf den Naden fegt. Ein unaufhaltfam feinender Siegeslauf trug die 
Fahnen des rodefelleriichen Erböltrufts über Deutichland; die That von Kdslin 
bat ihn gehemmt. Pie war noch einem beutfchen Induſtriezweig gelungen, was 
dem Standard Oil Trust in einem kurzen Jahrzehnt gelang: er vermochte fein 
Neg To feit Über alle Städte und Dörfer des Reiches zu fpannen, dab kaum 
ein Händler blieb, der fein Petroleum nicht vom Truſt bezog, fo Klein auch der 
Nuten war, den ihm der Truft lieh. Da famen die Sechsundzwanzig von 
Köslin. In feierlicher Berfammlung beichloffen fie, Mr. Rodefeller, all feinen 
Hunbertmillionen zum Trotz, ben Gehorfam zu kündigen, feinen Schergen Teine 
Waare mehr abzunehmen, wieder freie Männer zu fein wie einft und lieber das 
Leben zu opfern, al8 in das Joch des fremden Eroberers zurüdzufehren. Den 
Eiden der Geſchäftsleute giebt erjt die Feſtſetzung hoher Strafen die rechte Weihe; 
dern nur noch in Geldjachen hört die Gemüthlichkeit auf. Auf folche Weile ward 
alfo auch der Eid befräftigt, ben die fehsundzwanzig Kösliner ſchworen. Bald 
nad) dem Rütliſchwur fam ein Sendling von Rodefeller herbei, der den Tapferen 
drobte, er wolle neue Gejchäfte aus dem Boden ftampfen, die ihnen in Oelen 
und Theer, in Seife und Wachs, furz, in Allem, was ihren Erwerb ausmadt, 
einen mörberiihen Konfurrenzlampf bereiten würden, falld fie nicht vorzögen, 
fih bei Zeiten dem Truſt Löblich zu unterwerfen. Nun darf man gejpannt fein. 
Ganz Köslin hat an bie zwanzigtaufend Seelen. Uber wadere. Auf dem 
nahen Gollenberg fteht ein Denkmal für die Pommern, die im Kampf gegen ben 
Unterbrüder von 1813 und 1815 fielen. Nodefellers ftarfe Hand lajtet auf den 
Sehsundzwanzig, die in Theer und Delen handeln, mindeftens fo fchwer, wie 
auf ihren Vätern die Hand Napoleons gelaftet hat. Lieb Vaterland, magft 
ruhig fein! Köslin bat die Waffen aufgenommen. Und wenn von den Sechs⸗ 
undzwanzig auch fein Einziger ben Sieg erringt: ein Denkmal wird dbereinft 
verfünden, daß der Beift der Alten aud in den Jungen lebendig war, als es 
galt, dem Rodefeller den Herrn zu zeigen. 

Vielleicht aber blüht ihnen doch ein Erfolg. Denn fchneller, als man 
ahnen Fonnte, ift ihre Saat aufgegangen. Schon weht ein friiher Hauch durchs 
Land. Der Unwille gegen den fremden Petroleumkönig fteigt, die Begeifterung 
für eine nationale Petroleum-Dynaftie wächſt. Nur die Hymne fehlt nod. Wird 
fie gefunden: dann ift der Brand nicht mehr zu Löfchen. Da haben im pſycho— 
logiſchen Augenblid nun wieder die großen Banken eingegriffen. Ihrer Weis- 
beit ift zu banken, daß bie Bewegung, bie ftürmifch zu werben drohte, in ruhige 
Bahnen gelenkt, die Neigung zur Ueberjchwänglichkeit ficher eingebämmt murde. 
Nur ihrer Weisheit natürlih. Jede andere Rüdficht als die auf ben nationalen 
Wohlſtand bleibt ihren Entſchlüſſen fern. Ueble Nachrede hat zwar behauptet, 


9* 


122 Die Zuhmft. 


eins ber deutſchen Finanzinſtitute, die fich jeßt zur Befreiung Deutſchlands vom 
Diktator Nodefeller räften, fei mit dem Freoler Hand in Hand gegangen, als 
vor einigen Jahren, unter den Minifterium Carp, der erfte Verſuch gemadt 
wurde, die rumäniſchen Betroleumfelber in großem Stil zur internationalen 
Berforgung beranzuziehen. Aber ben Belten wird oft das Schlechteſte nad > 
gefagt; und jedenfalls ift die beredete Bank inzwilchen ihrer nationalen Pflicht 
fi bewußt geworden. Ober wagt Jemand, zu zweifeln, daß bie deutſche Aktion, 
die in Rumänien unternommen wird, rein fittlidem, rein nationalem Drange 
entipringt? Nein; ſo ruchlos ift Niemand. Die Disfontogefellfcgaft insbeſondere 
bat nie eine Gelegenheit verfäumt, die ihr den Beweis geftattete, daß fie das 
ethiſche Moment über alle anderen ftellt und in erfter LZinte der Nation, dann 
erft den Untbeilbefigern dienen will. Ober? Nie .. Das ift vielleidt ein 
Bishen zu viel geſagt. Juſt kommt mir Benezuela in den Sinn. Da, 
Eönnte Mancher meinen, hat die Disfontogefellichaft das Reich mehr in Anſpruch 
genommen als ihm gedient; und das eigenfinnige Gedächtniß, das gerade dann 
wach wird, wenn mans am Liebften verlieren möchte, wählt in Erinnerungen 
an die Dortmunder Union mit ihrer chroniſchen Sanitis. Was kann ich ba- 
für? Der Abſchluß der Union fürs vorige Jahr ift foeben herausgekommen 
und ruft ſolche Gedanken aus tiefem Schlummer. Recht jchön, daß man bies« 
mal doch wieder einen Gewinn erlebt, der die Million weit überjteigt; wer mag 
da bendrgeln, daß man, um diefen Gewinn zu erzielen, 1800000 Marf den 
Nüdftellungen entnehmen mußte? Freilich: von der Bitterniß früherer Jahre 
miſcht fi noh immer Etwas in die Betradtung, wenn die Rede auf Dort- 
munder fommt. Oder Quther-Majchinen. Auch fo eine widrige Ausnahure, bie 
doch nur die Regel bejtätigt. Dieſes Unternehmen, deſſen Aktien vor wenigen 
Jahren mit einem Aufgeld von 75 Prozent emittirt wurden, hat nad ben glängenden 
Dividenden von 10 bis 12 Prozent, bie der Emiffion vorangingen, nichts mehr 
vertheilt und ift nun glüdlid auf dem Punkt ‚angelangt, wo die Dortmunder 
Union ſchon drei⸗, vier- oder fünfmal — ich möchte die Zahl vergejfen — vor 
den Leidtragenden ftand. Ein Standal bat den an und für fih ſchon unange 
nehmen Fall noch bejonbers fihtbar gemadt. Kurz vor dem Jahresabſchluß, 
im Juni, Hat die Berwaltung die Lage bes Unternehmens in einem Lichte dar- 
geftellt, deffen rofige Strahlen den jchroffiten Gegenjaß zu dem Fiasko ſchufen, 
das ber jeßt erſchienene Schlußbericht mit feinen erfchredenden Ziffern bekennen 
muß. ntgleifungen, nichts als Entgleifungen, die einer Bank mit fo tiefem 
Gefühl für das Gemeinwohl leicht zuftoßen können, wenn fie fi einmal ge 
zwungen fiebt, eine Ungelegenheit ausichliegli unter dem leidigen Geſichtspunkte 
des Geſchäftes, nur des Geſchäftes zu beurtheilen. Doch Brutus ift ein ehren« 
werther Mann; und wenn die Disfontogefellihaft jeßt daran geht, das deutſche 
Publikum nad langen Jahren einer argentinierlofen Zeit mit einem von eng⸗ 
liſchen Herifchaften abgelegten Anleihereft argentiniſcher Eiſenbahn Schuldver⸗ 
ſchreibungen zu beglücken und zur ſelben Zeit rumäniſche Petroleumquellen zu 
erploitiren, die in majorem Germaniao gloriam helfen ſollen, Deutſchland vom 
Nockefeller zu befreien, fo thut fie Das im Hochgefühl ihrer Milfion. Die Sucht 
nach Dividende ift bei diefem älteften berliner Privatinſtitut chen nie fo ftarf 
wie das Bewußtjein der gegen das Vaterland zu erfüllenden Pflicht. 





Nationntes Petroleum. 123 _ 


Und bie Pflicht, dem deutſchen Baterland nationales Petroleum zu fchaffen, 
muß endlich erfüllt werden. Der Standard Dil Truft, von deffen Altien fünf 
Sechstel John Modefeller gehören, droht, der mit Recht fo beliebten Kultur⸗ 
menſchheit den Hals zuzuſchnüren. Bor Kurzem erft hat er wieder ben Petroleum 
preis gejteigert und uns einen Vorgeſchmack davon gegeben, was er ſich erlauben 
würde, wenn feiner Herrſchaft die legten Schranten genommen, der Beſtand 
auf immer gefidert wäre. Die Schranken errichtete ihm die Konkurrenz der 
Länder, die, außer Amerika, Erböl in folden Maflen erzeugen, daß der Truft 
mit ihnen rechnen muß. Mit Rußland, dem größten feiner Konkurrenten, hat 
er fih abgefunden. Defterreih und Rumänien find erft viel fpäter auf feine 
Lifte gelommen. Nun aber ftebt er mitten im Kampf gegen fie. Das Kampf: 
objeft umfaßt Produktion und Konſum. Es handelt fih um die Behauptung 
der lokalen Vorherrſchaft ala Abgeber in Deutichland und ber Weltvorherrichaft 
al8 Erzeuger. Deutichland bat im Jahr 1902 für mehr als 71'/, Millionen 
Mark amerikanifches, für faum 12 Millionen Mark Petroleum aus anderen 
Ländern bezogen. Auf folches Webergewicht verzichtet ein Mächtiger wie Mode 
feller nicht leichten Herzens; und die Thatſache, daß feit 1899 eine beftändige, 
wenn auch abjolut noch unbedeutende Zunahme der Betroleumeinfuhr aus anderen 
Ländern auf often der amerikaniſchen zu verzeichnen ift, muß ihm zu denken 
wie zu fürchten geben. Um fo mehr zu fürchten, als in biefen anderen Staaten 
die Petroleumfelder erft in den Anfängen ihrer Entwidelung ftehen, während 
bie amerifanijchen immer beutlichere Spuren ber Erſchöpfung zeigen. Die Tages- 
erzeugung des Truſts bleibt gegen den Bedarf ſchon um Tauſende von Fäſſern 
zurüd. Seine in den öftlichen Häfen Umerikas angefammelten Borräthe find 
innerhalb der le&ten zehn Jahre von 40 auf 5 Millionen, die dev weftlichen 
Plätze von 24 auf 16 Millionen Faß zufammengefchrumpft. Das ift faum 
genug, um ben fteigenden Bedarf die nächiten zwei Jahre lang zu verlorgen. 
Hieraus erwuchs die zweite, noch ſchwerere Sorge Nodefellers, die nämlid, daß 
einft ein Tag anbrechen könnte, wo er oder fein Werk, dem er Über feinen Tod 
hinaus verknüpft ift, in die zweite Reihe zu rüden hätten. Deshalb der heiße 
Streit um die Erdölquellen in Rumänien und Oeſterreich, beren Befiß dem 
Sieger zwei Kronen brädte: die Souverainetät im deutſchen und im Weltge— 
ſchäft nebſt unumfchränfter Willkür in der Preisbeſtimmung. Was wir dann 
erleben würden, tjt an den Erfahrungen zu meſſen, bie mit amerifanifchen Robjtoff- 
Corners, zulegt noch mit dem in Baummolle, gemadt worden find. 

Deutihe Handelsfammern, die berufenen Organe der nationalen Kauf« 
mannſchaft, waren unermüblich in der Belämpfung des Trufts; aber fie fämpften 
mit Worten. Deutjche Minifter verichiedener Bundesftaaten haben den Kampfes- 
eifer gebilligt; aber Tankanlage um Tankanlage ift dem Truſt, ber in diejen 
toftipieligen, von feinem Zweiten fo leicht zu beftreitenden, ben Abſatz wejent: 
lich jördernden Röhrenleitungen mit Recht eins feiner wichtigiten Kriegswerk⸗ 
zeuge fieht, auf deutichem Boden bewilligt worden. Erft die Banken mußten 
fommen, die Deutihe Bank, die Distontogefellihaft und das Haus Bleichröder, 
um das erlöjende Wort in die erlöjende That zu Überfegen. Die Diekontos 
geiellichaft erwarb im Bunde mit Bleichröber „als Kleinen Anfang” einen Theil 
der rumäniſchen Xelega» Erdölgefelichaft, die Deutſche Bank einen Theil der 


„nn -P____- I 


124 Die Zuiunft. 


Erbölgefelfhaft vom Rumäniſchen Stern. Bon ber hohen PBatronanz, bie ben 
beiden — in England naturalifirtten — Unternehmungen nad mandjerlei Fähr⸗ 
niffen zu Theil wurde, hat man ihnen an der Wiege nichts gelungen; feit ihnen 
aber deutliche Großbanken ihre Gunft zumandten, wurden fie natürlich bewunbert 
und umbublt. Den Antheil am Rumänifchen Stern erwirbt bie Deutihe Bank 
fozufagen im Ausverkauf. Nach berühmten Muftern.: Direktor Derndurg von 
der Darmftädter Bank könnte einen höchſt belehrenden Vortrag über da$ Thema 
balten, wie folde Ausverlaufswertfe manchmal nur in gute Gejellihaft zu 
tommen brauden, um raſch im Werth zu fteigen. Zum Beilpiel: Oypotbefen- 
forderungen, die man im Ramſch von einer verfradhten Pfandbriefbant über- 
nimmt, über die man — vor der Lebernahme — nicht abfällig genug urtheilen 
tonnte. Während die Disfontogefellichaft fih anfdhidt, ihrem „Leinen Anfang” 
im rumänifchen Petroleumgejhäft eine bebeutfame Fortſetzung zu geben, bat Die 
Deutfche Bank ihre Hand kühn au ſchon nad) Defterreich ausgeftredt, um ſich 
in einer der größten Betroleumgejellfhaften der verbündeten Monarchie, der 
Schodnika, feitzufegen. Schodnika! Welche Flüche Hefteten ſich an biefen Namen, 
als die Gejellichaft nach glänzenden Anfängen einen ähnlichen Weg ging wie 
Luther Majchinen und zugleih mit den fchönen Dividenden die ſchönen Kurſe 
auf Nimmerwiederjehen Shwanden! Auch diefem Sünbenfall fol nun im Himmel 
der Deutfchen Bank eine Yäuterung folgen. Süd auf den Weg! Kein Bedenken 
und feine Erinnerung darf den Verſuch hemmen, eine deutſch notionale Betro- 
leuminbuftrie zu fchaffen, die das Land von der Fremdherrſchaft befreien joll. 
Dem Yankee wird nur nad Gebühr heimgezahlt, wenn jeßt Rumänien und Oeiter- 
reich jeinen Werbungen ſich widerjegen und vorziehen, das idealen Negungen 
entftammenbe Angebot des deutichen Kapitals anzunehmen, ftatt der nur von ber 
Rückſicht auf Rockefellers Tafche geleiteten Offerte des Standard Dil Truft, 
Deutfch:nationales Petroſeum! Da würde ein Traum aller Batrioten 
Wirklichkeit. Aller, mit Ausnahme, natürlih, der Hannoveraner. Mit biefen 
Hannoveranern hatte ja unfer Imperialismus ftet3 einen jchweren Stand. 
Hannover bat nämlich jelbft Petroleumfelder und neuerdings hat fi} ſogar bie 
Internationale Bohrgefellichaft zu Erkelenz, deren Name und bohe Bedeutung 
jeit den Vorverhandlungen Über das neue Kohleniyndilat allgemein bekannt ge- 
worden find, mit biefen hannoverſchen Erbölfeldern zu identifiziren begonnen. 
est erhebt Hannover den Anſpruch auf das Privileg, von fih jagen zu dürfen, 
dab es aus deutſchem Boden mit deutichem Gelde deutfches Betroleum gewinnen 
werde, um das Monopol des Standard Dil Truft zu brechen. Wer unternähme 
e3, diefen ftantsrechtlichen Konflilt zu löſen? Ich nidt. Die Hauptfade ift, 
daß die deutjchen Verbraucher, denen fpäter Petroleum von der Deutichen Bank 
oder von der Diskontogejellichaft geliefert wird, fi in ihrem Patriotenbewußt- 
fein geftärkt fühlen. Im Uebrigen fann ich faum erwarten, zu fehen, wie bie 
beiden Bantinjtitute die Preife jtellen werden. Bleiben fie dabei, vor Allem 
das ethiſche Moment zu berüdfichtigen, dann kann ih nur jagen: Sch wünſche 
den Altionären, daß mit Herrn Sorge, ben die eine der Banken als techniichen 
Fachmann angeftellt Hat, nicht auch Frau Sorge ihren Einzug halte. Wird 
aber aus dem neuen Zweig ihrer Thätigfeit mit der Zeit ein Geſchäft, dann 
wird ih am Ende noch mander vom och ber Fremdherrſchaft befreite Deutfche 
bereinft nach den Ketten zurüdjehnen, mit deren Röfung er heute beglückt werben fol. 
Dis. 


Herausgeber und verantwortlicher Medafteur: Di Sarden in Berlin. -- Verlag der Zukunft in Berlin, 











Berlin, den 24. Oktober 1905. 
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Die Kaiſerinſel. 


or elf oder zwölf Wochen empfing die Redaltion des „Vorwärts“ einen 
Brief, den der Schreiber offenbar nicht für das Centralorgan der 
fozialdemofratifchen Bartet Deutſchlands beftimmt Hatte. Ein Quartbogen; 
das erfte Blatt jo ausgeſchnitten, daß nur Kopf und Rand erhalten war. 
Der Kopf trug in gebrudten Leitern das Merkmal der Herkunft: „Mile 
tärifcher Begleiter Sr. Raiferlichen Hoheit des Kronprinzen“. Die erften zwei 
Worte waren mit Tinte ausgeftrichen und —wieesfhien, vonder felben Kanz⸗ 
liſtenhand, der auch der Brief diltirtwar — durch da8 Wort „Hofmarichalls 
amt“ erjegt. Der Brief mußte alfo aus der Zeit ftammen, wo dem Kron- 
pringen, defjen Angelegenheiten vorher ein „militärifcher Begleiter“ erledigt 
hatte, ſchon ein eigener Hofſtaat zugewiefen war. Kinder, mag von den Redak⸗ 
teuren einer gejagt haben, die Sache riecht ſtark nad) Schwindel; wenn wir 
von der Beuthſtraße nad; der Lindenſtraße überfiedeln, laſſen wir neue Brief- 
bogen druden: und ein Hofmarſchall des Kronpringen ſollte jo philifterhaft 
fnauferig fein, daß er, umein paar Darf zu fparen, den alten Bogenvorrath 
mit veränderter Kopfinfchrift aufbraucht? Unglaublih!.. Unglaublich? 
Ein Schwindler hätte das erfte Blatt nicht abgefchnitten, nicht ausdrüd- 
lich am Rand vermerkt, er wolle keine Perfon fompromittiren und habe des⸗ 
halb Unterfcprift und Adrefje unlejerlich gemacht. Das mußte Verdacht er 
regen und konnte die Redakteure, wenn ſie eineKabale witterten, auf den Einfall 
- bringen, den Brief faffimilirt zu veröffentlichen; dann wäre der Schwindler 
wahrſcheinlich entlarotworden. Und was auf dem zweiten Blattftand, Hang 
nicht fo fürchterlich, daß es ein Außerft umftändliches Verfahren rechtfer- 
tigen konnte. Dem ungenannten Adreffaten wurde „vertraulich der Vorſchlag 
10 


126 ' Die Zukunft. 


mitgeteilt, im Zuge der in Ausführung begriffenen Heerftraße von Berlin 
nad) Töberig auf ber Inſel Pıcheldwerder ein geräumiges Stadtſchloß für 
bie ganze kaiferliche Familie zu erbauen und die Inſel, nad) Erpropriation 
der bortigen Privatbefiger, für jeden nicht ganz einwandfreien Beſucher abzu- 
iperren.” Dadurch folfe „die Örtliche Sicherheit für die Perfon Seiner Maje⸗ 
ſtät“ für alle Fälle verbürgt werden. Um „die Gefahr zu beſeitigen“, daß der 
von der kaiſerlichen Familie bewohnte Wahlkreis durch einen Republikaner 
vertreten werde, wolle man aus Bichelswerder, ber Domäne Rubleben, 
dem Bezirk der jpandauer Staatswerkftätten, den Gutsbezirten Döberig 
“ und Hahneberg einen eigenen Reichſstagswahlkreis bilden, in dem nur Per⸗ 
fonen aus kaiſerlichem und königlichem Dienft wohnen dürfen: An dieſe 
Mittheilung fchloß fich der Sag: „Ihr Vorfchlag, wonach die Garder gi⸗ 
menter feine direfte Nefrutenaushebung erhalten, ſondern ihren Erfaß durch 
einwandfreie Elitemannfchaften ber Linie erhalten follen, ift wohl der Er⸗ 
wägung werth.” Warum follte diefer Brief nicht gefchrieben und abgefandt 
fein? Gewiß ift, unbeftreitbar, daß in der Hofiphäre Herren leben, denen 
die Sicherheit der faiferlichen Familie in der fozialdemofratiichen Reſidenz 
gefährdet jcheint. Eben fo gewiß, daß in diefen reifen mehr als einmal ſchon 
die Frage aufgetaucht ift, ob man in der Stunde folcher Gefährdung auf die 
den berliner Bacillen ausgefegten Gardetruppen unbedingtzählen dürfe oder 
ob ſich einanderes Rekrutirungſyſtem empfehle, das den rothen Siftftoff dem 
Gardecorps ferner halte. Wer daran zweifelt und nicht Gelegenheit hat, die 
Berechtigung des Zweifels in Privatgefprächen zu prüfen, braucht blos in 
das einft viel gelobte Bud) zu bliden, das der Geheimrath von Maſſow 
vor neun Jahren unter dem Titel „Reform oder Revolution!” erfcheinen 
ließ. Da find im erften Kapitel die folgenden Säge zu lefen: „Fünfzig⸗ 
toufend entschloffene Kämpfer in Berlin unter die Waffen zu rufen, denen 
ſich weitere fünfzigtaufend nad) dem erften Erfolg anſchließen, ift den fozials 
demofratifchen Führern ſchon heute ohne Schwierigfeit möglich; und inzehn 
Jahren wird e8 ihnen noch leichter fein, wenn die Verhältniffe nicht anders 
werden... In der Nacht, wenn die Offiziere, mit Ausnahmeter Lieutenants, 
die in der Kaferne wohnen, in ihren Stadtquartieren find, wird der Aufruhr 
plöglich gegen die Kafernen anftürmen umd dabei mit Tynamit arbeiten... 
Tie Orfiziere, die in die Kafernen eilen, wird man durch aufgeftellte Poften 
rechtzeitig abfangen, fie einzeln mit Uebermacht angreifen und töten. Wäh- 
rend die Truppen ihre Kafernen vertheidigen müſſen und der Polizei nicht 
zur Hılfe fommen können, führt die Polizei nur einen kurzen Kampf. 


Die Kaiferinfel. 127 


Bon einem Maffenfchnellfener empfangen, wird fie ſchnell den Play räumen 
amüflen. Ein gleicher Empfang wird ber Feuerwehr bereitet werden, wenn 
Ste herbeieilt, nachdem die Kafernen in Brand geitedt find... Auf 
dem Waſſerwege ließen ſich unter faljcher Deklaration auf Schleppzügen, 
Die ja ohne Befchwer mit zuverläfjigen Genoffen bemannt werden könnten, 
Gewehre und Diunitioninerforderlicher Dienge einfymuggeln. Und wenn bie 
jozialdemofratifche Bewegung unter der Jugend unferer arbeitenden Klaſſen 
jo weiter um ſich greift wie bisher: wer fteht uns dafür, daß in zehn Jahren 
die jungen Soldaten nicht mit den Aufrührern fraternijtren und ihnen die 
Waffen ausliefern? Beieinemgutangelegten und durchgeführten Plan würde 
es der Sozialdemokratie nicht ſchwer, ſich beim erſten Anſturm der Reichs⸗ 
hauptſtadt zu bemächtigen.“ Dann wird geſchildert, wie „faft die geſammte 
Infanterie abſorbirt“ würde, um das Schloß, das Generalſtabsgebäude, die 
RNeichsbank, das Haupttelegraphenamt und andere Verwaltungcentren zu 
ſchützen; „obder Artillerie und Kavallerie allein gelingen wür)e, din Straßen» 
Tampf fiegreich durchzuführen, ift mehr als zweifelhaft.” Das wurde vor 
zehn Jahren geſchrieben, nach einer Reichstagswahl, dieden Sozialdemokraten 
1700000 Stimmengebradht hatte. Von einem gebildeten Mann gejchrieben, 
der in dreißigjähriger Verwaltungpraris und als Organifator deutſcher Ar- 
Heiterkolonien den Volfscharakter und befonders die Wefenseigenichaften des 
Broletariers erkennen gelernt haben konnte; von einem Mahner zu kräftiger 
„ſozialer Reform”. Selbſt er wußte nicht, daß die deutſchen Marxiſten von 
Straßenaufitänden und Putſchen nichts, von der unwiderftehlichen Gewalt 
wirthichaftlicher Entwidelung Aues erwarten und jeden Verfuch, die herr» 
Ichende Macht mit Pulver und Dynamit niederzugmwingen, als eine Narren» 
poſſe verlachen, als einen Frevel am Lebensrechte des Proletariätesverpönen 
würden. Das fchien viel Größeren fogar leerer Wahn. Biemard war nicht 
aus dem Slauben zu bringen, alle graue Theorie werde an dem Tage über 
Bord geworfen werden, wo die Sozialdemokratie fich ſtark genug fühle, um 
einen Hauptjtreich wagen zu dürfen; er fah einen Straßenfampf voraus und 
feine Sorgefehrte oft zu der Frage zurüd, ob man an diefem Schidfalstag die 
Truppen feſt in der Hand haben werde. Und jetzt, da ſeit 1893 die Zahl der ſozial⸗ 
demokratiſchen Stimmen ſich faſt verdoppelt hat, nad) den Reden über die 
hochverrätheriſche Schaar und die feige Mlörderfippe, — jetzt follte ſolche 
Sorge nicht da8 Herz zweier Dugendhöflinge befchleihen? Wer überhaupt 
mit der Meöglichkeit eines Straßenaufitandes rechnet, hat auch die Pilicht, 
an die Sicherheit der königlichen Familie zu denten; hat doppelt die Prlicht, 
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128 Die Zukunft. 


wenn er zum Haufe des Kuifers gehört. Bis 1910 — und fo lange würde 
die Ausführung des Schloßbauplanes dauern — Tann die Sozialdemofratie 
auch den erften berliner Heichstagswahlfreis erobert, kann fie, nad) höfifcher 
Meinung, das Gardecorps weiter verfeucht haben. Gar nicht unglaublich 
alfo, daß zwei Getreue am Hof nach Mitteln fuchen, die unter allen Um⸗ 
jtänden die Sicherheit der Dynaftie verbürgen ; gar nicht unglaublich, daß 
fie bei der erften Erörterung des einjtweilen nur in Umriffen entworfenen 
Planes verwaltungrechtliche und fonftitutionelle Bedenken als Zwirnsfäden 
betrachten, über die mar, auf dem Wege zu einem großen Ziel, nicht ftolpern 
dürfe. Daß auf Pichelswerder der Brivatbefig nicht jo leicht zu expropriiren, 
ein neuer, abnorm Heiner Wahlkreis nicht fo Leicht zu jchaffen ift, ficht fie nicht 
an: fie ſahen nicht felten ſchlimmere Schwierigkeit jchnell überwunden. Gar 
nicht unglaublich ſchien die Sache auch den Redakteuren des „VBorwärtd", die jc 
nicht zum erften Mal ein amtliches Schriftftüd aufihrem Tisch fanden. Dieſes 
dünkte fie ein ungemein lehrreiches Symptom höfiicher Stimmung. Einer 
von ihnen ſetzte fich alfohin und machte aus dem Brief einen Heinen Artikel, 
der, unter dem Xıtel „Die Kaiſerinſel“, am jechzehnten Auguft 1903 erfchien. 
Darin wurde von, höchſt ſonderbaren Blänen“ gejprochen ‚die „in Hof⸗ 
kreiſen erörtert werden und auf eben ſo unbegründete wie düſtere Stimm⸗ 
ungen ſchließen laſſen.“ Der Stizzirung des Planes folgte leichter, nicht krän⸗ 
fender Epott über „die Hofleute”, „die Herren, die fi) am Hof über die Zu⸗ 
kunft der Monarchieden Kopf zerbrechen“, und ‚‚allerlei Geiſter, dieein Inter⸗ 
eife daran haben, durch Erregung Schwarzer VBorftellungen die Geſchaͤfte der 
Neaktion und des Junkerthumes ſpekulativ zu fördern.‘ Mit feiner Silbe 
war angedeutet, daß der Kaijer den Plan billige oder auch nur kenne; und 
der Sat von den fpefulativen Förderern der Junkergeſchäfte ſprach deutlich 
gegen den Verdacht, die jozialdemofratifchen Zeitungfchreiber könnten Wils 
helm den Zweiten für den Erjinner des Planes gehalten haben. Am näch⸗ 
ften Tag erllärte die freiwillig oder unfreiwillig offiziöfe Breffe, die Inſel⸗ 
geichichte fei ein albernes Märchen, ‚eine lächerliche Hundstagephantafie.“ 
In der Redaktion des „Vorwärts“ aber traf bald danach eine Poſtkarte ein, 
die von der felbin Hand gejchrieben ſchien wie der Brief mit dem Torrigirten 
Kopf und behauptete, die Gejchichte jei wahr und Näheres darüber vom Hofs 
marſchall Ulrid) von Trotha und von dem Reftaurator der Hohfönigeburg, 
Herrn Bodo Ebhardt, zu erfahren. Diefes Zeugniß genügte-den Redak⸗ 
teuren. Bielleicht hatte der Hohn, womit ihre erfte Meldung auf allen Seis 
ten empfangen worden war, fie eigenfinnig gemacht; jedenfalls bedachten fie 





Die Kaiferinfel. 129 


nicht, daß der Architeft Ehhardt einen ernfthaften Auftrag zur Ausarbeitung 
eines Projektes nur vom Kaiſer jelbit erhalten haben konute. Siemeinten wohl, 
ihnen könne nichts paffiren, weil fie den Kaifer nicht angegriffen hätten, und 
waren ihrer Sache fo ficher, daß fie den Hofmarjchallvon Trotha, der feinen 
Namen unter die Erklärung feste, er wiſſe nichts von folddem Plan, durch 
den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit zur Klage zwangen. Was nun kam, 
überrajchte nicht fie allein. Zwei Hausfuchungen in der Redaktion, Exrpedt- 
tion, Druderei (natürlic) ohne Refultat); Beſchlagnahme des Artifels vom 
fechzehnten Auguft; Verhaftung des Verantwortlichen Redalteurs Stadt- 
verordneten Leid, der angellagt wird, gegen $ 95 (Majeftätbeleidigung) und 
8 36011 (Grober Unfug) gefündigt zu Haben. (Das Verfahren gegen einen 
anderen Redakteur, unter deſſen Verantwortlichkeit Herr von Trotha im, Vor⸗ 
wärts” der Rügegeziehen worden war, braucht ung hier nicht zu befchäftigen; 
wer einen hohen Beamten, wider deſſen mit Namensunterſchrift gedeckte Ver⸗ 
fiherung, Öffentlich einen Lügner nennt, muß die vom Geſetz vorgefehenen 
Folgen tragen.) Herr Leid wird auf Beſchluß der Befchwerdeinftang enthaftet, 
de8 Kammergerichtes, deſſen gefürchteter Straffenat in dem inkriminirten 
Artikel den Thatbeftand der Majeftätbeleidigung „Teineswegs zweifelftei“ 
feftgeftellt findet. Für diefe Feſtſtellung bat num die dritte Straflammer 
des Randgerichtes I Berlin geforgt: fie hat am fechzehnten Oftober 1903 
Herrn Leid von der Anklage, Groben Unfug verübt zu haben, freigefprochen, 
wegen Moajeftätbeleidigung aber zu neum Monaten Gefängniß und zum 
Berluft der aus Öffentlichen Wahlen herporgegangenen Aemter verurtheilt. 

Eine Berurtheilung wegen Groben Unfuges war von vorn herein aus» 
geichloffen. Vor fünf Jahren war ich in München angeflagt, durch den am 
fechzehnten April 1898 hier veröffentlichten Artikel „König Otto” Groben 
Unfug verübt zu haben. Der Artikel hatte inBayern kein fichtbares Aerger- 
niß erregt; SYohann Baptift Sigl, der ben Preußen doch nicht hold war, fand 
ihn „tief ergreifend‘, im bayerischen Landtag, wo der Fall zweimal aus⸗ 
führlich erörtert wurde, erhob fich keine Stimme wider den Beichuldigten und 
der Gutsherr vonFriedrichsruh nannte die Heine Darftellung Hiftorifch richtig 
und fürden Monarchiſten erfreulich. Trogdem Otto Mittelftaedt in der,, Zu⸗ 
kunft“ den fchöffengerichtlichen Schuldſpruch für unhaltbar erflärte, blieb 
es in den folgenden Inſtanzen beider Verurtheilung zu vierzehn Tagen Haft; 
die Richter meinten, der Artikel müfje das Publikum „beunruhigen und be» 
läſtigen“. Vergebens hatte ich mic) auf die — aus MittelftaedtS Feder 
ftammende — Reichögerichtsentfcheidung vom dritten Juni 1889 berufen, 





180 Die Zukunft. 


wonach 836011StGBnicht etwa als eine allgemeine fubfidiäreStrafbeflimm= 
ung anzumenden fei, der Alles untergeordnet werben dürfe, was einem Richter 
Unrecht ſcheine, ohne daß es von irgend einer anderen ftrafrechtlichen Norm 
getroffenwerde. Vergebens an den legten ‘Chermidorfarren erinnert und den 
Gerichtshof aufgefordert, ehe es zu jpätjei,mit einer Spruchpraxis zu brechen, 
bie der ſtärkſte Kriminaliſt des Reichegerichtes, abwegig“ genannt habe. Die 
Antwort war und blieb: Vierzehn Tage Haft. Doch ich hatte wirklichauf dem 
letzten Karren geſeſſen. Noch im ſelben Jahr erging vom Reichsgericht eine 
neue Entſcheidung, nach der zum Thatbeſtande des Groben Unfuges die, Ver⸗ 
letzung oder Gefährdung des äußeren Beftandes der öffentlichen Ordnung“ 
gehört, die bloße „Beläftigung des Publikums“ nicht ausreicht. Mir half 
dieſes Urtheil nicht mehr: ich mußtein den Käfig ;aber e8 endetedieausS3601? 
der Preffe drohende Gefahr und hätte genügt, um den Nedalteur Leid vor 
Strafe zu ſchützen. Der Erfte Staatsanmalt am Landgericht I Berlin, Herr 
Oberftaat£anmwalt Dr. Iſenbiel, fennt die leipziger Judikatur natürlich ges 
nau und hat fich über die Ausfichtlofigleit diefes Theiles der Anklage fiher nicht 
getäufcht. In der Hauptverhandlung jagte er, al Juriſt fei er ſtets ein Geg⸗ 
ner allzız weitgehender interpretation des S 36011 geweſen, und ftellte 
in diefem Punkte dem Gericht die Entfcheidung anheim ... Warum aber, 
wurde gefragt, hat er dann Leid erft Groben Unfuges angeklagt? Ich ver- 
muth:: um die Zulaffung des Wahrheitbemeifes zu rechtfertigen. Die Frage, 
ob b.i Dajeftätbeleidigung der Wahrheitbeweis zuläffig fei, iſt in der Theo⸗ 
rie kontrovers; fie wird von Geyer, Hälfchner, Sohn, Liſzt bejaht, von Dicyer, 
Merkel, Olshauſen verneint. Für die Praxis ift fie ſeit dreiundzwanzig 
Kahrennegativbeantwortet. Das Reichsgericht hat entjchieden, dag „im Falle 
de8 8 95 StGB der Beweis der Wahrheit mit dem Grundfag der Unvers 
letzlichkeit des Staatsoberhauptes in Wideripruch treten und Erdrterungen 
im Gefolge haben würde, die mit der erhabenen Stellung des StaatSobers 
hauptes unverträglic, wären.” Dieje Enticheidung duldet feine Ausnahme. 
Wenn der Nedafteur bes „Vorwärts“ aber, ohne die Wahrheit feiner An⸗ 
gaben bemweijen zu dürfen, verurtheilt worden wäre, hätte Jeder gedacht, 
Etwas müffe doch wohl an der Sache fein. Das folite vermieden und fünf» 
tigen Majeſtätprozeſſen dennoch nicht präjudizirt werden. Daher die deals 
fonfurrenz von Dajejtätbeleidigung und Grobem Unfug. 8 3601 hatte 
feine Schuldigfeit gethan, fobald er dem Angeklagten die Möglichkeit geges 
ben hatte, den Beweis der Wahrheit zu erbringen. Das war juriftijch fein 
ausgellügelt und verdient auch von dem Verurtheilten eher Lob als Tadel. 








Die Kaiferinfel. 131 


Denn nicht des Staatsanwaltes Schuld wars, daß ber Beweisverfuch völlig . 
mißlang. Die Herren von Trotha und Ebhardt, Graf Hülfen- Häfeler und 
Herr von Lucanus, Graf Eulenburg und Freiherr von Mirbach, Stabs⸗ 
offiziere, Geheimräthe, Sefretäre, Amtsdiener: Alle fagten unter dem Zeu⸗ 
geneid aus, von den Schloßbauplan und Allem, was damit zufammenhän» 
gen folle, fei ihnen nie das Geringſte bekannt geworden. Feſtgeftellt wurde 
- aber, daß im fronprinzlicden Hofmarfchallamt genau ſolche Briefbogen mit 
forrigirter Kopfinfchrift benutzt werden, wie einer ben ſozialdemokratiſchen 
Redakteuren ins Haus geſchickt worden war. Werden Brief gefcehrieben und 
in die Lindenftraße gefchiett Haben mag?... Vermuthungen find jelbft im 
neuſten Deutfchland geftattet; unzweideutig wird die Frage vielleicht erft an 
dem Tage beantwortet werden, wo das Geheimniß der Xotfa: Briefeentjchleiert 
wird, deren Verfaffer Herr Lebrecht von Koge ganz ficher nicht ift. 
Schon während der Bemweisaufnahme erregte der fchlechte Stil der 
Vertheidigung Aergerniß. Als die Herren von Trotha und Ebhardt, die Chefs 
des Civil: und Militärkabinets, allenfalls noch der in alle Sättel gerechte 
Freiherr von Mirbach geichworen hatten, fie wüßten nichts von Inſelſchloß— 
plänen, mußte man des graufamen Spieles genug fein lafjen, dem Hofmar- 
ſchall und dem Architekten einerüchaltlofe Ehrenerflärung geben und auf die 
Yortiegung des Zeugenverhöres verzichten. Statt fo zu handeln, ſuchten die 
drei Bertheidiger Haafe, Levy und Liebknecht aus den Zeugen um jeden Preis 
irgend Etwas herausz upreſſen. Das war ein fchlimmer Fehler; nicht nur, 
weil der Verfuch mit untauglichen Mitteln unternommen wurde und in je 
dem einzelnen Fall fehlfchlug: auch wenn er zufällig einmal gelungen wäre, 
bä’te er aufdas Gericht einen Schlechten Eindruckgemacht. Wer bemeifen will, 
daß Herr Müller filberne Löffel geftohlen habe, darf, wenn diejer Beweis 
nicht erbracht werden kann, fi) nicht um den Nachweis bemüht zeigen, daß 
der Angefchuldigte Müller nur felten bade und manchmal ſchmutzige Nägel 
habe, unjauberen Wandels alfo verdächtig jet. Der Ausgang des Prozeſſes 
wäre nicht anders gewefen, wenn Graf Hülfen-Häfeler zugegeben hätte, von 
einer veränderten Refrutirung der Garde jet irgendwann ſchon die Rede ge» 
weſen. Er gabs nicht zu; und die inquifitorische Emfigfeit verrieth, wie un» 
fiher die Bertheidigung fich fühlte und wie viel ihr daran lag, von den hart⸗ 
nädigen Behauptungen des Angeklagten wenigftens einen Feten ins Nebel: 
reich der Wahrjcheinlichfeit hinüberzuretten. Im Bann diefer Sorge übers 
fahen die Anwälte den wichtigften, den, wie mid) dünft, allein wichtigen Punkt 
der Anklage und fochten, wenn der Bericht des,Vorwärts“ nicht trügt, das 


132 Die Zukunft. 


Hauptargument des Stantdanwaltes gar nicht erft an. Sie durften nicht den 
Glauben weden, das Schickſal ihres Mandanten fei an das Gelingen des 
Wahrheitbeweiſes gefettet, nad) deſſen Mißlingen befiegelt; durften es um fo 
weniger, als, nad) reichSgerichtlicher Entjcheidung, „jeder Angriff, deſſen 
Richtung oder thatjächlicher Erfolg die Verächtlichmachung oder Herabwär: 
digung des StaatSoberhauptes in der Öffentlichen Dleinung ift, unabhängig 
von der Wahrheit oder Unmwahrheit der zu Grunde liegenden Thatfachen, 
nothwendig ein widerrechtlicherift."DertaktiicheAufmarjch derVertheidigung 
war fchlecht vorbereitet, ihre Verſchanzung ohne die nöthige Vorausſicht aller 
Möglichkeiten gewählt. Daß nichts bewieſen werden könne, war nach der 
Ausfage der erften Zeugen nicht mehr zweifelhaft. Was blieb noch? Die Ber 
hauptung, der infriminirte Artikel habe fi) gar nicht gegen ben Kaiſer ges 
richtet. Dafürfprach Viele, doch auch Manches dagegen. Weshalb der große 
Apparat eines Wahrheitbeweijes, wenn bie Befchuldigung, den Kaiſer belei- 
digt zu haben, unhaltbar jchien, — mochten die angeführten Thatfachen num 
wahr oder unmwahr fein? Zwei Eifen im Feuer zu haben, ift immer, beide 
boreilig zu zeigen, faft niemals nüglich. Auch hatte der fchreibende Die Lage 
des verantwortlich zeichnenden Redakteurs durd) zwei Unbedadhtfamfeiten 
verfchlechtert: in feinem Artikel ſtand, durch das Inſelprojekt werde die dö⸗ 
beriger Heerftraße, „deren Zweck nicht recht erfichtlich war, ihre eigentliche 
Beſtimmung erhalten”; und er hatte fpäter angedeutet, Herr Ebhardt fei 
bereit8 mit der Ausarbeitung des Plancs beauftragtiworden. Diefen Auftrag 
fonnte nur der Raiferertheilenundnur erfonnteder von Berlin nachDoberitz 
führenden Straße „ihre eigentliche Beftimmung“ geben. Dieſe Schwierigkeit 
ichredtedie drei®ertheidiger nicht. Unermüdlich wiederholten fie, dem Artifel 
fehle jede Bezichung auf die Berfon des Kaifers. Der alte Liebknecht hat in 
Breslau mit dem Verſuch, zu leugnen, daß feine Parteitagsrede der Abwehr 
eines Faiferlichen Angriffes gegolten habe, einft üble Erfahrung gemadjt. 
Das hinderte feinen Sohn nicht, als Bertheidiger jetzt die ſelbe unkluge und 
muthloje Taktik zu wählen. „Die Sozialdemofratie übt ſtets nur an Inſti⸗ 
tutionen, nicht an Perſonen Kritik”. (Oktober 1903!) „Diefen Orundfag hat 
auch der Vorwärts‘ immer befolgt, der durchaus nicht geneigt ift, den Kaiſer 
herunterzureißen.” „Der, Vorwärts' hatnie, wie der Staatsanwalt behaup- 
tet, dem Sport gehuldigt, dem Kaijer verſchleiert dieWahrheitzufagen.” „Die 
Abficht des Artifelichreibers war, den Kaijer vor den Umtrieben der Kama⸗ 
rilla zu ſchützen.“ Konnten verftändige Menſchen von ſolchen Sägen irgend 
eine Wirfung auf eine berliner Straffammer erhoffen? Mußte nicht Klug⸗ 


Die Kaiferinfer. 183 


Heit und Ehrgefühl im Verein hier zu offenem Bekenntniß repubfifaniicher 
Ueberzeugung drängen? Und durfte der Angeflagte Leid redlichen Herzens 
ſtaunen, als er ans dem Munde des Vorfitenden, der den Schuldfpruch be- 
gründete, die Worte vernahm, der „Vorwärts“ habe nicht die Tendenz, ben 
Kaiſer vor der Kamarilla zu ſchützen, fondern juche die Autorität der Krone 
zu untergraben? Der Landgerichtsdireftor hätte fich gegen Einwände auf 
den Genofjen Bebel zu berufen vermocht, der in ‘Dresden gejagt hat: „Ich 
will der Todfeind diefer bürgerlichen Gefellichaft und dieſer Staatsordnung 
bleiben, fo lange ich lebe, um ſie in ihren Eriftenzbedingungenzuuntergraben.” 
Bur Staatsordnung gehört ſicher das Kaiſerthum. Kein Republikaner, fein 
Spzialdeınofrat verdient Tadel oder Schmähung, weil er thut, was ihm 
Weberzeugung gebietet; doch jeder follte, was er ift, auch zu fcheinen wagen. 

Gegen folches Vertheidigungſyſtem hätte ſelbſt ein Dutzendprokurator 
leichtes Spiel gehabt; und Herr Dr. Iſenbiel iſt unter Teſſendorffs Nach— 
folgern der beſte Mann. Aus ganz anderem Holz als Arnims Ankläger, der . 
mühfam, mit ftammelnder Zunge, die Worte zufammenfuchte, dann aber den 
Gegner mit Keulenfchlägen traf und, weil er ſich nur in leidenfchaftlichem 
Horn ftarf fühlte, das den Vertreter der Staatsgewalt zierende ruhige Gleich- 
maß immer vermiffen ließ. Zeffendorf hätte in rauf wüthender Rede der 
Sozialdemokratie ihr ganzes Sündenzegifter vorgehalten, die Nothwendig⸗ 
Teit betont, den $ 95 gegen.die Umfturz finnende Bartet heutzutage mit un- 
barmherziger Strenge anzuwenden, den Angeklagten Leid grob gejcholten, 
den Beugen Eisner, weil er ſelbſt ſchon wegen Dlajeftätbeleidigung im Ges 
fängniß gefejlen habe, für vollfommen unglaubwürdig erflärt und in den 
Saal gemwettert, bis der Briefausdem Hofmarjchallamt vorgelegt werde, fehe 
er in der ganzen Gefchichte nureineruchlofe Erfindung boshafter Tintenffed- 
fer. Herr Iſenbiel iſt nicht fo ftark, aber gewiffenhafterundnoblerinder Wahl 
feiner Mittel. Er bemüht fich, gerecht zu fein, und würde bewußten Willens 
wohl nie einen wehrlojen Angeklagten ſchimpfen. Herr Reid fühlte jich durch 
den Hinweis auf feine öfonomifche Abhängigkeit beſchwert — der offenbar 
doch nur den Zwed hatte, ein geringeres Strafmaß zu rechtfertigen, als nach 
der Wucht der Anfhuldigung zu erwarten war —, würde ſich aber wundern, 
wenn er andere Staatsanwälte kennen lernte; ich kenne andere und kann ihn 
verfichern, daß ich nie jo würdig behandelt worden bin wie er. Kein grelles 
Sceltwort gegen die Sozialdemokratie oder deren angeflagte Vertreter; fein 
Zweifel an der Eriftenz des Briefes aus dem Hofmarjchallamt, der natürlich 
nicht vorgelegt und über den auf wichtige Fragen die Ausfage verweigert 





134 Die Zukunft. 


wurde; ein Kompliment für Herrn Eisner,der „ben, Vorwärts'gutredigire” 
und deffen Vorftrafe unerwähnt blieb; fein Gezeter über die „bodenlofe Fri⸗ 
volität eines Treibens, das nicht einmal durch den Schatten eines Beweiſes 
geſchützt werde”; Feine byzantinische VBerherrlichung des Kaiſers: nur gerade, 
was zur Sache unbedingt nöthig ſchien; und jchließlich eine Ueberraſchung, 
die unfere Beitungfpradhe fenfationch! nennen fönnte: der Erfie Staatsan⸗ 
walt befannte fic als einen Gegner des 8 95, den er freilich, als geltendes 
Recht, anwenden müſſe, doch lieber aus dem Strafgeſetzbuch verſchwinden 
fähe. Das Bekenntniß wurde zwar raſch ein Bischen eingejchränft, aber es 
bleibt einetapfere That, die den Kühnen das Zreifenbarrett often fonnte und 
die Sicherlich weder den Juſtizminiſter Schönftedt nod) den Oberftaatsanwalt 
Wachler zu entzücktem Beifall hingerifjen hat. Daß ein abhängiger Ber- 
waltungbeamter,der täglich auf Wartegeld geſetzt werden kann, Solches öffent- 
lich Heute zu ſagen wagt, iſt immerhin der Erwähnung werth; und mir ſcheint, 
man brauche nicht fervil zu fein, um einen Staatsanwalt, der, ohne gegen den 
Schwachen zu wüthen, die Würde des Amtes wahrt und als ein moderner 
Europäer angelehen fein möchte, aufricytigen Sinnes zu loben. 

Das Lob gilt dem muthigen und taftvollen Dann, dem wir glauben 
dürfen, daß er nicht leichten Herzens Menſchen ins Gefängniß ſchickt, gilt 
nicht feiner legten forenfifchen Leiſtung. Der Laie, der nurpafjiv Strafrechts⸗ 
ftudien gemacht hat, und der Politiker muß faft jedem Saß des Herrn Dr. Iſen⸗ 
biel widerfprechen. Der Staatsanwalt war ſtärker als die Bertheidiger, deren 
Blößen er geſchickt ausnügte, und fein Schlußvortrag hob fich beträchtlich 
über die Durchſchnittshöhe profuratorijcher Dialektik. So fam er and Biel: 
jein Strafuntrag wurde von der Kammer als gerecht befunden. Vielen aber 
Scheint der Bau, in dem Ankläger und Richter ſich zufammenfanden, auf 
recht morjchem Gebälf zu ruhen. Die Bertheidigung hatte behauptet, der 
infriminirte Artikel könne nicht auf den Kaiſer bezogen werden. Der Staats» 
anmalt antwortete, ſolche Beziehung fei ſehr wohl möglich und diefe Möglich. 
feit genüge, wenn überhaupt eine ftrafbare Handlung als vorhanden ange» 
nommen werde, zum Thatbeſtande der Majeftätbeleisigung. Dagegen ift, 
troß der Kuppeltante Voß und ihren noch dümmeren Bafen, nichts zu jagen; 
man braucht gar nicht an die ausichweifende Anwendung des dolus even- 
tualis zu denfen, der ja an ſich auch fein kindiſcher Nonſens tft: felbft die 
modernften Kriminaliften finden die Begriffsmerkmale des Vorſatzes erfüllt, 
wenn der Thäter den Erfolg für möglich hielt. Die in der Prefje verfochtene 
Meinung, der Erfolg müjfe als ficher, nicht nur als möglich vorausgejchen 





Die Kaiſerinſel. 135 


fein, wird weder von der Theorie noch von der Praxis gededt. Hat der Re⸗ 
dakteur Leid in fein Bemußtfein die Möglichfeitaufgenommen, daß der Artikel 
auf den Kaiſer bezogen werden könne, fowird er, vorausgeſetzt, daß der Artikel 
überhauptdenThatbeftandderMajeftätbeleidigung erfüllt, nicht dadurch ſtraf⸗ 
frei, daß dieBeziehung nicht unbedingt nöthig war. Wodurchaber war in dieſem 
bejonderenzzalldieMöglichkeit ftrafbarer Bezichung gegeben? DerOberſtaats⸗ 
anwaltfagt: Wenn man von, Hofkreiſen ſpricht, kann Seine Majeſtät, al8 das 
HauptdesHofes,nichtausgefchloffen ſein.“ Beiſpiel:, Wer davon ſpricht, daß, in 
Theaterfreifen‘ die Aufführung eines verbotenen Stückes geplant werde, denkt 
nicht an Projekte irgend welcher Schaufpicler, ſondern an die mapgebenden 
Kreife der Theaterleiter und Regiffeure.” Schon diefes Beiſpiel fteht auf 
Schwachen Füßen. Wenn ein Theatertyrann die Aufführung plant, heißts 
im Börjencourier: „Direktor Schulze (oder Cohn) will das Stüd den lites 
rarischen Feinschmedern der Metropole in einer Sondervorftellung zugängs 
Lich machen” ; redet unfer Allerhalter Landau, unjer Univerjalgenie Holz» 
bod aber von „Theaterkreiſen“, dann weiß der Kundige, daß ehrgeizige oder 
Schlecht beichäftigte Schaufpieler fid) zufammenthun wollen, um die Aufs 
führung zu ermöglichen. Noch falfcher ift, nad) allgemein giltigem Sprach» 
gebrauch, Iſenbiels Hauptjag. Niemals, beinahe niemals wirdanden König 
gedacht, wenn von „Hofkreiſen“ geiprodhen wird. Der Monach gehört eben 
jo wenig zum Hof wie — mein Beifpiel hat den Borzug allerhödjjter Yoyali- 
tät — der liebe Gott zu den himmlijchen Heerſchaaren. Schillers Philipp, 
der auf itrengfte Befolgung des &ermonialgefetes hielt, ladet feinen „ganzen 
Hof" zum Blutgericht; und feine Frau ruft dem ftürmijchen Knaben Karlzu: 
„MeinHof iſt in der Nähe!" Hundert, taufendBeijpielelichen fid) für die That: 
ſache anführen, daß faftimmer und überall zwifchen Herricher und Hof unter: 
ſchieden ward. Wer, fragt Moliere,Sahan Höfen je Einen, der nichtdeneigenen 
Vortheilfuchte? On voit partout que l’art des courtisans ne tendqu’& 
profiter des faiblesses des grands. Voltaire: A mesure que les pays 
sont barbaresouquelescourssontfaibles, le cer&monial est plus en 
vogue. Boffuet: La cour veut toujours unir les plaisirs avec les af- 
faires. a Bruyere: La cour estcomme unedifice bäti demarbre; je 
veux direqu’elle est composee d’hommes fort durs, mais fort polis. 
Heine: „Die Kunftder Höfe beiteht darin, die fanften Fürften fo zu Härten, daß 
fie eine Keule in der Hand des Höflings werden, und die wilden Fürftenfozu 
jänftigen, daß fie fich willig zu jedem Spiel, zu allen Bofituren und Aktionen 
hergeben." Brougham: „Der Hoferzeugt, wie der Bater das Kind, ſelbſt feine 





186 Die Zukunft. 


Tyrannen.“ Shelley: „Im Sonnenfhein des Hofes, von feiner Fäulniß 
‚nähren fid) die Drohnen der Gefellichaft." Abraham a Santa Klara: „Du 
wirft zu Hof jehen, daß allda wenig Metall, aber viel Erz: viel Erz- Dieb, Erz⸗ 
Scelmen, Erz-Betrüger”. Die Liſte fönnte nad) Belieben verlängert wer: 
den. Daß die drei Vertheidiger Fein einziges Beiſpiel bereit hatten, zeigte, 
wie Schlecht fie gerüiftet waren. Sie fanden aud) fein armes Wörtchen der 
Abwehr, als der Staatsanwalt von einer „Angelegenheit der ganzen Taifer- 
lichen Familic” Sprach: und das deutiche Staatsrecht kennt doch Feine „Euifer- 
liche Zyamilie”. Das Alles mochte hingehen. Viel Schlimmer war, ganz uns 
verzeihlich, daß fie den Hauptitoß des Anklägers gar nicht erſt zu pariren 
verfuchten. Herr Leid ift verurtheilt worden, weil er dem Kaiſer Mangel an 
perfönlichem Muth angedichtet habe. Das wäre fo ungefähr die ſchwerſte Be- 
leidigung, die zu erdenken ift; und deshalb durfte ich fagen, nach der unge⸗ 
heuren Wucht der Anfchuldigung erfcheine das Strafmaß relativ noch gering. 
Auch ein Wald: und Wiejenvertheidiger mußte, ſpäteſtens aus dem Plaidoyer 
des StaatSanwaltes, merken, daß hier die Gefahr der Sache lag, hier allein; 
und gegen dieje Anflage die ganze Kraft aufbieten. In Moabit wurde der 
wichtigfte Punkt von den Vertheidigern kaum mit einer Silbe geftreift. 

Bor fünfundfünfzig Jahren rief ein König von Preußen: „Ich muß 
nad) Potsdam! Hier in Berlin zwingt man mir eine Konzejjion nach der 
anderen ab.“ Leopold von Gerlad), der den Ausſpruch des Verzweifelnden auf: 
gezeichnet hat, erzählt, nur die Mahnung eines Arnim, der daran erinnerte, 
daß eine vom Herrfcher verlafjene Refidenz felten zurüdgemonnen worden 
ſei, habe den König einftweilen noch von der Fluchtabgehalten. War ried- 
rich Wilhelm der Vierte deshalb feig? Wars fein jüngerer Bruder, der um 
die jelbe Zeit vor Thau und Tag aus Berlin in diefpandauer Eitadelle und 
nad) zweitägigem Aufenthalt von dort vermummting Ausland floh? Er hat 
vorher und nachher bewieſen, daß perjönlicher Muthihmnicht fehlte, und Heißt 
in der offiziellen Reichsiprache heute Wilhelmder Große. An das Schidial 
des Ahnen dachteder Enfel,alder 190 1Ldieneue Kaferne des Gardegrenadier⸗ 
regimentes Kaifer Alerander einmweihte und in der Feierrede jagte, er brauche 
in feiner Nähe eine „fefte Burg” und eine zuverläffige Leibwache, „die Tag 
und Nacht bereit fein muß, für den König ihr Blut zu verfprigen”; 
denn „wenn die Stadt Berlin nod) einmal, wie im Jahr 48, ſich mit Frech— 
heit und Unbotmäßigfeit gegen den König erheben jollte, dann ſeid Ihr, 
meine Grenadiere, berufen, mit der Spige Eurer Bajonnette die Frechen 
nnd Unbotmäßigen zu Bıaren zu treiben”. Kein Bürger hat nad) unjerem 


Die Kaiferinfel. 187 


Geſetz das Recht, den Muth feines Randesherrn mit ehrfurchtloſem Zweifel 
anzutaften. Eben jo wenig aber, Herr OberftaatSanwalt Iſenbiel, hat ein 
König das Recht, fein Leben leichten Sinnes aufs Spiel zu ſetzen. Das wäre 
Muthwille, nicht Muth. Denn diefes eben gehört den Yand und dem Vollk. 
Der gefrönte VBertrauensmann der Nation hat die Pflicht, fich) dem Bürger- 
frieg undder Herrengewalt des fremden Eroberers zuentziehen, Attentateund 
feindlichen Kugelregen, fo lange er$irgend vermag, zu meiden. Wellington war 
nicht Preußens Freund; wie der Brite aber, als ihm die Märzoperationen des 
Generals von Prittwig gemeldet wurden,haben 1848 tauſend treue Patrioten, 
jeder in feiner Mundart, gefragt: Mais pourquoi ce brave general n'a- 
t-il pas commence par &loigner le roi? Gegen die Uebermacht nügt 
fein noch jo hoher perfönlicher Muth; und ein Herricher, der in der Schick⸗ 
Salsftunde flüchtend fein Xeben rettet, kann feinem Lande einen-wichtigeren 
Dienft leijten als einer, der fich in heroifcher Poſe megeln läßt. Nach diejem 
Grundſatz handeln heute alle Kronenträger: der Weiße Bar, der die Bahn 
gleije von Koſaken bewachen heißt, der Koburger Ferdinand, den jedes Ges 
witterzeichen an oderüberdie Örenze treibt, undder Deutjche Kaiſer, der durch 
Schutzmannſchaftſpaliere fährt. Deshalb war der Artikel des „Borwärts", 
felbft wenn er direkt auf den Kaijer bezogen werden mußte, nicht beleidigend. 
Auch der tapferſte Fürft hat, wenn er mit der Möglichkeit einer bewaffneten 
Maſſenerhebung rechnet, das Recht nicht nur, nem: hat die Pflicht, früh für eine 
fihere Stättezu forgen, wo er ungefährdet warten fann, bisder Sturm ver- 
brauſt ift und durch Schwarze Wolfen wieder ein Sonnenftrahl bricht. 

„Wenn teid Glüd hat, Hebtder dritte Strafjenat in Leipzig das Urtheil 
des Kandgerichtes auf. Dann follte der Genoſſe ohne Verteidiger vor feinen 
Nichter treten und alſo jprechen: „Ich bin Republikaner und gebe mich nicht 
für Einen, den Neigung oder Beruf treibt, den König vor Hoffabalen zu 
ſchützen. Ich bin Sozialdemofrat und habe gern nad) einem vom Glanz 
amtlicher Weihe unleuchteten Blättchen gegriffen, das zu beweijen jchien, 
wie völlig man auf unnahbarer Höhe unfer Hoffen und Streben verfennt. 
Aber ich habe nie, nicht eine Sekunde, für möglid) gehalten, der Deutſche 
Kaiſer könne dadurd) beleidigt fein, daß ich ihm die Abficht zufchrich, fich, feine 
Frau und Kinder vor übermächtigem Aufruhr in einer Inſelfeſte zu fidhern. 
Dein Irrthum kann lehren, daß die organifirte Maffe nicht das Leben des 
Kaiſers bedroht, der Kaiſer ihr in ruhigen Stunden fein böſes Trachten 
zuttaut. Solche Lehre ift nüglid). Meinen Leichtjinn habe id) im Gefängniß 
und durch Erregungen aller Art nicht zu gelind gebüßt. Jetzt darf id) den 
Hohen Gerichtshof mit gutem Gewiffen um Freiſprechung bitten.’ 

> 


138 Die Zukunft, 





ISmpreffioniftiijche Weltanfchauung. 


Se Kunft, die allen Bedürfniffen großer Gemeinfchaften genfzt und 
darüber hinaus der allgemeinen Eehnfucht Antworten zu finden weiß, 
kann mit Erfolg äjthetifch betrachtet werden. Denn alle Lebensinſtinkte und Welts 
begriffe, die das Fünftlerifh Formale entfcheidend determiniren, find damı Ge 
meinbelig, werden überall unbewußt vorauögefegt und innerhalb des Kolleltiv- 
empfindens wird die äfthetifch prüfende und genießende Betrachtungweiſe mög» 
lid. Anders ift e8, wenn in einer Epoche verfchiedene Kunftauffaffungen ein= 
ander fremdartig, ja, feindlich gegenüberftehen. Dann verfagt die Aeſthetik, 
weil der Streit des Artiftifchen im Grunde auf einen Kampf der Lebensideen 
zurüdzuführen if. Bor Werfen folchen zwiejpältigen Wollend fagen die 
Menſchen: Diefes ift fchön und Jenes ift häßlich. Sie meinen aber: Diefes 
ift wahr und Jenes unwahr; fie fehen die Wahrheit durch verfchieden ge= 
färbte Ueberzeugungen und ihrer Anfchauungform entfpricht immer das deal, 
das aus verwandten Weltbegriffen konftruirt worden iſt. Es zeigt fidh, da 
die Aefthetil nicht einen abjoluten Maßſtab darbieten kann. 

Wo 68, innerhalb Fonfequenter Kulturentwidelungen, fünftlerifche Zwie⸗ 
fpältigfeiten giebt, iſt es ficher, daß das Höchſte in der Kunſt nirgends er 
reicht ift; denn auf dem Gipfel Laufen alle Entwidelunglinien in einem Punkt 
zulammen. Trotz diefer theoretifchen Gewißheit muß, wer zwifchen den hete 
rogenen Sunfterfcheinungen der Gegenwart fteht, ein Verhältniß zu den thäs 
tigen Kräften zu gewinnen traten. Dan kann e3 in verfchiedener Weiſe. 
Scheut man fid, die ruhigen Gebiete der Aeſthetik zu verlaffen, fo fchließe 
man fi innig der Kunftform an, die den eigenen ficher umfchriebenen Ueber 
zeugungen ent|pricht, und fuche in diefer Befchränkung Entzüdungen intimer 
Art: dann gehört man zur Partei. Dder man fpüre Schönheitelemente 
verfchiedenfter Art in allen Aeußerungen des antagoniftifchen Sunftgeiftes auf, 
beachte überall mit ſpitzem Geift, was leife oder lauter im Gefühl wider⸗ 
Hingt, und kofte immer nur die Nuance: dann ift man ein äftdetifcher Gourmet. 
Wer aber die verfchiedenen Richtungen der Kunſt in ihren geiftigen und artiſti⸗ 
fhen Weſenszügen erfennen und diefe Erkenntniß zu einer höheren Ent- 
widelungidee ausreifen laffen möchte, fommt mit der Aeftgetif nicht aus. 
Er muß ben Geiſt aller Parteien in jich wirken laffen, durch die Weltgefühle, 
woraus die fo verichieden gearteten -Blüthen der Schönheit hervorwachſen, 
als Erlebender hindurchſchreiten und ji über feine Erlebniffe dann erheben. 
Denn er es nur um ein Geringes kann, ift ein Beweis von der Uns 
zulänglichkeit der Kanſt, die er betrachtet, geliefert. Denn eine vollkommene 
Kunft läßt nur Unterfuchungen innerhalb ihrer Grenzen zu und erlaubt 


Impreſſioniſtiſche Weitanſchanung. 139 


nichts über ſich, weil ſie höher ſteht und nach jeder Richtung weiter greift 


als der kühnſte Verſtand. 

- Die charakteriftifche Kunſterſcheinung der Gegenwart, bie Impreſſio⸗ 
nismus genannt wird, fordert, mehr als eine andere, neben der äfthetifchen 
die Aulturphilofophifche Betrachtung. Die Erbitterung, der diefe Malerei 
begegnet, wäre nicht: zu erflären, wenn es fih nur um ragen des Geſchmackes 
handelte. In Wahrheit ftehen Dinge in Trage, die mehr oder weniger jeden 
modern Empfindenden, au außerhalb der Kunft, angehen und zu denen ein 
lebhaftes Verhäftnif der Bejahung oder Verneinung nöthig if. Welche Unter- 
firömungen zur beachten find, wird verftändlich, wenn man bie geographifche 
Grenze des Impreſſionismus fucht. Es zeigt ſich, daß dieſe Grenzlinie fehr 
genau einer anderen entfpricht, die Gebiete religiöfer Borftellungen trennt. 
Geboren im revolutionären parifer Geift, ber ſich ſchon wor mehr als hundert 
Fahren nicht fcheute, den katholiſch chriftlihen Gott offiziell abzufegen, hat 
fi) der Impreſſionismus nach Belgien gewandt, ind Land des Induſtrialismus, 
der Sozialen Noth und der konfeſſionellen Spaltungen, hat in Deutichland 
überall da eine Heimath gefunden, wo der fühle, zweifelnde, präntheiftifche 
Proteftantismns die Gemüther lenkt, ji Skandinavien und Finland, bie 
Länder nüchterner Myſtik, erobert und ift im Begriff, fich dem großſtädtiſchen 
Nihilismus Rußlands anzufhliefen. Münden und Düffeldorf, die katho⸗ 
liſchen Städte, weiſen die impreſſioniſtiſche Kunft ab, in der romanijchen 
Welt Italiens, Südfrankreichs und Spaniens kann fie nicht Fuß faffen, das 
puritanische England bleibt ihr gegenüber gleichgiltig und nur das ſchwankende 
wiener Temperament fpielt ängftlih und frech mit ihren gefährlichen Reizen. 
Und noch ein Charalteriſtikum: die fpirituelle jüdifche Natur neigt fich ent- 
fchieden diefer Kunft zu. So ftellt fi. der Impreſſionismus als eine Anz 
fhauungform des Atheismus dar. Nicht um die Malerei handelt es fich in 
erfter Linie, jondern um die Anfchaunngform und dieje ift Produkt eines 
über große Bollögemeinfchaften Europas verbreiteten fataliftifchen Weltgefühles. 
Wer es erlebt, nicht nur gedacht Hit, mit ehrlichem Schmerz, unerträglich 
kalter Verzweiflung und in müder Reiignation, daß fih ihm die Welt unter 
dem Wirken der neuen Saufalitätlehren entgötterte, wer in dem gemaltigen, 
aber graufam gleichgiltigen Spiel von Urſache und Wirkung, als das ber 
moderne Menfh, im eriten Stadium jungen wiſſenſchaftlichen Erkennens, die 
Natur begreifen zu müfjen glaubt, Hoffnung und Vertrauen auf füttliche End- 
ziele des Lebens verloren hat, wem ber prüfende, zerfegende Verſtand, zu plötz⸗ 
lich bereichert von neuen erafien Wahrheiten, den Weg auf die Höhe gemwiefen 
bat, wo das zagende Herz hoffnunglos ins Nichis ftarrt und entweder ver- 
zweifeln oder kalt werden muß, vor Deffen Augen hat fi das Bild der 
Welt verwandelt. Denn dieſes Bild ift nie draußen, fondern immer im 


- 


140 Die Zukuuft. 


Menfhen. Wo fonft Hoffnungen das Frühlingshlühen verflärten, die lebens- 
frohe Phantafie alle Natur mit einem Götterleben bevölferte, wo das Ber: 
trauen auf eine ewige Güte fi Antworten auf jauchzende Fragen erfand, 
da gloßt dem Ernüchterten nun der unbejeelte Weltenwille in feinem blinden 
Walten entgegen. Der Wald ift nicht mehr das trauliche Heim fchöner 
Träume und Verheißungen, fondern eine Unfammlung unheimlich pilzartiger 
Gewähfe. Die Wollen ballen ſich nicht mehr zu heldifchen Gebilden, zu 
luftig bunten Gleichniffen, fondern find nichts als Nebel, die in formlofen 
Schwaben ewig zerfliegen und fi erneuen. Der Menſch ericheint nicht 
länger vom Odem des Schöpfer befeelt, fondern ift ein willenlofes Probuft 
einer ziellofen Nothwendigfeit, in Allem beterminixt; und feine ſchönen Ge⸗ 
fühle find auf phyfifalifche und chemifche Vorgänge im Organismus zuräd- 
zuführen. Das Schönheitgefühl ftirbt und eine Zroftloligfeit, der nichts 
groß und nichts Hein, Alles gleich wichtig und unwichtig ſcheint, Lacht des 
Ideals. Doch das Leben geht weiter; der Wille zum Dafein ruht nicht einen 
Augenblid, arbeitet jelbft unter bem Eis der Verneinung und ber Berzweifelte 
muß ſich mit feiner Weltfiimmung, fo gut es gehen will, abfinden. Die 
fritifche, rein fpiritualiftifche Betrachtungmweife wird zur Gewohnheit und in 
ihr geht Alles unter, was an Religion, Ethik und Aeſthetik der Seele über 
liefert worden ift. Doc da, in dem Augenblid, wo alle idealen Werthe ver 
nichtet fcheinen, ftellt ſich unmerklich eine neue Art von religiöſer Poeſie ein; 
denn fein Menſch kann dauernd ganz ohne Eymbol des Ewigen fein. “Der 
auf öden Berftandeshöhen Weilende blidt fühl auf feine Erde, die ihm nur 
eine mit wucherndem Schimmel bededte riejige Blanetenmaffe it; und da ers 
weckt ihm dieſer Augenblid plöglih Gefühle, denen ähnlich, die wir als 
Kinder vor den Hypothetifchen Urweltbildern der Steinfohlenperiode hatten. 
Die unbegreifliche, nie raftende Zwedlojigfeit des millionenfachen Lebens, das 
Werden und Sterben und über Allem das mefenlofe, bunte Spiel des in 
immer neuen Stimmungen mechfelnden Lichtes: das Alles wächft unmerklich 
wieder, von neuen PVorausjegungen aus, ind Myſtiſche hinein. Der Be 
tradhter wundert ji nicht mehr darüber, daß das Einzelne ift, wie es ift, 
fondern darüber, dag das Ganze überhaupt vorhanden ift. Die legten facet⸗ 
tirenden Endgefühle fpiegeln ich in urfprünglichen Empfindungen. Und wenn 
der Geift ih an diefe Empfindungen gewöhnt und eine Denkrichtung ge 
funden hat, die dem Alltag von folden Standpunften genug zu thun weiß, 
fo findet er fih im Beliß einer optifchen Anſchauungform, die in keiner 
anderen Weiſe als in diefer geiftig-feelifchen entjtehen Tonnte. Der auf Um⸗ 
wegen und Srrpfaden zur Primitivität Gelangte phantajirt num nicht mehr 
das Ideal in die Natur hinein, fondern in feinem von feiner heißen Hoff: 
nung mehr abgeblendeten Auge fpiegeln fich die Naturbilder mit einer Ob: 








Smpreffioniftifche Weltanfi; ng. 141 


jektivität und Präzifion, die nur dadurch möglich jind, daß die Phantafle in 
die Anſchauung nicht hineinredet. Dieſe durchaus geiftig gewordene Anfchau- 
ung, im die die überlieferten Schönheitformen nur noch als Erinnerungen hin- 
einspielen, bringt einen ungeahnten Reichthum optifcher Erſcheinungen; das 
Auge erlebt Jmpreffionen und Ueberrafhungen und fieht die Wahrheit von 
einer Seite, von der fie noch nie gefehen worden if. Das Individuum ift 
den optijchen Reizen gegenüber durchaus im Zuftande der Paflivität, e8 glaubt 
allein noch den Erlebniffen des Auges und lernt, weil die Seele nad) Inhalt 
dungert, genau auf die Empfindungen und Regungen achten, die don ben 
optifchen Reizen ermwedt werden. So dringen die automatifch empfangenen 
Reize in die Seele und gewinnen dort Bedeutung, werden zu Symbolen fitr 
die Empfindungen und Stimmungen, die fie erwedt haben, und die Erhöhung 
der Anſchauung beginnt: die Stilbildung. Mit diefem Reichthum, der aus 
der Berzweiflung eines ehrlichen Gemüthes hervorgegangen ift, baut fich der 
Nefignirende eine neue Hoffnung und Freude; aus dem Nihilismus wachen 
die Keime einer Schönheit empor. 

Die Künftler, die al Das — wenn nicht bewußt, fo doc tief und 
reich und mit der vollen Kraft einer ſtarken Sinnlichkeit — erleben, haben 
mit den jo gewonnenen Schönheitformen ihr artiftifches Spiel getrieben und 
fie Den vermählt, was fih an Traditionen, trog der großen Reinigung, 
fiegreich erhalten hat. Was ihre Malerei groß macht, ift die Wahrheit, was 
fie beengt, ift die Nüchternheit des Urfprunges. Ihre neue Anfchauungform 
bat die Malerei mit Wahrheit und Schönheit bereichert, Entdedungen ermög- 
licht, die unverlierbarer Bejig der Menfchheit werden müſſen, Züge des Lebens 
jehen gelehrt, denen nun nicht mehr auszuweichen ift, und dem Auge Möglich- 
keiten gezeigt, die e8 noch nicht fannte; ihren Urfprung aber, der die refig- 
nirende Verzweiflung ift, kann fie ganz erft überwinden, wenn die Verneinung 
überwunden worden ijt, wenn Sie hinter dem Spiel der Saufalitäten und 
über die Myſtik hinweg von Neuen das Antlig einer Göttlichfeit entdeden 
zu können meint; einer Göttlichkeit, die das fieghafte Glücksgefühl, das der 
HZuverfiht bedarf, ernenert und damit die Phantafie freigiebt. 

In diefem Sinn ift der Impreffionismus die Malerei des Atheismus, 
Die parifer Künitler, die Kinder, der Revolutionen, machten zuerft die Ent- 
defung. Denn ihre Kunft ift im Wichtigften mehr eine Entdedung als eine 
Geniethat; erft in der Ausbeutung des Gefundenen entwidelten fie Genie. 
Darum tritt der Impreſſionismus auch al8 Schule auf, die nicht an bie 
That eines Einzelnen gebunden ift, fondern an die Anfchauungform "eines 
Künftlergefchlechtes. Es giebt in ihr feine ganz überragenden Perfönlichkeiten, 
fondern nur ftarfe Talente, die nach gemeinfamem, nicht verabrebetem Plan 
arbeiten. Diefe Kunſt iſt ein Schidfal. 


11 








142 Die Zukunft. 


Menſchen, deren Empfindungleben an irgend einen religiöfen Inſtinſt, 
und beruhe er felbft auf der Ueberzeugung vom Sategorifchen Imperativ, 
gefeflelt ift, verftehen diefe Malerei äußerfter Nelativität nicht. Freilich hat 
die MWiffenfchaft auch auf fie gewirkt und einen Umfhmwung der Meinungen 
erzeugt; doch ift ihnen die Skepſis nicht Erlebniß, nit Schidfal geworben. 
Diefen leichter entzünbbaren, aber meift weniger ernften Temperamenten ift 
das Bertrauen zu den leiten Urfachen aller Dinge nicht im Tiefſten er- 
fhüttert worden. Der Gottbegriff Liegt ihnen, vermöge einer Träftig nadh- 
wirkenden Tradition, fo feit im Blut, daß er den biblifchen Chriſtengott 
überdauert. In der impreffioniftifhen Anfchauungform ift das Wefentliche, 
daß die Natur als eine große, bunte Relativität betrachtet und darum ganz, 
objektiv empfunden wird, während fie fich in der Anfchauungform der Ver- 
trauenden abfolut und deshalb ſubjektiv verflärt darftellt. Der impreflioniftifche 
Künftler Tiebt die einzelnen Objekte nicht, weil fie ihm nur Produfte des 
kauſalen Kräftefpieles find, und richtet den ftaunenden Blid immer aufs Ganze; 
der religiöfe SUnfionift aber verehrt da8 Einzelne, ihm ift dag Echöpfung- 
wunder in jedem Objekt. Dieſes Wunder individualifirt fih ihm und fordert 
zur Symbolifirung auf, zur Wiedergabe der fchönen Linien und Farben, die 
am plaftifchen Objekt gebunden find: ber Künftler wird Stilift, Idealiſt und 
Individualiſt, ift der ewige Jüngling, der im Hoffnungraufch burch8 Xeben geht. 

Unmerflih aber verkehrt fich das Verhältniß. Der Werdeprozeß bes 
imprejltoniftifchen Kunſtlers bedingt ein ſtarkes fittliche® Verantwortlichkeit⸗ 
gefühl. Um über die felbft vollzogene Entgötterung des Lebens zu ver- 
zweifeln, muß man Gott fehr lieben und ein großes Verehrungbedürfniß 
haben. Diefe Eigenichaft kann den Gegenftand wechſeln, unterdrüdt, aber 
nie vernichtet werden; in dem Augenblid, wo aus der Anfchauungform eine 
Kunft geworden ift, wird fie wieder jchöpferifch, bemächtigt fich der neuen 
Wahrheiten und Schönheiten und übt entjcheidenden Einfluß anf deren 
artiftifche Entwidelungen. So fehen wir eine geradezu fanatifche Wahrhaftig- 
feit, fo Eonjequent, daß fie nur aus lange gehemmtem Verehrungdrang zu er= 
klären ift, jih im Impreſſionismus bethätigen; der verlorene Glaube an ein 
Ideal ift Wille zur Wahrheit geworden. Bei den Künftlern der anderen Richt- 
ung aber rächt fich der Mangel an Eigenleben, der darin befteht, daß fie Das 
nicht erleben wollen, dem fie doch nicht widerfprechen können, den Himmel 
der Schönheit fuchen, aber den nothwendigen Weg durchs Fegefeuer fcheuen. 
Diefe halbe Untreue, die aus zu egoiltifcher Lebensluſt und rüdjichtlofem 
Slüdverlangen entfpringt, unterhöhlt die ftolzen Gebäude ihrer Romantif 
und des repräfentirenden Idealismus. Da eine eigene, gelebte Anfchauung 
fehlt, greift der Stilfünftler zu dem artiftifchen Rüſtzeug vergangener Ge: 
Schlechter, derem Geiſt er fich verwandt glaubt, benugt Kunſtformen, die einft 


Impreſſioniſtiſche Weltanſchauung. 143 


aus einem Erleben entſtanden ſind, als träger Erbe, der den überkommenen 
Schatz nicht zu erwerben verſteht. Denn was er an Eigenem hinzufügt, iſt 
auch nur halb erlebt, weil eine Halbheit die andere bedingt. So erſcheint 
der Idealismus, der mit großen Anſprüchen auftritt, oft gefälſcht, die Romantik 
wird zur Phraſe und die Sittlichkeit entſcheidet wieder einmal über Dinge 
der Kunſt. Trotzdem liegt in der epigoniſchen Stilkunſt Etwas, das ſich den 
Wahrhaftigfeiten des Impreſſionismus gegenüber behauptet: das Element 
der Zuverſicht, der Bejahung. In der Bejahung allein — freilich nur 
in einer, die vom Lebensgefühl der Mannheit wieder erworben, nicht vom 
Erhaltungtrieb der Kindheit inſtinktmäßig geübt wird — kann die Kunſt 
Sprache der Seele zu allen Seelen werden, eine Majoritätlunft, in dem 
hohen Sinn der Antike oder der Gothif. 

Aus folchen Rebensgründen, die man in einzelnen Bildern freilich nicht 
leicht erfennt, fondern nur in der Gefammtheit der Werke, wachſen die indivi- 
duell verjchiedenen Kunſtleiſtungen. Bei den Imprejfioniften beftimmt die 
Anfhauungform der Schule das von der Perfönlichleit Gewollte fo ſtark und 
gleihmäßig, daß dem Laien zuerft kaum unterfcheidende Merkmale auffallen. 
Es geht dem noch nicht geübten Auge vor diefer Malerei eben wie vor ber 
japanifchen Kunſt. Das Stilgepräge dominirt jo ſtark, daß die perfönlichen 
Sonderzüge zurüdtreten. Hierin liegt ein Beweis, daß man es mit einer 
organifch gewordenen Form zu thun hat. Die Stillünftleer — Englands 
oder Münchens etwa — unterfcheiden fi dem erften Blick viel deutlicher. 
Über nicht, weil fie fiarke Individwalitäten find, fondern, weil fie fi durch 
befonder8 gearteten Archaismus die Originalität fichern und vermeiden, 
. einander ins Gehege zu kommen. Doch auch hier kehrt ſich das Verhältniß 
wieder um. Denn je näher man mit den Ymprefjioniften befannt wird, defto 
klarer unterfcheiden fich die einzelnen Maler, in Zügen, die zuerft unwefentlich 
erfcheinen und im Grunde doch die wichtigften find, weil jie auf erlebter An⸗ 
fhauung beruhen. In den Werken der Stilfunft aber erfennt man, je länger 
man binfieht, defto weniger lebendige Originalität und findet, daß die Künſtler 
in Allem, was fie felbit dem Archaismus hinzufügen, leicht akademiſch uniform 
werden. Dieſe Stilkunft redet in Berjen, der eigentlichen Sprache der Kunft, 
aber fie tönen und rollen nur, ohne Wahrheit und Anfchauung zu ver: 
mitteln; der Impreſſionismus giebt in Fultivirter Profanfpracdhe lebendig an— 
geihaute Wahrheiten. Jene bringt das Ideal in Verruf; diefer dient ihm, 
ohne es je laut anzurufen. 

Den Werth des artiftifchen Zemperamentes, mit deffen Hilfe der Künftler 
eine Anfchauungform äſthetiſch organifirt, erfennt man im Vergleich Deſſen, 
was die franzöfifchen und die deutjchen Dialer bei gleichen Tendenzen leiten; 
der Unterfchied befteht nicht nur darin, daß die Deutfchen die Schüler der 


11* 





. 144 Die Zutimft. | 


Tranzofen find. Diefe geben ſich, vermöge einer freieren Anjhauungsfraft, 
inniger, naiver und finnlicher al8 ihre deutſche Gefolgſchaft. Es iſt ihnen 
gelungen, mit einem Deonumentalmaterial intime Kunſt zu machen und eine 
neue Art von Heimathkunſt zu fchaffen. Freilich nicht in dem engen Sinn, 
der dem Wort heute anhafte. Trotz dem peſſimiſtiſchen Grundton ihrer 
Kunft wiſſen fie die Kleinen wechfelnden Freuden des Lebens ſehr temperament⸗ 
voll zu erfaſſen; ihr Geift wird in der Refignation nicht ſtumpf, fondern 
bervahrt ſich Geſchmeidigkeit, Interefje und Liebe. So find fie dahin ge— 
fommen, die Gegenstände ihrer Gewohnheiten, die Pläge ihrer Tagesinter- 
efien in einer neuen und feltfamen Weife zu ſchildern. Gie malen die 
Seinelandſchaften bei Saint Denis und Argentenil, das Treiben der Ruderer 

mit ihren Mädchen, die Gartenlolale mit einer fonntäglihen Menge, die 

winmelnden Boulevard und die triften Montmartreftraßen, geben Szenen 

aus Ballkokalen und der Souliffenwelt, zeigen das Treiben auf den Renn— 

plägen, das Innere Öffentlicher Häufer und Kleiner Werkftätten, erzählen vom 

Tagesleben der Armuth und vom Nachtleben des Reichthumes. Aber al 

Das ift ihnen nie Selbftzwed. Was ſie fuchen und oft auch finden, jind 

Ewigfeitzüge, die an Objeft und Heimath nicht gebunden jind, Zarbe und 

Form jenfeits vom Stoff, das Typifche einer Naturflimmung ober einer 

pſychiſch malenden Gefte, Züge des Lebens, die daS verwandte Temperament 

in der ganzen Welt wiederfinden kann. Es leuchtet ein, daß für ſolche vom 

Zufälligen abftrahirende Sinnlichkeit nur der groge Stil taugt, der erreicht 

ift, wenn Form und Stoff auf gleicher Höhe ftehen. Weil den Barifern diefer 

Stil fehlt und fie für eine große Form nicht den pafjenden Stoff finden, ver- 

Ichwenden fie ein großes Kunftprinzip an Dinge des Alltags und fchaffen eine 

intime Heimathfunft, malen vertraute Dinge der täglichen Umgebung, um das 

Ewige, wovon diefe Dinge nur zufällige Objeftivationen find, zu ſchildern. 

In ähnlicher Weiſe benugt Ibſen die nahe norwegische Umgebung, um Dienfch- 

heitprobleme zu zeichnen. Hier wie dort hat man Einmalige und Typifches 

neben einander; die Wahrheit ijt zugleich umfaffend und fpezififch. 

Die deutfchen Impreſſioniſten gehen im SHeimathgefühl leicht unter. 
Maler wie die Worpsweder haben zu viel Zärtlichkeit für die befondere Lands 
ihaft ihrer MWohnfige, ihre Seele ift zu ehr vom Gegenftand eingenommen 
und doch nicht frei von einer anderen Anfchauung, der der Gegenftand gleic 
giltig ift. Ihre Liebe ift immer ein Bischen philifterhaft. Sie dürfte es fei 
wenn fie fich ganz auf fich felbft befchränfte; dann wäre die produzirte Kunfl 
eng und kleinlich, aber in jich ftilvol. Diefe Heimathliebe fteht aber ir 
Dienft höherer Anfchauung und ift doch ftärker: der Diener beherrſcht dei 
Herrn, die Nebenfache wird zur Hauptfache. So kommt e8, daß man in ber 
Bildern diefer Dialer gerade die Werthe vermißt, die das Gegenftändliche zımm 





Impreſſioniſtiſche Weltanfchauung. 145 


Gemeingut machen, die abftrahirende Sinnlichkeit, die der parifer Malerei kosmo— 
politifche Geltung giebt und dadurch auch das nebenbei Gefchilderte international 
verftändlich macht. Wie die Worpsweder, arbeiten auch die impreffioniftifchen 
Maler in Hamburg, Weimar, Karlsruhe und Dresden. Bei Allen vermißt 
man den philofophifchen Muth ber Franzofen, die eine Wahrheit, wenigfteng 
nad einer Seite, ganz ausfchöpfen und fie dadurch zum Weltbefig machen. 

Anders verfahren die modernen berliner Maler. Bon den Yehlern 
der deutfchen Heimathfünftfer halten fie jich frei; aber auch von den Vor⸗ 
zügen der Franzofen. Wenn Diefe ihre Reſignationkunſt am geliebten 
Gegenftand meſſen, jo meflen die Berliner fie am abfolut Gleichgiltigen. 
Auch geht e3 ihnen wie Allen, die eine Idee nicht organifch im eigenen Geift 
entwideln Yönnen, nur eine Dispofition dafür haben und die Erfüllung von 
ftärferen QTemperamenten, die ihnen ihr eigenes Wünfchen und Wollen erft 
erflären, empfangen: die Fülle finnlichen Lebensgefühles fehlt und dieſe 
Empfindungarmuth läßt feine Initiative zu. Die berliner Maler find Mit- 
glieder einer Schule, von.deren Wahrheiten große und Heine Geifter leben 
fünnen; doch muß dieſe Wahrheit jich in einer Perfönlichkeit fpiegeln, wenn 
der Künftler nicht zum Parteimann herabſinken fol. Aber jelbft dann ift 
es möglich, daß folche mittelmäßige Parteiintelligenz einem geiftvollen Stils 
fünftler gegenüber Recht behält. Die beffere Wahrheit, die er vertritt, ftärkt 
das Nüdgrat und giebt den PHiliftergefühlen ein gewiffes Relief. Darum 
machen die berliner Smprefjioniften im Durchfchnitt beffere Dlalerei als bie 
münchener Stilfünftfer, trogdem jie ihnen als Perfönlichkeiten in manchem 
Zug nadjftehen. Wenn der Idealiſt vom blaffen Gedanken ausgeht, fett 
der Smprefjionift ji vor die Natur. Er weiß nie vorher, was er malen 
wird; aus einer Anſchauung gewinnt er die optifchen und aus diefen dann 
erit die äfthetifchen und bie geiftigen Elemente feiner Kunſt. Der Stilift 
erbeuft fein Bild, empfindet im Bett, beim Wein oder fonftwo die Grund: 
ſtimmung dafür. Er tritt alfo präoffupirt vor die Natur und fieht nur, was 
feiner Abficht gemäß ift. Bei ihm entjcheiden allein die Fülle und Wahrhaftig- 
feit der aufgenommenen Natureindrüde, die artiftifche Erinnerungsfraft dar⸗ 
über, ob fein Werk lebendig wird. Hier herricht der Traum, dort die Empirie. 
In beiden Arbeitweifen läßt fih Großes fchaffen; die Namen Bödlin und 
Manet beweifen es. Dem Einen verklärte fich die Anjchauung, der Andere 
wußte feine Träume zu naturalifiren. Daran fehlt e3 den mittleren Talenten. 
Die Impreſſioniſten verlieren fich leicht in Technik und Experiment und die 
Stilfünftler fommen in die Gefahr, Phrafen zu machen, weil ihr anfprud): 
voller Apparat nur von ftarfen Geiftern frei und felbftändig regirt werden kann. 

Welche Schwierigkeiten daS große univerfale Wollen in der Malerei 
zu bewältigen bat, wenn die natürliche Entwidelung der Kunft nicht die 








146 Die Zukunft. 


Form darbietet, der fih Alle, die Großen und Kleinen, bedienen können, 
bemweift Böcklins Werk, das als höchſte Aeußerung des malerifchen Idealismus 
der Gegenwart gelten kann. Nach einem langen Aufenthalt im berliner 
Rembrandtjaal ging ich neulich ins Böcklinkabinet. Die Farben de3 großen 
Träumers erfchienen nun, wo die des Niederländers noch im Auge flimmerten, 
hart, gewaltfam und ohne Tiefe; Das heißt: ohne innerfte Wahrheit. Ich 
war nicht voreingenommen, denn diefe Beobachtung, die ein Ausweichen nicht 
geftattete, erfchredte mich. An einem andren Tage bin ich von Rembrandt 
zu der Sommerlandichaft Monets gegangen, die in der Nationalgalerie unter 
dem Dach hängt. Diefes Bild verlor in feinen farbigen Werthen nit an 
Eindringlichkeit. Nun ift daraus gewiß nicht die Lehre zu ziehen, Monet 
fei größer als Bödlin. Der Schweizer hat Qualitäten, die dem Franzoien 
ganz abgehen. Ob dieſe zeichneriich, Foloriftiich oder ſonſtwelcher Art ind, 
gilt gleich, wenn fie nur als Kunſt die Seele berühren. Aber die Tiefe der 
Kunftwirkung iſt doch abhängig vom Grade diefer Qualitäten; und die Farbe 
ift in einer Malerei nicht das Letzte. Bon Vöcklin ftamınt dad Wort von 
der imaginären Palette, die der Dialer, gegenüber der Unmöglichkeit, das 
Licht mit Farben — die doch vom Kicht erft hervorgebracht werden — wieder: 
zugeben, fi bilden nur. Wer zu fehen verfteht, wird erfennen, wie gut 
gerxde die franzöſiſchen Impreſſioniſten die Naturtöne umzumerthen und eine 
Skala zu Schaffen willen, die den äußerſten Meöglichfeiten nad) oben und unten 
durchaus fern bleibt, ſich nur in Mittellagen bewegt und doch jeder Abjiht 
genügt. Das ift ihre feinfte, vein artittiiche Thantafiethat, die nur vom 
Unwiſſenden unterfhägt werden kann. Böcklins Skala reicht über alle Höhen 
und Tiefen und verlagt doch oft, weil feiner Palette die wahrften Farbenwerthe 
fehlen. Ceine Stärke liegt gar nicht in der Farbe, fondern in der Veran— 
ſchaulichung eines großartigen Traumlebens, wofür die vorzüglicde Rep: o- 
dultionfühigfeit feiner Bılder ein überzeugender Beweis ift. Die gemaltfamen 
und lauten Mittel braucht er, weil er viel mehr will ald irgend ein Im— 
preifion’st: uad diefes Wollen zeichnet ihm den formalen Weg vor. Die Nache 
folge Böcklins aber beweiſt, wie abſchließend die Arbeitweife der modernen 
E tilfünftler iſt; nicht einer feiner Schüler fommt über die brutale Dekora— 
tion, über das Kunſtgewerbe (Diitnchen iſt die Hauptftadt des Kunſtgewerbes!) 
hinaus. Die Münchener verfirchen nicht, eine Heimathkunft in irgend einen 
Sinn zu mahen Daß ſie Höheres wollen, wäre lobenswerth, wenn fie dem 
Wollen da8 Können anzupaffen ſuchten. Denn gewiß ift ber höchſte Punkt 
ter Kunſt erreicht, wenn die Anſchauung ſich folcher Objekte bedient, die ihr 
graduell entjprechen, wenn die Arbeit des Vereinfachens den bdargeftellten 
Segenftand in feiner menfhlidhen wie in feiner malerifchen Bedeutung zu: 
gleich umfaßt. Beffer: wenn malerifche und poetifche Gedanken untrennbar 


Eüdweftafrikanifche Skizzen. 147 


geworden find. Jetzt aber fehlt jeder Richtung unferer Malerei immer, was 
die andere ihr Eigen nennt. Die Stilfünftler vergöttlichen den dargeftellten 
Stoff; aber fie thun e8 mit erborgter Anfchauungform und unwahrer Aeſthetik; 
die Impreffioniften find in ihrer Aeſthetik urfprünglich und frei, den Stoff 
aber humanifiren, fozialiiiren und proletarifiren fie. Im diefem Unterfchieb 
zeigt fich, wie die beiden Schulen von verfchiedenen Weltbegriffen ausgehen. 
Darum haffen Fürften und Priefter den Impreſſionismus in allen feinen 
Aeußerungen und NReflexerfcheinungen; in ihm wittern fie die Mlalerei der ab- 
foluten Geiftesfreiheit, des religidfen Nihilismius, 

Der nad) Eelbftüberwindung ftrebende Menſch wird in ſolchem Nihi— 
lismus nicht beharren; aber er muß hindurch und darf ihn nicht umgehen. 
Den Impreſſionismus darf nur fchelten und verneinen, wer Alles, was an 
Melibegriffen mit ihn zufammenhängt, in Erfenntnigfchmerzen und fauftifchen 
Sorgen erlebt hat. Wer dann gelernt hat, im Sinn diefer Künftler die 
Natur zu fehen, wer fih im ganzen fihtbaren Leben Bilder von eben folcher 
Wahrheit und Schönheit, wie die Franzofen fie uns gemalt haben, auffuchen 
kann: Der allein hat ein Recht, Höheres zu verlangen, als diefe Kunſt zu 
bieten vermag, eine Minlerei zu e:jehnen, in der Empirie und Traum einen 
Scöpferband Schließen und Werke hervorbringen, die höher flehen als jeder 
Wunſch des Laien und de Xheoretiferd. Aber auch er rede nicht viel von 
ſolchem Wunſch, wenn er nicht von der Entwidelung, die ihre eigenen Wege 
geht, verleugnet werden will; vielmehr ſuche er der Kunſt feiner Zeit, wie 
fie num einmal ift, von feiner Gedankenhöhe aus, zu dienen. Denn die Fleine 
That ift ſtets noch mehr als der große Gedante. 


Triedenan. Karl Scheffler. 


Südweftafrifanifhe Sfuzen.”) 


Ejdnozofo; Ort und Begriff. 


ESF inopoto beißt unjer Ort.* „Sforpionenplaß”, weil diefer unangenehme 
XS Pſeudokrebs bier nur felten vorfommt. Auch „Bitterwaſſer“ — der 
Hereroname drüdt ſtets einen Begriff oder Vorgang aus —, weil dad Waſſer 
bier nicht bitterer ald anderswo ſchmeckt. Das polizeilihe Melderegiſter — 
jamohl, jo was giebt es! — belchrt mid, day Ejdnozoko vierundjechzig Weiße, 
einichließglich der Kinder, zählt Dazu fommt die Stationbefagung und eine 
größere Zahl Cingeborener. Das hinmelwärts gefehrte Inftitut der Miffion 
wird duch — fage nnd fchreibe — ſechs mweltzugewandte Kneipen paralylirt. 
Nicht etwa umgekehrt! Zwei Eleine Wagenbauereien bilden den Webergang zur 
Snduftrieftabt. An den Tagen, an denen er nicht betrunfen it, badt ung ein 


*) S. „Zukunft“ vom 3. Oktober 1903. 


148 Die Zukunft. 


Bäder Semmeln. Draußen vor dem Thor fteht eine vereinzelte nagelnene 
„Billa“. Ste ift unfer „Vorort. Da bauen zwei Anfänger (O:ptimijten) in 
einem Garten am Rivier jo viel Kohl, wie ihnen die Heuldireden übrig laflen. 
Schräg gegenüber, etwas weiter hinaus, haben fich zwei ehemalige „Schuß 
truppler“, in dieſem Jahr mit befierem Erfolg, auf den Kartoffelbau geworfen. 
Gentner 45 Mark loco. Der Umfang der von ihnen gezogenen Erbfrücdhte läßt 
weitgehende Schlüfle auf ihre Intelligenz zu. 

Hüben vom Rivier wohnen die ſchwarzen Ehriften — sit venia verbo! —, 
drüben die Heiden, bie Ehrlichen. 

Bormittag. Aus der Schmiede ertönen Arbeitlaute. Ein dider Staub 
ſchwaden quillt die Dorfftraße entlang. Hinter einem bewegliden Wald von 
Hörnern quält fih unhörbar ein plumper Ochſenwagen durd den mablenden 
Sand. Phlegmatiſch wälzen fi im legten Augenblid die ſchwarzen Rangen 
aus ber Fahrbahn. Bor dem store lungert eine Gruppe NegergigerIn herum. 
„Ale Reune! ruft der Kaffernjunge aus der nahen Kegelbahn. Becherklirren 
antwortet ihm. Hinter der Sneipe thürmt fi ein Flaſchenhaufe riefiger Dimen⸗ 
fion auf. Böje Zungen behaupten, die Flaſchen feien einft voll gewejen. Längs 
dem Waſſerfaden im gelben Rivierſande hockt eine Reihe plappernber Wald» 
weiber. Ein junges Ding bat fih mit geſchürztem Rod breitipurig aufgerichtet 
und blickt wohlgefällig auf ein Paar ftrammer, vom Wafjer überperlter Waden 
berab. Ein Reiter der Schußtruppe, der vorbeiichlendert, theilt mit ihr Be 
fihtigungobjeft und Wohlgefallen. Als er, Hinter dem Gartenzaun verborgen, 
den Miifionar erblidtt, wendet er fchnell den Kopf, fängt den „Kleinen Kohn“ 
zu pfeifen an und marlirt den Harmlofen. 

Zwei Stunden darauf rührte fih nichts mehr in Ejdnozoko, das ber volle 
Strahlentegel des über ihm jchwebenden Riefenbrennglajes traf. 

Als Begriff iſt Ejdnozoko vieljeitiger denn als Ort. 

„Ein ganz hübſcher Plab”, jagt der Eingefeflene und drüdt bamit une 
bewußt das Relative aller Dinge aus. 

„Ejdnozoko ift auch nicht viel befier al3 der Übrige Bimmet“, quatidt 
der SKolonialnörgler und beweilt damit, daß Befangenheit des Urtheiles für 
feine Spezies typiſch ift. 

„Kern von Ejdnozoko will ich leben“, brüllt der Ochfe, der hier nämlid 
nichts zu frefien findet. 

„Mein Ejdnozofo ift ein lein-Paris und bildet feine Leute“, ſchmunzelt 
der Kaufmann, während er die ſchwarzen Schönen mit theurem Flitterſchund behängt. 

„Ejdnozoko ift ein Sündenbabel”, groflt es dumpf über die Lippen des 
Milfionars hinweg, wenn die Släfer an einander Elingen und „Schwarz“ und 
„Weiß“ eine preußiiche Farbenverbindung eingehen. 

„Und die Regirung hat body ihr Gutes“, denft der Häuptling des Ort 
als er die ihm von mir gejtiftete Flaſche Rum entkorkt. 

Das Seltſamſte an der Sache ift aber, daß diejes Ejdnozoko gar nicht exiftir 


Um eine Löwenhaut. 


Eines Tages verirrte fi) ein richtiger Löwe nach Ehabmoko. Am Kaoko 
wald fingen die Paviane an, etwas knapp zu werden. Hunger aber thut w 





Südweſtafrikaniſche Skizzen. 140 


und macht dreiſt. In Ehabmoko gab es ſchöne Ziegen. Leider auch böſe Men⸗ 
ſchen, die fie bewachten. Die ſchlugen Lärm und kamen in höchſter Aufregung 
zu den beiden Weißen des Ortes geftürzt. Konkurrenten natürlich! 

„Löwenjagd!“ Das kommt nicht alle Tage vor in Sühmeltafrifa. Hinz 
fowohl wie Kunz rüften aljo Feder für fi eine Zagderpedition aus und machen 
fi) unverzügli auf die Sude. Hinz hat Glück unb trifft nah bei dem Ort 
zuerft auf die Beftie, der es, im Didicht verborgen, vor ben Stonjequenzen ihres 
Vorwitzes zu bangen beginnt. Das Gejchrei der Kaffern, die den Buſch um« 
ftellen, macht fie vollends nervds. Sie ſpringt — das Dümmfte, was fie thun 
tonnte — aufs Gerathewohl ins Freie. Das Verhängnig will, daß in dem 
felben Augenblid aud Kunz mit feiner Schaar auf dem Plan erſcheint. Sofort 
hebt unter betäubendem Lärm ein wildes Sreuzfeuer an. 

Bon einem Dutzend Kugeln getroffen, bricht der Räuber zufammen. Ein 
frenetifches Triumphgebrüll begleitet feine legten Zudungen. Dann ftürzt man 
fih auf den Kadaver und beginnt, das Tell Über die Ohren zu ziehen. Hinz 
und Kunz ftehen, auf die Büchſe gelehnt, in den feltenen Anblick verſunken, 
einander gegenüber. Ein Jeder benft für ih: „Na, Den hätten wir!” Pluralis 
majestatis, wohl verftanden. Hinz, der verheirathet ift, hält es nicht länger 
zurüd. Er eilt nad Haufe, feiner Yrau die große Mär zu künden. Er war 
der Erfte am Platz geweien und feine Leute hatten das Teuer eröffnet. Wer 
fonnte ihm da den Beſitz der Haut ftreitig maden? 

Als die blutige Arbeit des Abhäutens beendet ift, formirt fi der Zug 
zum Einmarfd in den Ort. Auf einem Spieß trägt cin Kaffer den Kopf des 
Löwen voran; ein zweiter wirft fi) bie Haut über die Schultern. So wälzt 
fi, unter dem Jubel ber mobilifirten Einmohnerjchaft, der ausgelafiene Haufe 
in wilden Sarnevalstaumel gen Ehabmoko. Der Zug geht geraden Weges auf 
Kunzens Haus zu. Athemlos kommt Hinz in banger Ahnung berbeigeftürzt. 
Bu fpät; denn ſchwer fällt Kunzens Thür Hinter der glüdlich gelandeten Löwen⸗ 
baut ins Schloß. 

„So 'ne Gemeinheit von dem Kerl!” ſchnaubt Hinz, gebt nach Haufe 
und fchreibt eine grimme Klage an die Polizei: „Mein ift die Haut und mir 
gehört fie an!" Als der Brief in meine Hände gelangt, ftelle ich mit der in 
jolden Fällen ftetS empfundenen Genugthuung feft, daß ich nicht „zuſtändig“ 
bin, und weile den Kläger an den Kadi. Der belegt die Löwenhaut mit Be: 
ihlag und fängt an, die fchwarzen Zeugen zu vernehmen. Hier kann nur der 
Kenner mitempfinden.... Se mehr das Altenheft anjchwillt, defto verworrener 
wird die Sache, deſto ſchwindliger aber auch dem Kadi. Er rafft feine lebte 
Ueberredungskunſt zufammen und bringt fchließlich einen Vergleich zu Stande, 
dur den Herrn Hinz gegen Erlegung von fieben Mark und fünfzig Pfennig 
Gerichtsfoften die Haut zugeiprodden wird. 

Nach einiger Zeit juchte ih Hinz in feinem Heim auf. An ber Wand 
prangte, ganz leidlich präparirt, die viel umftrittene Zöwenhaut. Darunter war 
auf einem Täfelchen zu lefen: 


„Erlegt Ehabmoko, den vierzehnten Juni 19.. 
Hinz.“ 


150 Die Zukunft. 





Bierzehnter Juni... Das war das Datum, an dem er bie ficben Marl 
und fünfzig Pfennig bezahlt hatte. 


Der Wunderdoktor. 


Heute ift der Wunderdoftor eingetroffen. Er fol gegen Rinderpeſt impfen. 
Sein Ruf ging ihm voraus und feine Thaten folgten ihm nad. Er fam frijſch 
aus dem blauweiß geftreiften Lande des Gerftenjaftes. Kein Menjch vertan 
feinen Dialekt. Er ſah aus wie ein unten eingeferbter Rettich mit einem Um: 
bängebart. Xoilettengeheimniffe hatte er nicht. Beim Eſſen ſorgte er bafür, 
daß ihm die Mundwinkel nicht zuſammenwüchſen. Das Fehlen eines oberbaye 
rifchen Wirthshauſes auf je fünfundzwanzig Kilometer ſah er als eine perſön— 
liche Nüdfichtlofigkeit des Landes gegen feine Perfon an. Zuerſt wollte et 
teformiren. Das will Jeder, der nad Südweſtafrika fommt, bis er fi bie 
aldeutichen Hörner an den Felſenkanten abgeftoßen bat. 

Bu Haufe Hatte man dem Wunderdoktor Goldene Berge in Ausſicht ge 
ftellt, die fi bier rafch in nadte Slippenhaufen vermandelten. Das konnte ft 
nicht verwinden und befchloß daher, wieder abzubampfen. Er liebte als Baner 
einen guten Trunk. Nah dem fünften Seidel hatte er unfehlbar „Kurzſchluß“ 
mit feinem Nachbar. In einer Kneipe in Ururamo bat man ihm demonftritt, 
daß Gewalt vor Skandal gehe. Mad dem dritten Kurzichluß flog er in einer 
für fein Körpergewicht ziemlich gefrimmten Kurve zur Thür hinaus auf eine 
alte Konſervenbüchſe. Mit blutender Stirn erſchien er wieder im Lofal und 
forderte ein Glas Bier. Damit die Herren fähen, daß er aud Spaß verſtehen 
önne. Das Bier wird ihm verweigert. „Dann will ich zahlen”, rujt er. Er 
hatte acht Tage lang auf Stredit gelebt. „Das ſchenke ih Ahnen‘, entgegnete 
der Wirth, der das Stonto längft in den Schornftein gefchrieben hatte. „Die 
Herren habens gehört‘; fchreit der Wunderdoftor triumphirend. „Das fit bie 
Quittung!“ Dabei deutet er auf jeine aufgebeulte Stirn. Und raus war el. 

Als ich eben nah Haufe gefommen war, rollte er wie ein Biermagen 
in den Überwölbten Thormeg ein. In feiner Stube begann er dann, den Mittel: 
punkt der Erde zu juchen. Dabei erihien ihm, wie id aus feinen Phantajien 
entnahm, der „geſalzene“ Bulle, der auf zwanzig chem Rinderpejtblut nicht 
reagirt hatte, in der Apotheoſe. 

Mit einer Bitte um Vorſchuß verabſchiedete ſich der Wunderdoktor von 
mir. Vorher Hatte er, ſich vergeblich bemüht, das Letzte, was er beſaß, ſeine 
Tricor-Reithofe, zu verſetzen. Mutter hatte fie ihm eigenhändig zur Afrika— 
fahrt geftridt. 

Sch bin fonft fehr gut mit ihm ausgefommen. In Briefen habe id nie 
das „Hochwohlgeboren“ vergeffen. Das fonnte der Mann verlangen. 

Nach zwei Monaten traf eine vergnügte Anfihtkarte aus dem münchener 
Hofbräuhans don ihm ein. Wir haben ihm ein treue Andenken bemahtt. 
Afrika „lag“ diefem Wunderdoltor num einmal nit. 


Fritz Trekker. 


Partei und Gewerkſchaft. 151 


Partei und Gewerkſchaft. 


SI: Neubelebung der Induſtrie fteht diesmal mehr denn je unter dem Beichen 
n der Organtjation. Der privatlapitaliftiihen Spekulation zieht das die 
Produktion beftimmende Kartell immer engere Schranken, um fie allmählich in 
die Monopolfeftung ber Induftrie, das Syndikat, zu drängen. Das gierige 
Haſten des Proletarierd nad) perfönlidem Wohlſtand und individuellen Glüd 
wird mehr und mehr durch da3 Germeinftreben der den Yohn und die Urbeitzeit 
regelnden Gewerkſchaft disziplinirt und fo der geſammten Arbeiterſchaft nußbar 
gemacht. Trotzdem iſt die Anſchauung noch weit verbreitet, die Gewerkſchaften 
und Gewerkvereine ſeien nichts weiter als an ſich bedeutungloſe Anhängſel der 
jeweiligen politiſchen Parteien. Ein oberflächlicher Blick auf unſere Arbeiter⸗ 
organiſationen rechtfertigt dies ſchnell gefällte Urtheil allerdings. Denn Das, 
was die Grundbedingung zur Erfüllung eines einheitlichen Zweckes iſt, Das, 
was die Unternehmerverbände von Anfang an als Baſis ihrer Organiſationen 
anerkannten, die Einigkeit, die parteipolitiſche und religiöſe Neutralität, fehlt 
ihnen in den meiften Fällen noch. E3 dürfte daher nüßlid) fein, das Verhältniß der 
verschiedenen Gewerkichaftgruppen zu den Parteien einen Augenblid zu betrachten. 
Das Aufiteigen jeder Klaſſe ſetzt Selbftändigfeit in der Vertretung der 
in Trage kommenden Intereſſen voraus. Diefe längit banal gewordene Wahr: 
heit findet, auf die Arbeiterjchaft angewandt, ihren extremen Ausdrud in dem 
Sag: „Die Befreiung ber Arbeiterklajje fann nur das Werf der Arbeiterklaffe 
felbit fein.” Faſt wie eine Ironie eınpfinden wir es im erften Augenblid, daß 
dieje Worte dem WBroletariat von Männern zugerufen wurden, die felbjt der 
atademifchen Bourgeoijie entſtammten. Die jcheinbare Ironie wird aber durch ihre 
beharrliche Wiederholung zur ernten hiſtoriſchen Thatſache. Wieder wird hier ge- 
zeigt, wie eine aufſtrebende, aber bisher unterdrüdte Kulturmacht das intellektuelle 
Arfenal der bevorzugten Geſellſchaftklaſſen Iprengt oder wie ihr — in den meilten 
Fällen — die geijtigen Waffen von ihren Klaſſengegnern bewußt oder unbewußt 
geliefert werden. Die feindliden Klaſſen treffen ſich da, wo fich die fpeziali: 
firten Standesbeftrebungen in allgemeine Ideale auflöjen, alſo auf dem neu— 
tralen Gebiet einer alle Intereſſengruppen umfaſſenden aflgemeinen Bolitif. 
Als im Jahr 1848 die Forderungen unjered deutſchen Biürgerthumes 
ihre Berallgemeinerung im demofratiidy-liberaien Verfaſſungideal fanden, begann 
die intelligente Arbeiterichaft, vor Allen die Buchdrucker, Tabakarbeiter, Hand» 
ſchuhmacher u. A., die Konſequenzen der feierlich proflamirten Grundſätze auch 
für ihre Klaſſe zu ziehen; und Vorkämpfer der bürgerlichen Demofratie, wie bei 
den Buchdrudern Robert Blum und Born, waren e3, die damals die erwachende 
Arbeiterbewegung vor utopijtiichen Irrgängen zu ſchützen und in die Bahnen 
einer bemußten Demofratijirung des mwirthichaftliden und jozialen Lebens zu 
lenken ſuchten. Zum Beleg diejer Auffaſſung citire ih au3 dem Cirkular, das 
die erite Nationalverjammlung deutiher Buchdruder im Juni 1848 an bie 
Prinzipale ergehen ließ: ‚Seit den glorreihen Tagen de3 Monats März, an 
welchen der Zeitgeift feine Schwingen mächtig ausbreitete, an welchen, gteihlam 
gemahnt durch die Poſaune des Weltgerichtes, die Wölfer Europas fich erhoben, 
um die ihnen vorenthaltenern Menfchenrechte zurückzufordern, an melden der 


N 


152 Die Zutunft. 


Kampf der Intelligenz gegen Vorrechte der Geburt begann, erhebt fi der in 
diefem Jahrhundert bejonders gedrüdte Stand ber arbeitenden Klaſſe gegen die 
Unterdrüdung dur das Kapital; gerechte Ausgleihung zwifchen Kapital und 
Arbeitkraft iſt der überall ertönende Auf, im Norden und Süden, im Ofte 
und Weiten Deutfchlands. Nicht die politifche Freiheit allein ift es, welche der 
Arbeiter fo ſchmerzlich entbehren mußte; wie. weit mächtiger noch ift jein Ruf 
nad Brot und Obdach! ES gilt nicht allein feiner politifhen, fondern weit mehr 
jeiner materiellen Eriftenz. Warum, fragt man vielleiht, hört man erſt jegt 
diefen Nothruf? Warum auf einmal in allen Bauen Deutſchlands? Antwort: 
Der Mangel an politifcher Freiheit machte e8 dem Arbeiter unmöglich, jeine 
Klagen laut werben zu laſſen; bei Erhebung ganzer Werkſtätten für Verbeſſerung 
ber Lage der Arbeiter fchritt die Bolizeigewalt ein; die allgemeine Verftändigung 
durch die Preſſe war buch die Cenſur unmöglich.“ 

So ift denn unjere Gewerkſchaftbewegung ein Sind der politifchen Rev“ 
lution, fie trägt die Merkmale ihrer Zeit und unterfcheidet fih von den erften 
Gewerkvereinsgebilden Englands gerade durch die Eigenthümlichkeiten, bie mir 
al8 allgemeine Wejengzüge der renolutionären Epoche bezeichnen können. Der 
unnatürlich frühzeitige Drang nad Centralifirung, der in Großbritanien erit 
nad) Jahrzehnte langen inneren Kämpfen über den partikulariſtiſchen Geift fiegte, 
ſpiegelt die zoll- und wirthichaftpolitifchen Cinigungbeftrebungen wider. Die 
mit dem Kampf um die Berfaflung und das allgemeine Wahlrecht verbundene 
Proflamirung der Gleichberechtigung -aller Stände und einer allumfafienden 
Brübderlichkeit findet ihre praftifche Anwendung in der gemeinfamen Organijation 
von Prinzipalen und Gehilfen. Es iſt eigentlich jelbjtverftändlich, daß bie junge 
Gewerkſchaftbewegung heimathlos wurde und auf dunkle Irrwege gerieth, als 
das auf den Barrifaden angefnüpfte Solidaritätverhältnig zwiſchen Bürgerthum 
und Arbeiterklaſſe, dem die Berufeorganifation entſproſſen war, ein rafches Ende fand. 

Die Legitimirung des verlaffenen Kindes wurde am Ende der fechziger 
Sabre von Mar Hirſch und anderen Anhängern der Volkspartei durch eine künſt⸗ 
liche Wiederverbindung bes Kleinbürgertfumes und bes Snduftrieprofetariate? 
verfucht. Inter dem Barmer der Gleichberechtigung der Stände traten auch die 
beutfchen Gewerkvereine in Thätigfeit, vereinigten fortfchrittlicge Arbeitgeber und 
Arbeitnehmer und ließen noch einmal in abgetönteren Yarbennuancen die ſchöne 
Illuſion von ber präftabilirtien Harmonie zwiſchen Kapital und Urbeit aufleben. 
Deutlich offenbart ſich bier der ftarfe Einfluß, den politifgde Strömungen auf 
unfere Arbeiterbewegung übten. Die deutſchen Gewerkvereine waren eine Kopie 
ber englijchen Trade-Unions; Alles, ſelbſt deren Unarten, hatten fie übernommen, 
nur in einem Punkt waren fie originell: Das war die im nüchternen England 
mit Hohnlachen zurüdgemwiefene Aufnahme von Arbeitgebern in die Organijatior 
ber Arbeiter. Es wäre nicht nur Heinlich, fondern auch unhiſtoriſch, wollte m 
dem verdienftvollen Gründer der Gewerkvereine den Vorwurf maden, daß 
trog der im Statut feitgelegten Neutralität feine Organijationen: abfichtlich t 
das Schlepptau feiner Partei gebracht babe. Die politifche Abhängigkeit de 
Gewerkſchaften liegt tiefer und ift nicht auf heuchleriſche oder gewaltthätige Br 
ftrebungen einzelner Berfonen zurüdzuführen, die ihren politifchen Syreumden di 
Gefolgſchaft der Arbeitermafjen fidern wollten. Die Macht, die berborragen' 





Partei und Gewerkſchaft. 153 


PVerjönlichleiten des Bürgertgumes oder der Artftolratie in die Reihen der Ar 
beiter drängt, ift in den meiften Fällen ein allgemeines Kulturſtreben, das jeinen 
vollkommenſten Ausdruck in einem politiichen Staat3ideal findet und aud) dann 
noch entſcheidend wirkt, wenn der Deklajfirte jein neugewähltes Arbeitfeld be— 
treten bat. So lange alfo die geiftige und damit auch politifche Unfelbjtändigfeit 
die Arbeiter unter die meijt gut gemeinte, aber oft fehr fchädliche Zeitung klaſſen⸗ 
fremder Führer zwingt, kann von wahrer Neutralität nicht die Rede fein. 
Was hier vom Liberalismus gejagt it, gilt in entiprechend anderer Farben⸗ 
abtönung auch für den Sozialismus. Laſſalle und Marz, die Beide die Kultur 
entwidelung nicht von der Hebung der Arbeiterklafje innerhalb ber beitehenden 
Geſellſchaft, ſondern won der Aufhebung der Lohnarbeit, von ber enbgiltigen 
Beireiung der Gejelihaft vom Drud des Kapitalismus abhängig madten, hatten 
eben jo gut wie ihre demokratiſchen Borläufer ein alle Stände umfaljendes 
Staatsibeal, die „Aufhebung der Klaſſen dur den Sozialismus”, im Auge. 
Ihr Einfluß mußte, obgleich er ſich faft ausfchließlich auf die Arbeiterfchaft er- 
ſtreckte, doch ein allgemein politifcher fein und ihr Streben mußte in der Grün. 
dung einer Partei gipfeln, die, den politifchen &epflogenheiten folgend, nur eine 
allgemeine, aljo alle Stände umfaffende fein konnte. Daß die laffallifden und 
die internationalen marxiſchen Gewerkſchaften die Stützen diefer Partei und 
damit die Träger der fozialiftiichen Weltanſchauung wurden, iſt jelbitverftänd- 
lich. Eben fo erklärlich ift aber, daB jeit der Geburt beider Gewerkſchaftgruppen, 
der ſozialiſtiſchen und der liberalen, die madhtraubenden Bruderlänpfe ins Lager 
der organifirten Arbeiterfchaft getragen wurden. Die Folgen einer ſolchen Spal- 
tung find zu bedauern, weil durch die unverjtändige Zerſplitterung der finanziellen 
und geiftigen Kräfte, durch den häßlichen Konkurrenzkampf bei der Agitation 
und durch die unvermeidlichen Eiferfüchteleien bei gemeinjamen Lohnbewegungen 
die planmäßige Akion der Arbeiter gehemmt wird. Zu dieſen rein praftifchen 
Nachtheilen gejellen fich aber für den aufmerkfamen Beobachter noch Mißver⸗ 
bältnifie, die zwar zunächſt rein theoretijch-ethiicher Natur find, aber den Keim 
großer praftifchen Gefahren in fich bergen. Der Stampf um den Vorrang im 
wirthichaftpolitifchen Wirken innerhalb der Urbeiterfchaft treibt die Urganifationen, 
Das bejonders zu betonen, was fie von den Gegnern ſcheidet. So muß der 
Hak und das Mißtrauen fortzeugend Hab und Mißtrauen gebären. Die im- 
manente Unduldjamkeit trat in der Annahıne des berüchtigten Reverſes, durch 
ben die Gemwerkvereine im Jahre 1876 die Sozialdeinofraten von ihrer Orga 
nifation ausfchloffen, befonders täppiich zu Tage, fie offenbarte ſich aber nicht 
minder gemeinihädlich in der hochmüthigen Herablajlung, ja, Verachtung, mit 
der jozialiftiiche Arbeiter ihre andersgläubigen Berufsgenoifen oft behandelten. 
Das Gefühl der Selbftzufriedenheit, das unter ungünjtigen VBorausfeßungen bis 
zum Wahn der Unfehlbarfeit geiteigert werden kann, iſt auch unferen Arbeiter 
verbänden nicht unbekannt geblieben. Bergegenwärtigt man ji dazu noch, daß 
mangelhafte Vorbildung den Eigenfinn in doftrinären Tragen erhöht, jo wird 
man ruhig jagen dürfen, daß gerade die Verbindungen von Arbeitern diejem 
unglädjeligen Gefühl noch öfter zum Opfer gefallen find und vielleicht nody zum 
Opfer fallen werben als die Drganijationen anderer Intereſſengruppen. Daß fich - 
die Unduldfamfeit gegen den äußeren Feind auch gelegentlich mit ihrer ganzen 


154 Die Zukunft. 





Wucht gegen eine innere Oppofition kehrt, bedarf kaum der Erwähnung. Als 
ber Teffentlichleit am Meiften belannt, ift, zum Beweis für die dogmatiſche Ber- 
Inöcherung einzelner Urganifationen, der zähe Kampf zu erwähnen, den bie fort- 
jhrittliden jugendlichen Elemente der beutfchen Gewerfvereine gegen ben Beamten: 
bureaufratismus ihrer berliner Gentralleitung führen müflen. Aehnliche Konflikte 
haben natürlich auch die fozialiftiichen Gewerkſchaften beſonders während des Aus- 
nahmegeſetzes erſchüttert. Daß e3 in ihren Reihen feltener zu offenen Gefechten 
gekommen ift, erklärt fich zum Xheil wohl aus ber den fozialütiichen Arbeitern 
anerzogenen Disziplin und Unterordnung unter die Majoritätbeihlüffe, zum 
anderen, ich glaube: zum mwefentlichen Theil aus der größeren Unpafiungfähigfeit 
der freien Gewerkſchaften an bie neuzeitlichen Bebürfniffe. 

Noch deutlicher als die Meinungverfchiebenheit über Grundſätze weilt bie 
abweichende Auffaflung der praktiſchen Gewerkſchaftarbeit auf eine verfchieden- 
artige Beeinfluffung der beiden Organifationen bin. Bis zur Aufhebung des 
Sozialiſtengeſetzes konnte man die Taktik der Mehrzahl der freien Gewerffchaften 
eine revolutionär-fozialiftiiche, das Wirken ber Gewerfvereine, mit der nötbigen 
Anerkennung weniger Ausnahmen, ein Meinbürgerlic}-opportuniftifches nennen. 
Auf den Lohnkampf Übertragen, maden biefe allgemeinen und daher unvoll⸗ 
fommenen Bezeihnungen die Thatjache verftändlich, daß die Gewerkvereine Alles 
zur Bermeidung von ausfichtlofen, vielleicht da und dort auch zur Verhinderung 
bon hoffnungvollen Strikes aufboten, während bie Gewerkſchaften in jedem Kampf, 
ohne Rückſicht auf feine Wirkungen auf die gegenwärtigen Verhältniſſe, eine will- 
fommene Gelegenheit begrüßten, das Klaffenbewußtjein der Proletarier zu weden. 
Auch auf dem Gebiete ber gegenfeitigen Hilfeleiftung Tönnen wir die Spuren 
der verfchiedenen Taktik-Maximen verfolgen. Die Gewerkvereine fonzentrirten 
faft ihre ganze Kraft auf den Ausbau des Unterftüßungweiens und bevorzugten 
fogar unter den vielen Verfiherungzweigen die ausfchlieglic den Charakter der 
Wohlthätigkeit tragenden, wie die Stranfen-, Sterbe- und Invalidenverſicherung: 
die Gewerkſchaften dagegen befämpften fo ziemlich jede genoſſenſchaftliche Selbſt⸗ 
hilfe als untaugliches Flickwerk an einer unverbeſſerlichen Geſellſchaft. Theo— 
retiſch wurde diefe Antipathie gegen heilfame innere Reformen mit der minbeitens 
in nicht wiſſenſchaftlichen Kreiſen ſehr ſchematiſch aufgefaßten Verelendungtheorie 
gerechtfertigt; praktiſch hielten wohl die kindlichen Illuſionen von der Allmacht 
des Parlamentarismus und der unendlichen Leiſtungfähigkeit des Staates die 
Sozialiſten von der Pflege des Unterſtützungweſens zurück: ſie erklärten dieſe, 
wenn ſie ſich überhaupt um ſie bekümmerten, rundweg für eine Pflicht des Reiches. 

Der 1866 neu konſtituirte Buchdruckerverband, der von Anfang an ver—⸗ 
ftanden hatte, fi) von den verſchiedenen parteipolitiichen Einflüflen frei zu Halten, 
fand zwilchen den von den beiden Organifationgruppen gewählten Ummegen die 
gerade Mittelftraße. In Eräftiger Vertretung der Arbeiterintereilen ging er un⸗ 
vermeidlihen Kämpfen gefaßt und vorbereitet entgegen und errang — Man 
fönnte faſt jagen: erzwang — jich ſchließlich durch feine jtreitbare Macht den 
gewerblichen Frieden, die Tarifgemeinfchaft mit den PBrinzipalen. Was die 
ſchwachen Gewerfvereine feit der Zeit ihrer Gründung herbeifehnten, wa3 die 
Gewerkichaften mit den Radikalismus ber Unfähigkeit verabjcheuten: die frieblich 
tarifarijche Regelung der Lohn: und Arbeitbedingungen, haben die Buchbruder 


Partei und Gewerffchaft. 155 


zuerst praftiich durchgeführt. Die Angriffe, die alle alten Verfechter der Ver 
elendungtdeorie und bes gewerkichaftlichen Nevolutionarismus gegen die buch- 
druderlichen „Harmonieduſeler“ fchleuberten, find befannt. Die konſequenteſten 
Anbänger der alten revolutionär-fozialiftiiden Richtung unterftügten ſogar, troß 
ihren ſonſt ftreng centraliftifchen Tendenzen und troß der ftarfen Betonung ber 
demofratifchen Unterordnung der Minderheit, eine Abjplitterung, die fih, als 
die Tarifgemeinichaft erreicht war, 1896 vom Bucddruderverband unter dem 
Namen Gewerkicaft losſagte. Der Kampf zwiſchen diefem Sonderbund und 
dem legitimen neutralen Berbande*) ift zu einem heißen Gefecht um bie partei: 
politifhe Unabhängigkeit der Berufsorganifationen geworden. Das Ende war 
der Triumph des Berbandes. Die Gewerkſchaft hat fi in Erkenntniß ihrer 
Bebeutunglofigfeit wieder unter die fiegreiden ahnen der Neutralen geftellt. 
Und mit dem Berband triumphirte bald auch die neue Auffaffung der gewerk⸗ 
ſchaftlichen Taktik. 

Die Werthſchätzung bes Unterſtützungweſens hatte ſich längft in aller Stille 
Bahn gebrochen und es iſt äußerſt bezeichnend für dieſe Thatſache, daß ſogar 
die radikale Buchdruckergewerkſchaft mit einem ganzen Ballaſt von Verſicherung⸗ 
zweigen ins Leben getreten war. Wenige Jahre, nachdem man ſich mit der 
Tarifgemeinſchaft der „Harmonieapoſtel“ abgefunden hatte, gaben die bis auf die 
Knochen ſozialdemokratiſchen Maurer ihre Unterſchrift zu kollektiven Arbeitver⸗ 
trägen. Damit haben die Revolutionäre ſelbſt den Boden ihrer Doktrin ver⸗ 
laſſen. Dieſe Entwickelung konnten auch die Lokaliſten, ein ſeltſames Gemiſch 
von anarchiſtiſch individualiſtiſchen und kleinbürgerlich ſozialdemokratiſchen Ele- 
menten, nicht hindern. Dieſe Gewerkſchaftgruppe hat bis zum heutigen Tage 
mit harmloſem Biertiſchradikalismus, inſpirirt durch einflußreiche Inhaber von 
Arbeiterwirthſchaften, gegen die „Verſumpfung“ der Centralverbände gekämpft. 
Für dieſen Heiligen Krieg ſuchten fie die Mithilfe der Sozialdemokratie, zu der 
fih die Lofaliften laut Statut befennen, zu werben. Die offizielle Partei hat 
allerdings in der leßten Zeit faum mehr als das Entgegentommen gezeigt, bag 
fi) mit der neutral vermittelnden Rolle einer politiichen Körperfchaft verträgt, 
die beitrebt fein muß, ihre Anhänger nad Kräften zuſammenzuhalten, und alfo 
nirgends ganz verlegend auftreten darf. Es giebt faum einen deutlicheren Beweis 
für das allmähliche Anwachſen der Macht und bamit auch bes Einfluffes der 
freten Gewerkſchaften auf die Sozialdemofratie als diefe Thatſache. 

Was am der Lofaliltifchen Bewegung interejfirt, ift übrigens nicht ihr 
Nadilalismus, fondern ihre decentraliftifhe Richtung. Völlige Autonomie der 
einzelnen Ortsvereine und in dieſen wieder jedem Mitglied möglichit ungehemmte 
Bemwegungfreiheit, fein Einſpruchsrecht eines ‚‚ortsunfundigen Centralvorſtandes“, 
feine Einordnung der lokalen und individuellen Beftrebungen in ein einheitliches 
nattonales Gefammtwirken: mit diefen engherzigen und kindlichen Anfchauungen 
erffärte dieje Vereinigung den „‚centralverbändleriichen Päpften” den Serieg. Und 
doch hat unjtreitig der Anarchismus in der Gewerkſchaftbewegung reinigend und 
erfriichend gewirft. Ich habe fchon erwähnt, wie leicht die Organijationen dem 


— — 





*) Die der Centralkommiſſion der deutſchen Gewerkſchaften angeſchloſſenen 
Verbände nennen ſich legitime Verbände. 


* 





156 Die Zukunft. 


Bureaufratismus verfallen, und muß binzufüigen, daß ein allzu ſchematiſcher 
Centralismus in den Berufsorganifationen eben jo verberblid werden Tann we 
im Staatsleben. Der oft raffinirten Wühlarbeit der Lokaliſten ift es num om 
ihr Wollen gelungen, die Verbände zu einer vorbeugenden Taktik zu veranlafen 
Sie fuchten Örtliche Abjplitterungen durch die Anftellung von Vertramensleuten 
und Agitationleitern an den verjchiedenften Orten im Reich zu vermeiden un 
tragen fo den berechtigten föderaliftiihen Anſprüchen Rechnung. 

Ohne fih Illuſionen hinzugeben, Tann man heute jagen, daß die beiden 
eingebürgerten alten Gewerkſchaftgruppen Deutichlands, bie liberalen und bie 
jozialiftifchen, in ihrem praftiihen Wirken und in ihren Grundanfchauungen 
einander ſchon fehr nah gekommen find. Ach will nicht nachrechnen, wer mehr 
nach rechts, wer mehr nad) links gewichen ift; der Zwang der Entwicdelung het 
beide Organifationen auf den Punft gedrängt, wo fie Arbeiterintereffen ein 
heitlich vertreten müfjen: auf das wirthfchaftlicde Gebiet. Damit tft allerdings 
weder eine baldige Verſchmelzung beider Gruppen noch die Durchführung de 
parteipolitiiden Neutralität verbürgt. Die Gewerkſchaften müſſen Politik treiben, 
bis ihre fozialpolitifchen forderungen erfüllt find; alfo wohl immer. Die Ar 
beiter werden aber fo lange in geiftiger Abhängigkeit von klaſſenfremden Ström: 
ungen bleiben, bis fie vom Fonds der eigenen Erfahrung, des eigerren Wiſſen⸗ 
und der eigenen Ideale zehren können. Daraus folgt, daß fi) auch die Gewerk⸗ 
haften um die Gunft der politifchen Parteien bemühen müſſen, bis fie fi aus 
eigener Kraft eine parlamentarifche Bertretung jchaffen können, 

Während ſich die alten Gewerkichaftgruppen von der parteipolitiichen Bor- 
mundſchaft langiam befreiten, fammelte fi eine Kleine, aber raſch wachſende 
Arbeiterichaar un das Banner der dhrijtlihen Demokratie. Um die Dritte ber 
neunziger Jahre gelang es einigen Sozialpolititern und warmherzigen katholi⸗ 
ſchen Pfarrern, die in Vergeſſenheit gerathenen Gedanken des tapferen Biſchofs 
Ketteler new zu beleben und ihnen durch die Gründung der driftlichen Gewerk 
haften zu praftifcher Anwendung zu verhelfen. Wie einft die VBerjüngung der 
liberalen Partei durch die Arbeiter erhofft wurde, ſuchten nun tiefer blidende 
und wohl auch ernftere Aırhänger des Centrums ihre innerlich durch die Standes⸗ 
gegenfäge zerflüftete Partei unter Mithilfe der ‘Proletarier wieder zu einen umd 
zu demofratijiten. Das Chriftenthum, das fo lange den Intereſſen der Be 
figenden dienen und deren politifche und wirthichaftlide Kämpfe unterftügen 
mußte, wurde zum allgemeinen Volksideal gemadt. Aus dieſer Berallgemeinerung 
fhälte fih dann allınäylid die Religion der Enterbten, das Chriſtenthum der 
Gewerfichaften heraus. Steine Arbeitergruppe hat fich mit fo wenig Originalität 
und mit fo großem Geſchick bereit anerkannten Erfahrungen und Gepflogen⸗ 
heiten angepaßt und Feine Bat fi jo Schnell die Einrichtungen ihrer Gegner "" 
geeignet wie die chriſtliche. Es dürfte ſchwer fallen, die unterfcheidenden M f 
male zmwijchen der rijtlichen und der freien Gewerfichaftbewegung zu extent 1: 
alle Gegenjäge verflüchtigen fih in die Schemen ungreifbarer Weltanſchauun N. 
Und dennoch das unleugbare Gedeihen ber riftlichen Gewerkſchaften? Vielle }t 
gerade deshalb. Das religiöfe Empfinden ift im beiten Hal von den Äbri N 
Berufsorganifationen ignorirt, im ſchlimmſten Falle aber gröblich von ih 
verlegt worden; und doc bildet es die einzige Brücke, über bie ber glär' I 











Partei und Gewerkſchaft. 167 


Arbeiter ins neutrale Wirthſchaftgebiet ſchreiten kann. Wir brauchen alſo in 
dem Entfiehen der chriſtlichen Gewerkſchaften keinen Rückſchritt zu beklagen, trotz⸗ 
dem ihr Auftreten die leidige Arbeiterzerſplitterung noch verſchlimmert hat. 
Wenn auch die Förderung dieſer Organiſationen vielleicht vielfach nur dem Zweck 
dienen mag, dem alten Centrum neue Kraft zuzuführen: die chriſtliche Gewerk⸗ 
ſchaftbewegung hat einem Theil der indifferenten Arbeiterſchaft ſo viel an bleiben⸗ 
den Idealen gegeben wie die ſozialiſtiſche der Mehrzahl unſerer organiſirten 
Proletarier. Chriſtenthum und Sozialismus müſſen im Dienſte der Arbeiter⸗ 
bewegung zu den ſelben praktiſchen Konſequenzen im wirthſchaftpolitiſchen Wirken 
führen und können daher auf die Geſammtaktion einen einheitlichen Einfluß aus⸗ 
üben, ſobald jede klaſſenfremde und parteipolitiſche Einmiſchung unterbleiben muß. 
Wer das Berhältniß der Berufsorganiſationen zu den politiſchen Parteien 
fennen lernen will, darf ſich nicht bei Aeußerlichkeiten aufhalten, fondern muß 
den Geiſt erfafien,; er darf nicht bei ber Betrachtung der verjchiedenen Banner 
und Abzeichen die einheitliche Vorwärtsbewegung ber Armee überfehen und fein 
Ohr darf dur die Feſtphraſeologie der Kongreſſe nicht taub gemacht werden 
gegen die forderungen des Alltagslebens, die alle Organijationen übereinftim- 
mend erheben und gemeinfam erringen. Grundfäße, mit benen bie Praxis viel- 
leicht ſchon längft gebrochen hat, leben im Volksbewußtſein noch fort; und noch 
tonfervativer als der Intellekt ift das Gefühl. Wie es zweifellos ift, daß ber 
politiiche Befreiungsfampf der Gewerkichaften fi vorbereitet, jo klar ift es auch, 
daß Tiebgewordene Traditionen nicht mit einem Ruck aus den Herzen der Ar- 
beiter gerifjen werben können. Uns genüge aber einftweilen die unleugbare 
Thatfache, daß der bisherige Kampf unferer Arbeiterorganifationen nit nur 
ein planmäßiges Ringen nach wirthichaftlider Macht, nicht nur unerjchrodener 
Streit um die Berallgemeinerung der Kulturgüter, ſondern auch ein unaufhalts 
fames Streben nach Ueberwindung der eigenen Schwäche gewejen ift. Die 
Gewerkſchaften werden fi ihrer hohen Verantwortung für das Wohlergehen der 
ganzen Arbeiterklaſſe und das Gebeihen der ganzen Nation mehr und mehr be 
wußt und ihre wirthichaftlichen Funktignen dehnen fi auf immer weitere Gebiete . 
aus. In taftiichen und wirthichaftlicden Fragen haben fie bereit ihren eigenen 
Weg gefunden; fie werden früher oder jpäter gezwungen fein, ihre fozial- und 
wirthichaftpolitifche Aktion der Eigenthümlichkeit ihres öfonomifchen Wirkens an⸗ 
zupajlen. Ob eine ber beitehenden Parteien fich zur parlamentarifchen Exekutive 
der Arbeiterorganifationen maden, alfo auf ihren allgemein politifchen Charakter 
zu Gunsten einer Stlafjenvertretung verzichten oder ob eine politifche Neuorgani- 
fation im Sinn einer Gewerkichaftpartei erjtehen wird: Das gehört ins Reid) 
der Prophezeiungen. Uber daß unfere organifirten Arbeiter in und außerhalb 
der Parlamente ihre eigene Politik treiben müfjen, wenn fie mit der Neutralität 
die Beeinflufjung der Gejeßgebung verbinden wollen, wird fchon heute kaum mehr 
angezweifelt. Die Gründe der Abhängigkeit der Berufsorganifationen liegen in 
der intellektuellen Unſelbſtändigkeit der körperlich überanftrengten und geiftig ver- 
nadjläffigten Arbeiter. Wer es ernjt nimmt mit der Neutralität, Der helfe die 
Ürbeitverhältniffe beflern und die Volfshildung heben. Hier wäre auch für unfere 
Regtrung, die ſich durch die aufdringlichen ſozialdemokratiſchen Dekorationen auf 
Gewerkſchaftkongreſſen jo abgeftoßen fühlte, ein Tyeld zur Reformarbeit. 


Düfleldorf. Fanny Imle. 
ð 12 


158 Die Zukunft. 





Selbitanzeigen. 
Meine Haide. Gedichte. Mar Hefles Bollsbücherei. Leipzig. 20 Pfennig. 


Ich möchte, daß diefe Gedichte auf Den, der fie lieft, wie ein Sommer 
wirken, wie ein Sommer voll Glanz und Gluth, voll Schwüle und Schwere, 
voll Ruhe und Reife, wie ein Sommer, verlebt in der einfamen norbbeurfchen 
Haide. Wer aus der Welt, aus Kampf und Leben, Lieben und Haffen, in bie 
Haibe entfließt, ber ift fich felbft und ber Natur, wie ein Kind der Mutter, preis 
gegeben. An all ihren Freuden wird fie ihn theilnehmen laffen und den Be- 
fangenen wieder hellfehend machen wie ein Kind; aber auch all ihre Schauer 
werden jein von einfamen Gedanken und von ber Phantafie erhigtes Blut durch⸗ 
jagen und burchpeitihen. Der Zauber der Stimmungen wird ihn immer inten- 
fiver, das Leben auffteigender Traumgeftalten immer greifbarer und wirklicher 
umgeben, fein Fühlen, Glauben-und Wiflen wird immer tiefer und reicher werben, 
bis es ganz eins wird mit der Natur, feiner Heimath, feiner Mutter... Das 
tft der Zauber der Haide: ein füßes, jeliges Gliederlöfen, nur Träumen, nur 
Laufen und Sehen... 


Wie dunkle Träumeraugen glähn 
verſchwiegne Weiher bier und dort, 
Leuchtläfer in ben Lüften ſprühn, 
die Grillen fingen fort und fort. 


Wie Silber glänzt der Haideſand, 

die Hummeln läuten burch das Kraut, 
ſtill übers flache Hügelland 

ſchwimmt ein verworrner Slodenlaut... 


Die Romantik mit all ihrem Bellen Zauber erwadt. Da hört man den 
bumpfen Huffchlag jagender Roſſe, das leife Klirren von Waffen, das hetzende 
Athemholen muthiger, fchnellfüßiger Braden; da raufcht e8 von Sammet und 
Seide und zu Harfenzupfen Klingt das Lied heiß fordernder Minne. Lichte Ge— 
ftalten erjcheinen dem Träumer auf der noch frühlinghaften Haide. 


Mädchenträume. 


Sie faß und ſtickte emfig fort, 

fie jang das ſchwere Lied vom Konigsmord, 
von Lilien ſang ſie, die verblühn, 

von Liebesgluthen, die verglühn, 

vom Schiffer, fern in Nacht und Wind, 
von Mädchen, die verlaſſen ſind. 


Site ſang, bis daß der Abend fam... 

Als fie dad Tüchlein von den Brüften nahm, 
legt fie ein Blättchen Wegebreit, 

das gegen Sudt und Sehnſucht feit, 

in ihren Gürtel ſtill hinein 

und ſchlief mit einem Seufzer ein... 


Selbftangeigen. 159 


Mit friebvoflen Gefängen, wie file nur Der fingen Tann, der fi eins 
mit der Natur fühlt und dem fie die Ruhe des Herzens wiebergab, klingt ber 
erite Theil des Buches: „Selige Sommertage" aus. Aber e8 bleibt nicht fo. 
Mit der Sommerfonnenwende und ihrer Schwüle, mit den Tobesahnungen der 
Natur, mit Sommerfturm und Gewitter erwachen all die dunklen Regungen in 
der Menfchenfeele, das Gefühl des Berlafienjeins, die Furcht vor der Natur, 
die Furcht vor dem Tode. Das Totenvöglein fingt um Mitternadt, der apoka⸗ 
(gptifhe Reiter erfcheint im Abendnebel, die dunkle Sehnfucht nach einer Früh⸗ 
verftorbenen wird wad, ber müde Wanderer fucht das Grab feiner Mutter: 
Alles tft Uufion, Liebe und Haß, Glaube und Willen, — wir find unrettbar 
dem Walten ber Naturkräfte bingegeben. Was tröftet und, wenn die Seele, 
da8 Bewußtſein, die Individualität für immer mit dem Tode erlifht? Der 
Ergründung dieſes furchtbarſten Problems, das erft dem Dann, der bie Sommer- 
ſonnenwende be3 Lebens überfchritten hat, mit allen feinen Schrednifien ericheint, 
ift der zweite Theil des Buches: „Sommerjonnenwende“ gewibmet. Bis zur 
Berzweiflung werden dieſe Stimmungen burchlebt und gewiffermaßen zur Kataſtrophe 
in der Gefpenfterballade: „Die Heimkehr“ und in den Bifionen „Der Bauer 
‚und ber Tod“, „Chriftus beruhigt das Meer“ und „Traum“ geführt und aud 
überwunden. Die Leitmotive des erften Thetles werden nun wieder aufgenommen. 
Der Herbit naht. 

" Reiter im Herbit. 
Bier wilde Gänfe ſchrecken fen empor — 
Wer reitet noch zum Abend übers Moor? 
Der dide Nebel theilt ſich ſchwer und träg — 
Ein rotbraun Nößlein klappert übern Weg. 


Ein Rittersmann! Sein Fähnlein ſchwimmt in Than, 
Schwarz tft die Rüftung und fein Auge grau 
Blickt ftarr und ftill wie in ein weites Grab. 
Sein Rößlein nagt am Weg die Kräuter ab. 


Er reitet wie verbroffen, wie im Traum, 
Wohin er blidt, erjhauern Bujh und Baum, 
Und was er ftreift mit feiner Eifenhond, 
Riedgras und Rohr, ſinkt nieder wie verbrannt. 


So taudt er langjfam in das Nebelmeerr — 
Dicht fallen welke Blätter hinterher. 


Mit folden Herbjtimmungen, mit Bauernballaden und Schwänfen, mit 
Liedern von Herdglüd und Kinderluſt fchließt das Bud). 

Uebrigens wurde mit diefem etwa hundert Seiten ftarfen Büchlein, jo 
viel ich weiß, ber erſte Verſuch gemacht, ein modernes Gedichtwerk durch eine 
Volksausgabe weiteren Volkskreiſen zugänglich zu maden. 

Wilmersdorf. Hans Benzmann. 
* 
12* 


1860 Die Zukunft. 


Tantoccini (Vers und Proſa). Pierfon 1902. 4 Matt. 

Ich ſchlage — manchmal in bürrem Zorn, öfter in genußfähigem Humor — 
von einem nach ernfteftenm Suchen endlich gefundenen ftandfeften Mittelpunkt 
nad allen Seiten um mid. Treffe ich, halb wider meinen Willen, einen Arno 
Holz: dann babe ich die Narzenpritiche in der Hand; denn ich liebe den ftolzen, 
tapferen Arno. Uber den Wuthlnüppel oder das ironiſche Stilet gebraude id 
gegen das Banauſenthum verfchiedenfter Vermummung: gegen täppifche Willen“ 
knechte oder dlige Glüdjeligfeitphilifter, gegen alle Gut: und Schönmeierei, gegen 
frampfige Brutalität eben jo wie gegen verlogene Zärtelei. Wenn mans nicht laut 
binausfchreit, verwehts im Winde, Mas thuts, ob eine zarte Seele Ohrenſchmerzen 


davon bekommt? Dr. Otto zur Linde 
* 


Stunden und Sterne, Neue Gedichte. Oeſterreichiſche Verlagsanſtalt in Wien, 
Neue Gedichte jelbft anzuzeigen, ift nicht fo leicht; denn wie joll man 
von Lyrik fagen, was man mit ihr „gewollt“ Hat? Ich darf höchſtens anbenten, 
daß ich mein Dichten bier als eine Poeſie der feelifchen Unterſtrömungen, des 
Unbewußten bezeichnen möchte, auch als Poefie der landſchaftlichen Hintergründe: 
denn Landſchaft iſt Lyrik. Wird man die Muſik zwiſchen den Zeilen hören? 
Die AUbtheilung „Heimat und Jugend“ enthält Manches, was ich vor langer 
Beit, ganz am Anfang ber achtziger Zahre, als Jüngling gefchrieben babe; ih 
nahm es auf, um zu zeigen, daß ich damals, ehe es noch eine moderne deutſche 
Stimmunglyrit gab, ihre Töne ahnte, — leider zu früh! Die „Stunden und 
Sterne" find meine zweite Gedichtiammlung. Ihnen gingen 1897 „Helldunkle 
Lieder“ vorans. Bodo Wildberg. 
$ 
Die Zuftändigfeit des Preußiſchen Heroldsamtes. Archiv für öffent 
liches Recht. Tübingen, J. C. B. Mohr. 

Die Schrift behandelt einen Gegenſtand, der bisher zwar mehrfach in 
richterlichen Entſcheidungen zur Sprache gekommen, aber noch nicht im Zuſammen 
hang in wiſſenſchaftlicher Weiſe behandelt worden iſt. Ich habe verſucht, ihn 
nicht nur wiſſenſchaftlich erfchöpfend zu erörtern, ſondern auch Allen, die mit dem 
Heroldsamt zu thun bekommen, die wünjdhenswerthen Aufflärungen zu geben. 

Großlichterfelde. Dr. Stephan Kekule von Stradonitz 
$ 


Walt Whitman: Grashalme. Eugen Diederichs, Leipzig. 

Eine Auswahl der Dichtungen Whitmans, mit einer Einleitung, auf die 
hier ſtatt aller weiteren Erläuterung hingewieſen ſei. Möchte der Menſch Whitman, 
der nie den Ehrgeiz hatte, ein Literat oder Reimſchmied ſein zu wollen, auch 
in Deutſchland die Beachtung finden, die ihm gebührt. Vielleicht kann er Manchem 
von uns zur verlorenen ſeeliſchen Geſundheit und Freude — bie höher ift alb 
alle Vernunft — zurückverbelfen. 


Kiel. - Wilhelm Schölermann. 














Der Sklavenboom. 161 


Oskar Bilde: Die Ballade vom Zuchthauſe zu Reading. In einer numerirten 
Auflage von 200 Exemplaren, ohne Buhihmud. Inſel-Verlag. Leipzig. 
Diefer Berfuch einer Uebertragung der „Ballad of Reading Gaol* in 
der fechszeiligen Strophe des Originals entfprang einem zufälligen Antrieb, 
nicht dichterifchem Ehrgeiz. Die Aufgabe des Ueberſetzers ſchien mir darin zu 
beftehen, Inhalt und Stimmung in der gegebenen Bersforn feitzubalten, alfo 
der Form zu Liebe ben genauen Wortlaut vereinzelt zu opfern. Die Mängel 
der Uebertragung wird man um fo nachfichtiger beurteilen, je mehr aus ihnen 
die Vorzüge bes Originals zu erfennen find. 


Kiel, Wilhelm Schdlermann. 


BR 


Der Sklavenboom. 


ch, Abraham Lincoln, Präfident der Vereinigten Staaten, befräftige und 
FOX erkläre, daß alle Sklaven frei find und Hinfüro. fein follen und daß bie 
Erefutive der Bereinigten Staaten, mit Einjhluß der Armee- und Marine⸗ 
behdrden, die Freiheit diejer Perfonen anerkennen und verbürgen wird. Und 
für diefen aufridtigen Akt der Gerechtigkeit rufe ich das ruhige Urtbeil der 
Menſchen und die gütige Gnade bes allmächtigen Gottes an.” So geſchehen am 
erften Tage des Jahres 1868. England jubelte Lincoln zu, denn damals gefiel 
es fich noch in ber erhabenen Rolle des milden Sänftigerd der Sitten, der die 
Menfchheit auf den Weg zum Guten führt: sceptra tenens mollitque animos 
et temperat iras. Andere Zeiten, andere Lieder. Vierzig Jahre nad} der Eman- 
zipation der unterm Sternenbanner baufenden Neger läßt die engliſche Regirung 
in Sübafrifa die Sklaverei wieder aufleben. Nur in einer anderen Gonleur: 
gelb ftatt Schwarz. Und den Börfen entringt fi ein Freudenſchrei. Die Jobber 
fpringen vor Luft. Direftoren umarmen einander. Liane de Pougy befommt 
das theuerite Automobil. Der Boom ift da. Europa beglüdt von China! Das 
Meich des Himmelsjohnes wird die hohe Ehre, fo rajch nach der Züchtigung von 
Taku, hoffentlich zu ſchätzen wiſſen. Wenn das erfte chinefifche Kulifchiff von 
Shanghai nah dem Kap ausläuft, wird, denke ich, der englifhe Konful den 
hinefifchen Gouverneur zu einer Flaſche Sekt einladen, fein Glas erheben und 
iprechen: „Laſſen Sie ung, Excellenz, auf eine Bölfergemeinfchaft trinken, die ihre 
edelfte Blüthe in dem Beftreben zeitigt, einander beizuſtehen!“ Und die dinefilche 
Ercellenz wird in ehrerbietiger Rührung den füßen Inhalt des Kelches leeren. 
Bon den vielen Schändlichkeiten, die, feit Law das Werthpapier erfand, 
einer Aktienhauſſe als Leiter dienten, iſt dieſe Einfuhr von Chinefen nad Süpd- 
afrika -die ſchändlichſte. Die Verträge zur Beihaffung des Menjchenmateriales 
ſchließt man mit cdinefilchen Lieferanten ab. Der Preis für das Stüd zwei— 
beinigen Viehs verſteht ſich franko Sübafrifa. Das Rififo der Sachbeſchädigung 
bi8 zur Ankunft am Beftimmungorte trägt der Verlader.. Jede Sendung wird 
nach drei Jahren retournirt, um der Gefahr zu fteuern, daß das Vieh etwa zu 
jehr von der Kultur beledt und am Ende gar von Menſchenwürde durchdrungen 
werden fünne. In der Heimath muß fi das zurückbeförderte „Material” zu- 


” 


162 Die Zukunft. 


näcdft erft wieder zerftampfen laffen, um zum zweiten Mal auf das Robitofi- 
niveau binabzufinten, auf dem es allein verwendbar if. Schönheitfehler ſchaden 
nicht. Und zu den Schönheitfehlern zählt auch Yues. Man forgt ja baflir, daß 
das Vieh hübſch ifolirt Bleibt. Drei Jahre lang — Das heißt: bis der Kon- 
traft mit dem Großunternefmer, recte Sflavenhänbler, zu Ende gebt — führt 
der Weg vom Stall zur Arbeit und von ber Arbeit zum Stall Das Futter 
liefern die Minenmagnaten. Jedem Stüd der Heerde wird am Ende feiner 
Beit dann ein Keiner Beutel mit Golbftäden umgehängt. Das iſt bie Löohnung 
und hauptſächlich dazu beftimmt, das noch intakte Brubdervieh aus China anzu 
loden. Selbft die Kaffirneger haben dielen Lohn zu karg gefunden und der 
größte Theil Derer, die fi in Bitterfter Noth verdingen müſſen, lehrt ſo raſch 
wie möglich der Arbeit wieder ben Rüden. Die Engländer legten bei Aus: 
bruch des Krieges Werth darauf, fich bes Wohlwollens ber eingeborenen Schwarzen 
zu verfichern, und garantirten ihmen deshalb volle Freiheit und Gleichheit mit 
den Weißen. Nie wieber follte der Bur fie mit dem Stod ſchinden, nie wieber 
ihren verwehren dürfen, wie hellerfarbiger Leute Kind den Bürgerjfteig zu benützen. 
Nah dem Krieg war das Erfte, mas man dem Neger bot, eine Kürzung feiner 
. ohnehin nicht zu fetten Töhne. Das war nicht die Freiheit, bie ber Kaffer meinte. 
Es war die freiheit, zu verhungern, bie leider in England überhaupt die ficherfte 
aller Freiheiten ift. Das hat die Kaffern abgeichredt. Sie find aus ihren Hütten 
nicht mehr berborzuloden und bungern lieber auf eigenen Tyüßen ald im Frohn 
dienst wuchernber Magnaten. Noch aber lebt Kohn Ehinaman. Den fennt Sohn 
Bull als ein frommes Thier, faſt ohne menſchliches Bedurfniß, ſchon feit vielen 
Jahren. Der ift der Richtige. Den kann man Tag vor Tag in Wagenladumngen 
haben; und auf Taufend, die Erepiren, fommen Tauſend, bie noch gut drei Jahre 
in den Minen unter ftrenger Aufficht fchuften können, ehe fie kreptren. Indien 
läge zwar näher und der Inder frißt nicht mehr als der Chinefe, ift fogar noch 
hündiſcher. Da aber fei der Stern von Großbritanien vor! Was würde bie 
Welt jagen, wenn England Rotten indiſcher Kulis, feiner eigenen Untertbanen, 
offen in die Sklaverei abführen liege? Seiner Selbſtachtung als Großmacht 
und feiner traditionellen Begeifterung für die Gleichheit aller Bürger — honny | 
soit qui mal y pense! — ift man immerhin Etwas jchuldig, wenn auch nidht 
viel. China tft ſchließlich doch nur China; und daß man dem Ueberfhuß ber 
chineſiſchen Bevölkerung die Gelegenheit bietet, fih in den Dienft ber erften 
Firmen der City von London zu ftellen, iſt eine Leiftung, die der Betroffene 
als eine ſchmeichelnde Ehrung zu betrachten Bat. 

Die Zöpfe werden alfo fommen und ber Ertrag ber Minen wird fid 
heben, weil der Preis der Arbeit auf ein Minimum berabgebrüdt ift, das z 
Himmel jchreit. Die Kurfe fteigen. Die Hauffe bläht fih. Wer aber wc 
bier von einer „Errungenschaft“ zu reden? Wenn das ungeheure Kapital, d 
in den Goldminen (in den Minen jelbft, nicht in ihren Akltien) angelegt : 
durch eine höhere Lohnſtufe gefährdet wäre, dann gäbe es wenigften® noch voı 
rein volkswirthſchaftlichen Standpunkt aus, der jede trrationelle Werthvernichtun 
verpönt, eine theoretiihe Entſchuldigung für das Vorgehen der Magnaten, dx 
jeder Gelittung, jedem menjhliden Empfinden Hohn fpridt. So aber liegt 5’ 
der Fall niht. Der Lärm, mit dem die Magnaten und ihre verblenbete 2 
bantenjchaar, dag Minenpublilum, die Welt feit Jahr und Tag zu ef 


% 





Der Sklavenboom. 163 


verfteht, Hat die meiſten Menſchen zu der falfchen Annahme verleitet, das Wohl 
einer riefigen Induſtrie ftee auf dem Spiel, dad Wohl eined Landes, das 
Wohl der Noteninftitute in allen Großftaaten, die des Metallzuwachſes aus 
dem Xransvaal dringend bebürften und ihn doch nicht erhalten könnten, ohne 
daß die chmefifche AUbjcheulichfeit mit in den Kauf genommen wird. Wie jehen 
bie Dinge aber in Wirklichkeit aus? Das in die transvaaler Minen hineingeftedte 
SRapital bedarf zu feiner Rentabilität nicht erſt der chinefilden Sflaverei. Es 
trägt fünfzig und hundert Prozent und darüber, alfo das BVielfahe Deſſen, 
was man fonjt von einer Anlage beansprucht, felbit wenn fie etwas riß- 
kanter Natur ift. Und all diefe Nominalfapitalien afritanifcher Minen find 
doch ſchon eine Berwäflerung des Objektes, .die den Gründern auch ohne 
ein Agio der Aktien geradezu fabelhafte Gewinne in den Schoß geworfen hat. 
Die Gründer alfo erfcheinen, felbft reichlich gemeflen, vollauf befriedigt. Der 
Nennwerth bes Kapitales verzinit fi) ungemein hoch. Was will man aljo nod 
und wozu wird aus den Löhnen der legte Pfennig herausgepreßt? Die Ant- 
ort ift leicht gefunden: weil die nimmerfatten Bründer die Altien dem Pnbli« 
tum mit vielhundertprogentigem Agio angehängt und weil die Magnaten nod 
Berge von Aktien haben, die fie mit enormem Aufgeld loswerden wollen, ob⸗ 
gleich fie jelbft daran nur das Bapier und den Drud zu bezahlen hatten. Wer 
fi die Mühe giebt, einen Blick auf den Kurszettel zu werfen, wird, wenn er 
fi vorher von dem wüften Geſchrei über die Arbeiternotb betäuben ließ, feinen 
Augen nicht trauen. Da ſieht er faft all die „entwertheten” Minenaktien mit 
einem Agio notirt, das ſich bis zu Höhen verfteigt, wie fie eine deutfche Induſtrie⸗ 
aftie oder ein amerikaniſches Bahnenpapier niemals auch nur annähernd erlebt 
bat, das aber auch mit feiner Tiefgrenze im Vergleich mit heimifchen Ziffern 
noch Reſpekt einflößt. Wgiotage, nichts als Agiotage, und zwar der wildeften 
Urt, auf ein ohnehin ſchon riejenhaftes Agio gepfropft: Das tft der einzige 
Bwed der wilden Ugitation, bie jeßt die Einfuhr von Chinejenfklaven nad dem 
Trandvaal durchſetzen fol. Man darf getroft fagen, daß noch niemals ein fo 
verruchtes, die ganze Menjchheit erniedrigendes Mittel gebraucht wurbe, um ber 
unjauberften Geldmacherei die Wege zu ebnen. 

England mag den Niedergang feiner politiihden Moral, der fich in der 
Beihilfe der Negirung zur Beihaffung chineſiſcher Kulis ausdrüdt, felbft be» 
trauern. Doch die Minenmagnaten erfreuen fi .in Großbritanien der Gunft 
der Mächtigſten; und gegen einen foldden Wall hätte felbit ein ftärkerer fittlicher 
Wille, ald er Heute in England fühlbar ift, fchweres Spiel. Traurig aber ift, 
daß wir und nicht verbehlen dürfen: mit diefem ruchlofen Werk find mehr 
deutſche als andere Namen verknüpft. Das fcheint der Schande noch nicht genug. 
Auch die in Deutichland heimifche Hochfinanz hat ſich an der transvaaler Miinen- 
agiotage fo eifrig betheiligt, daß unfer deutiches Publikum in das widrige Lügen⸗ 
neg mitperwidelt worden ift. Der Einfall, die Minenagiotage zur Verbefferung 
deutſcher Bankbilanzen zu benußen, ſtammt nicht gerade von den erlaudteften Per: 
fönlichfeiten unferer Handelswelt; und felbjt wenn man mit Sfidor Lechat findet, 
daß les affaires sont les affaires, müßte man immer no wünfchen, Deutid)- 
land wäre vor ben Genies bewahrt geblieben, deren Gewinngier im papiernen 
Reich der Boldminen ein Feld zu ffrupellojfer Thätigkeit fuchte und fand. 


Dis, 
ð 


164 Die Zukunft. 


Dippold. 


5] er Fall Dippold eignet ſich dazu, mit ihm die Srrationabilität (TFrembiörte 
find mitunter nügfich) des Anftitutes ein Wenig zu beleuchten, das mar 
Juſtiz nennt. Zwar ſcheint der blinden Göttin diesmal leidlich Genüge geſchehen 
zu fein: Richter Publikum hat die acht Jahre Zuchthaus mit Beifall begrüßt. Aber 
ber Piychologe läßt fich daburch in der Lleberzeugung nicht beirren, daß das Strafen 
eine unbaltbare Einrichtung ift, weil der Dienjch weder eines anderen Menſchen ſub⸗ 
jektive Berfchuldung zu ermeffen noch bie beiden Objekte: das vom Verbrecher um 
gerichtete Unheil und das Strafübel, gegen einander abzumägen vermag. Bon der 
baltbaren Sweden des Anititutes entfällt ber eine: die in integrum restitutio der 
Geſchädigten, auf den erjten Blid; Heinz kann nicht mehr zum Leben erweckt werben, 
und wenn Jojo feinen Tebenslänglichen Leibes- und Seelenfhaben davonträgt, iv 
bat er nicht den Herren Richtern dafür zu danken. Beſſerung oder Erziehung de 
Döfewichtes würde ein Wiſſender auch dann nicht erwarten, wenn bas Zudthaut 
eine Beflerung- und Erziehung Anftalt wäre. Jugendlicher Fanatismus kann burg 
Belehrung zu erleuchteter Begeijterung geläutert werden, abnorme Sexualität kann 
fofratifch veredelt und außerdem fo gut gezügelt werden wie die normale, die ja alk 
Menſchen His zu einem gewiſſen Grade beherrichen müſſen und thatſächlich beherrſchen. 
Uber der hervorftechendite Zug in Dippolds Naturell iſt Grauſamkeit. Meit der läßt 
fich nichts anfangen. Wenn ein Menic einmal fo konſtruirt ift, daß ihm nicht das 
Glück, fondern die Dual lebendiger Wefen Genuß bereitet, fo läßt fi) Dar nidt 
ändern. Damit ift auch der Hauptzweck des Inſtitutes, ber Schug der Geſellſchaft. 
vereitelt. Den Kerl nach acht Jahren, wo er noch ein fräftiger junger Mann iſt, 
auf die Gefellfchaft wieder loslaſſen, ift ſchlimmer, viel ſchlimmer als einen tollen 
Hund frei laufen laffen. Trotz Polizeiaufjicht kann er noch ein Dutzend umb meh 
Menfchen langjam zu Tode quälen, ohne daß er, der nun Gewitzigte, noch einmal 
dem Strafrichter verfällt. Nur wenn das Zuchthaus feine Energie volftändig brädk, 
trüge die Verurtheilung zur Erfüllung diefes Zweckes einigermaßen bei. Das ilt, 
wie das hier neulich angezeigte Buch von Leuß wieder lehrt, eine gewöhnliche, in ben 
meiften Fällen zu beflagende Wirkung der Zuchthaushaft. Doch was würde ed nüßen, 
die Schaar der Energielofen — Das heist, praktiſch geſprochen: der Bagabunden — 
um Einen zu vermehren? Wirklich erfüllt wird der Zweck nur durch lebenslänglide 
Einfperrung oder Tötung. Jene nun ift unvernünftig. Ein ſchönes Raubthier füttern 
man im Käfig, zur Befriedigung der Schauluft; eine menfchliche Mißgeburt zeig! 
man — abjicheuliche Barbarei! — für Geld; einen Verbrecher ftellt man nicht zu! 
Schau; was wäre auch an ihm zu chen? So bleibt Tötung das einzige wirflid 
Bernünftige; Tötung, nicht Hinrichtung, nicht Todesitrafe! Die Tötung wäre 3° 
gleich eine Wohlthat für das moralifhe Monſtrum, denn ein foldhes bat, gleich 
einer Mißgeburt, in feinem ganzen Leben feinen glücklichen Tag. Will man abtt 
dem Monftrum feine Wohlthat erweifen, weil man aller Vernunft zuwider auf der 
Einbildung beharrt, der menschliche Richter könne und müffe das geftörte Gleichgewicht 
der Gerechtigkeit wiederherſtellen, ſo würde in Fällen wie dem vorliegenden nichts 
übrig bleiben, als zur qualifizirten X odesitrafe zurüdfzufehren. 
Neiſſe. Karl Zentld. 


u — 
— — — 





Herausgeber und verautwortlicher Rirdalteur: M. Harden in Berlin. — Werlag der Zukunft in Berlis- 
Trud von Albert Tanıde in Berlin⸗Schöneberg. 





Berlin, den 31. Oktober 1905. 
7 —— — 


Geſchäftsmann und Sturmgeſelle. 


ſidor Lechat hat ein großes Vermögen gemacht; groß nicht nur in den 
Augen der Heinen Leute. Orundftüdipefulationen, Gründereien, old- 
ſhares: was fid) gerade bot. Wähleriſch war er nie; aber fchlau genug, um 
die Mausfallen des Strafgefeges zu meiden. Einmal bildeten täppiſche Pro⸗ 
turatoren ſich ein, fie Hätten die Zibetfage im Käfig. Doc die Familie der 
viverridae ift flint: Herrn Lechat war nichts zu beweifen und der Gerichts- 
hof mußte ihn freifprechen. Von der Anklage blieb nichts übrig als Stank. 
Laßt ſich ertragen und, wenn man will, mit extraits d’odeur überduften. 
Auch lieben manche Menfchen den Zibetgeruch. Nur nicht zimperlich fein. 
Die Hauptjache ift, daß man Geld hat; dann kommen die Ehren von felbft 
und man kann ſich jeden Tag eine neue ausjuchen. Iſidor ruht nicht, biß er 
den Ruhm erreicht hat, in Paris der größte Gefchäftsmann zu heißen. Er 
ſchatzt ſich auf fünfzig Millionen. Vielleicht ift8 ein Bischen weniger; wer 
auf zwanzig Löchern zugleich kocht, kann nie genau willen, wie es in jedem 
Topf ausficht. Immerhin genügts für den Hausgebraud. HerrLedjat kauft 
ein Schloß und eine Zeitung. Im Schloß werden die Säle und Zimmer 
nad) den Königen von Frankreich und Navarra genannt und im Stil des 
mojeftätifchen Pathen eingerichtet. In der Zeitung wird der Treiberdienftfür 
die Gefchäfte des Verlegers beforgt. Mit dem Verkehr haperts freilich noch. 
Da ift die dumme Kriminalgefehichte; die frische Erinnerung aneinen Selbſt⸗ 
mord, den der Millionär hindern fonnte und nicht gehindert Hat; und allerlei 
böfes Geraun. Den Kleinwucher fönnteder Mann jetzt wirklich Bedürftigeren 
überlafjen; feine Mittel erlauben ihm, den Schein der Wohlanſtändigkeit 
18 








166 Die Zunft. 


zu wahren. Iſidor lacht. Ya, wenn ers nicht weiter bringen wollte! Doch 
was find fünfzig Millionen in der Zeit der Großbanken und Kontiuental- 
truft8? Wer heute mitreden will, muß die Arme rühren und darf fich das 
Hirn nicht mit fentimentalem Krimskrams befradgten. Den Nächfien Tieben, 
mit Philanthropie anf die Thränendrüfen wirken? Blödfinn. SYeder Stand 
bat feine eigene Moral. Ein Feldherr, ein Fürft fragt nicht erft larıge, wie 
viele Zeute hinter ihm beim Sturmangriff fallen, und freutfich, wenn er die 
Saat des Gegners zertrampeln, die SJungmannfchaft des Feindes nieder- 
mähen fann. Ein Narr, wer im Kapitaliftenkfrieg anders handelt. Den 
Lurus, ein guter Kerl zu fein oder wenigftens zu fcheinen, mag Jeder ſich nach 
Geſchäftsſchluß gönnen. Iſidor gönnt ihn ſich. Wo fein Profit nicht ge- 
fährdet ift, macht er Keinem das Xeben ſchwer. Seine Kleine, irgend ein 
Theatermädchen, das er möblirt hat, darbt ficher nicht. Seine Frau wird 
höchfteng freundlid) gejcholten, weil fie, die der Spießbürgerenge nicht ent- 
wachlen will, nicht bei Paquinarbeiten läßt undzehnmal überlegt, ehe fieſich 
entschließt, zum Mittagefjen ein Huhn zu ſchlachten. Seine Tochter darf den 
ganzen Tag Muffet, Ramartine und Hugo lefen und wird wohlwollend bes 
lächelt, wenn fie vom Rechte der Enterbten Spricht und bie Ausbeuter ver- 
dammt. Und fein Junge gar ift Papas Wonne. Ein famofer Bengel. Bei- 
nahe feudal. Die theuerften Weiber, daS modernfte Automobil, den feinften 
Cercle. Das Toftet hübſche Summen. Herr Xavier Lechat ift beim Baccarat 
und Bridge fo gut wie bares Geld. Doch der Alte hats ja und läßt ſich nicht 
lumpen. Die Beziehungen, die fid) im Klub, in Maxims Bar und im Salon 
der Horizontalen Tnüpfen, find nicht zu verachten; und die Yamilie Lechat 
muß nachgerade an eine Verbefierung ihres Gefellichaftranges denfen. Daß 
fie als Kaftellan einen entgleiften Vicomte hat, den der Schloßherr duzt und 
in Schlechter Stimmung anſchnauzt, ift recht nett, reicht aber nicht; man 
müßte manchmal ein paar nicht allzu fledige VBicomtes oder Marquis mit 
ihren Ehehälften an der Tafel haben. Einftweilen fchleppt Bapa heran, mag 
er irgend aufzugreifen vermag. Staat ift damit nicht zu machen; aber man 
ſitzt nicht allein bei der Suppe und hat da8 Vergnügen, zu jehen, mit welcher 
Gier die armen Teufel ihr Futter fchlingen. Iſidor ift wirklich ein guter Kerl. 
Ganz ungebildet und unfultivirt; eigentlich aud) ganz dumm; ein Prahler, 
eitel, wie nur je ein Parvenu im Bud) ftand, und von unerjättlicher Luſt an 
kindiſchem Spaß. Wer ihn zu Haus ober bei Nachtmäbchen fieht, muß ihn 
. für einen gutmütbhigen Flachkopf halten. Schlauheit, Brutalität, Naubthiers 
u un inſtinkt zeigen fich nur im Geſchäft. Der Typus ift nicht felten. Nur ei 


«* 





Geſchäftsmann und Sturmgefelte. 167 


Tropf beurtheilt Großinduftrielle, Bankdirektoren und Jobber nach dem Zu⸗ 
fallsftand ihrer allgemeinen Bildung; gerade die jtärkften unterihnen haben 
nur ein Intereſſe, denken immer nur an ihr Geſchäft und ſchämen fich gar 
nicht, den Aejtheten, Dilettanten und anderen Müßizgängern als Banaufen 
zugelten. Herr Lechatift, wo ers fein will, beliebt und, wo ers braucht, gefürchtet. 
Die Kleinen, bieer nochnicht ganz ausgewuchert bat, jubeln ihm zu und dag 
Kontorgefinde, die Konkurrenz jelbft blickt in ſcheuer Ehrfurcht zu ihm empor. 

Jetzt wittert er eine Konjunktur. Sein Nachbar, der Marquis von 
Porcelet, iſt reif. Schlechte Wirthfchaft, nie ordentlich meliorirt, überſchuldet: 
der Mann muß ihm bald fommen. Nechat, der feinen Größenwahn gern an 
abenteurrlichen Plänen weidet, in Frankreich tropifche Kulturen ſchaffen will, 
in einem unzulänglichen Gutslaboratorium fpielerifch herumerperimentirt 
und feinen fünftigen Latifundienbeſitz mit bunter Tinte auf der Landkarte 
abgrenzt, wärmt das Bibetfell ſchon an der Gewißheit des nahen Triumphes. 
Dod auch das Tigerthier regt fi in ihm. Das Opfer mit einem Biß töten? 
Allzu kurze Freude. Lieberträgtmans im Maulfort, zähmtes durch Schrecken 
und ſparts für ſpätere Bedürfniſſe auf. Der Marquis iſt für mindeſtens drei 
Projekte zu brauchen. Erſtens kann er einer neuen Gründung, die zwei Mittel⸗ 
gauner eben dem Stärkeren apportiren, die Gunſt des Kriegsminiſters werben, 
ohne die mit dem Militärfiskus nichts Rechtes zu machen iſt. Zweitens kann 
er Herrn Iſidor, der als Radikaler kandidirt, zum erſehnten Mandat ver⸗ 
helfen. Drittens kann, ſoll und muß ſein Sohn ſo ſchnell wie möglich Lechats 
Eidam werden. DieſKonjunktur allerKonjunkturen. Le dé putè Lechat:Das 
klingt. Ein Elektrizitätwerk unter hohem Patronat: da ſpringen Millionen 
heraus, beſonders, wenn die Zeitung für die nöthige Reklame ſorgt und die 
Konkurrenten verſchreit und wenn der Meinungmacher in der Deputirten⸗ 
kammer offene Hände zudrücken kann. Und ein Schwiegerſohn von äl— 
teftem Adel: dann wird der in der Hochfinanz noch immer verachtete Spe⸗ 
kulant endlich vom Bann gelöft und Niemand fcheut noch den Wildgeruch 
des lange Gemiedenen. Der Marquis muß ihm fommen. Er kommt auch; 
röftet jich aber an allerlei altmodiſchen Ehrbegriffen, die in der Aſche einer 
verfladerten Exiftenz fortglimmen. Dit dem Minifter wird er, wenns fein 
muß, reden, ihn wahrjcheinlich auch angeln. Doch einen gottlos Radikılen 
Tann er, als guter Katholik und Legitimift, den Wählern nicht empfehlen. Und 
ein Ehebund zwijchen dem Marquis von Porcelet und dem Fräulein Lechat 
ift undenfbar. ‘Der unbefledte Name, die Ehre des Haufes Porcelet ... 
Chouette! Iſidor ſpricht ungefähr wie Falftaff im Lager bei Shrewsburn. 

13° 


168 Die Zukunft. 


Kann Ehre ein Bein anjegen? Nein. Kann fie den Schmerz ftillen? Nein. 
Und er hat Argumente, die den Standhafteften Eirren fönnten. Wollen Sie 
nicht, Herr Marquis: fhön; dann aber ziehe ich die Schlinge zu, Sie 
mäffen als Bettler von Ihrer Scholle wandern, — und mas danach auster 
Ehre des Haufes Porcelet wird, brauche ich Ihnen nicht erft zur Jagen. Seien 
Sie doch vernünftig! Ihr feudaler Hochmuth lodt keinen Hund mehr vom 
Dfen weg. Längſt ſchon hat unfere Stunde gefchlagen. Kampf ums Dafein. 
Ausfefe der Tüchtigften. Sieger bleibt, wer fich ben Grundbedingungen des 
mobernen Rebens am Beften anpaßt. Gottlos foll ich fein? Warum denn? 
Weil ich unterm Schirm der Radikalen Stimmen ſammle? Laffen Sie mid 
einen Sig haben: und Sie werben eine fefte Stüte des Altars in mir finden. 
Reiche Rente find ftets fürOrdnung und den lieben Gott; Yrömmigfeit und 
Patriotismus wachlen mit der Vermögensziffer. ragen Sie mal Ihren 
Beichtvater, ob ic) ihm al8 Abgeordneter nicht willlommener bin als irgend 

ein ruinirter Edelmann, der für den Wahlkreis nichts thun und für die Kirche 
nur beten kann. Die Kircheiftvielmoderner als Sie und macht ihre Geſchäfte, 
geiftliche und weltliche, mitgenau ben felben Kniffen wiewir. Der Klerus liegt 
nie auf der falfchen Seite. L’Eglise est dans lemouvement! Hat die Mo— 
narchie aufgegeben, agitirt in Zeitungen und ftraftwibderfpenftige Miniſterien 
durch Kreditentziehung. JederFromme wird Ihnen beftätigen, daß die Inter⸗ 
eſſen der Kirche nicht beſſer vertreten ſein können als durch Iſidor Lechat. 
Und Ihr Junge ſoll froh fein, wenn er meine Tochter bekommt; fie lann ſich 
ſehen laſſen und paßt mit ihrer romantischen Uebergeſchnapptheit im Ihte 
Kreiſe. An der Mitgift und Rente werde ich nicht knauſern; alſo los!... | 
Der Marquis ift mürb. Was hülfe auch längeres Sträuben? Er wird den 
Wahlaufruf unterzeichnen und wirbt im Namen feines Sohnes um da? 
Fräulein Lechat. Ein Glüdstag für Iſidor. Den beiden Banditen, die ihm 

bie Eleftrizitätgründung brachten, hat er das Fell über die Ohren gezogen; 
und num ift auch dem fteifen Grandfeigneur das Rückgrat gebrochen. Da, 
dicht vor dem Ziel feiner Wünſche, äfft das Schickſal den Schlauen. Sei | 
Tochter will nicht Marquiſe von Borcelet heißen, brüftet fi) ohne Shım 
mit dem Verluft ihrer Magdſchaft und läuft mit einem Habenichts von Chr. | 
miler davon, demfiejauchzendeinftdie Yungfräufichleitgab. Und &Eavierfeht 
ift auf der Automobilfahrt verunglückt und wirdfterbend ins Schloß gebracht. 
Das iſt ſelbſt für Iſidors Haut zu viel. Die Wildkatze ftögnt, als hätte ein Schuß | 
fie mitten ins Herz getroffen. Da jchleichen die ſpitzbübiſchen Eiektrotechnifer 
herbei; fie wollen den Bufammenbruch ausnügen und legen dem fafjun | 


Geſchäftsmann und Sturmogeſelle. 169 


loſen, vergreiſten Vater einen gefälſchten Konſortialvertrag zur Unterſchrift 
vor. Lallend lieſt er, lieſt wieder, ſucht mit feuchtem Blick und kreiſcht auf: 
„Halunken! Lumpengeſindel! Ihr habt den wichtigſten Paragraphen weg⸗ 
gelaſſen und hofftet, ich würde in meiner Trauer nichts merlen!“ Der tote 
Leib des Sohnes iſt vor der Thür. „Ich komme in fünf Minuten.“ Nicht 
eher, als bis die Beiden geſchrieben und unterzeichnet haben, was er diktirt. 
So. Das Geſchäft iſt gemacht, der Löwentheil ihm gefichert. Jetzt Tann er 
ſeinen einzigen Sohn, ſeinen Liebling auf der Bahre ſehen und weiterweinen. 
Und morgen mag der Marquis von Porcelet ſeine ſieben Sachen packen, 
wenn er nicht Alles thut, was der Nachbar noch von ihm zu heiſchen hat. 

Das iſt der Inhalt eines Theaterſtückes, das Herr Octave Mirbeau 
geſchrieben und, mit dem Titel Les affaires sont les affaires, ins näch- 
tige Land der Leinwände geſchickt hat. Als Drama lebt e8 von groben Markt⸗ 
effelten, greifen Kontraften und Zufalisereignifien, die nicht aus bem Weſens⸗ 
fern der handelnden und leidenden Menſchen hervorwachſen; als Satire kann 
es nur auf Weltfremdlinge wirken. Einen großen Geihäftsmann will e8 
jchildern, einen gegen Menſchenwallung dreifach gepanzerten Geldmacher, der 
früh und ſpät nichts im Sinn hat als feinen Erwerb und über Reichen, faft 
immer lachend, zum Sieg fchreitet; einen Geſchäftsmann, dem fogar ber Tod 
des auf feine Weije geliebten Sohnes nicht für eine Biertelftunde den Spelu- 
lantenblid trübt. Das wäre ein guter Mlodeftoff, von dem die Neporter mit _ 
Recht jagen könnten, er habe „in der Luft gelegen”. Der Komoebie des Herrn 
Mirbeau, der nteftark, doch oft fein und, bis er ſich des Erwerbes wegenzu den 
billigen Boten des Journal d’une femme de chambre herabließ, litera⸗ 
riſch unbejcholten war, dürfte man höchſtens nachfagen, fie jei aus der Luft 
gegriffen ; und nichteinmalaus weltftädtifcher Luft. Alles Gefchäftliche ift in 
diefem Geſchäftsſtück falſch gejehen oder mindeſtens grundfalſch dargeftellt. 
Mitder Technik Iſidors Lechat fämevielleichtein Dugendjobber aus, abernicht 
ein Mann, dem die parijer Börfe als ihrem König Huldigt. Wie ein Märchen 
aus rasch vergangener Zeit Elingt uns heute jchon die Kunde von der Gold 
zeugenden Kraft der Efektrizitätinduftrie; wir hören ja täglich, daß dieje In⸗ 
duftriezuläftigen Bündnikverträgengezwungen ift, umihre Preifeund Kurſe 
vor dem Brödeln zu ſchützen. Der Wafferfalf bei Grenoble wird dem Aus- 
beuter feine Millionen in den Schoß fprudeln, wird einen Gründer, der nur 
Heine Schliche und Schwindeleien im Kopf hat, vielleicht von der Börfen- 
bildfläche wegichweınmen. Mit Winzigkeiten, wie fie das Trachten Lechats 
ausfüllen, giebt ein Spefulant großen Stils ſich überhaupt nicht ab und 


170 . Die Zukunft. 


marodirende Knirpfe vom Schlag Derer, die hier das Vorkaufsrecht auf den 
Waſſerfall ergaunert haben, dringen in der Alltagswirflichleit kaum bis zu 
einem Profuriften vor; und wären fie je aud) nur fo weit gefommen, dann 
wäßten fie ganz ficher, daß fie in Paris, wo für jede halbwegs gute Grün⸗ 
dung franzdfifches oder fremdes Geld leicht zu haben tft, fich nicht willenlos 
den frechen Näuberlaunen eines Lechat zu fügen brauchen. Iſidor felbft ſteht 
alsein Zwerg aus dem Wunderreich Suesvor ung. Wirglauben nicht an feine 
fünfzig Millionen, glauben nicht, daß er jemals ein großes Geſchäft gemadht 
bat, halten ihn gar nicht für tanti, mit einem ausgewachfenen Sinanzınanz 
fertig zu werden. Doch er amufirt und paßt aufs Haar an den Ort, für den 
er beftimmt war. Der ſchlaue HerrMirbeau, der ſich gern einen Anarchiften 
nennt, jchrieb fein Stüd für tie Comedie-Frangaise; und der genius 
loci forderte gerade diefen Spefulantentypus und hätte einen moderneren, 
der Lebenswahrheit näheren nicht geduldet. Im Haufe Molieres giebt das 
Faubourg Saint-®ermain den Ton an; aud) die armen Marquis, die Por- 
celet und Standesgenofien erfchwingen nod) das Geld für ein Abonnement. 
Und ihnen mußte, Reichen und Armen, Herr Lechat gefallen. So Hatten fie 
fich den neuen Tyrannen gedacht, der ihre Schlöffer und ihre Söhne kauft 
und feinen fchlecht gepflegten Plebejerlceib zwiichen ihren Ahnenbilbern ſpa⸗ 
ziren führt. Ein Radikaler natürlich, der in Wählerverfammlungen das 
Heer und die Priejterfchaft ſchimpft, doch ohne Ueberzeugung und immer bes 
reit, vor der Kirche zu dienern, die feiner Macht nicht die Weihe verfagt. Ein 
mit allen Salben gefchmierter &auner, mit dem ein Blaublütiger von einiger 
Selbſtachtung und Sauberfeit fich gar nicht erſt in einen Wettlampfeinläßt. 
Er Hat dag Geld, wir haben die Ehre; 1853 fchon, in Ponſards Tagen, trö- 
ftete man ſich mit diefer Loſung. Damals war Balzacs Mercabet,lefaiseur, 
noch jung, Augiers Charrier noch nicht geboren. Seitdem hatFrankreich Hirfch 
und Bontoux, Herz und Reinach erlebt. Aus den Transvaalminen ift über 
Nacht ein Millionärſchwarm aufgetaucht, der kaum Muße hatte, ſich noth⸗ 
dürftig zu ſäubern. Auch im Gallierland ſteigt der Adel mählich von ſeinen 
alten Burgen und zieht ing dritte Stodwerf der Häufer, deren Prunfgr 
mädher die Sproffen der nouvellescouches bewohnen. Und ſchließlich kau 
die Affaire Dreyfus, der Kampf gegen die Armee und die Kongregation... 
Die Zeit war erfüllt: Mercadet mußte im Modefrad wiederfehren. Bolas 
Saccard und Lavedans Baron Horn waren, mit all ihren Schmußfpuren, 
nicht Schwarz genug. Ein Schredbild war nöthig, ein vom Wirbel bis zu 
Zehe ruchlofer Schuft: jofinddiefe Leute. Das Faubourg jubelte ;undtrüffel® 








Geſchäftsmaun und Sturnigefelle. 171 


ſeine Freude mit der Erinnerung, daß der Mann, dem es Herrn Iſidor dankte, 
ſich einen Anarchiſten nennen ließ und im erſten Gliede der Dreyfustruppe 
gefochten hatte. Der mußte feine Bundesgenojjen ja kennen. Herr Mirbeau 
Scheint von Strupeln nicht geplagt worden zu fein. Wahrfcheinlich Dachte er 
iſidoriſch: L’ Affaire est l’Affaire; et les affaires sont les affaires. 
In Berlin fam das Stüd ins Deutſche Theater, allmo das fchärffte 
Glas nicht viele Herzoge, Grafen und Junker entdecken wird; aus dem Haufe 
Molieres in den Runftpalaft Brahms, der den Abendbedarf der hohen und 
mittleren Finanz mit onfehnlichem Agio befriedigt. Wer den Blick über die 
theuren Plätze hinſchweifen ließ, mußte für Herren Lechat zittern; die hier 
Berjammelten wilfen ja, wie man Geſchäfte macht: ſie werden Iſidor als eine 
plumpe Karikatur verhöhnen und wũthen, wenn fie merken, daß der Gauner 
die Gattung der großen Spekulanten vertreten fol. Doch die Furcht erwies 
ſich als grundlos. Bank und Börfe ftimmte für Porcelet gegen Lechat. Kein 
Wuthausbruch, an feiner Stelle auch nur eine Regung des Aergers. Der 
Marquis, der die heiligften Güter der Händlerdemofratie in ben Staub zerrt 
— fo jagt man ja wohl? —, wurde ftürmifch beklatſcht; und gerade ihn mußte 
dieſes Publikum auszifchen, jelbft wenn es Lechat unähnlic) und deshalb un- 
gefährlich fand. Iſt unfere liebe liberale Bourgeoifte ſo kraftlos geworden, daß 
jienichteinmalmehr den MuthihresKlaſſenbewußtſeins hat? Einft war es an⸗ 
ders. Vor zweihundert Jahren, als Le Sage feinen Turcaret, Iſidors Urahnen, 
auf die Bühne bringen wollte, ſtieß er auf hartnäckigen Widerſtand. Ein 
Händler, un traitant ſollte öffentlich an den Schaupranger geſtellt werden? 
Das durfte fein ehrenwerther Bürger dulden. Prosper Boitepin berichtet: 
„Die ſchamloſe Goldgier, das die Epoche beherrſchende Laſter, war vor allen 
ernithaften Angriffen bisher bewahrt geblieben und mußte fi) um jeden 
Preis weiter davor ſchützen. Schon die erfte Nachricht vom Anhalt der neuen 
Komoedie ſcheuchte die Händlerwelt auf; große und Kleine Finanzleute ſchrien 
entſetzt um Hilfe: Parisdurftenicht aufihre Koftenlachen. Sie waren mächtig 
und ihr Einfluß reichte fo weit, daß ein einfamer Komoedienfchreiber dagegen 
nicht aufkommen konnte. Das ſah LeSage baldein. ErvermochteTurcaret nicht 
auf die Bühne zu bringen und begnügte ſich einſtweilen damit, ihm unter 
den Feinden der Finanzleute Helfer zu werben. Mit ſeinem Manufkript zog 
er durch die Salons des Adels. Man drängte ſich zu feinen Vorlefungen und 
Leder, der das Werk kennen gelernt hatte, fagte, es fei eine Schande, daß diefer 
ernften Arbeit die Theaterthür gefperrtwerbe, Die Händler verloren nach und 
nach die Hoffnung, ihren Willen durchjegen zulönnen, und boten dem Dichter 





172 Die Zukunft, 


hunderttaufend Francs, die er abheben dürfe, fobald er fich verpflichtet habe, 
fein Stüd nicht aufführen zu laſſen. Alain Rene YeSage war arm undjagte 
troßdem ohne Zaudern: Nein. Endlid) fpradj der Dauphin, der Sohn Lud⸗ 
wigs des VBierzehnten, cin Machtwort und Turcaret, le financier, durfte 
die Bretter befteigen.“ Aljo gejchehen zu Paris im Jahr 1709. Und 1903 
wurde Lechatin Berlingeduldct, fein feudaler Gegner mit Beifall überfchüttet. 
Wills im Bürgerreich wirklich ſchon Abend werden?... Als Frankreichs Adel 
fi) an Figaros Bosheit beraufchte, z0g das Unwetter herauf, das bald da- 
nach mit Donner und Blig die Privilegien aller Almavivas zerftörte. 

So ſchlimm wirds diesmal nicht werden. Einen Lechat läßt man fid 
gefallen. Hintertreppenfinang. Schließlich doch nur der berüchtigte Wurcherer 
aus der Fabel, den der Zorn eines Rachegottes jchlägt. Schon Strousberg und 
Geber fahen anders aus; und wie weit wars von ihnen nody big zu Beit, 
Schwab und Bierpont Morgan! Die Zibetkatze kann paffiren. Wehe Jedem 
aber, der heiliges Bürgergut antaftet, mit Frevlerhand nach dem Krüglein 
preift, in bem feit einem Menjchenalter und länger das „demokratische Del” 
für die ftetS nahe, ftetS feine Weiheftunde bewahrt wird! Das darf unge 
ftraft nicht einmal ein Liebling wagen. Herr Sudermann hats erfahren, 
dertreueBürgergardift, der jo oft gelobt ward, weil er aus roftiger Bflichtflinte 
auf böfe Junkerlichkeit euer gab. Das war echte Heldenleiftung und nur 
der Neid konnte da von leicht erfchmeichelten Tendenzerfolgen reden. Jetzt 
hat der Mann, auf deffen Zuverläffigkeit der Thiergartenfreifinn geſchworen 
hätte, ein paar Achtundvierziger zu höhnen verſucht: und der Scheiterhaufe 
ſchien Vielen der ſolcher Schandthat gebührende Yohn. Dümmeres war nicht 
zu erſinnen. Zwar hörte cin feines Ohr aus dem Gewinſel den Vorwurf her- 
aus: Haben wir Dich dazu ein Jahrzehnt lang großgepäppelt und wider 
befferes Fühlen einen Tichter genannt, Undanfbarer, damit Du ung Dieſes 
thueſt? Das war nützlich undamufant, faft alfo, nad) Horaz und Scherer, poe⸗ 
tijch. Dennod) blieb8 dumm. Das neue Stüd des Herrn Sudermann — 8 
trägtden Biertitel „Der Sturmgefelle Sokrates“ — konnte nicht gefallen, weil 
es langweilig iſt. Nicht ſo aufreizend ſchlecht wie andere Werke des Verarmen⸗ 
den, doch ſo dünn, daß ſelbſt die reichliche Zotenzuthat es nicht ſchmackhaft 
machen konnte. Einzelne derbe Späßchen, manche nette Dialogſtelle; das Ganze 
auch für den wohlwollenden Beurtheiler nur eine Schnurre, die ein witziger 
Kopf in drei Tagen für die Fidelitas eines Kneipabends zu liefern vermöchte. 
Das ſollte nun ernſtgenommen werden; als Tragikomoedie. Ernſt der Zahn⸗ 
arzt, der ſeinen Söhnen flucht, weil der eine nicht Burſchenſchafter, ſondern 





Sehhäftsmann und Sturmgefelle. 173 


Eorpsftudent geworden ift, der andere, des Bater8 Gehilfe, dem Hund eines 
durchreifenden Prinzen ein Zahngeſchwür aufgeitochen hat. Ernſt ein Rabbi 
und ſudermänniſcher Nathan, der mit feinem SöhnchenFeuilletons austaufcht, 
lauter Brillanten, undein preußiicher Landrath, der dem alten Zahnarzteinen 
Orden erwirkt, weil der junge den Prinzenhund furirt hat. Früher führten 
folche Sachen den Efelnamen „Humoresken“ und wurden von befferen Zei⸗ 
tunglefern überfchlagen. Das mußtegejagt werden, ruhig und höflich; denn der 
Irrthum eines begabten Theaterſchreibers ift fein Verbrechen. Aber Herr 
Sudermann hatjelbftin feiner ſchwächften Stunde noch Gluck. Gute Menſchen 
und ſchlechte Mufikanten geriethen in Wuth. Schändung der Heroenzeit des 
Bürgerthumes in Stadt und Land! Das glorreiche Martyrium von 48 be⸗ 
ſudelt! Schnöber Verrath! Die Sturmgeſellen, die unter normalen Verhält⸗ 


niſſen keinen zweiten Mond gejehen hätten, wurden beinahe wieder inter- 


eſſant und Herr Sudermann konnte zwei Artifelwider feine Ankläger ſchreiben. 
Zwei rechtſchaffene Leitartikel mit langen, meiftverftändlichen Schachtelfägen; 
nurganz wenige Fremdwörter waren falſchangewandt. Der Sinn ungefähr: 
Ich kein Demokrat? Ich bin ja aus Rickerts Schule gelaufen, weil ich das 
für einen freiſinnigen Zeitungmann „nölhige Quantum monarchiſchen Ge⸗ 
fühles beim beſten Willen nicht aufbringen konnte“, und ſchaͤtze auch jetzt nur 
„die ſchlichtmenſchliche Nobleſſe des höchften Reichsbeamten“, der mich zu 
feinen Abendgeſellſchaften lud. Kann ein Demokrat anders denken und han- 
dein? Ich bin einer vom älteſten Schrot und Korn und wäre ſogar zu den Nöthe- 
ften gegangen, wenn die Leute in Dresden nicht fo unfanft geredet hätten. 
Ihr aber ... Darauf folgt, im „Tag“, nicht bei Moſſe, dann die Frage, was 
rum wohldem liberalen Gedanken diewerbende Kraftentjchwunden fein mag. 
Herr Sudermann ift reizbar, aber fein vates. Er bejammert das 
Schwinden des freien Bürgerfinnes und merkt nicht, daß ihn ein Verfalls⸗ 
ſymptom dünkt, was in gemeinerWirklichkeit ein Beweis ftrogender&ejundpeit 
ift. Für Freiheit ſchwärmt jede Klaſſe, bis fieam Ziel des Begehrens ſteht; dann 
mußſie den Nachdrängenden ein paar kleine, ganz kleine Freiheiten weigern, um 
ungeſtört ſchmauſen zu können. Die Tragikomoedie der Sturmgeſellen fing da⸗ 
mit an, daß ſie zu Geld kamen, ſich behaglich im Vaterland fühlten und gegen 
die Begehrlichkeit des Proletariates die berühmten ſittlichen Mächte anrufen 
mußten. Und die Tragikomoedie des „entſchiedenen Liberalismus“ wird erſt 
enden, wenn er aus der Vermummung ſchlüpft und zugiebt, daß er heut: 
zutage mehr zu fonferviren hat als der konſervativſte Junker. Keine andere 
Klaſſe ift auf die Erhaltung des Beftehenden jo angemwiejen wie die Bour- 
geoifie. Das wird noch beftritten. Im verdunlelten Schaufpielhaus aber 
wacht der Klaſſeninſtinkt und ftimmt gegen Techat jogar für einen Marquis, 


174 Die Zutkunft. 





Dolitifche Anthropologie. 


DI von Zuriften gepflegte „Allgemeine Staatslehre“ als Theil des „Al: 
gemeinen Staatsrechtes“ hat abgewirthfchaftet. : Kein Menſch fuck 
mehr in ihr Belehrung über den Staat. Man weiß, dag fie juriftifche Kon: 
firuftionen und fcholaftische Spiegelfechtereien enthält. Kein Wunder darum, 
daß neben diefen ausschließlich dem „alabemifchen Gebrauch“ dienenden Werfen 
das Bedürfniß, fi über Natur und Weſen des Staates Klarheit zu ver- 
ſchaffen, dazu geführt hat, von anderen Ausgangspunften als dem juriſtiſchen 
das große Problem in Angriff zu nehmen. Das verfuchte zunächſt die So: 
ziologie. Sie fahte den Staat auf als ein Produkt des Kampfes fozialer 
Gruppen, erklärte daraus da8 Entftehen bes Rechtes und aller Rechtsinſtitute. 
Das ift die „Soziologifche Staatsidee“; ihr vornehmfter Vertreter ift heute 
Guſtav Ragenhofer. Neben der Soziologie hat die von Friebrich Hagel be 
gründete Anthropo- Geographie und Politiſche Geographie den erfolgreichen 
Berfuch gemacht, den Staat als einen „bodenbeftändigen Organismus“, aß 
ein Produkt der natürlichen geographifchen Bedingungen zu erweifen. Nagel 
Werke enthalten mehr und wichtigere Erlenntniſſe über den Staat, ald die 
gefammte „allgemein: ftaatSrechtliche“ Literatur feit hundert Jahren fich träumen 
ließ. Nagel nimmt die Refultate der Soziologie infofern in feine Geſammt⸗ 
anjicht vom Staate auf, als er „die legten Elemente des ftaatlichen Orga 
nismus“ in den „geſellſchaftlichen Gruppen” anerkennt. Doc ergänzt tt 
die foziologifche Staatsidee, indem er ihr feine „politifch:geographifche“ Staats 
anficht zu Grunde legt. Dean kann fagen: Die Soziologie ſchwebte in ber 
Luft und erft Nagel gab ihr den Unterbau, bie tief im Boden wurzelnden 
Fundanıente. Erft durch Kagel ift die Soziologie unerfchütterlich gefeftigt, 
weil er „den geiftigen Zuſammenhang“ der gefellfchaftlichen Gruppen mit dem 
Boden nachwies. 

Damit feheint die neufte Entwidelung der Staatswiffenfchaft noch 
nicht vollendet zu fein. Zur foziologifhen und zur politiſch-geographiſchen 
gejellt fich nämlich noch eine dritte: die „politifch:anthropologifche” Staat 
idee, die in die Wilfenfchaft vom Staat ein ganz neues Element einführt und 
in die Natur des Staates neue Einblicke gewähren will. Ich meine bie Anf: 
fafiung, wonach der Staat ein Prodult der „Raſſen“ ift, wobei angenom⸗ 
men wird, daß die „edelfte” Raſſe obenauf und die gemeinfte ganz unten 
zu ftehen fommt. Dieſe politiich:anthropologifche Staatsidee ift zuerft von 
Gobineau angeregt worden, der meinte, daß alle höhere Kultur immer und 
überall von der „weißen“ Raſſe gefchaffen werde. Wie diefe Theorie von 





Politiſche Anthropologie. 175 


Houfton Stewart Chamberlain angewandt wurde, bei dem die „weiße“ Kaffe 
der „germanifchen” Plag macht, ift befannt: er weift den civilifatorifchen Ein- 
fluß der „Germanen“ in der ganzen Weltgefchichte nach und verfichert ung, 
daß, wo immer etwas Großes und ivilifatorifches gefchehen fei, flet3 und 
überall die germanifche Initiative am Werke war. Chriftus war Germane, 
Dante au; und fo weiter. Diefe neue Staatdidee wiſſenſchaftlich zu for: 
muliren und zu begründen, unternimmt Ludwig Woltmann in feiner „Poli- 
tifchen Anthropologie”. Er geht von der Annahme aus, daß „eine genetifche 
Analogie zwifhen Organismus und Gefellfchaft“ beftehe und daß in dem 
„Tozialen Organismus die jelben biologifchen Grundgefege wirkſam find wie 
in dem (phylifchen) Organismus". Nun könnte man glauben, daß Wolt- 
mann uns da die Lehrer der „Organiker“ (Schaeffle, Lilienfeld, Worms u. U.) 
wieber auftifcht. Das ift nicht der Fall: Woltmann unterfucht vielmehr die 
phnfiologische Befchaffenheit des Menſchen als Sozialen Elementes, infofern fie 
ein Produft der Vererbung ift und fi in der ‚Raſſe“ zu einem gefellichaft- 
lichen Faktor ſummirt. 

Seine Anfiht wird am Beſten durch die folgenden Säge dargelegt: 
„Das Wachsthum der Gefellfchaft nimmt von einem Paar menjchlicher In- 
dividuen feinen Urfprung, das mit feinen Kindern, Kindeskindern, Ber: 
wandten und Nachkommen eine foziale Einheit bildet. Iſt diefe größer 
geworben, fo ftößt fie einzelne Gruppen von ſich ab, die anderswo ein ähn- 
liches ſoziales Gebilde hervorrufen. Die Entftehfung von Bruderflämmen, 
Kolonien ift der Ausdruck diefes Wachsthumes der Gefellfchaft über ſich ſelbſt 
hinaus." Innerhalb diefer Geſellſchaften vollzieht fi eine Arbeitstheilung 
auf Grund natürlicher Differenzen und Differenzirungen. „Die primitivfte 
Arbeitstheilung ift die zwifchen Dann und Weib.“ Dann folgt die Arbeit- 
theilung, die „in höher entwidelten Geſellſchaften zur Bildung von Staften 
und Ständen führt“. Zwiſchen diefen „Theilen der Geſellſchaft befteht eine 
Wechſelwirkung, inſofern die eine Gruppe ohne die andere nicht exiſtiren 
kann“. Zugleich ift „eine Ueberordnung von Gruppen und Perfonen vor- 
handen, des Vaters in der Familie, des Führers in der Horde, der Arijto- 
kratie im Feudalſtaate“. Im Folge diefer Differenzirung der Berufe entiteht 
Gegenſatz von nterefien und ein fozialer Kampf. Trotz diefen inneren 
Spannungen tritt die Gefellfchaft nach außen als ein Ganzes auf. Nur 
fo weit, aber ja nicht weiter, darf in der Gefellfchaft „Organiſches“ gejehen 
werden. Denn die Gefelichaft ift nicht ein Organismus, fondern eine 
Mehrheit von Organismen, die in einem „fpezififchen Verhältniß zu einander 
ſtehen“; und „die phyfiologifche Grundlage“ dieſes Verhältniffes, alfo „des 
fozialen Lebens“, ift nichts Anderes als die Raſſe. Das ift die neue Lehre, 
die Woltmann (nad) dem. Borgange früherer, minder fcharf gefaßten Anlichten 





176 Die Zukunft. 


ber felben Richtung) verkündet. Das ift die neue „politifch:anthropologifche“ 
Staatsidee. Tas foziale Leben, das ein fpezifiiches Verhältnig vieler natür: 
lichen, biologifchen Organismen zu einander ift, beruht auf der Raffe. „Erf 
diefer Begriff macht die Problemftellung und Problemlöfung volljtändig klar“, 
die den Organifern und Soziologen, „die Organismus und Gefellfchaft im 
einen realen Vergleich brachten, dunkel vorfchwebte". Euprxa! ruft Wolt- 
mann aus! Die Rafje its, die die Geſellſchaft und den Staat erzeugt. 
Deshalb muß die „Soziologie biologifch fein“. Das heißt: „fie muß Nafle 
und Geſellſchaft in ihrem gefegmäßigen Zufammenhang und den Raſſeprozeß 
als natürliche Grundlage des Sozialprozeſſes begreifen”. 

Das thut nun Woltmann. Während die Defzendenztheorie den „Ent: 
widelungprozeß der fozialen und politifchen Yormationen als einen biologi- 
fhen Vorgang auffaßt, der im Dienfte der phyfiologifchen Zucht und intellel- 
tuellen Entfaltung des Menfchengefchlechtes fteht“, hebt Woltmann neben 
diefer biologifchen Seite der Menfchheitgefchichte die anthropologifche hervor, 
die jich „in der phyftologifchen Eigenart und Ueberlegenheit einzelner Raſſen 
und Perfönlichkeiten bemerkbar macht“. Diefe „Raffen find Naturfaltoren, 
bie in die Bilanz der geſchichtlichen Ereigniffe al gegebene Urfachen und 
Mächte einzufegen find“ (mie e8 fchon Gobineau und Chamberlain madıten). 
Diefe „Einftellung in die Bilanz der geſchichtlichen Ereigniffe” kann natür- 
ih nur in dem Sinn gefchehen, daß eritens, da jeder Staat aus mindeſtens 
zwei Raſſen befteht, die tüchtigere herrfcht und die minderwerthige unterliegt, 
und zweitens, daß alle Grofthaten der Kultur auf das Credit der ebleren 
Raſſe gebucht werden müflen. 

Das foziale Credo diefer neuften Staatswiſſenſchaft enthält folgende 
Thefe, die ung in jüngfter Zeit oft gepredigt wurde: „Alle foziale Gliederung 
und Ordnung ift phyftologifch bedingt. Der foziale Werth des Einzelnen 
wird nicht allein durch feine individuelle Organifation, fondern auch durch 
feine Rafje beftimmt. Niemand kann aus feinen organischen Zeugung- und 
Abitammungbedingungen heraußtreten: denn er ift da8 Produkt einer langen 
Kette von Vorfahren, in denen fich gleiche und ungleichartige Elemente ge 
mifcht haben.” Da e8 nun höhere und niedere, edlere und ordinärere Raflen 
giebt, fo erklärt fi daraus nicht nur da8 Inſtitut der Sklaverei, ſondern auch 
die Erfeheinung der Herrfchaft der höheren Raſſen über die niederen. „Bei all 
diefen Völkern (Griechen, Römern, Galliern, Indern und Germanen) find bie 
Sklaven urfprünglich Menfchen anderer Raffe geweſen.“ In den tropifchen 
Ländern wird der Weiße „immer nur die Herrenraſſe bilden, von der die 
Dispolitionen und Initiativen ausgehen." In diefen Raffenunterfchieden Liegt 
der Schlüffel zur Erklärung des Ganges der Welt» und Kulturgefchichte. 
„Die volle Ausbildung des Aderbaues und der Gewerbe, welche die öfono- 











Politiſche Anthropologie. 177 


mifchen Grundlagen aller höheren Civilifation bilden, iſt faft nie ohne 
Sklaverei fremder Waffen möglich gewejen.* Die Griechen alfo hätten be- 
reits die richtige Erkenntniß der Wahrheit gewonnen, die der modernen 
Menjchheit offenbar durch das femitifche Chriſtenthum abhanden gelommen 
if. Denn „Euripides hielt es für gerecht, daß die Griechen über Barbaren 
berrfchen, da Barbar fein und Sklave fein das Selbe bedeute.” „Nach 
Ariftoteles ift der Sklave ein lebendiges Werkzeug. Die Sklaverei fei in 
der Natur der Menfchen begründet.” Und wie e8 von je ber war, fo ift es 
noch heute. Raffenunterfchiede, feien es primäre oder felundäre, find die 
Urſachen fozialer Schihtung. „Die Arbeiterflaffe der modernen Induſtrie⸗ 
ftaaten ift da8 Ergebniß eine ſozialen Zuchtwahlprozeſſes, der durch eine 
Reihe von Generationen hindurch den Grundftod der Urbeiterbevölferung 
berangebildet hat und die Läden immer wieder ausfüllen muß.“ Ueberhaupt 
faßt die Politifche Anthropologie die ganze Meenfchheitgefchichte als einen 
Raffenzüchtungprozeh auf; und alle Vorgänge, die wir biöher als öfonomifche, 
foziale, politifche betrachtet haben, find nach ihr rein anthropologifche mit 
ausſchließlich anthropologiſchen Zielen. Die Kulturrefultate aber, die wir 
als Erfolge diefer Hiftorifchen Vorgänge bewundern und feiern, find nur bes 
wirkt duch diefe anthropologiihen Wandlungen, find nur die Außenfeiten 
dieſer intimen Raſſenzüchtungvorgänge, die fi) demnach als die eigentliche 
Seele aller gefchichtlichen Vorgänge entpuppen. 

„Die Differenzirung zwifchenLand: und Stadtbevölferung, Auswanderung 
und Kolonifation, die Eintheilung in Kaften und Stände ift aus rein fozio: 
Logifchen, ökonomischen oder geographifchen Urfachen nicht zu erklären, fondern 
iſt urfprünglich ein Prozeß der anthropologifchen Gruppen= und Individual- 
ausleſe, die auf der Macht von individuellen oder Raffenunterfchieden beruhen. 
Umgelehrt können die veränderten Rebensbedingungen in Stadt, Kolonie und 
Kafte auf den anthropologiichen Typus zurüdwirken, fei es, daß neue und 
abweichende Eigenschaften herangezüchtet werden oder organifche Entartungen 
auftreten.” Damit wären Inhalt und Umfang der neuen Staatdidee im 
Umriß angedeutet. 

Wie jede Wiſſenſchaft nah Erfchliegung der Erkenntniß des Thatjäd- 
lichen zu gewiffen Forderungen behufs Anwendung ihrer Erkenntniſſe auf das 
Seinfollende gelangt; wie die Rechtswiſſenſchaft fich nicht damit begnügt, de lege 
lata zu raifonniren, fondern nah Erkenntniß des gewordenen und bes 
ftehenden Rechtes zu Vorfchlägen de lege ferenda übergeht: fo gelangt 
auch die Bolitifche Anthropologie zu gewiſſen Nuganwendungen ihrer Erkenntniſſe. 
Wenn von dem Adel der Raſſe die Höhe der Kultur abhängt, jo muß ge⸗ 
trachtet werben, biefen Adel zu erhalten, ihn von allen fchädlichen Einflüffen 
(Beimifchungen) zu bewahren, ihn durch geeignete „Reinzucht“ zu einer 








178 Die Zufimft. 


größeren Bolllommenheit zu erheben, die „Hochzucht“ der Raſſe zu fördern. 
An die Erlenntniffe der Politifhen Anthropologie wird fi deshalb eine 
„angewandte“ politifche Anthropologie fchließen, die alle Refultate der Inzucht 
und Reinzucht unterfuchen wird (was ſchon Neibmayer in feinem Werte 
„Inzucht und Vermifhung beim Menſchen“ in fehr fcharfiinniger Weife be 
gonnen bat) und fchlieplih mu eine „Raſſenhygiene“ gefchaffen werden, 
wie es Thon Plötz („Geſundheit unferer Raſſe“) verfuchte. 

Auch Woltmann bleibt bei den Thatfachen nicht ftehen, fondern giebt 
Rathſchläge, die auf der Erkenntniß diefer Thatfachen berufen. Allerdings 
ift die Berechtigung zu ſolchem Rathſchlage von einer Vorausfegung ab- 
hängig: davon, daß die Naffen nicht nur wandlungfähig find, fondern bag 
auch der Menſch ſolche Wandlungen herbeiführen kann. Nach der Theorie 
Meismanns von der „Unfterblichleit und Unmanbelbarfeit des Keimplagmas” 
wäre man geneigt, bier jede „Züchtungarbeit” für vergeblich zu halten. Und 
diefe Meinung fcheinen ja Lapouge und Chamberlain eigentlich zu vertreten. 
Woltmann theilt diefe Anficht nicht. Zwar liegt nad) ihm „die Entftehfung der 
Raffebegabungen jenfeits der eigentlichen Gefchichte im engeren Sinn. Gie 
ift ein Stud organischer Vorgefchichte der Kulturgefchichte*, woraus man 
Schließen follte, daß die Raſſen Dauertgpen find. Dennoch meint Woltmann, 
daß „troß der Beharrung der fundamentalen Raffenunterfchiede ... . eine 
geriffe Umwandlung der menfchlihen Natur in der Gefchichte ftattfindet.“ 
„Was den gefchichtlichen Veränderungen zu Grunde liegt, ift ein fortwährender 
Raſſenwechſel, eine Wandlung in der anthropologifchen Struftur ber Ge: 
ſellſchaft“. „Die phyſiologiſchen Ummandlungen gefchehen entweder durch 
eine einfeitige pojitive Auslefe mit nachfolgender Inzucht, wodurch beſtimmte, 
von Natur gegebene Eigenfchaften einer Raſſe oder Gruppe von Individuen 
befonder8 hoch gezüchtet wurden, oder durch einfeitige negative Auslefe, die 
die organifchen Träger beitiminter Charaktere durch Auswanderung, Kinder: 
Lofigfeit, Ehelofigfeit oder direfte Ausrottung aus dem Raſſeprozeß außfcheibet, 
oder endlich durch Raffemifchungen, die entweder günftig oder ungünftig bie 
Entwidelung der phyſiſchen und geiftigen Merkmale beeinfluffen können.“ 
Das find Mittel, deren ſich auch der Menſch bewußt bedienen könnte, bie 
er, wenn er das Weſen des anthropologiichen Geſchichtprozeſſes erft erkannt 
und deffen Ziele fi zu klarem Bewußtſein gebracht hat, anwenden fann, 
um eine immer eblere Kaffe heranzuzüchten. Da ftänden wir nun allerdings 
vor der wicdhtigften aller Wiffenfchaften, vor der, die und die „Hochzüchtung“ 
der Menfchheit, alfo den wichtigften aller Fortjchritte ermöglichen würde. 
Die Politifche Anthropologie würde uns durch Erkenntniffe, die fie ung 
erfchließt, die Mittel geben, eine immer edlere Kaffe Heranzuzüchten und bie 
gemeinen durch verfchiedene Mittel „aus dem Raſſeprozeß auszufcheiden.“ 








j mes 








Politiſche Anthropotogie. 179 


Diefe Mittel find zwar nicht gerade idylliſch: Auswanderung (wenn nöthig: 
Austreibung), Kinderlofigleit (eventuell alfo Kinderausfegung), Ehelofigkeit 
(eventuell Eheverbote oder noch etwas Schlinmeres), endlich „birelte Aus- 
rottung“. Doc follte nicht auch hier der Zweck die Mittel heiligen? Freilich: 
das Bischen femitifch-hriftliher Moral, auf die wir fo ftolz find, müßten 
wir opfern; auch einige andere „fortfchrittliche und humane“ Schrullen, wie 
Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, müßten preißgegeben werden. Docd was 
verfchlägts? Das find Velleitäten, mit denen ja fchon Nietzſche aufgeräumt 
bat. Und dann hätten ja thatfächlidh diefe etwas barbarifhen Mafregeln 
ihre volle Rechtfertigung und vielleicht gar Berechtigung, wo es ſich darum 
handelt, die Menfchheit zu veredeln. Leider aber merken wir bei Woltmann, 
was uns fchon aus Nietzſche, Chamberlain, Lapouge befannt ift: daß dieſe 
neue Staatswiffenfchaft ſich nicht in den Dienft der Menſchheit ftellt, fonbern 
in den Dienft der nordgermanifchen Raffe, die nach der Anficht diefer Schrift- 
fteller die „edelfte“ ift. „Die nordifche Raſſe“, jagt Woltman, „ift die ge⸗ 
borene Trägerin der Weltcivilifation“. Und ähnlih wie Gobineau von der 
„weißen Raſſe“ behauptet, daß fie durch ihren Bluteinfluß überall die Civili- 
. fation fördere, meint auch Woltmann, daß die nordifche Raſſe „dur Ber: 
miſchung mit anderen Raſſen diefe phyfiologifch auf ein höheres Niveau 
gehoben“ hat, „ſowohl Mlittelländer wie Mongolen und Neger”. Er ift 
davon fo feft überzeugt, daß er überall, in allen Welttheilen, wo immer er 
nur eine höhere Kultur findet, den Bluteinfluß der „nordifchen“ oder mindefteng 
der „kaukaſiſchen“ Rafle mwittert. „Was die amerikanifchen Kulturen betrifft, 
fo find die Inkas ohne Zweifel eine fremde Raſſe geweſen, deren morpho- 
logifche Merkmale auf die faufafifche Raſſe hinweiſen“. Woltmann meint 
fogar, „nicht allzu fern liege die Hypotheſe, daß europäifches Erobererblut 
bis Tahiti gelangte, auch die Weſtküſte Amerikas erreichte.“ Diefe Raſſe, 
die „indogermanifche“, ift in „nordifchen Bezirken entitanden*, wie neuer- 
dings nachgewiefen fein fol. Skandinavien ift „dad Urfprungsland diefer 
arifchen oder indogermanifchen Raſſe“; und was allüberal in Alterthum, 
Mittelalter und Neuzeit Großes irgendwo fich zugetragen hat, ift auf das Konto 
diefer „edelften Kaffe” zu buchen. „Die Büften Caeſars zeigen echtgermanifche 
Schädel: und Geiftesbildung“. Eben fo hatte Alerander der Große „ger: 
manifche Schädel: und Gefichtsbildung, röthliche Haare und tiefblane Augen.“ 
Daß Ehriftus und Dante Germanen waren, lehrte uns ſchon Chamberlain. 
Woltmann fügt noch Bonaparte hinzu. „Die ganze enropäifche Civilifation 
auch in ſlaviſchen und romanifchen Ländern ift eine Leiftung germanifchen 
Geiftes". „Das Papſtthum, die Renaiſſance, die franzöfifche Revolution 
und die napoleonifche Weltherrfchaft find Großthaten des germanifchen Geiftes 
gewejen”. „Das Papſtthum und das Kaiferthum find germanifche Schöpfungen, 





180 Die Zukunft. 


Beide germanifche Herifchaftorganifationen, dazu beftimmt, die Welt zu unter 
jochen. Die germaniſche Raſſe ift berufen, die Erde mit ihrer Herrſchaft 
zu umfpannen, die Schäge der Natur und der Arbeitkräfte auszubeuten und 
die pafjiven Raffen als dienendes Glied ihrer Kulturentwidelung einzufügen.“ 

Das alfo ift des Pudels Kern. Iſts aber noch Wiffenfhaft? Hat 

Woltmann diefe Beſtimmung der germanifchen Raſſe aus phyſiologiſchen 
Unterfuchungen erfaunt? Doc) gelegt, e8 wäre fo: was werden die anderen 
Raſſen dazu fagen? Sollten die Brünetten und Kleinen fi der Herrfchaft 
der Blonden und Großen fügen? Das werden fie offenbar nicht tun. Da 
ziehen fie vor, zu fämpfen. Der „politifch:anthropologifche* Nachweis, daß 
alle nicht blonden Raſſen der blonden zu dienen haben, wirb den Nichtblonden 
offenbar nicht imponiren; fie werden diefen Anspruch nicht anerfennen, — und 
bie Totjchlägerei kann beginnen. Iſt denn aber die Schlußfolgerung von 
dem abfolug höheren Werthe der germanifchen Raffe wirklich wilfenfchaftlich 
begründet und die an diefe Schlußfolgerung gelnüpfte Prophezeiung Wolt: 
manns von ber „erdumfpannenden Herrſchaft“ diefer Raſſe berechtigt? Ich 
fann bier feine eingehende Kritik diefes ganzen wiflenfchaftliden Syftems 
geben; aber ein paar gewichtige Bedenken mögen mir geftattet fein. 

Iſt „Raſſe“ der Grundbegriff, der ung die Räthſel des Staates und 
der Geſellſchaft Löfen fol, fo muß vor Allem Kar befinirt werden: Was ift 
Raſſe? Es find nad) Woltmann „VBerfchiedenheiten”, die „bei ber Verbreitung 
des einheitlichen Deenfchengefchlechteß über die Erdoberfläche entitanden find, 
durch eine auslefende Anpaffung an die ungleichartigen Eriftenzbedingungen.“ 
Zugegeben. Sol nun in der Welt eine Raffe berrfchen, foll jie in den 
einzelnen Staaten die VBorherrichaft genießen, fo müßte fie mindeftend eine 
genealogifche Kontinuität bilden. Das heißt: gleichrafjige Elternpaare müften 
mindeſtens gleichrafiige Nachkommen erzeugen. Nicht einmal Das ijt ver: 
bürgt. -Denn wie. der bei Woltmann citirte Ausfpruch Luſchans richtig be 
tont, fommt e8 häufig vor, daß ein großer, blonder, blauäugiger Menſch 
einen Heinen, dunfeläugigen, [hwarzhaarigen Bruder bat, wobei nicht ausge: 
fchlofien ift, dat der Erſte ein Rindvieh, der Zweite ein genialer Menſch if. 
Was ſoll nun da geſchehen? Soll der Blonde den Schwarzen als ander3- 
rafjig und minderwerthig betrachten und fi die Herrfchaft Aber ihn anmaßen? 
Da wird es wohl Bruderkrieg und Beudermord geben. Will uns die neue 
Staatswiſſenſchaft eine ſolche Periode bringen und fanktioniren? Obendrein 
find Heutzutage alle Völker ohne Ausnahme gemifchtraffig und eben fo bie 
Ehepaare; woraus fich die vorherrfchende Verfchiedenrafjigkeit der Familien 
erflärt. Denn wie der von Woltmann citirte Luſchan ganz richtig erflärt, 
„vererben fich die einmal feft erworbenen phyfifchen Eigenfchaften immer und 
immer wieder auf die Kinder“, und zwar fo, „daß fie auch allen Raſſe⸗ 


Politiſche Anthropologie. | 181 


mifchungen mit der größten Energie wiberftehen und daß fie immer und 
immer wieder zum Borfchein kommen, wobei e8 beinahe einerlei ift, ob jebt 
die Raſſemiſchung durch die Eltern und Großeltern oder vor Hunderten von 
Generationen erfolgt if.“ Das ift num eine fatale Sache für bie Lehre von 
dem Borrang der blonden germanifchen Rafſe und ihrer Vorherrſchaft in 
der Zukunft; denn felbft wenn man von nun an Ehen zwifchen Blonden 
und Brünetten verböte, fo entfprießen ja auch den Ehen blonder Eltern brü⸗ 
nette und brünetter Eltern blonde Kinder. Wie will man Das verhüten, 
wenn bie diefe Verfchiedenraffigkeit der Kinder verurfaddenden Umftände vor 
„Hunderten von Generationen“ fich ereignet haben konnten? Num, da die 
Rofienfanatiler in den Mitteln, die reinrafjige Hochzucht zu fördern, nicht 
wählerifch find und vor „Eliminirung“ der mindermerthigen, alfo ber nicht» 
Hlonden, ungermanifchen Raſſen nicht zurüdichreden, könnte vielleicht eine 
„direfte Ausrottung“ aller andersraffigen Gefchwifter und Familienmitglieder 
ans Ziel führen. Leider belehrt uns aber Woltmann, daß für das Erkennen 
der Raſſe die äußeren Merkmale, der Typus, nicht ausfchlaggebend find. Denn’ 
die Verichiedenheit der Rafle „muß fich keineswegs in einem beftimmten Typus 
offenbaren.“ „Der Typus ift ein morphologifcher, die Raffe ein genenlogifcher 
Begriff. Rafle ımd Typus brauchen nicht genau übereinzuftimmen.* Aus 
„dem Typus allein ift es faft unmöglich, auf die Raſſe zu fchließen, fo daß 
nur eine genealogifche Unterfuchung die organische Verwandtfchaft feftitellen 
Tann.“ Unter folden Umftänden wäre eine „direfte Ausrottung“ gefährlich; 
denn es Fönnte leicht gefchehen, daß man einen brünetten Germanen tot- 
ſchlüge und einen blauäugigen, blonden Juden am Leben ließe. Woltmann 
empfiehlt eine genaue „genealogifche Unterfuchung“ der Abftammung. Was 
nügt aber eine ſolche, wenn, wie wir wifien, eine Bermifchung don „vor 
Hunderten von Generationen” noch immer ihre Wirkung äußeren und die Rein= 
raffigkeit der Familien nach Jahrhunderten trog aller Inzucht trüben kann? 
Wenn nun die Neinrafjigkeit eine Utopie und die Mifchraffigleit die Wirk— 
lichkeit ift, fo fehlt der ganzen Theorie bie feſte Grundlage. Die Reinraflig- 
teit auch nur der weißen Menfchen ſcheint ſchon vor Sahrhunderttaufenden 
gründlich verpfufcht worden zu fein, — vielleiht für immer. 

Das wäre ein anthropologifches Bedenken gegen die politifch = anthro- 
pologifche Theorie; num aber ein foziologifches. Diefe ganze von Woltmann 
ins Auge gefaßte Neinzüchterei der germanifchen Waffe follte den Zweck 
haben, die Welt mit folhen „Großthaten des germanifchen Geiftes“, wie 
Papſtthum und Kaifertfum es find, zu begläden? Ich weiß nicht, ob das 
beutige Deutfchland fich für das Papſtthum begeiftert; oder müßte es dazu 
erft einer germanifchen Reinzucht unterworfen werden? Und au für das 
Kaiſerthum (das proteftantifche?) ift die Begeifterung nicht überall allzu groß; 

14 








182 Die Zukunft. 


jedenfalls find die germanischen Römlinge nicht Anhänger des deutfchen Kaijer: 
thumes. Wo fledt alſo ber germanifche Geift? Bei Welfen oder Ghibellinen? 
Denn bie Raſſe erzeugt ja den Geift. 

Nah den anthropologifchen und foziologifhen Bedenken möge ein bics 
logifches noch hier Platz finden. Es ift wohl richtig, daß norbgermanifcher 
Einfluß faft überall in europäiſchen Staaten feit dem früheften Mittelalter 
zur Geltung fommt; aber geftattet die Logik, ba von „germaniſchen“ Echäpf- 
ungen zu fprehen? Dan kann doch logifch höchftens fagen, daß die Ger: 
manen an biefen Schöpfungen mitwickten. Wenn in Rom da8 Bapfttfum 
entitand, jo entftand es doch offenbar unter altiver Mitwirfung des alten 
römifchen Blutes und Geiftes. Wer will und wer kann behaupten, daß es 
nur Germanen waren, die diefe allerdings ſtaunenswerthe Weltherrichaft- 
Drganifation ind Xeben riefen? Iſt das Papſtthum nicht offenbar eine 
Fortfegung der römifchen Weltherrfchaft mit feineren, geiftigen Mitteln? 
Und kann man aus dem Papftıhum ganz das femitifche Element löfen, das 
uns ifolirt, fozufagen in Reinkultur, in oftgafizifhen Wunderrabbiß entgegen- 
tritt, die ausfchlieglich mit Hilfe ihrer Wunderthaten und Segenfpenden weit 
und breit die Lande beherrfchen, Pilgerzüge empfangen und reichliche „ Peters⸗ 
pfennige“ einfammeln? Wer kann abftreiten, dag im Vapſtthum all dieſe 
Elemente vereinigt find, orientalifche, römifche und germanifche? Und darf man 
es dann eine außfchlieglich germanifche Rafjen-Schöpfung nennen? Man könnte 
ja einfach fragen: Warum haben die Nordgermanen nicht von ihrer Heimath, 
etwa von Upfala aus eine päpftliche Weltherrfchaft gegründet? Tas wäre 
dann eher eine Schöpfung der germanifchen Raſſe. Warum haben fie erft 
die weite Neife nad) Rom gemacht und fi) allerlei Strapazen ausgefegt? 
Iſt es denn nicht Har, daß es zuerft eine römische weltliche Herrfchaft gegeben 
haben, daß erſt orientalifche Seelenverfnechtung vorhergegangen fein mußte, 
ehe aus all diefen Elementen unter Hinzutritt normannifchen Piraten⸗ und 
Banditengeijtes die großartige Weltherrfchaft: Drganifation des Papftthumes 
entftehen konnte? Der Irrthum der modernen Naffentheoretifer fcheint alfo 
darin zu liegen, daß fie für eine einzelne mitwirkende Raſſe reflamiren, was 
nur aus dem Zuſammenwirken einer Vielheit von Raſſen erklärt werden 
kann. Es ift, al3 ob man die Wirkung eine Drchefterfongertes nur für 
die darin mitwirfende große Paufe reklamiren wollte. 

Die Wahrheit fcheint mir zu fein, daß alle „Großthaten“ Orcheſter⸗ 
konzerte find, bei denen die unzähligen vielen Raſſen die verjchiedenen Inſtru⸗ 
mente fpielen, aus deren Zuſammenwirken jene „Großthaten“ und „Schöpf: 
ungen“ entitehen: fie jind eben foziale und nationale Großthaten und 
Schöpfungen und dürfen nicht auf das Konto einer einzigen mitwirfenden 


Raſſe gebucht werden. 





Politiſche Anthropologie. 183 


Mit ſolchen Organiſationen wie Papſtthum, Kaiſerthum und Staat 
überhaupt verhält es ſich ſo wie mit der Sprache. Auch fie iſt eine foziale 
umd nationale und keine Raffenjchöpfung. Die Normannen des frühen Mittel- 
alter3 hatten eine äufßerft bürftige, an Begriffen arme Sprache, die faum für 
das Leben eines Piratenvolkes ausreichte. Was war fie gegen die Sprache des 
Hohen Liedes, gegen die Sprache der Pindar und Aeschylos, Vergils und 
Ciceros? In jener reingermanifchen, von allerlei fpäteren Beimifchungen noch 
nicht „verumreinigten* Sprache hätten Schiller und Goethe ihre unfterblichen 
Werke nicht zu fchaffen vermocht. Es bedurfte erſt Jahrhunderte langer gründ⸗ 
licher „Verunreinigung“ der germaniſchen Urſprache, um fie fähig zu machen, 
folche dichterifchen Werke hervorzubringen. Und dabei vergefie man nicht, 
daß bie Sprache nicht nur durch fremde Lehnworte bereichert wird, fondern 
noch viel mehr durch fremde Lehnbegriffe, aus denen heimifche Worte hervor- 
getrieben werden. Nur in einer auf ſolche Weiſe entftandenen „Sprad- 
pfüge* — um im Sinne der Naflenreinzüchter zu fprechen — konnten bie 
unfterblichen Meiſterwerke wachfen. Da kommt nun ein Chamberlain und wirft 
fich ftolz in die Bruft: Das find Werke germanifchen Geiftes! Die Welt der 
Sprachen ift aber ein getreues Spiegelbild der Welt der Raſſen. Wie «8 
unter den Kulturſprachen Feine reine mehr giebt, fo giebt e8 unter den Kultur⸗ 
völfern keine reine Rafſe mehr. Vielleicht finden wir im Innern Afrikas und 
im Feuerland noch reine Raflen mit reinen Sprachen. 

Woltmanns Werk hat das Verdienft, eine in Frankreich und Deutſch- 
land feit einigen Jahrzehnten aufgefommene Theorie in ein wiſſenſchaftliches 
Syitem- gebracht zu haben. Die politifch-anthropologifche Staatsidee tritt in 
voller Rüftung auf den Plan. Nun kann der Kampf beginnen. Sie findet 
bier nicht viele Gegner. Die theologifhe Staatsidee geht nur noch als ſchwarzes 
Gefpenft um, die juriftifche Liegt maufetot im Sande, die fozialiftifche giebt noch 
Rebenszeichen, wird aber nicht mehr auflommen. Was bleibt? Die fozio: 
logifche und die anthropo-geographifche Staatsidee. Wird der Kampf für eine 
von ihnen tötlich enden? Wer weiß? Nicht ausgefchlofien ift, daß die Kämpfen- 
den einander verfühnlich die Hand reichen und einen ehrenvollen Frieden fchließen. 
Das ift um fo mehr zu hoffen, als die zwei hervorragendften Vertreter der 
joziologifchen und der anthropo:geographifchen Staatsidee, Ragenhofer und 
Nagel, in ihren Syſtemen das Raſſenmoment gebührend berüdjichtigen. 


Graz. Profeſſor Ludwig Gumplowicz. 


Sr 





184 Die Zuhmft. 


George Moore. 


on den vier lebenden Romandichtern Englands: George Meredith 
— den vor Kurzem Federn den Lefern der „Zulunft” in Echmeite 
rüdte —, Thomas Hardy, Rudyard Kipling und George Moore, die ganz 
Europa angehören jollten und früher oder fpäter auch werden, ift Meredith 
der ältefte und, trog Kipling, der den größeren Leferfreis hat, am Höchften 
geachtet. George Moore, den ich den bdeutfchen Leſern näher bringen möchte, 
ift der jüngfte, auch drüben am Wenigften gelefen, aber gerade deshalb ver- 
vehmt. Das englifche Publilum nimmt ihm gegenüber etwa bie Stellung 
ein, die deutſche Philifter Ibſen gegenüber Ende der achtziger Jahre einnahmen. 
Uns bietet er wohl neben Hardy am Meiften von den vier Genannten. Rotizen 
über feinen äußeren Lebenslauf und feine Perfönlichkeit habe ich faſt gar 
nicht erhalten. Der Name verräth, daß er trifcher Abkunft if, wie Wilde 
und Shaw. Der Datirung bed Briefes, mit dem er die Tauchnigausgabe 
feines legten Novellenbandes The untilled field, wie er Irland ſchön nennt, 
einem Freunde zueignet, entnehme ich, daß er in Dublin lebt. Der Original: 
ausgabe von Sister Teresa ift fein Bild nad einer wohl nit allzu 
ftarfen Zeichnung beigegeben. Danach ift er ein Mann von etwa vierzig 
Jahren. Das Geficht rundlich, mit Fräftiger, Leicht gebogener Nafe. Der 
obere Theil des Mundes von einem ſtarken Schnaugbart bebedt, mur bie 
Unterlippe, bie fi voll ein Wenig vorfchieht, fichtbar. Die ſcharfen Linien, 
bie fich bereit8 in das Geſicht eingegraben haben, zeigen, daß «8, leichten 
Mienenfpieles fähig, häufig der Spiegel ftarfer innerer Erregung ward. Die 
Augen feſſeln fofort, fie verrathen die Grundſtimmung: Ernſt aus Theil⸗ 
nahme an allem Geſchehen mit feiner Traurigkeit. Nur der vorgefchobene 
Mund fcheint manchmal über eigene und allgemeine Menfchenthorheit be- 
baglich lächeln zu können. Die Augen haben fehr viel Trübes gefehen. 
Moores Romane verrathen mehr von feinem Entwidelungsgang. London 
it in ihm am LXebendigften. Er hat jeden Reiz von London, ber nie trivialen, 
felten heiteren, immer grandiofen — da8 deutſche „großartig" giebt nicht alle 
Dbertöne — Stadt, in fi) aufgenommen. Paris übte auf ihn feine Reize 
aus und im Yufammenleben mit der Boheme in Barbizon konnte er auch 
bei Anderen als fich felbft fünftlerifches QTemperament beobachten. SYtalieı 
ift ihm nicht fremd, Die ftärkten Schwingungen erregte Bayreuth in ihm. 
Deutfchland fcheint ihm überhaupt viel gegeben zu haben, mehr als feine 
eigene Kultur; Deutfchland war es wohl auch, das ihn die ber morbifchen 
Völker vermittelte. Moores Weg war weit. Anregungen hat er viele und 
mannichfach gewonnen; aber London und Irland find der Mutterboden, bei 
deſſen Berührung ihm urfprünglichite Kraft zuftrömt. Die Technik feine- 





George Moore. 185 


Erzählung fteht auf ber Höhe der Turgeniew, Flaubert, Maupaflant; die Rede 
weife feiner PBerfonen gewinnt oft Fontanes Herzlichkeit. Er bat von ben 
Meiftern gelernt, abhängig ift er nicht von ihmen geworden. Er hat eigen 
Gefehenes zu fagen und fagt e8 auf feine Weife. Ich habe auch — abge- 
fehen vom Erſtling — bei feinem feiner Werke den Eindrud gehabt, daß 
es ohne Borgänger nicht hätte entfliehen können. Wohl find aber zwei be- 
deutende deutfche Erfcheinungen ohne feine beiden großen Romane undenkbar: 
„Renate Fuchs“ trägt wefentliche Züge von „Evelyn Innes“ und „Das 
tägliche Brot” enthält ganze Auftritte aus „Efther Waters”. Moores Dar: 
ftellung felbft giebt ausnahmlos englifches und iriſches Weſen. Dabei ift 
er nicht etwa Nationaljchriftfieller; er ift Dichter und giebt Menfchliches in 
feiner Dürftigfeit und in feiner tragifchen Größe; aber er giebt es, wie es 
fih äußert, wie e8 fich zu äußern gezwungen ift unter den befonderen Lebens⸗ 
verhältniffen Englands und Irlands. Er giebt immer den Menjchen und 
die Tiefen des Menfchen. Charalteriftifh für ihn find die Beweggründe, 
aus denen er, wie er in dem Widmungbrief feines neuften Novellenbanbes 
The untilled field fagt, zwei Gefchichten wegläßt: They seemed to be 
less deep rooted in the fundamental instincts of life than some of 
the others. Des Lebens Grundtriebe erfchaut er klar umd tief, wie nur 
einer unferer großen feftländifchen Pfychologen. Aber nicht nur die Fähig: 
feit eindringlichfter Beobachtung ift ihm gegeben: mich dünft, er ift auch einer 
der reichiten KHünftler. Der Ereignifie find bei ihm nicht viel, ihr Knäuel 
it nicht fo romanhaft verworren, wie es der englifhe Geſchmack liebt, dem 
hierin fogar Meredith und Hardy allzu willfährig find. Seine Handlung 
beiteht, faft immer ohne Knalleffekte, Graßheiten und Ueberrafhungen, aus 
alltäglichen Gefchehnifien. Wie fie Herr Jedermann, nur mit weniger tiefem 
Erfaflen, durchmacht, die der Standesbeamte von Amtes wegen gleichgiltig 
notirt, von denen fi aber feine Spuren in den Polizeiakten finden. Aber 
bei Moore werden jie Menfchenerlebnig und daher Menfchenfchidjal. Sie 
verlieren ihre Gleichgiltigkeit durch feine Kunſt. 

Ein Hausmädchen auf der Stellungfuche ift trivial genug. Nicht aus 
Menfchenliebe folgen wir der Heinen tapferen Eſther Waters auf ihrer Suche 
mit der jelben angftvollen Spannung, die fie durch den zur Hochſommerzeit 
entvölferten Weften Londons treibt. Wir wiffen, dag Hunderttaufende von 
Mädchenmüttern von Stellenvermittlerin zu Stellenvermittlerin laufen, daß 
wir eine Entfcheidung, ſchwerwiegend wie eine vom Reichsgericht, fällen, wenn 
wir das demüthig ung überreichte Dienftbuh annehmen oder zurüdgeben, 
eine Darf Monatslohn mehr bieten oder verweigern. Es ift Maflenlos, 
das ſolches darbende Hausmädchen trifft und das fühl anzufehen wir uns 
längft gewöhnten. Moore ruft ung nicht zum Mitleid; er ift kein beredter 


186 Die Zukunft. 


Agititor wie Björnfon, Tolftoi, der Hauptmann ber „Weber“. Er it ein 
Schöpfer; er bildet aus Erlebnifien Menſchen. Jede Thür, die mit dröhnenden 
Schall eine Hoffnung auf auskömmliche Stellung für Efther und ihr Kind ver: 
nichtet, entwirft — wie Goethe das Wort ſchön geprägt hat — ihr Sein. Weil 
Moore die Kraft befigt, uns erfühlen zu laflen, wie die unbedeutenbiten Er: 
eigniffe in der Seele Furchen ziehen und hinwieder das Wefen des Menſchen 
bie Erlebniſſe bewirkt, die an jie herantreten, wächft die Trivialität zur Tragil. 

Die Kraft, da Ereigniß aus der Sphäre des Zufalles, des Unbe 
deutenden herauszuheben und uns zum Glauben an feine allgewaltige Rott: 
wendigkeit, der auch wir eingefügt find, zu zwingen, ift wohl das Zeichen 
des Kunftwerles. Des idealiftifchen mie des naturaliffiichen. Der Unter: 
fchied befteht nur in der Wahl der von ihnen dargeftellten Ereigniſſe. Zum 
Erlebnig muß fie jede Kunftwerk und jeder Stil für ung geftaften. 

Bei Moore wird Alles zum Erlebnif, die Landfchaft und das Kunf: 
wert; feldft die fofjilen Dogmen erſtarrter Glaubensbelenntniffe treten wieder 
flaffig in den Blutkreislauf feiner Menfchen. ch weiß nicht, ob Moore 
Leſſings Laokoon Tennt; jedenfalls gelingt ihm, in Worten Landſchafien 
wiederzugeben. Er fchildert fie nicht: er erzählt die Empfindungen feine 
Menſchen vor ihnen. Er giebt das Entſtehen ihres Bildes im menfchlicen 
Auge und die Bewegungen, die fie im feinem Herzen auslöfen. Aber er 
läßt feine Menſchen nicht über diefe Gefühle reden: ihre Entſchlüſſe, ihre 
Handlungen allein Sprechen von biefen Empfindungen. Schon der Novellen 
band „Celibates“, der nicht nad allen Seiten Hin erfreulich‘ ift, weil hier 
der Künftler noch nicht zu dem reiniten Geſchmack vorgebrungen war, wird von 
diefer Fähigkeit durchleuchtet. Regentpark und die Wälder von Fontainebleon 
und Barbizon jehen wir in den Augen Mildred Lawſons. 

Zu dem Schönften, das Gabriele d’Annunzios von Schönheit truntene 
Seele geichaffen, gehören feine Analyfen fremder Kunſtwerke, vor Allem 
die Nachempfindungen der Mufitdramen Wagners in Trionfo della morte 
und in Fuoco. Über mit welcher bezaubernden Sprachgemalt feine Be: 
geifterung auch ihren Ausdruck fand: für die Erzählung find biefe Stellm 
tote Punkte; das Kunftwert des Romans überladen fie häufig mit Prunl. 
An überzeugender Wärme, Tiefe und Schönheit ftehen die Kunſtbetrachtungen 
Moores namentlich in „Evelyn Innes* und „Mildred Lawſon“ nicht hinter 
denen des Italieners zurück. Bei ihm jind fie aber nicht Ornamente, fon: 
dern konſtruktive Träger, find ein Theil der Handlung. Wenn Evelyn [id 
in Iſolde wandelt und die Bedeutung der Motive erfühlt, bie dem Liebes⸗ 
trank umfpielen, wird jie ihrer Sehnſucht nad dem Bezwinger ihrer Weib: 
lichkeit gewahr: fie fpricht mit Ulid über Triftan. In der Muſik der Sprache, 
mit der Moore das Paar umkleidet, hören wir feines Lebens innerften Rhyth⸗ 








George Moore. 187 


mus, fühlen wir unfer eigenes Selbft, wie wenn Wagners fluthendes Töne- 
meer an unſeres Seins innerfte Pforte heranraufchte. 

Denn Moores Sprache ift Muſik. Sie ift wunderſam Iyrifche Melodie 
in der Wiedergabe von Naturempfindungen, wandelt ſich zu reizvollen charakte⸗ 
riſirenden Rezitativen im Geſpräch und ſchrillt zum machtvollen Allegro, 
wenn Leidenfchaft feine Menſchen in ihren Wirbel reißt. Hat Oskar Wilde 
fich die englifche Sprache zum fchmiegfamften Inftrument für entzüidende Plaude⸗ 
rei gefchaffen, wie man fie nur im Idiom Mufjet möglich halten follte, fo 
gab ihr Moore nie geahnten Slarg von Herzlichleit und ſuüßem Wohllaut. 

Es ift nicht in unferer Sprade, was nicht vorher in unferen Em⸗ 
Pfindungen wäre. Wirklihe Höhe der Sprad: und Erzählungtechnik ift 
immer das Ergebniß tieffier Aufnahmefähigkeit für künftlerifche Eindrüde. 
Man kann fie nicht Anderen abfchauen, höchſtens die eigene im Vergleich 
wit der Anderer fchärfen. Oberflächlich reden wir wohl von einer glänzenden 
Made, aber die Anwendung diejes Wortes verräth eben, daß auch die größte, 
Meiftern abgelaufchte äußere Gejchidlichkeit die innere Dürftigkeit bes Hand» 
werkers nicht zu verdeden vermag. Das Gewand, das die Körperpracht des 
Riefen nur hervorhob, nicht verhüllte, fchlottert um den Leib des Pygmäen; 
am Ende ftolpert er ficher über das allzu lange Gewand, das er fich mit frecher 
Hand anmaßte. Kunſt ift der gefteigerte Ausbrud eigenen Erlebend. Die Aus: 
drüde lernt jeder Betriebfame; das Erlebniß giebt nur eigene Perfönlichkeit. 

Eine Kunft der Erzählung wie die Moores hat Werthvolles zu bes 
richten. Ein folder Erzähler hat tief ind Leben geblict; ihm verriethen die 
Geſichtszuge der Menſchen die Scidfale, die fie bildeten. Er las ihren 
Gefichtern die Fragen ab, die ihnen das Leben ftellte, die Antwort, bie fie 
fanden, und was es fie Eoftete, diefe Antwort zu finden. Problemdichter ift 
George Moore, mie jeder echte Dichter. Nicht in dem falfchen Sinn, den 
tritifche Unzulänglicgkeit dem Wort angeheftet hat. Er ift weber Pädagoge, 
der zu billigen Marktweisheiten Beifpiele erfänne, noch Agitator, der politifche 
oder religiöfe Ideen der Menge durch förperliche Geftaltung faßlicher vor 
Augen bringt. Zwar rüdt auch Moore die Probleme, die den beflen Theil 
unſeres Lebens bilden, in unfere Sehmeite. Aber nicht, um für die Löfung, 
die er etwa gefunden, Anhänger zu werben; wir erfahren auch faum mittel« 
bar, wie er über fie dentt. Wir fühlen nur das Gewicht, womit lie feine 
Menfchen belaften, wie fie an der Aufgabe wachſen oder, von ihr zu Boden 
gedrückt, brechen. Bielleicht, weil die Frageſtellung falſch ift, vielleicht, weil 
fie die Frage nicht richtig verftehen. Außerdem wird oft genug der Unterjchied 
zwiichen des Dafeins Grundfragen, die die wirkende Natur ftumm in unferem 
Blut ftellte, ftellt und ftellen wird, und die die Menfchheit, die fprechen ges 

lernt Bat, nicht beantwortet, denen höchftens hier und da ein Einzelner wort: 


188 Die Zukunft. 


108 wiederum mit feinem Wirken, feinem Xeben, Genüge thut, und den 
Bilderräthfeln verwifcht, die die Völfer nicht müde werden aus ihren jemeiligen 
— feine Scheu vor der Tantologie! — Idolen fich zufammenzuftellen. Ihre 
Macht erlifcht, fobald die Bedeutung einmal erlannt ift oder die Fdole unver⸗ 
fändlich geworden find. Kunftwerke, die ſich mit ihnen befchäftigen, werben 
unausbleiblih zu Tendenzwerlen und verlieren zufammen mit ihnen ihren 
Werth. Gutzkows, Spielhagens Romane, „Jena oder Sedan“. 

Die Fragen bleiben; und die Menſchen, auf deren Antlitz wir leſen, 
daß auch ſie, wie wir, von ihnen gequält werden, bis ſie dahingehen, wo es 
entweder die Antwort oder auch nur die Ruhe giebt, verlieren nie unſere 
Theilnahme. Und in den Menſchen Moores pocht und hämmert unermüd⸗ 
lich das Weshalb, Wozu, Wohin. 

Dresden. Dr. Herman Facobfon. 


& 
In der Hölle.*) 


SD: Böirliche Komoedie ift noch nicht ausgefpielt, wird niemals ausgejpielt 
werden. 

Heutzutage würde man die Hölle vielleicht anders barftellen; aber ben 
Himmel? Dem ſcheinen wir ſeit Dantes Beiten nicht näher gekommen, ſondern 
immer gleich fern geblieben zu fein. Woran liegt Das wohl? Sind wir Ber 
urtheilte, die den Himmel niemals jchauen dürfen, außer in der Todesſtunde, 
— die wir Tobesftunde nennen, weil wir nicht wilfen, was dann ift? Die Erde 
iſt ein zweifelhafter Aufenthaltsort, denn fie ift auf lauter Angft aufgebaut, auf 
gegenſeitiges Bertilgen der Individuen, zur Erhaltung bes Leibes, der bei Allen 
gleidermaßen früher oder fpäter dem vollfommenen Verfall, dem Uebergehen in 
ihm ganz ungleiche Stoffe beitimmt ijt. Und diejes Erhalten des Leibes erfcheint 
allen Erdenbewohnern von fo ungeheurer Wichtigkeit, daß fie fich nicht ſcheuen, 
die größten Grauſamkeiten an Ihresgleichen zu begehen, nur um ihren Leib zu 
erhalten. Und doc iſt es eben der Leib, der alle jogenannte „Sünde“ enthält 
oder zu Dem, was wir Sünde nennen, verleitet. Auch Krankheiten find nur 
Sade des Leibes; denn was man früher irrthümlich. Geiftesfranfheit nannte, 
erweift ſich heute als Gehirnkrankheit, als eine Störung der Verkehrsmittel 
zwilden dem Kranken und der Außenwelt, feineswegs aber ald eine Xrübung 
der Seele, die fi unjerer Beobachtung in ben meiften Fällen, bier aber gänzlich, 
entzieht. Alle Berfuchungen, die das Veben verdunfeln, alles Leib, das yner: 
träglich werben kann, hängt mehr mit dem Körper zufammen als mit Dem, was 
wir Seele nennen. 

Der Tod ift körperlich; denn wir wiflen durchaus nicht, ob die Seele 


*) Der Wunſch, diefe Gedanken und Phantafien der gefrönten Verfajlerin, 
die in einer jüddeutichen Zeitung veröffentlicht wurden, auch anderen Europäern 
zugänglich gemacht zu jehen, wird bier gern erfüllt. 











In der Hölle. 189 


vom Tode erreichbar iſt. Daß Krankſein körperlich ift, beweiſen ums bie un« 
zähligen Geiſteshelden, die, mit einem elenden Körper ausgeſtattet, wahre Meiſter⸗ 
werfe geliefert und den Spruch Mens sana in corpore sano fchon lange wider- 
legt haben. Wir haben im Gegentheil oft die Erfahrung gemacht: je geringer an 
Kraft und Schönheit der Körper, um fo beller leuchtet der Geiſt. Abgeklärt jteht 
er da und befiegt die ſchwächliche Hülle wie ein Trtumphator feine Feinde. Biele 
wollten fogar in der vollftändigen Abtötung des Fleiſches das Heil jeden und 
find bamit auf neue Irrwege gerathen; denn fie Hatten das nothwendigſte In⸗ 

ftrument willfürlich zerftört und madten es unfähig zu rechter Leiftung. | 

Die fchwerften Verſuchungen entipringen dem Körper, die ſchwerſten Ver⸗ 
breden Tommen daher, daß man dem Körper zu viel Gewalt einräumt, daß 
man fi an jeinem eigenen Blute berauſcht. Darum ift auch fein Menſch ganz 
fiher davor, ein Berbreden zu begehen, — weil ihm fein eigenes Blut einen 
Streich ſpielen kann. Der Hunger, der Born find zwei Dinge, die den Körper 
willenlos maden und den unglüdlichen Menfchen den furdhtbarften Qualen preis» 
geben. Wäre der Körper immer in unferer Gewalt, jo würden wir nicht bis ' 
zum Verbrechen fommen, felbft wenn die Gedanken böje wären; oft aber führt 
eine einzige Blutwelle das Unglüd herbei. 

Nun möchte man auch beftändig fragen, warum die Erde fo eingerichtet 
ift, warum wir einen jo ganz beſtimmten und deutlichen Begriff von Gut und 
Bdje Haben oder zu haben glauben. Denn aud Gut und Böſe ift Sache des 
Klimas und der Rafje; Seinesgleichen zu verzehren, ift in gewiflen Zonen ein 
Menſchenrecht; und ein Mädchen rühmt fih der vielen Gatten, deren Zahl es 
an einer gelnüpften Schnur um den Hals trägt. Warum ed MWejen giebt, die 
wir mit vollem Recht „Wilde” nennen zu dürfen glauben, während wir uns 
bereit3 für civilifirt Halten und nicht denken, daß vollfommenere Geſchöpfe ung 
wahrjcheinlih mit Grauen für „Halbwilde“ anjehen würden, die einander tote 
ſchlagen und totſchießen, ja, alljägrlich immer graufigere Mordwaffen erfinden 
und Den belohnen, der jein Ebenbild am Beſten totſchießen fann. 

Sit e8 nicht ein Meer von Räthſeln, in dem wir uns bewegen?.. Nun 
fommt es uns öfters jo vor, als feien wir einfach Verurtheilte: zu einer Art 
Gefangenschaft, zu unerhörten Verſuchungen, denen wir, unjerem Weſen nad), 
faum entrinnen fönnen, und zu einem ficheren, oft qualvollen Tode. Darum 
drängt fih mandmal die Frage auf, ob die Erde nicht am Ende wirklich ein 
Ort der Strafe, eine der vielen Höllen iſt, deren Bezirke Dante ſo wunderbar 
eintheilte; wohl mit Recht hielt er die eiſigen Gegenden für die fürchterlichſten. 

Unſere Erde iſt noch lange nicht eine der denkbar ſchlimmſten Höllen; 
denn wir haben noch Sonnenlicht, wenigftens ein mäßiges, uns angemeflenes; 
eins, dem wir angemeflen find, follten wir lieber fagen. Wir haben noch Grün 
und liebliche Gegenden, — oder was uns als lieblich erjcheint, da unfere Augen 
dafür gefchaffen find. Aber wozu all die unbegreifliden Geſchöpfe, die ung Ents 
fegen einflößen? Wozu all die Krankheiten, deren Zahl fo groß iſt, daß fie die 
Wiſſenſchaft in Hunderten von Jahren noch nicht annäheınd ergründet haben 
wird? Wozu? Dit ed nicht oft, als jollten wir ein Verbrechen büßen, deſſen 
Begehung man uns aus Gnade und Barmherzigkeit verhüllt? Denn wüßten 
wir, wer wir find, jo könnten wir nicht mehr zujammenleben, jo würde das 


190 Die Zukunft. 





Kind in der Wiege jchon verurtheilt umd der Weg zum Heil ihm dur das allge 
meine Uebelmollen abgejchnitten, das feine Fremdheit und jeine lieblidde Elein⸗ 
heit ihm gewähren. 

Die Einen find vielleicht Berbredder, bie man erlöjen oder denen man 
wenigftens die Möglichkeit geben will, höher zu fteigen und fich zu vervolllommnen; 
die Anderen find vielleicht Engel des Lichtes, die fich willfürlih für eine Zeit 
auf die Erde verbannen lafjen, in der Hoffnung, den Brüdern zu helfen unb 
Einigen den Weg zu zeigen, hinaus, fort aus diefer Hölle. 

j Warum der GSelbftmord fo verpönt ift und von ber felben menjchlichen 
Geſellſchaft jo bitter gerügt, an den Nachkommen nocd gerät wird, während 
dieſe menſchliche Geſellſchaft allein daran die Schuld trägt — denn rechtzeitige 
Hilfe hätte dieſes Aeußerſte oft verhindert —: Das willen wir wiederum nidht. 
Haben wir die Empfindung, daß wir die Zeit der Strafe nicht abfürzen dürfen 
und dann wieder anfangen oder noch ſchwerer geftraft werden müflen, um zu 
erreichen, was wir erreichen ſollen? Wer jagt es uns? 

Wir taften umber, wie die Thiere der tiefen Höhlen, die feine Augen 
haben, weil fie feiner Augen bedürfen. Wir haben überall dichte Nebel vor 
und Warum, da wir do bie Sehnfucht haben, die Schleier zu läften und 
klar zu jehen? Unjer ganzes Streben ift nur auf Licht und Klarheit gerichtet 
und Jeder, der einen Strahl erfindet, wird von uns gepriefen, wie Prometheus, 
der den Menfchen das euer bradte und dafür in ewiger Qual ſchmachtete. 
Warum jchmachtete er denn in ewiger Dual? Hatten die Menſchen das Gefühl, 
daß fie des Feuers nicht werth feien und daß das Licht nur das Attribut eines 
Gottes ſei? Aber die Erde bat fi doc nad unferen Begriffen vervollfommnet. 
Im Grunde willen wir auch davon nichts und jede Entdedung wirft eigenthüm— 
lie Streiflichter auf vergangene Civilifationen. Dabei ift der Willensbrang ung 
in die Seele gepflanzt, ein brennendes Streben nad Bervolllonmnung, die 
Mande in äußeren Glüdsgütern, Andere in gänzlidher Abtötung aller irdijchen 
Begierde ſuchen. 

Und dabei urtheilen wir hart über einander und find doch Alle in der 
jelben Gefangenſchaft, Alle zu gleihem Tode verurtheilt, nur zu verfchiebenen 
Todesarten, die aber wiederum gar nicht unferen Thaten angemefjen erſcheinen. 
Denn Die gerade, die wir für unfchuldig halten, find oft Märtyrer; und Alle, 
die wir zum Tode verurtheilen, haben einen viel leichteren Tod als bie Freb3- 
kranken und Herzleidenden. Die Angft, die ein Herzleidender tauſendmal durch⸗ 
macht, hat der zum Tode Berurtheilte nur einmal; und doch widerfteht e$ uns, 
Einen zum Tode zu verurtheilen, derin uns Tagt ber richtige Snftinft, daß wir 
eine Strafe auferlegen, deren Ende wir nicht fernen. Wir verkürzen die Höllens 
zeit, die der unglückliche Menſch vielleicht auf der Erde durchmachen jollte, um 
erlöft zu werden, und die er nun noch einmal beginnen muß. Was willen wir 
davon? Für uns bleibt dunkel, was hinter dem Schweigen des Toten fteht; er 
fagt es ung nicht, und wenn er verfucht, es und mitzutbeilen, fo fürchten wir 
und und Baltens für eigene Hirngefpinnfte oder lachen gar darüber. Aber wer 
fagt denn, daß wir gar nicht mit den Toten verkehren dürfen? Vielleicht wird 
eine Zeit fommen, mo folder Berker natürlich erfcheinen wird — Telegraphie 
mit dem Jenſeits — und wo uns bie Augen über viele Dinge aufgehen werben, 
die wir Beute in unferer grenzenlofen Unwiſſenheit hochmüthig zu belächeln wagen. 


In der Hölle. 191 


Die Entdedungen unferes Jahrhunderts follten uns lehren, wie viel wir 
noch zu entdeden haben. Denn Alles, was unjere Kindheit als Märchen ver: 
Schönte, tit heute Wirklichkeit; und wir müſſen viel merkwürdigere Dinge er- 
finden als Schlöfler, die von ſelbſt hell werden, al8 Spiegel, in denen wir 
fehen können, was unfere Lieben machen, ald Apparate, durch die man aus 
weiter Ferne fpricht, wie wenn man nah wäre, oder als Wagen, die von felbft 
fahren, Lufticiffe und Aehnliches. Das Alles haben wir und arbeiten raftlos 
fort: wir leuchten in die Körper und in bie Wohnungen hinein, und wenn ein 
Leuchtkörper eben entbedt ift, jo kommt ſchon wieder etwas viel Helleres. 

Raun es jo weiter gehen? Werden wir alle Wunder unferer Erde ergründen 
oder follen wir plögli wieder in Nacht verfinfen und von vorn anfangen? 

Dabei werben bie Lebensbedingungen täglich ichwerer zu erfüllen; die 
Zahl ber Arbeitpläge ſchrumpft zufammen; Geldgier, Habgier, Glanzgier nehmen 
immer beängftigendere Tyormen an. Und endlich fommt man auf den Gedanken, 
daß man in äußerfter Einfachheit gefunder und glüdlicher lebt als in dem Prunk, 
der das Leben belaftet und dem Geiſt die Fittige lähmt. Und dann werden 
wir wieder einfach; aber dann leidet die Induſtrie, die von ber Prunkſucht lebt. 
Wiſſen wir, was wir ſollen? 

Einzelne Dinge ſind uns ganz klar und deutlich. Daß wir unſeren 
Nächſten helfen ſollen. Daß wir ihn lieben ſollen. Das haben wir wenigſtens mit 
den Lippen gelernt; von dem Meiſter, den wir göttlich nennen, weil uns etwas 
ſo Bollkommenes nur außerirdiſch, alſo göttlich, erſcheinen kann. Denn wir 
ſind von dem Entſetzen und Schrecken losgekommen, den die Gottheit kindlichen 
Volkern einflößte. Warum? Wir haben die Milde der Gottheit erkennen und 
fafjen gelernt. Wodurch? Furchtbare Strafen jehen wir mit eigenen Augen 
über ganze Gefchlechter, über ganze Völfer und Völkerfamilien bereinbrechen; 
oder was wir für Strafen halten. Denn bei mandem Unglüd jagen mir: 
„Jene find Gottes Kinder, dein fie find beſonders ſchwer geprüft.“ Und bei 
anderem wieder jagen wir: „Gottes Gerechtigkeit offenbart ſich in den furchtbaren 
Strafen, die er über die Sünder verhängt!" Sind wir zu diefem Urtheil be 
rehtigt? Und in weldem Fall urthetlen wir richtig? .. Wir fprechen von 
Ueberzeugungen, al ob wir Heberzeugungen Haben könnten oder dürften! 

Ich glaube an ein ewiges Leben, an ewige Gerechtigkeit, an eine Yort- 
entwidelung von einer Erxiftenz in die andere... Mein freund lat mich aus 
und fagt, unfer ganzes Neben ſei werthlos und zufällig, und es gelingt mir 
nicht, ihn von meinen Gedanken auch nur ben Eleinften Theil für Wahrheit hin- 
nehmen zu laflen, obgleich mir ſehr am Herzen liegt, ihn zu überzeugen, da ich 
glaube, mit meiner Ueberzeugung glüdlicher zu fein und mehr ertragen und 
erreichen zu können. 

Das Wort Ueberzeugung ift jonderbar in unferem Mund, jo jonberbar, 
al3 wollte der Maulwurf von der Exiſtenz der Sterne überzeugt fein, die er 
doch niemals gejehen bat. Iſt Meberzeugung nicht vielleicht ein einfaches Gnaden⸗ 
geichent? Nicht ſchon eine erite Erleichterung der Strafzeit, die wir in ber 
Erdenhölle erbulden müſſen? Allen, die auf Erlöfung warten, iſt vielleicht bieje 
Ahnung ins Herz gelenkt worden, ohne das geringfte Yuthun von ihrer Seite; 
und Anderen tft die Strafe durch Unglauben erjchwert. 


142 | Die Zutunft. 


Bielleiht gehen Einige mit einem ſicheren Willen über bie Erbe oder 
haben nicht vergeflen, daß fie aus dem Licht gefommen find, wie die Gralgritter; 
bie fogenannten Engel mögen nichts Anderes fein. „Zu gut für diefe Welt” 
ift eine allgemein giltige, populäre Nebensart, die man Jedem nachruft, ber 
für unjer Gefühl zu früh die Erde verließ. Unb warum weinen wir dann und 
fagen: „Sie haben das Leben nicht genoſſen“? Wenn fie zu gut für diefe Welt 
waren: welden Genuß konnte ihnen dann wohl die Erde bieten? Wir follten 
Gott danken, daß er fie mitleidig der Erdenqual entriffen hat, bevor ihre Leidens⸗ 
zeit anfing. Vielleicht jollen diefe Wejen an uns vorüberjchweben, um uns bie 
Gewißheit zu geben, daß fie aus dem Licht kamen, ins Licht zurüd!chren und 
auf der Erde nur zu kurzer Raſt meilten, um uns noch einmal glauben umd 
boffen zu lehren. Daß die vollflommenften Weſen oft jo jung fterben, dürfte und 
auf den Gedanken bringen, baß die Erde eine Prüfunganftalt ift, aus der man be 
freit wird, fobald man gelernt bat, was man lernen follte. In feinem herrlich 
ften Bud, den Vollgerzählungen, jagt Tolftoi etwas Aehnliches. Die Erbe 
fann ihren Lebensbedingungen nach unmöglich viel angenehiner werden, als fie 
jest ift, wohl aber viel unangenehmer, viel qualvoller; fie braucht nur ein ganz 
Hein Wenig zu erfalten, fo wird das Weilen auf ihr für unfer Gefühl uner- 
träglid. Alle Thiere find behaart oder befiedert, der Menſch allein iſt nadt 
und muß unzählige Thiere töten, um ſich zu kleiden. Das ſchon madt die Erbe 
den Menjchen viel unbequemer als den Thieren und erniedrigt fie zu Naub- 
thieren, die der Anderen Leben nehmen müſſen, um leben zu fönnen. 

Wo feine Früchte wachen, wäre es ſchwer, indiſche Ufleie zu üben, ohne 
bald zu verhungern. Warum leben denn Menſchen in folden Gegenden und 
_ warum verlafjen fie diefe Orte nur in ganz feltenen Füllen, meift nur nad 
großen Raſſenverſchiebungen? Jeder glaubt fi zu dem Ort verurtbeilt, wo 
er zufällig geboren ward. Uns Allen gehts ungefähr wie den nad Sibirien 
Verſchickten, von denen Einige in ein weicheres Klima geſandt werden, Andere 
in ewiges Eis und ewige fetten. Und Die wiſſen meift auch nicht, warum. 

Das große „Warum“ des Lebens verfolgt uns auf Schritt und Tritt. 
Warum all das Leben überhaupt? Warum das Gedräng von Lebeweſen, bie 
nicht zugleich auf dem winzigen Planeten verweilen fönnen, alfo fterben müflen? 
Und warum ift uns der Tb dennod fo furchtbar und jo beklagenswerth? Weil 
wir ihn nicht verftehen. Verftünden wir ihn, fo gäbe e8 vielleicht feine Thränen 
mehr. Die Brüdergemeinde hat es dahin gebracht, Feine Trauer zu tragen und 
den Thränen zu wehren. Logiſch denken nur die Menſchen, bie fagen: Da bie 
Erbe ein Ort des Jammers und Leidens ift, jo wäre es Unrecht, um Den zu 
Hagen, der abgerufen wird und die Erde verlaffen darf. Andere ftaunen, wie 
e3 möglich jet, daß wir ung um fo viel höher dünfen als einen Wurm, den ber 
Gärtner bei jedem Spatenfti in Stüde jchneidet und den Niemand fragt, ob 
er dabei leidet und wie groß jeine Schmerzen find. 

Das Einzige, was und von der Thierwelt, der uns noch immer uner« 
gründlich fremden, unterjcheidet, ift dag jeeliiche Leid, dejlen Opfer wir find, 
das ung in unjeren Augen erhebt und werth ericheinnen läßt, fortzuleben. Denn 
von einem Schlemmer und Lebemann mag man fchwer glauben, er könne würdig 
befunden werben, feine Erxiftenz fortzufegen. Warum? Willen wir, ob er Deflen 





Syndikat und Syndikat. 193 


fo unwerth ift, wie wir glauben, nur, weil er mehr Freude am Leben bat als 
wir, die Leibenden? Er ift in unjeren Mugen eine ſolche Ausnahme, dab wir 
nit zu glauben vermögen, er lönne nad dem Tode das felbe Los haben wie 
wir, die zum Leiden Geborenen. 

Unfere Begriffe von Allem find fo unglaublich beſchränkt und verworren, 
daß wir geradezu kindiſch verwegen in unjeren Urtheilen und Muthmaßungen 
find und der einzige Maßſtab höherer Bildung wohl da zu finden ift, wo über 
nichts mehr geurtheilt, über Steinen der Stab gebrochen und, ohne Ucjelzuden, 
in tieffter Beicheidenhett gejagt wird: „Vielleicht!“ 


Segenhaus. Carmen Sylva. 


tt! 
Syndifat und Syndikat. 


; 3b Silben, mit denen auch die lebendigfte Einbildungskraft nicht® anzufangen 
weiß und deren Wohlklang nicht gerade beraufchend ift: und dennoch fchlägt 
das Fremdwort die Geifter immer wieder in feinen Bann. Syndilat! Syndikat! 
Syndikat! Die Börfe Hat in Seligleiten geſchwelgt. Kohlenwerthe ſchnellten empor 
Denn da war das neue Kohlenfyndifat mit Thyffen und Haniel als Hauptgeftalten. 
Hütten- und Stahlwerfaktien fanden die Kletterluft der Jugend wieder. Denn da 
war das neue Roheiſenſyndikat und das zur Ausführung reif gewordene Projeft 
eines deutſchen Stahlſyndikates. lektrizitätpapiere fehienen förmlich Funken zu 
fprühen. Denn ba war der Plan eines Syndikates mit Amerifa. Im Gebiete 
der Turbanwerthe bot jeder neue Tag ein neues Lockbild. Da war das ottomanifche 
Syndikat, die deutfch-franzöfifche Alliance für Zürlenlofe und Bagdadbahn. Lloyd 
und Padetfahrt feierten die Berleimung des Riffes im Syndikatsverhältniß der trans- 
atlantifchen Linien. Sübdafrifanifche Minenwerthe nahmen einen Anlauf, vergeblich 
zwar, aber fühn. Da war das Eyndikat der Synbdilate: London, Berlin, Paris. 
In einem der originellen Berichte, die Fouchoͤ, der commis voyageur der Jakobiner⸗ 
revolution, 1793 von- der Provinz aus an den parifer Wohlfahrtausſchuß fandte, 
ſchrieb er Höhnifh, die Verachtung des Ueberfluſſes fei in der Bevölkerung fo ge- 
wachſen, daß der Befitende ſich faſt ſchon gebrandmarft fühle. Wie unter der Schreckens⸗ 
herrſchaft der phrygifchen Mitte der me&pris pour le superflu, fo graffirt heute, 
wo dem von der Hochfinanz und dem induftriellen Großbetrieb aufgepflanzten Geßler- 
hut Neverenz erwiefen werden muß, die Verachtung felbftändiger Eriftenz. Wehe 
Jedem, der noch auf eigenen Füßen fteht! Synbizire Dich, Vogel, oder ftirb! 
Kein Unbefangener kann leugnen, daß die Synbilate, namentlich auf induftriellem 
Gebiet, Nützliches geleitet haben. Diefe unbeftreitbare Thatfache erklärt, warum 
feit Jahr und Tag felbit in der „demokratiſchen“ Preffe, die lange ohme wilde 
Schimpfereien auf alles Syndikatliche nicht leben zu können ſchien, von den Syndikaten 
in einem glimpflicheren Ton gefprodhen wird. Bon Fehl und Schuld völlig frä 
waren die großen Induftrie-Syndilate in ihrer bisherigen Laufbahn natürlich eben 
fo wenig wie irgend eine andere menſchliche Einrichtung, zumal eine, die erft taftend 
ihren Weg zu finden bat. So find uns, zum Beifpiel, die Syndilate nod) den 
Beweis ſchuldig, daß fie, wie fie fih anfangs laut nachrühmen ließen, jede weſent⸗ 








194 Die Zuhmft. 


fiche Lieberproduftion unter allen Umſtänden zu vermeiden wiſſen. Im Ganzen 
aber haben die wichtigften Syndilate während der letten zehn Jahre ihre Eriflen. 
berechtigung fo unzweideutig bewiefen, daß fie wenigſtens leidenfchaftlofe Beurtheilung, 
wenn ſchon nicht rüdhaltlofes Lob verlangen können. Was viele Doltrinare des 
Liberalismus noch vor einem Kahrzehnt nicht in den Mund nehmen konnten, ohue 
Gift und Galle zu fpeien, Hat fich als genießbar erwiefen. Die neue Wirtbichaft 
form bat fi) aus eigener Kraft, nicht etwa nur durch rohe Gewalt, die ihre Mittel 
ihr erlaubten, eine Stellung erobert, aus der fie nie wieder verdrängt werden fann, 
— mindeftens fo lange nicht, bis eine noch modernere, noch befier entwidelte Schöpfung 
ihr den Plat mit dem felben Recht ftreitig macht, das ihr an die Stelle älterer Formen 
verhalf. Für heute wäre es zu umftändlich, all die Momente aufzuzählen, aus denen jelbk 
bei den anfangs Widerftrebenden fchließlich der Refpelt vor dem Syndikatsgedanken 
entftanden ift; bier genügt einftweilen der Hinweis, daß diefe mühjam abgerungene 
Anerfennung einen theoretifgen, nicht nur einen praftifchen Fortſchritt bebeutet. 
Als folden hat ihn die Wiffenfchaft durch das zuftimmende Votum der zmeifelles 
klügſten ihrer Lehrer beftätigt. Diefe Errungenfchaft ift nicht gering zu ſchätzen; fie gab 
den Hauptinterejienten der Induftrie, die mit dem Syndilatsgedanlen fiehen und 
fallen, die Möglichkeit, in das zweite Stadium einzutreten, das vom Syndikatsweſen 
durchzumachen fein wird. Die ftaatlihen Faktoren nicht minder als das Bürger⸗ 
thum haben diefen Mebergang mit wohlwollender Theilnahme begleitet. Ein Hinder⸗ 
niß wurde ihm nicht einmal von den Ertremften in den Weg gelegt. Die Bor 
fämpfer der Syndilate waren vor jedem gefährlichen Angriff von außen ſicher, ficher 
auch, daß die Verbündeten Regirungen nie und nimmer einen Zollvertrag Tchließen 
würden, der das Glüd der Landwirthe höher ftellt al8 das Wohl unferer großen 
Induſtrien: und jo konnten fie ruhig an die Bewältigung der Aufgabe gehen, auf er 
weiterter und verbejjerter Grundlage die vor Fahren gefchaffenen Formationen umzu⸗ 
geftalten. Diefe Umgeftaltung, die zum Theil fchon vollendet ift, zum Theil der Bollendung 
entgegengehbt, führt die Syndikate aus dem Kindes: und Jünglings- in das Mannes- 
alter. Diefe Entwidelung feftjuftellen, ift wichtig, Bor Kindern und audh vor 
Fünglingen noch braudt man ſich nicht zu fürchten, wenn man feine Ueberlegen- 
heit wahrzunehmen verfteht. Anders vor Männern, die man im Befig ftarler Waffen 
weiß. Die Syndilate, die im Lauf dieies Jahres ans Licht famen, haben die Harm- 
fofigfeit abgelegt. War der blinde Tadel, der daS ganze Syndifatswefen von manchen 
Seiten Iraf, vor Jahren ungerecht zu nennen: in gar nicht fo ferner Zulunft mag 
er plötzlich berechtigt werden. Der Egoismus der Syndifate wird fi, wie man 
fürhten muß, von nun an in fchärferer Ausprägung und bäßlicherer Geftalt zeigen. 
Die Beit des langjamen Reifens ift vorbei; jetzt wird die Sucht, ſich zu fättigen, 
alle Lebensprozeſſe beherrichen. Die Empfindung, daß es nad Ablauf der neuen 
Syndilatverträge — Das heißt, um bei unferem Bilde zu bleiben, an der Schwelle 
vom Mannes» zum Greifenalter — in der Welt ganz anders ausfehen kann als 
beute, wird die Syndikate antreiden, fidh fett zu mäſten, ohne jede Rückſicht, ohne 
aede Berfehämtheit. Nach uns die Gintfluth, werden fie vielleicht denten. Soldher 
Uebermuth könnte aber Konflikte heraufbeſchwören, deren Ausgang den Eyndilaten 
und den Dividenden der Aktionäre fyndizirter IInternehmungen nicht gerade günftig 
zu fein braudte. Der Börfe darf man freilich nicht zumuthen, fie folle fich bei 
ihrer Kursbeftimmung von folden Zufunftbildern leiten laffen, während die neuen 


2 


Syndikat und Syndikat. 195 


Syndikate eben erſt gebildet werden. Den Banken aber, die gleich nach ber Rück⸗ 
kehr des Publitums aus den Sommerfriften eine allgemeine Hauffe vorzubereiten 
begannen, um noch rechtzeitig vor Jahresſchluß ihre ſchwerbepackten Effektenporte⸗ 
feuilles zu entlaften, ſchweben diefe Möglichkeiten ficher fchon vor. Ehe fie Wirklich- 
keit werden, wird freilich noch fehr viel Waffer die Spree hinunterfließen. Dem 
Publikum aber, das heute ſchon mit füfternem Auge aus der Herbfihauffe von 1908 
eine neue Hoc-, Höher- und Höchſtkonjunktur für 1904 ober fpäteftens 1905 ber. 
vorwachſen fteht, wird wahrfcheinlich wieder gerade um einen Tag zu fpät die rich⸗ 
tige Erfenntniß aufdämmern, obwohl e8 früh genug gewarnt worden ift und aus 
mander üblen Erfahrung Vorſicht gelernt haben könnte. 

WVorläufig läßt man den lieben Gott einen guten Dann fein. Das alte 
Spiel mit geborgtem Gelbe, das hübfche Spieldhen, das fi im September vom 
Montanmarkt aus über das ganze Feld der berliner Börfe verbreitete und nicht 
nur das franfe Wien, fondern auch das reiche Paris und das gewaltige Fondon 
neidifeh auf das röthliche Haus in der Burgitraße bliden läßt, wird fortgefetst und, 
weil die Banken dazu animiren, nicht jo raſch aufhören. Paufen werden natürlich 
von Zeit zu Zeit eintreten; auch die jchlechtefte Verdauung macht manchmal ja ihre 
Rechte geltend. Die Banken triumphiren. m ihren fühnften Träumen hatten fie 
nicht erwartet, daß ihnen das Publikum ſchon drei kurze Jahre nach der großen 
Kataftrophe die Effekten, mit denen fie damals den Anfchluß verfäumten, in Mengen 
und zu Kurſen abnehmen würde, deren Abftand von den Rekords des erften Duar- 
tals 1900 vielfach nur noch mit der Lupe wahrzunehmen ift. Wer heute noch daran 
benft, zu welchen beträchtlichen Abjchreibungen auf ihre Effeltenbeflände die Banken 
fih nach dem Krach entfchließen mußten, kann ermeffen, mit weldem guten Recht 
ſich jett die Herren Direktoren in der Behrenftraße, zumal die -etwas öftlicher 
domizilnten, vor Freude die Hände reiben. ALS ein Äußeres Merkmal der guten 
Wochen, die ihnen der Herbft fchon gebracht hat, kann ja auch die Smartheit gelten, 
womit einzelne von ihnen ſich kopfüber in das Minenfyndilat geflürzt haben. Bon 
diefem famofen Syndilat — unter Führung der londoner Firma Wernher, Beit & Co. 
— if laut in die Welt hinauspofaunt worden, daß es fi hauptfächli mit dem 
Anlauf preismürdiger Kaffernfhares zu den ſtark herabgeminderten Kurfen der legten 
Beit befajjen wolle. Ein Käufer, der allen irgendivie erreichbaren Leuten in die 
Ohren biäft, daß er billig kaufen will, ift jedenfalls eine Scehensmwürbigkeit. Daß 
Wernher, Beit und ihre londoner Konjorten das deutfche Geld zur Stüßung des 
fonpromittirten Diinenmarftes fehr gut brauchen lönnen, bedarf nad) Allem, was 
man in diefem Jahr von London zu jehen bekam, nicht erft der Belräftigung. Die 
Eilfertigfeit aber, womit einzelne deutſche Banldirektoren in bie gnädige Nehmer- 
band, die ihnen der Feine Chef der großen Cityfirma entgegenftrecte, eingeichlagen 
haben, erinnert bedenklich an den Leichtfinn des glüdlichen Spielers, der aus dem 
Bollen fchöpft. Sch will diefen Banken feine mala fides vorwerfen. Aber wenn 
ih mir das Dlinenfyndilat betrachte und an die Geneſis der deutjchen Betheiligung 
dente, fommt mir das Delift in den Sinn, das die Rechtswiſſenſchaft mit dem 
Ausdrud crimen syndicatus bezeichnet: Verletzung der richterlichen Amtspflicht 
zu Gunften einer Partei, rein aus Freundichaft, aus Gefälligleit. Sch weiß augen- 
blidtfich nicht, wie Hoch es beflraft wird... Das ift natürlich nur eine Analogie. 

Dis, 
8 





196 Die Zukunft. 


Selbitanzeigen. 


Nutheniſche Revue. Halbmonatsichrift. Verlag der Rutheniſchen Hevne, 
Wien I, Dominifanerbaftei. 

Wer genau binfieht, findet, daß aud in dem nationalen Empfinden ber 
Völker die Wellenbewegung herrſcht. Nach Zeiten Starken nationalen Empfin- 
dens kommt die Zeit des gemäßigten Nationalgefühles und wieberum nach ber 
Periode nationaler Qethargie die Epoche eines ſtarken völkiicden Streben. Währens 
in Frankreich ber Nationalismus im Schwinben ift, in Deutſchland drei Millionen 
Wähler den Vertretern des Internationalismus ihre Stimme geben, in dem 
geeinigten Italien die rredenta immer engere Kreile umfaßt, führen die Blamen, 
die graubündner Rhäto Romanen, die Bulgaren, Bolen, Letten, Finen, Gror⸗ 
ter, Armenier, Katalonier u. |. w. Immer fchärfer den Kampf um ihre um 
gehemmte nationale Entwickelung. Da meldet fih nun aud ein Bolt, das Jahr⸗ 
hunderte hindurch gefchwiegen hat und deſſen Eriftenz von Europa fait vergefien 
wurde, trogdem es noch heute fünfundzwanzig Millionen ftark tft, feine eigene 
Sprade, eigene Geſchichte, Kultur und Sitten befigt. Es find die Rutgenen, für 
die der europäiſche Sprachgebraud (auch in der Willenichaft) den von Katharina 
ber Zweiten als offiziell angeorbneten Namen „Kleinruflen” angenommen bat. 
Was bie Zarin mit diefer Maßregel angeftrebt Hat, ift auch erreicht worden: 
man hält die „Kleinruſſen“ für einen Zweigftamm der Großruffen, hat vergeflem, 
baß diefes „ſeleinrußland“ bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ein 
felbftänbiges Reich und der biftorifche Träger bes Namens Ruſſia oder Ruthenis 
war, während bie Baren bis zu Peter dem Großen fich als Herrſcher des mo& 
kowitiſchen Neiches bezeichneten. Was Katharina begonnen, haben die nad. 
folgenden Baren fortgefeßt; und heute kann man mit Nedt jagen, daß bie 
Ruthenen das bedrüdtefte Volk Europas find. Mit dem Ukas vom fünften Juli 
1876 wurde ber rutheniſchen Sprahe — und die Sprade iſt ber Lebensnerv 
jeder Nation — der Todesftreich verſetzt. Dieſer Ukas lautet: „Der Kaiſer und 
Gebieter gerubte, allergnädigft zu befehlen: I. Die Einfuhr in die Grenzen der 
Monardie — ohne fpezielle Bewilligung der Oberpreßbehörde — jeder Art der im 
Ausland herausgegebenen ruthenifchen Druckſchriften iſt zu unterfagen. II. Inner⸗ 
balb der Monarchie ift das Druden und Herausgeben von Originalwerten und 
Ueberjegungen in biefer Sprache au verbieten, mit Ausnahme: a) von hiſtori⸗ 
fen Dokumenten, b) von Werken aus dem Bereich der fchönen Literatur, umter 
der Bedingung aber, daß bei Veröffentlihung der Hiftorifhen Dokumente die 
Orthographie des Originales, bei belletriftifchen Werfen ausſchließlich die ruffifche 
Nechtichreibung angewendet wird, dab ferner die Bewilligung des Drudens dieſer 
rutheniſchen Bücher nicht anders als nur nad Prüfung der Handichrift von . 
Oberpreßbehörbe erteilt wird. IIL Eben fo find Bühnenvorftellungen jeber 2. 
und Vorträge in der rutheniihen Sprade, ferner die Drudlegung rutheniſch 
Texte in Mufilnoten zu verbieten.” Dieſer Ukas ift heute noch in Kraft; um 
fo fommt es, daß die mindeftens zwanzig Millionen Ruthenen im Zarenreich Feiı 
Literatur, nicht einmal eine Zeitung in ihrer Sprache befigen. Die rutheniſch 
Literatur wird num von den in Oeſterreich (Galizien) lebenden Ruthenen gepfleg. 
die eine Neihe bedeutender Zeitungen und Revuen befiten. Der Kampf, db 





Selbftanzeigen. .197 


die öſterreichiſchen Ruthenen gegen die fhlacdhzizifhen Machthaber in Galizien 
führen, ijt in den leßten Jahren wohl auch im Auslande bemerkt worden. Was 
aber nicht allgemein befannt fein dürfte, ift, daß fie das einzige deutſchfreund⸗ 
liche jlavifche Volk find. In Rußland von den Ruſſen, in Galizien von den 
polnifhen Shlachzizen bedrüdt, find fie von dem Gedanken der „allſlaviſchen 
Brüderlichkeit” gründlich geheilt. Das gilt für die ruffifchen wie für die dfter- 
reichiſchen Ruthenen. In Rußland ift — nad freier Wahl — an den Mittel⸗ 
ſchulen die deutjche oder frangdfiiche Sprache obligatorifh. Während man nun 
an den Univerfitäten in Paris, Genf und Laufanne faft ausfchliegli Studenten ’ 
aus Nordrußland antrifft, find an den deutichen Univerfitäten und in Zürich 
und Bern überwiegend Studenten aus Südrußland — dem ruthenifchen Sprad)- 
gebiet — zu finden. Das beweilt wohl ihre Sympathie für bie deutiche Kultur. 
In Defterreih aber find die Ruthenen im politiiden Kampfe mit ihren Sym- 
patbien immer auf der Seite der Deutfchen und der rutheniſche Abgeordnete 
Profefior Romanczuk trat — wie früher ſchon oft — auch im März 1903 im 
Netchsrath offen für die deutſche Nermittelungiprade ein. Für beide Volker 
bat dieſe Alliance große Bedeutung, denn nur den in Galizien lebenden Ruthenen 
fann es gelingen, bie Shlachzigen aus dem Reichsrath zu verdrängen und fo den 
unbeilvollen Einfluß bes Polenklubs auf das Geſammtreich zu mindern oder zu 
brechen, was fehr im Intereſſe der Deutjchen liegt. Tür die Ruthenen iſt es 
aber werthvoll, ftatt ber Thlachziziichen weſtöſterreichiſche Beamte zu erhalten, 
was nur durch Einführung der deutſchen Amtsſprache in Galizien oder der 
rutheniſchen Sprade in das faft rein rutheniſche Dftgalizien als Amtsſprache 
möglich iſt. Um nun mit ben Deuticden, überhaupt mit Weſteuropa in nähere 
Fühlung zu treten und fie mit der Gejchichte unb den Beftrebungen der Ruthenen 
befannt zu machen, erjcheint jeßt in beutfcher Sprade die „Rutheniſche Revue“, 
deren Eigenthümer das rutheniſche Nationalfomitee ift. . Die Zeitſchrift, deren 
Mitarbeiter ſich aus allen politiihen Parteien refrutiren, erfüllt ihre Aufgabe 
vollftändig. Den galiziihen Polen muß das Erfcheinen diefer Revue in deutſcher 
Sprade wohl fehr unangenehm fein, denn fie gehen daran, eine polnifche Kor⸗ 
refpondenz zu gründen, die in deutjcher und franzöfiiher Spracde erſcheinen und 
über die Zuſtände in Galtzien „objektiv unterrichten’ Toll. 
Wien. 5 | Karl Morburger. 


Ueber die Freigeit des Willens. Verlag Hans Briebe & Eo., Berlin- 
Steglig. 1,50 Marl. 


Diefe philofophifche Abhandlung ift eine Erwiderung auf die von der 
Koniglich Norwegiſchen Sozietät der Wiſſenſchaften gefrönte Preisichrift Schopen- 
bauer® „Ueber die Freiheit des Willens“, die bisher als unmwiderlegt und unum- 
ftößlih galt. ch behaupte und will beweiſen, daß bie Nothwendigfeit ber 
Handlungen nur für die Naturobjekte befteht, nicht für Kulturorganismen; ich 
will beweifen, daß einem Sulturmenfchen in jedem Moment feines Lebens ver- 
ſchiedene Handlungen möglich find; daß der zurüdgelegte Lebenslauf eines Kultur: 
menden unbebingt anders ausfallen konnte, ald er ausgefallen ift; und daß ber 
Fatalismus auf Einbildung berubt. Fritz Wält. 


® 
15 


198 Die Zuhmft. 


Halliſcher Muſenalmanach. Berlag von Kreibodpm & Eo., Halle a ©. 

Beitand bisher die moderne Lyrik — Dehmel, Lilieneron und ein paar 
Undere ausgenommen — aus fein cijelirten Stimmungbildern und pifanten 
Scerzgebichtlein, jo wollen wir, daß die Poefie wieder ber großen und freien 
Berfönlichkeit die Zunge löfe. Die Kunft fol nicht Endzwed fein, fondern bie 
Entwidelung des Individuums fördern. Nicht Kultur der Menſchheit, ſondern 
des Menſchen! Wir Sechs find Individualiſten vom reinften Wafler. 

Hugo Erneft Quedbede. 
$ 


Halbmaske, Verlag Arel under, Stuttgart. Preis 3 Markt 50 Pfennig. 

Das Bud enthält eine Kleine Auswahl Iyrijcher, erzählender, dramatiſcher 
und betrachtender Arbeiten aus den Jahren 1895 bis 1902. Daß ich beim 
Schreiben eine Halbmaske trug, erfannte ich jelbft erft, als die Arbeitzeit ab 
geſchloſſen hinter mir lag und neue Horizonte mir auftaudten. Trotzdem ver- 
öffentliche ich diejes Buch; denn noch immer liebe tch heimlich die flatternde, 
flimmernde Seele, die darin gaufelt. Poor soul! Du haft mit mir ımter ber 
brütenden Sonne des Südens gejauchzt, tändelnd baben wir an den Staminen 
von Paris geſeſſen, unter den Nebeln Englands haben wir phantaſtiſche Gefichte 
geträumt. Jetzt, nach der Heimkehr, mußt Du vor der Schwelle einer jtärferen 
Schweſter weichen, die, währenb wir bunte Reigen tanzten, meinen Herd vorm 
Berglimmen geihüßt Hat. 


Münden. Oskar A. H. Schmitz. 
8 


Kämpfer. Ein Roman aus der neuen Völkerwanderung. Verlag von H. 
Coſtenoble in Berlin. 4 Mark. 

Ich habe verſucht, mir allerlei mächtige und unaustilgbare Eindrücke | 
früherer Jahre von der Seele zu ſchreiben. Als Sohn eines brandenburgifchen | 
Fabrikanten und Enkel bäuerlicher Befiger hatte ich von Klein auf Einblid im | 
viele Seiten des Stabt- und Lanblebend. Lange ließ ich als ftiller Beobachter, | 
gelegentlich auch als Mitarbeiter verjchiedener Zeitungen, bie merkwürdigſten | 
Bilder des Öffentlichen Lebens, Toziale und politifche, immer wieder an mir 
vorüberziehen und bejonders beobachtete ich immer wieder das Schidjal der an 
der neuen Völkerwanderung betheiligten Leute. Natürlich kann ich dieſes Quellen⸗ 
gebiet nicht voll ausschöpfen; immerhin glaube ich, auf dem von mir gewählten 
Hintergrund an verfchiedenen Einzelſchickſalen dem diefem Leben und Treiben ferner 
jtehenden Leſer eine wichtige Seite unferes wirthichaftlichen Lebens näher gebracht und 
jo doch etwas mehr als bloße Unterhaltung gegeben zu haben. Und vielleicht — 
Defien würde ich mich befonders freuen — zeigt da8 Buch auch, daß die rohe Außen- 
jeite diefer Bauern durchaus nicht fo oft, wie man aus mandem deutjchen 
Bauernroman fließen dürfte, der Ausdrud eines verrohten, gefühllofen Innern 
ift, daß vielmehr die Noth des Lebens und eine gerabezu ſchamhafte Scheu vor 
weichen Gefühlsregungen auch da fcheinbar harte Worte veranlaßt, mo ein ge- 
fundes Herz recht gut und vernünftig fühlt und gern hörbarer mitſprechen mödte. 


Breiburg in Br. Mar Bittrid. 


s 
— 


Notizbuch. 199 


Notizbuch. 


Präfidenten des Reichsgerichtes ift der Wirlliche Geheime Rath Dr. Gut⸗ 
A brod, Excellenz, ernannt worden, ber ſeit ſechsundzwanzig Jahren im Reichs⸗ 
juſtizamt ſitzt; ſeit elf Jahren als Direktor. In der erſten Hälfte der ſiebenziger 
Jahre ſoll er in Württemberg als Richter der unterſten Inſtanz fungirt haben. Seit⸗ 
dem hat er mit der Rechtſprechung nichts mehr zu ſchaffen gehabt; nun ward er, mit 
verdoppeltem Gehalt, an die Spitze des hochſten Gerichtshofes im Reich geſtellt. Vor 
ſieben Jahren, als der Kolonialdirektor Kayſer dem Reichsgericht als Senatspräſi⸗ 
dent verliehen worden war, ſagte hier ein zur Kritit Berufener: „Seine langjährige 
Borbildung im Minifterialdienft, der Sinn für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, 
ben eine ſolche Commisftellung zu entwickeln pflegt, wird ihn vorzüglich befähigen, 
dermaleinft al3 Präfident des vereinigten zweiten und dritten Strafjenates über Hoch 
und Landesverrath angemeſſen zu judiziren. Uber man lafjedieverleitliche Nebung nur 
noch weiter einreißen, das Reichsgericht als Aſyl für abgenußte oder unbequem gewor- 
dene Minifterialbeamte bes auswärtigen oder bes inneren Dienftes zu verwenden: und 
man wird ſich bald überzeugen, in wie rafcher Progreffion das ſchon heute nicht mehr 
ausschließlich inden fozialdemofratifchen Volkskreiſen verbreitete Mißtrauen gegen die 
reichsgerichtliche Rechtſprechung an Breite und Stärke wachſen wird. Daß biefe Ge» 
fahr und droßt, ift mit ben Händen zu greifen; darüber leicht hinwegzudenken, wäre 
Frevel.“ Nunijtder felben Sphäre auch ber Präfident bes Neichsgerichtes entnommen 
worden. Der Wirklihe Geheime Gutbrod fol Berdienfte um die Patentgefeßgebung 
und das Bürgerlicde Geſetzbuch haben. Sehr ſchön. Erſetzen ſolche Verdienfte aber 
Alles, was von dem erften Richter des Reiches zu fordern ift? Wird in bureaufra- 
tiſcher Abhängigkeit, in demtäglich zur Fügſamkeit mahnenden Minifterialdienft etwa 
der Reſpekt vor unabhängiger Gefinnung, mag fie fi auch in unbequiemen Formen 
äußern, gelernt? Ein ſtarkes und fiheres Gefühl fürdie Heiligkeit der Mechtöpflege er- 
worben, die, wie ein zartes Knösplein, vonjebem rauhen Quftftoß verlegt werden fann ? 
Ober findwir an Männern fo arm, daß nicht einmal für das vornehmite, begehrens⸗ 
wertheftedlmt ein Name zu finden war, ber auch [auernbes Mißtrauen zum Schweigen ge» 
zwungen hätte? DenOberreichganwalt Olshauſen, der, feit bie Kandidatur Beſeler auf⸗ 
getaucht iſt, für die Nachfolge Schönftedts nicht mehr in Betracht zu kommen fcheint, den 
Senatspräfidenten Freiherrn von Billomw, bie Brofefforen Binding und Kahl, irgend 
einen als beſonders tüchtig bemährtenOberlandesgerichtspräfidenten: fie Alle hätte das 
von manchen Erſcheinungen deutſcher Rechtspflege geängſtete Volksempfinden lieber als 
Prãſfidenten des Reichsgerichtes geſehen als einen in ber Reichsamtsbureaukratie er⸗ 
grauten Herrn. Offenbar verbot der index virorum prohibitorum eine andere Wahl. 
Und dann: Excellenz Gutbrod iſt Süddeutſcher — ſeine Ernennung zeigt alſo Zweif⸗ 
lern wieder deutlich, daß Preußen im Reichsdienſt nicht begünſtigt werden — und 
ſteht erſt im ſechzigſten Lebensjahr. Das iſt wichtig. Denn nach neuſter Ufance find 
Männer über Fünfundſechzig zwar noch rüjtig genug, um ſich in die Geſchäfte des 
Reichsfanzlers und des Reichsſchatzſekretärs einzuarbeiten, fürs Reichsgericht aber 
nicht mehr zu brauchen. Ind der neue Herr joll in Leipzig doch recht lange haufen. 
Einerlei: die Namen der drei Reichsgerichtspräſidenten Simjon, Oehlſchläger, 
Gutbrod bezeichnen keine aufwärts führende Wegftrede deutfcher Rechtsgeſchichte. 


* * 
* 


15* 


200 Die Zukunft. 


Im Berlag ber Leipziger Buchbruderei-Aftiengefellihaft Hat Herr Dr. Reh 
ring jeßt bie Brochure veröffentlicht, die er auf dem dresbener Barteitag angelündet 
hatte. Er wollte „auf jeden Punkt der vorgebrachten Anflagen antworten“, hat feine 
Abſicht inzwilchen aber geändert. Die wichtigften Punkte werden gar nicht erwähnt. 
Der Leſer erfährt nicht, wie es kam, kommen konnte, daß Herr Mehring zueift So 
zialdemofrat, dann Sozialiftentöter und Sozialiftenbefhimpfer war und ſchließlich 
wieder Soztaldemofrat wurde, und warum er bie in feiner erften Gefchichte der Se 
zialdemofratie über Berfonen und Vorgänge gefällten Urtheile in feiner zweiten „Er 
ſchichte“ mit fo ſpaßhafter Bingerfertigfeit in ihr Gegentheil verkehrte, mandmal, 
ohne fi auch nur um einen neuen Satzbau zu bemühen. Trogdem nennt er biele 
vorläufig neufte Brodure „Meine Rechtfertigung“, beicheinigt ſich, daß er ein 
„edler Mann” ift, und fagt, er fei „in den Augen aller Menſchen gerechtfertigt, 
an deren Uchtung mir gelegen ift“. Das ift feine Sade. Und Sache der ſozialdemo⸗ 
kratiſchen Partei, ob fie auf die leife Drohung hören will, die fi) durch das grüne 
Heftchen zieht; Herr Mehring pocht recht vernehmlich an die Schrankwand feines 
„reich gefüllten Archives”. Wie zu erwarten war, werde ich am Meiſten geſchimpft; 
die vor ein paar Wochen hier angebotene Wette, mein einft fo zärtlicher Freund werdet 
fich jelbft an Schimpfreden nicht mehr überbieten können, hätte ich jeßt aber gewon- 
nen. Die „Rechtfertigung“ Klingt müde, wie der Nothruf eines Abgehegten, und kann 
Mitleid mit bem Mann werben, dem auch bie Kraft bes Stiliften mäplich zu ſchwin 
den fcheint. Ich muß ihm dankbar dafür fein, daß er ein paar elf Jahre alte Briefe 
von mir abdrudt, bie ich, wenn ich fie gehabt hätte, trob mancher Ueberreiztheit de? 
Tones, trog manchem ungerechten Urtheil über Menfchen und Dinge, in ben Arti⸗ 
fein über „Bebel und Genoffen“ gern ſelbſt benußt hätte, weil fie deutlich bemeilen, 
wie richtig ich fpäter meine Stimmung von 1892, meine „Bismarckſchwärmerei 
und mein bamaliges Verhältniß zu Mehring und feiner Partei dargeſtellt habe. 
(Zn einem biefer alten Privatbriefe wird auch erwähnt, bie Voffifche Zeitung habe 
fich einft um mich beworben. Diefe Angabe, jagt Tante Voß, entftammt lediglich det 
Phantaſie des Herrm Harden. Ich könnte nachweifen, daß fie fi am Anfang ber 
neunziger Fahre um mich beworben hat, bin aber gar nicht ftol3 darauf und beftätige 
viel Iteber, daß ich zum Mitarbeiter ber Voſſiſchen Beitung nie das allergeringfte 
Talent gehabt Habe.) Zugleich zeigen die Briefe, wie wahrhaftig Mehrings frühere 
Behauptung war, ich hätte ihm meine „Bismarckſchwärmerei“ ſorgſam verhehlt und 
„auch fpäter nie davon geſprochen“. Für feirie Gewiſſenhaftigkeit noch einen zweiten 
Beweis: „Im Herbft 1890 ſchleppte ber mir biß dahin ganz unbefannte Mann (Harden) 
das Material gegen Lindau in mein Haus” („Nectfertigung.”) Auf der fünften 
Seite feiner Brochure „Der Hal Lindau“ Hat Herr Mehring erzählt, wer Ihm 
das „Material“ geliefert Habe; ich konnte es ihm nicht liefern, weil ichs nicht 
hatte, und bejuchte ihn, ben ich nicht kannte, auf feine Bitte, erſt, als fein Alarm⸗ 
artikel gegen Herrn Lindau erfchienen war. Bon dem felben Kaliber find fei 
übrigen Behauptungen. Alles irgendivie Wefentliche habe ich am vierten März 18° 
in der „Zukunft“ ausführlich widerlegt; wer fich dafür intereffirt, mag dieſe Erwit 
rung nadjlefen, von der GenoffeBraun mir fchrieb: „Jeden nicht direkt gehäffigll 
theilenden muß fie Überzeugen.” Natürlich wird auch wieder von einem „Komplot 
gegen Mehring geredet, an dem ich bethetligt gewefen ſei. Zwar ift feftgeftellt, d 
Mehrings Briefe wider mein Wiſſen und Wollen inDresden gegen Mebring ber 


















Notizbuch. 201 


worden find; zwar hat GenoſſeHeine ſelbſt im, Vorwärts“erklärt:, HerrHarden hat mir 
inber That niemals den Wunfch zu erkennen gegeben, gegen Diebring vorzugehen. Das 
genirt den altenzyreund aber nicht; er ſchwatzt weiter über, Harden und feineSpießgejel- 
len‘. Da nun jogar [don die Redakteure des, Vorwärts“ feine, Birtuofitätinderlimfeh- 
rung vonUrtheilen überPerſonen“ öffentlich anerkannt haben, darf ich nicht den Ehrgeiz 
hegen, all ſeine Lügen hier noch einmal zu enthüllen; wer irgend eine Auskunft 
wünſcht, mag ſich an mich wenden. Mir iſt Mehrings Urtheil längſt ſo gleichgiltig 
geworden wie ſeine Stellung in ber Organiſation undPreſſe der ſozialdemokratiſchen 
Partei. Er deutet aber auch an, Bruno Schoenlant — den er in jeinen Briefen an 
mich „Kümmel“ und „Schuft” genannt und gegen den er mir „Material“ angeboten 
und anvertraut hatte — babe jpäter feinem Urtheil über mich und meine Wochen» 
Schrift zugeftimmt. Ach greife deshalb aus den vielen Briefen, die Schoenlanf mir 
fchrieb, einen der lebten heraus. Hier das Hauptftück: 
14. 11. 1901. 
Ihr Brief war ein willflommener Gruß aus der Reihe der guten 
Europäer. Ich hoffe und wünfche, daß Ihre Beforgnifje wegen ber „Zu⸗ 
kunft“ unbegründet find: die Minirer werden ſelbſt in die Quft fliegen. &e- 
Icheite Gelehrte und Rubliziften thäten gut, Ihre Zeitfchrift als freies Organ 
zu benugen. (Folgt Empfehlung des ſozialdemokratiſchen Yandtagsabgeord- 
neten Adolf Müller in Münden.) Soeben habe ih Ihren Artikel „Der 
Tag” gelejen. Wer ich fo verabjchiedet, kommt fiegreich und friſch auch aus 
dem Weichſelſumpf zurück. Für Ihren Nath, mich mit meinen Leiden an 
Schweninger zu wenden, beſten Dank. Ich halte ihn auch für einen großen 
PBraftifer, einen Künftler... Auf gutes Ueberftehen Ihrer Haft, auf gute 
Aſpekten für die „Zukunft“ und aufWiederjehen rechne ich mit beftem Gruß 
als Ihr eergebener Schoenlant. 
Auf diefen toten Zeugen kann ber liche Herr Mehring fich aljo nicht berufen. Und 
nad Alledem ift kaum noch nöthig, ausdrüdlich zu fagen, daß Alles, was dieſe „Nedht- 
fertigung” an den Namen Schoenlanks Inüpft, erfunden oder völlig entjtellt ift. 
he % 


* 

Ueber den fleinen Geiger Veeſey, der jet die Berliner entzückt, jchreibt mir 
Herr Willy Seibert: „Der kleine Uebermenſch mit der Geige, ein Knirps von zehn 
Jahren — wie Liſzt und Joachim Magyar von Geburt —, hat Kenner und Päda⸗ 
gogen noch mehr in Staunen gejeßt als leicht entzückte Laien. Diefe hören, was fie 
in vortrefflicher Ausführung wie etwas Selbitverfrändliches anmuthen mag; Jene 
wiflen, wie Biele fih im Schweiß des Angefichtes mühen, um endlich, endlich ... 
doch nicht zu Haben, was diejer unge auf dem Präfentirteller darreicht. Nicht die 
außerordentliche technifche Sicherheit iſt es, die verblüfft: fie wäre allenfalls noch 
durch die völlige Abweſenheit jeglicher nervöſen Selbitkritif zu erklären. Geiftiges 
Erfafjen, Wärme, Phrafirung, Größe de8 Tones: Das find die Dinge an dem Kind, 
die mancher berühmte Kollege Vecſeys nicht Hat und nachſtudiren könnte. Als der 
Junge die erften zweiunddreißig Takte des Wicniawsky Konzertes mit vollendeter 
Meifterichaft geipielt hatte, wollte fich eine Hand zuyı Applaus rühren. Den hier: 
gegen mit „Bit!“ Proteftirenden und zur Ruhe Diadnenden erſchien Joachim als der 
Störenfried.. Es hat keinen Zwechk, die Kritik zu wiederholen, wie fie einftimmig und mit 
Recht zur Geltung kam: ‚Ein Wunder, fein Wunderkind! Ich habe eineandere, mad 





202 Die Zukunft. 


nenbe Abficht: ein ernftes Wort in ben Tunnelber Begeifterung zu rufen. Es wird ver- 
ballen,weilmanlinbefanntennicht glaubt. Trogdem!.. Becjeyift ala Menſchenkind wie 
als Künſtler durchaus gefund. WerDaserwägt, barfwohlaud aufden Gedanken kom⸗ 
men, daß ein Zuſtand der Menſchheit denkbar wäre, beralle normal mufilalifch begabten 
Kinder fo (und fo früh!) geſund, richtig und vollendet geigen ließe. Wer anders denkt, 
möüßtezu beweiſen verjudden, daß ber kleine Mann eine Mißgeburt jet und ſolche Boll- 
endung nur einſeitiger, krankhafter Beranlagung entfpringen könne. Die alte Geſchichte 
von Genie und Krankheit, — um nicht Irrfinn zu jagen. Ich denke nicht fo; ich glaube, 
daß ber Junge aus dem Stinderland ftammt, das Nietzſche erträumte; daß folder 
triebfelige @eift über dem Nullpunkt beshalb möglich ift, weil jo viele Darunter 
bleiben... Bach aber, das Air von Bach wurde nicht gut vorgetragen. Das will 
nicht viel heißen? Für den tiefer Horchenden unter Umftänden Alles. Der Vortrag 
war auf den Effekt zugefchnitten, das ſchlichte Stüd ins Sinnliche gezogen, Turz: 
ohne Stilgefühl gejpielt. Der Einwand, daß man Soldes von einem Find nicht 
fordern könne, ift Binfällig. Bon diefem Kind: Ja. Ich bin nicht ber Dteinung, Bad 
folle troden und ohne Sinnlichkeit gefpielt werben. (Der Mann hatte fiebenzehn 
Kinder!) Es giebt, Gott fei Dank, fo viele Auffafjungen bachiſcher Muſik, wie es 
Individuen giebt; Johann Sebaftian läßt fich in alle Sprachen Überjegen. Uber 
e3 giebt nur eine richtige Phrafirung. Und die wars nicht. Die Berzerrungen 
werben fich mit dem Erfolg fteigern — eine alte Erfahrung! —, wenn nicht das 
Nichtige geichieht. Jedem ernften Mufiler drängt ſich da die Künftler- Ericheinung 
Joachims auf. Meiſter Joachim müßte diefen ungen lehren und ihm ein Bermädte 
niß anvertrauen, das zu wahren dies Kind befähigt ift. Geſchieht Das nicht und wird 
das Wunber, wie es jeßt ben Anfchein bat, in immer größeren Sälen gezeigt und 
ausgenutzt, dann wird auch auf diefe Begabung der Rauch des Erfolges feine bla- 
firende Wirkung üben und wir werden in abjehbarer Beit wohl einen hervorragenden 
Geiger mehr haben, aber den neuen ‚Sroßen‘ — damit fol bem Können ber Pracht⸗ 
geiger, bie wir heute Haben, nicht zu nahe getreten fein! — weiter ſuchen.“ 
* » 


%* 

Wenn mein Gedächtniß nicht trügt, ift während ber ganzen vorigen Woche in 
Berlin fein Denkmal enthält worden; fein einziges. Schlimm, doch entfchulbbar. 
Denn vier Stüd waren eben erft fertig geworden: Kaiſer und Kaiſerin Friedrich, 
Wagner und ein herrlicher Herkules; und ein paar andere reifender Bollendung ent- 
gegen. Im Reich aber wurde eifrig weiterenthüllt. In Küftrin gleich zwei Denk⸗ 
male an einem Tage. Und wie fich verfteht, durfte auch die bürgermeifterliche Rede 
nicht fehlen. Der Kaifer war zur Feier nah Küftrin gefahren; und aljo begrüßte 
ihn dort der Vertreter des freien ftädtifchen Bürgerthumes: „Ullerburdlaudhtigfter, 
Allergroßmädhtigfter, Allergnädigfter Kaifer, König, Markgraf und Herr! Euer 
Kaiferliche Majeftät wollen allergnäbigjt geruhen, ben allerunterthänigften Daufder 
Bürgerfchaft Küftrins entgegenzunehmen bafür, daß Euer Majeftät bie Gnade ge 
habt, Ihrer getreuen Stadt Küſtrin die allerhöchfte Genehmigung dazu zu ertheilen, 
daß Eurer Majeftät erhabenem Porfahren hier ein Denkmal errichtet werde, ben 
alleruntbänigften Dank insbefondere aber dafür, daß Euer Majeftät allergnädigit 
geruht haben, die Feier der Enthüllung dieſes Denkmales dur Euer Majeftät er 
habene Gegenwart zu verherrlichen. * Das geihah im Oltober des Jahres 1903. 


— —— — — 





Herausgeber und verantw ortlicher Redakteur: E71 t. Barden in in Berlin. — erlag der Zukunft in Berlin. 
Trud von Albert Tamde in Berlin Schönberg. 


Berlin, den 7. November 1905. 
TIMER TG 


Ein neues Strafgefegbuch? 


& der Voßſtraße ſteht ein ſchönes Gebäude; wenn ich mic; recht erinnere, 
find daran Motive von der Zecca verwendet. In dem Gebäude be: 
findet ſich ein Etablifjement zur Herftellung von Gefegesparagraphen unter 
ber Firma „Reichsjuftigemt“. Als das Bürgerlihe Geſetzbuch fammt feinen 
Nebengefegen vorbereitet wurde, war großer Bedarf an Gejegesparagraphen. 
Das hatte zur Folge, daß bie Fabrik vergrößert und eine Anzahl neuer 
Maſchinen, genannt „Vortragende Räthe“, eingeftellt wurde. Seitdem hat 
fi der Abfag einigermaßen verringert. Zwar find nad dem Abfchluß der 
bürgerlichen &efeggebung noch mehr als genug neue Gefege dem Reichstag 
vorgelegt worden; aber im Verhältnig zu der vorangegangenen Zeit ift die 
Zahl der gefertigten Paragraphen doch viel Heiner geworben. Export nad 
dem Ausland ift nicht vorhanden. Die Fabrik ift daher nicht vollauf ber 
ſchaftigt. Zu einer Verminderung de3 aufgeftellten Apparate hat man fih 
bisher nicht entfchloffen. Begreiflich alfo, wenn ſich die Direktion nach neuen 
Abſatzgelegenheiten für ihre Fabrilate umthut. Da haben wir nun ein Straf» 
geſetzbuch, das zwar noch nicht fehr alt, aber unter den größeren Reichs⸗ 
gefegen doc; das ültefte ift. Das könnte man durch ein neues Geſetzbuch 
erfegen. Dabei kdunte man vier= bis fünfhundert neue Paragraphen abs 
fegen und die Fabrik Hätte wieder auf Jahre Beſchäftigung. So ließ denn 
die Direktion während der Tagung ber Internationalen Kriminaliſtiſchen 
Vereinigung im April 1902 durch den Geheimrath von Tiſchendorf urbi 
et orbi verkünden, daß man im Reichsjuſtizamt an die „Vorbereitungen zu 
den Vorbereitungen“ zu einem neuen Strafgeſetzbuch herangetreten fei. 

Brauchen wir ein neues Strafgeſetzbuch? 

Gewiß haben fich bei der Anwendung des geltenden Geſetzes Mängel 


16 





204 Die Zukunft. 


berausgeftellt. Jeder, der fich mit der Strafrechtspflege altio ober aud mm 
ala Beobachter befakt, Tann an den Fingern Urtheile herzählen, die geges 
das allgemeine Rechtsbewußtſein gröblich verftoßen. Aber man muß fi vor 
dem Fehler hüten, all ſolche Erfcheinungen auf bie Rechnung mangelhafter oder 
vertehrter Gejegesbeftimmungen zu fegen. Ein guter Theil der anſidßigen 
Urtheile beruht vielmehr auf unrichtiger Anwendung des Gefeget. Was famı 
das Geſetz dafür, daß ſich Gerichte dazu verfteigen, den berüchtigten Parc 
graphen vom Groben Unfug, in Widerftreit mit feiner Entſtehungsgeſchichte 
und wider alle Auslegungregeln, auf die Boylottirung von Wirthfchaften ode 
Geſchäften, auf da8 Augftellen von Strifepoften, auf einen Zeitungartikl, 
der über die Krankheit eines beutfchen Fürften berichtet, oder gar auf eim 
Simpliziffimus- Zeichnung anzumenben, die die auswärtige Politik bes Reicht 
kanzlers perfiflirt? Könnte man eine Statiftil der auf falfcher Geſetzes⸗ 
anmwendung und der auf mangelhaften Gefegesvorfchriften beruhenden Urtheile 
berftellen, die unfer Rechtsbewußtſein nicht befriedigen, fo würde bie Zahl 
diefer im Verhältniß zu jenen gewiß ſehr Hein ausfallen. 

Ein anderer Vorwurf, der gegen das geltende Gefeg erhoben wird, 
behauptet, es entfpreche nicht dem oberften Zweck jedes Strafgefeges: der 
möglichft wirkſamen Verhütung von Verbrechen. Nach der von Reiches wegen 
bearbeiteten Kriminalftatiftif ergingen im Jahr 1899 von den dentſchen Ge 
richten 478139 rechtskräftig gewordene Verurtheilungen wegen Verbrechen 
und Vergehen gegen bie Reichsgeſetze. Die Bergehen gegen bie Landesgeſetzt 
und die zahllofen Uebertretungen der Reichs- und Landesgeſetze find dabe 
nicht mitgezählt. Unter den 478139 Verurtheilten find 47512 Jugendliche, 
alfo Perfonen, die zur Zeit der Strafthat zwölf, aber nicht achtzehn Jahre 
alt waren, und 195215 wegen Verbrechens oder Vergehens Borbeftraite 
Für das Jahr 1900 ift ein Meiner Ruckgang zu verzeichnen: 469819 Tr 
urtheilte, darıınter 48657 Jugendliche, 193857 Vorbeſtrafte. Das find er 
fchredend hohe Zahlen. Dazu kommt aber noch, daß die Kriminalität fet 
den erften von der Reichsſtatiſtik ber&dfichtigten Jahren abſolut und pre 
zentual zugenommen hat. Im Jahr 1882 entfielen auf 100000 Straf: 
mündige der Givilbevölferung 1040, im Jahr 1900 dagegen 1195 (m 
Jahr 1889 fogar 1244) Verurtheilte. Vorbeſtrafte Verurtheilte entfielen auf 
100000 Strafmündige in den Jahren 1882 bis 1886 durchfchnittlich 277, 
in den Jahren 1892 bis 1896 durchfchnittlich 452 Perfonen. Mit dieſen 
Zahlen will man beweifen, daß das in unferem Strafgeſetzbuch kodifizirte 
Strafreht nichts taugt und daß wir daher ein neues Geſetz auf ander 
Grundlage ſchaffen müſſen. 

Man wird auch dieſer Beweisführung mit Zweifeln entgegentreten 
muſſen. Die ſelbe Statiſtik beweiſt nämlich, daß das Anſchwellen der Ziffern 


Ein neues Strafgeſetzbuch? 205 


bauptfächlich ber Mehrung der Verbrechen gegen das Eigenthum zuzufchreiben 
iſt und dag namentlich die großen Städte an der Mehrung der Verbrechen 
. betheiligt find. Bei der Häufung der Eigenthumsverbrechen fpielt gewiß bie 
in ben legten Jahrzenten eingetretene Steigerung des Preifes aller Lebende 
bedürfniffe und das bamit verbundene Anwachſen des fozialen Elends eine viel 
größere Rolle als das Strafgefegbud. Und noch ein Anderes: die Zahl 
der firafbaren Handlungen, wegen deren die Verurtheilung erfolgt, bleibt 
naturgemäß fehr weit hinter der Zahl der thatfächlich begangenen ftrafbaren 
Handlungen zurück. Alljährli werden Taufende von ftrafbaren Handlungen 
begangen, vom denen die Behörden niemals Etwas erfahren, weil Niemand 
eine Anzeige erftattet. Und von den ben Behörden angezeigten Verbrechen 
gelangt wieder nur ein gewiſſer Prozentjag zur Aburtheilung, weil bei vielen 
der Thäter nicht zu ermitteln oder der ermittelte Thäter nicht aufzufinden 
oder außer Landes it. Es ift nicht möglich, die Differenz zwijchen ben 
begangenen Delikten und ben beftraften in genauen Ziffern feftzuftellen, da 
die Statiftil nur die beitraften Delikte verzeichnet; aber es ift Mar, daß die 
Differenz, um fo Eleiner wird, je befler die Polizeieinrichtungen find, bie zur 
Entdedung und Ergreifung der Thäter führen. Nun find in ben legten 
Sahrzehnten die Einrichtungen der Kriminalpolizei wefentlich verbeflert worben. 
Dean braucht nur an, bie gewaltige Ausdehnung des Telegraphen- und des 
Telephonnetzes zu erinnern, die die Auffpürung und Verfolgung von Verbrechern 
erleichtert hat. Auch die technifche Ausbildung der Polizeiorgane hat ich, 
wenigftens in den großen Städten, nicht unerheblich gehoben. Diefe Umftände 
machen es fehr wahrfcheinlih, daß die Differenz zwifchen den begangenen- 
und den zur Aburtheilung gelangten ftrafbaren Handlungen abgenommen 
bat. Und diefe Annahme findet eine gewiffe Beftätigung darin, daß es 
namentlih die Kriminalität in den Großſtädten ift, die das ftärkte An⸗ 
wachfen aufweift; denn hier find die Einrichtungen der Kriminalpolizei am 
Meiften verbefiert worden. Auf Grund diefer Erwägungen barf man be 
banpten, daß bie Schlußfolgerung von der wachfenden Zahl der Berurtheilungen 
und der Rüdfälle auf die unzureichende Wirkung unſerer Strafgefeßgebung 
nicht gerade zwingend if. Sie wäre e8 nur, wenn das Verhältnig zwifchen 
ben begangenen und den abgeurtheilten Delikten konſtant geblieben wäre. 
Das ift aber aller Wahrfcheinlichkeit nach nicht gefchehen. Es ift fehr wohl 
möglich, daß bie Zahl der begangenen Delikte — und nur auf diefe kommt 
es bei ber Bewerthung der praftifchen Wirkung des Geſetzes an — nicht 
oder doch nicht erheblich geftiegen ift, obwohl die Zahl der Verurtheilungen fich 
beträchtlich vermehrt hat. 

Darf man hiernach bezweifeln, daß ein dringliches Bedürfniß nad 
einem neuen Strafgefeßbuch befteht, fo Könnte man trogbem die Schöpfung 


16* 


206 j Die Zukunft. 


eines neuen Geſetzbuches mit Freude begrüßen, wenn de 
befleres Wert als das geltende Gefegbuch herauskäme. Abı 
Ansicht. Daß die Geſetzgebungskunſt in Deuſchland ni 
‚Höhe fteht, davon kann man fi aus jeder Seite unferes 
fegbuches überzeugen. Dieſes ift die Sphing unter ben 
giebt den Juriſten die ſchwierigſten Räthfel auf. Fräße die 
wie ihre thebanifche Urahne, Alle auf, die ihre Räthſel n 
mochten, fo würbe ein arges Blutbad unter ben deutſchen 
Zu dem allgemeinen Mißtrauen gegen die Geſetzgebungsku 
tommt aber fpeziell für die Strafgefeggebung noch ein befonde 

Im ber Strafrehtswifienfchaft giebt es heute zwei € 
die ſich die Maffifche Heißt, fußt auf dem Grundgedanten 
Vergeltung für das begangene Unrecht if. Der Verbrei 
weil er fi gegen die Rechtsordnung aufgelehnt hat. ! 
der Mechtögemeinfchaft oder Einbuße von Mehtögütern | 
auf bie nach diefer Schule die Analyfe der Strafe führt 
das Yequivalent des Verbrechens. Sie fol das geftörte G 
Rechtsordnung wieder herftellen; die Aufgabe der Strafg 
Strafe in das richtige Verhältniß zu der Schwere der beg 
zu fegen. Die andere Schule — man heißt fie die krimi 
verwirft ben Gedanken an Vergeltung. Vergeltung durc 
möglich fein, weil die Strafe nicht? mit der Miffethat GI 
uns ber fefte Maßſtab fehlt, nad; dem bie aufzuwiegenden 
werthe mit einander verglichen und veranschlagt werben Fünı 
merk der Kriminalfoziologen ift nicht auf die Gefegesunte 
Strafandrohung vom Verbrechen zurüdgehalten werben folle 
Berbrecher als den fozialen Schädling gerichtet. Nicht a 
That, fondern auf die antifoziale Strebung, die Gefinn 
an; daher foll der Verfuch gleich dem vollendeten Verbrecher 
Wie der Kranke in der Heilanftalt, der Jugendliche in der 
der Truntenbold und der Morphiumfüchtige in den Afyle 
brecher in der Strafanftalt zu behandeln: den Unheilbaren 
febenslängliche Einfperrung unſchädlich, den Heilbaren kuri 
antifozialen Geiinnung durh Abſchredung und Erziehur 
Schuld und Vergeltung fheiden aus; bie verbrecherifche The 
der antifozialen Geſinnung; diefe, nicht das Berbreden, 
und den Maßſtab ber Stufe. Zweck der Strafe ift ber € 
weſens nach dem Maf der antifozialen Gefinnung. Da 
auf beftimmte Arten von Handlungen eine größere ode 
fegt, bezwedt nicht ben Schug der Bürger gegen den Verb 


‚Ein neues Strafgeſetzbuch? 207 


Schug des Verbrechers gegen den Mißbrauch der Strafgewalt. Das Ideal 
wäre die freie Anwendung der Strafe nad) Mafigabe ber durch die That 
befundeten antifozialen Geſinnung bis zur Heilung, Anpaffung oder Aus: 
ſcheidung des Berbrederd. Da dieſes Ideal praktifch nicht durchführbar if, 
verlangt man wenigftend wmöglichft weite Strafnahmen für die einzelnen 
Arten von Delikten. 

Noch ift der Streit zwifchen den beiden Schulen nicht ausgefochten. 
Hüben und drüben ftehen wifjenfchaftliche Autoritäten hohen Ranges. Man 
follte num meinen, daß die Männer, die ein neues Strafgefeß machen wollen, 
zu den Prinzipien der einen oder der anderen Schule Stellung nehmen und 
danach ihre Geſetzesvorſchläge einrichten müßten; denn e8 leuchtet ein, daß 
das Gefeg ganz verſchieden ausfallen muß, je nachdem man von ben Grund⸗ 
gebanfen der einen oder von denen ber anderen Schule ausgeht. Aber bie 
Herren vom Reichsjuſtizamt fcheinen anderer Anficht zu fein und zu glauben, 
dar ſolche Entjcheidung nicht nöthig fei. Das fchliege ich nicht daraus, daß 
zur Borberathung und Beiprehung Vertreter der beiden wiflenfchaftlichen 
Schulen eingeladen wurden — Das war unter allen Umftänden zur In⸗ 
formation der mit der Vorarbeit betrauten Juriſten zwedimäßig —, wohl aber 
daraus, daß der Staatsſekretär des Reichsjuſtizamtes bei diefen Vorberathungen 
Berbeugungen nach beiden Richtungen bin machte und fich für eine Mittel- 
linie zwifchen beiden ausſprach. Kann dabei ein Wert heraußfonımen, das 
den heutigen Rechtszuftand wirklich verbeſſert? 

Bu diefen Bedenken kommt noch ein meitereß: wird es gelingen, einen 
Entwurf zu einem Strafgefegbuch herzuftellen, ben der Reichstag annimmt? 
Bei der Abfaflung eines Strafgefegbuches pielt eine Menge politifcher Momente 
mit herein. Das gilt nicht nur für die politifchen Verbrechen, wie Hod- 
verrath, Landesverrath, Majeſtätbeleidigung, fondern auch für viele andere 
Delikte ohne fpezififch politifche Färbung, für die Vergehen gegen Religion 
oder Sittlichkeit und für ba8 praftifch fehr wichtige Vergehen des Wider⸗ 
ſtandes gegen die Staatögewalt. Nun mäfjen wir mit einem Reichstag rechnen, 
deſſen zerflüftete Parteien bei der Behandlung aller diefer Delikte auf ganz 
verjchiedenen Standpuntten ftehen. Wird e8 möglich fein, van einem folchen 
Reichstag die Zuftimmung zu einem neuen Strafgefegbuch zu erreichen? 

Im Neihsjuftizamt wird man fich vielleicht mit dem Gedanken tröften: 
Et voluisse juvabit! ebenfalls haben die Geſetzgebungmaſchinen wieber 
Material. Sonft könnten fie ja einroften. Und Das wäre doch jammerfchabe. 


208 Die Zutunft. 


Seillieres Bobineau.*) 


BER Hundert Jahren mußte der kirchlichen und der unfirchlichen Meteo 
phyſik gefagt werden, daß das Wiffen nur fo weit firenge Wiflenfcaft 
iſt, wie es Mathematik enthält; heute brauchen die mancherlei neuen Wiſſen- 
ſchaften, weil fie ih mit dem Schein der Eraktheit fhmüden, unter ihnen 
die verfchiedenen Zweige der Anthropologie, die Mahnung roch möthiger. 
Seekrank wird, wer denkend zwar, aber des eigenen feften Haltes entbehrend, 
im raffentheoretifchen Fahrwaſſer von Gobineau, Richard Wagner umd Dühring 
bis zu Ammon, Chamberlain und Woltmann herabfhwimmt. Craft konnen 
ja diefe Wiſſenſchaften nur fein, fo weit fie Thatſachen befchreiben (momit 
Kants Sag von der Mathematik zu ergänzen if); mit der Kombination 
der Thatſachen fängt die Unficherheit, freilich aber auch erft der Verſuch am, 
aus dem Wifjensmaterial eine Wiffenfchaft aufzubauen. Doch fann man 
ſich aus Thatfaden und Wahrfgeinlichkeiten ein Gerüft zimmern, von dem 
aus man gefichert und in Ruhe zu überſchauen vermag, was bie vom Forfhung: 
drang (von ber politifchen Leidenſchaft des Tages, behauptet Seilliöre) ge 
ſchwellte Woge täglich, Neues vorbeiflögt; und mandem Leſer wirb es nicht 
unangenehm fein, wenn ich ihm, ehe ich zum eigentlichen Thema übergeht, 
ein paar Bretter des Gerüftes vorlege, das ich mir gezimmert habe. 

Mit Gobineau erfenne ih an, daß die Raffeneigenfchaften ſehr be 
ſtandig find und dag Raffenmifgung eine Triebfraft der Weltgefchichte iſt 
Über ich halte den Raffencharakter nicht für an ſich unveränderlich, Leite nicht 
alle Veränderungen der Raſſen, alle Ereigniffe der Weltgeſchichte und alle 
Kulturerfheinungen von Raffenmifgung ab, Mit Chamberlain glaube id, 
daß bie Urfprünge ber Dinge, fo auch die des Menfchengefchlechteß und feiner 
Raſſen, unerforfhli find, das Bemühen, die legten Urſachen aufzuſuchen, 
eitel ift und daß im Lauf der Zeit immer neue gute Raffen, alfo Menſchen- 
arten von auögeprägtem Charakter und von guten Eigenfchaften, entftehen; 
aber ich meine, man dürfe mit Gobineau bie weiße, die ſchwarze und bie 
gelbe Raffe — wenn auch nicht als die Urraffen, fo doch — als Haupt- und 
Grundtypen gelten laffen. Beide Forſcher fehlen dadurch, daß fie die ſelun⸗ 
dären Urfachen der Raffenbildung, die unter Umftänden die primären fein 
Tonnen, theils überfehen, theils unterfchägen: Klima, Boden (manche Boden 
arten, zum Beifpiel: Talkgaltige, folen Pferde, Rinder und Menſchen lange 
leibig machen), geographifce Rage, Lebensweiſe und Beſchäftigung, lange 
Zeit geübte Herrſchaft oder erlittene Knechtſchaft. Die zuerft genannten, 


®) La Philosophie de l’Imp6rialisme I. Le Comte de Gobineau et 
YAryanisme historique par Ernest Seilliöre. Paris, Librairie 


Seillières Gobineau. 209 


nicht ſozialen dieſer ſekundären Urſachen find ohne Zweifel urſprünglich die 
primären geweſen, denn ehe die Raſſenmiſchung ihr Werk beginnen konnte, 
mußte vorher Klima umd Boden die Raflenunterfchiede erzeugen. (Um der 
aus Thatfachen gezogenen Yolgerung, daß die proletarifche Lage nicht immer 
durch angeborene Untüchtigfeit verjchuldet, fondern umgekehrt oft genug bie 
Entartung ganzer Bevöllerungen eine Wirkung aufgezwungener proletarifcher 
Lebensweife ift, zu entgehen, nehmen die Nafjentheoretiler zu der von Weismann 
angeblicy bewiefenen, in Wirklichkeit nur angenommenen Unveränderlichkeit 
der Zeugungftoffe, des fogenannten Seimplasmas, ihre Zuflucht) Mit den 
genannten Forſchern unterfcheide ich edle und uneble Raflen, halte die edlen 
Raſſen für die Kultur erzeugenden, die weiße Hauptraffe für edler als bie 
anderen beiden, ohne jedoch allen Negern jeden Leibes⸗ und Seelenadel ab: 
zufprechen — benn es giebt Törperlich wohlgebildete, geiftig hochbegabte und 
von Gemüth gutartige unter ihnen —, beſchränke aber den Vorzug nicht 
auf den germanifchen Stamm und finde die Verfuche, die gemacht worden 
find, den Charakter des Edelmenjchen zu definiren, fehr unbefriedigend. Dühring 
fieht ihn in dem edlen fittlihen Eigenfchaften der Germanen, fpricht diefe 
Eigenfchaften den Romanen und den Slaven in minderem Maße zu und 
ben niederen Raſſen, zu denen er auch manche weiße rechnet, ganz ab; die 
Juden malt er belauntlih kohlſchwarz. Das ift nun thatfächlich falfch und 
Gobineau hat ganz richtig erkannt, dag es nicht die fogenannten fittlichen 
Eigenfchaften, am Wenigften die Eigenfchaften des chriftlichen Heiligen find, 
was den vornehmen Bölfern Macht verleiht. Chamberlain ſchilt zwar auch 
die Selbftfucht und daneben bie Weltlichkeit der Juden und preift die meta> 
phyſiſche Anlage und die echte Neligiofität der arifchen Inder, kann aber 
doch nicht behaupten, daß die Inder ihre Befähigung zum Herrfchen bewiefen 
hätten, und muß in Beziehung auf die älteren Germanen und die neueren 
Angellachfen geftehen, daß es nicht gerade aufopfernder Idealismus gewefen 
ift, was fie groß gemacht Hat. Dabei paflirt ihm, daß feine Schilderung 
des Judencharakters Zug für Zug (den einen Zug der geiftigen Unfrucht⸗ 
barfeit ausgenommen) auf die Angeljachien, die Holländer, die Schweizer, 
überhaupt auf die Stämme paßt, die das reformirte Belenntnig angenommen 
haben oder ihm zuneigen. Es ift eben eine gewiſſe Difchung von Eigen⸗ 
ſchaften, was politifche und wirthfchaftliche Erfolge fichert; zu diefer Miſchung 
gehören auch folde Eigenfchaften, die der Ehrift für böfe erklären muß, und 
die Miſchung ift nicht Tonftant, fondern je nach den wechfelnden Umftänden 
werden immer neue Mifchungen erfordert; manchmal ift ein ftärferer Zuſatz 
von brutaler Gewalt nöthig, mandhmal find Gejchmeidigfeit und Hinterlift 
mehr angezeigt. Ich denke mir die Sache fo: 

Eine eigenthämliche Civilifation entfteht, wenn ein Bolt an Geift, 


210 Die Zukunft, 


Willen und Leib ftark genug if, bie in feinen Bereich gerathenden Er: 
ſcheinungen feinem Vorſtellungskreis einzuverleiben, fi die ihm erreichbaren 
materiellen Güter anzueignen, den Reichthum an Ideen, Gütern und Eis- 
richtungen, den es fo erwirbt, zu einem geordneten Ganzen zu verbinden, 
das ein unterfcheidbares &epräge zeigt, und diefe feine Dafeins- und Lebens- 
foru in einem großen Gebiet zur Herrfchaft zu bringen. Bon der Civilifation 
unterfcheide ich mit Chamberlain (und babe ich von je her unterfchieden) die 
Kultur, Wilhelm von Humboldt hat als deren unterfcheidende Merkmale 
Kunſt und Wiffenfhaft angegeben. Nun: aud die Chinefen haben Kunſt 
und Wiflenfchaft, — aber was für eine! Es handelt fi hier um den 
Kern der Wiffenfhaft vom Menfchen und es wäre Anmafung, wenn ich 
mir einbilden wollte, ihn erfaßt zu haben. Aber ich glaube, ihm wenigitens 
nahe gelommen zu fein, indem ich im hellenifchen Weſen das Gumanität- 
ideal verwirklicht fehe, den Hellenen daher echte und höchſte Kultur zufchreibe. 
Man wird alfo den Begriff der Kultur gewinnen, wenn man das bellenifche 
Kulturleben in feine Elemente zerlegt. Die Griechen haben die Methoden 
begründet, nach denen unfere heutige, von chinelifchen und fonftigen afiatifchen 
„Wiſſenſchaften“ himmelweit verfchiedene Wiffenfchaft arbeitet, und fie Haben 
und unfterbliche Muſter wiflenfchaftlicher Unterfuchung Hinterlaffen. Sie find 
die einzigen unter den alten Völkern, alfo die erften von allen, die in ber 
Kunft Schönheitibeale verwirklicht haben, und find wenigfteng in einen Zweige 
ber bildenden Kunſte unübertroffen geblieben. Bei ihren Dichtern umb 
Philofophen finden wir bie äußerfte Zartheit und den feinften Takt bes fitt- 
lihen Empfindens, fo daß noch heute Jeder Herz und Gemäth an ihnen 
bilden fann. Und diefe drei Gebiete des Seelenlebens erjcheinen unter fi 
und mit dem Leibesleben zur harmonifchen Einheit verfchmolzen in vielen 
ihrer gefchichtlichen wie ber von ihren Dichtern gefchaffenen Geftalten; denn 
es gehörte ja belanntlich zum Weſen ihres Volksthumes, daß ihre Geiftes- 
und Herzendbildung nicht zur Verlümmerung, fondern zur Vollendung ihrer 
leiblichen Kraft und Schönheit führte. Diefes Humanitätidenl konnte Deshalb 
nur kurze Zeit und nur in einem winzigen Bruchtheil der weißen Raſſe ver⸗ 
wirflicht werden, weil, wie aud) Gobineau richtig bemerkt hat, die Aufgaben, 
bie der wechfelnde Strom des Lebens den Bölfern ftellt, einander für ges 
wöhnlich ausjchliegen, fo daß man die eine fahren laflen muß, wenn mu 

die andere ergreift. Deshalb erfcheint die Kultur der Völfer wie der Einzelr 

einfeitig, die Geſammtkultur ftücweife an ihre Träger vertheilt; daß bie 

Träger Theilhaber der echten Kultur find, die man als die europäifche E 

zeichnen darf, haben fie immer wieder aufs Neue dadurch zu beweifen, i 

ihnen die Sehnfucht nad) dem im hellenifchen Vorbilde verwirflichten Ganz, 

und das Verſtändniß für diefes Vorbild nicht verloren gegangen if. D 





Seillioͤres Gobineau. 211 


Aeſthetiſche bleibt dabei das Entſcheidende, wie ſich Jeder klar machen kann, 
wenn er überlegt, was uns denn eigentlich die exotiſchen Kulturen niedriger 
erſcheinen läßt als die unſeren; nicht etwa, weil leibliche Schönheit das 
Höchſte, aber, weil es das unmittelbar Wahrnehmbare iſt, Das, worin ſich 
uns das Weſen des Menſchen offenbart. Auch Gobineau hebt hervor, daß 
von wirklicher Schönheit nur bei ber weißen Kaffe sefprodien werben fünne, 


ann von Shönpeit Aberl augt ‚sinn Neal ok; und ſchon * Fehlt 
ihrem Seelenleben ein weſentlicher Beſtandtheil, Schon darum leidet ihr ganzes 
Dafein an einer Unvolllommenheit, die als Häplichfeit oder Mangel an 
Schönheit zu Tage treten muß. Aus dem Gefagten geht hervor, daß unter 
den meißen Böllern keins das Menſchheitideal vollftändig verwirklichen Tann, 
baß aber die XTheilhaberfchaft an diefem deal feinem ganz abgefprochen 
werden darf. Im Kunſtgeſchmack und in der allgemein verbreiteten Schön⸗ 
heit des Gefichtes bleiben wir Nordländer hinter den Romanen zurüd, obmohl 
in allen Gebieten der Kunft einzelne Deutſche das Höchſte geleiftet haben. 
Bu mwirthfchaftlihen und politifchen Erfolgen gehören vor Allem Willens: 
kraft und Stetigkeit; darin find bie Germanen und namentlich die Angelfachfen 
ben Romanen und den Slaven überlegen. (Die ruffifche Politik wird nicht 
von Ruſſen gemacht, fondern von ruffifizirten Deutfchen.) Daß die Europäer 
zur Beherrſchung der Farbigen befähigt und berufen find, Iehrt jeder Tag; 
ob und wie weit die Deutfchen. heute noch den übrigen Europäern in dem 
Grade überlegen find, wie fie e8 in der Zeit von 1000 bis 1300 waren, 
mug die Zukunft lehren. Höchfte Kultur fichert keineswegs den politifchen 
Erfolg, kann ihm fogar binderlich fein, wie klaſſiſche Beiſpiele beweifen, 
aber nur die zur höchften Kultur befähigten Völfer find auch befähigt, dauer» 
bafte politifche Herrfchaft zu begründen. (Der ſchwankende Sprachgebraud 
erſchwert die Berftändigung; wenn von den Kulturen der Naturvöller und 
der Barbaren gefprochen wird, fo ift Das gemeint, was ich Givilifation 
nenne. Hohe Eivilifation kann mit niederer Kultur, ja, mit Unkultur ver: 
bunden fein und umgefehrt.) Zu den Stüden, in denen ich vollftändig mit 
Chamberlain übereinftimme, gehört fein Urtheil über die Entwidelungtheorie. 
(Sein Darwinismus ift Züchterdarwinismus, alſo eigentlich vordarwinifcher 
Darwinismus). Er kennt weder Fortſchritt noch Rüdfchritt im Weltganzen, 
fondern nur Entfaltung der einzelnen felbftändigen Wefen, zum Beifpiel: 
ber Völker, und bemerkt treffend, daß gerade die darwinifche ‘Theorie den 
Fortſchritt eigentlich ausjchließe, weil die Mionere das im darmwinifchen Sinn 
vollfommenfte, nämlih das widerftands: und anpaflungfähigite Weſen iſt, 
daß Naturforfcher von Haedels Art vielmehr Religionftifter find und daß 
Darwin „immerfort mit einem Fuß in unverfälfchter Empirie, mit dem 








212 | Die Zukunft. 


anderen in haarfträubenb kühnen philofophifchen Vorausſetzungen breitbeinig 
fortfchreitet.” Weismann hat den Moneren fogar die Uufterblichleit zuge 
fchrieben. Freilich werden Millionen gefrefjen umd verbaut, aber Das würde 
nicht gefchehen, wenn fie nicht fo dumm geweſen wären, größere und Font 
plizirtere Wefen aus fih zu entwideln, die der Idealiſt volllommener wert. 
Die Rafientheoretiter darwinifcher Richtung unterfchieben gewöhnlich dem 
darwinifchen Begriff „angepaßt“ die idealiftifchen Begriffe „höher“ und „voll- 
fommener“ und laſſen durch Anpaffung und Naturzädtung zuerfi aus 
niederen Thierarten höhere, dann aus Thieren Menſchen und zulegt aus 
niederen Menfchenraflen höhere hervorgehen; babei verloppeln fie manchmal 
‚mit dem unechten idealiftifchen Darwin gedankenlos Gobineau, indem fie mit 
Jenem die Entwidelung vom Niederen zum Höheren lehren, zugleich aber 
mit Diefem über die fortfchreitende Entartung ber weißen Raſſe jammern. 
Mit Chamberlain halte ich Gobineaus Peffimismus, der nur zunehmende 
und unabwendbare Entartung fieht — die weiße Raſſe mit ihren edlen Eigen» 
ſchaften fol im eflen Böltergemifch verfchwinden —, für unberedhtigt, erkenne 
an, daß es gute und fchechte Mifchungen giebt, und füge Hinzu, daR eine 
weife und kräftige Sozial: und Kolonialpolitik der Entartung, wo folde 
droht, vorbeugen und die Kaffe verbeflern kann. Was den Fortjchritt betrifft, 
fo befchränfe ich ihn auf die Technik, auf die Anhäufung des Wiflens, der 
Fertigfeiten und der Güter und auf die Vermehrung des geiftigen Neid; 
thumes durch die Vervielfältigung der Kombinationen, dagegen glaube id 
nicht, daß ber Menfchennatur neue Kräfte zumachfen oder die, die fie hat, 
fih erhöhen, noch daß die Menfchen moralifcher oder glüdlicher werben ober 
einem Gefellfchaftzuftande entgegengehen, der allen früheren Zuflänben und 
Staatsverfaſſungen vorzuziehen fein wird. Ein letztes objektive Ziel ber 
Veränderungen, die man heute Entwidelung zu nennen liebt, erkenne ich 
nicht an; alle Beränderungen haben nur den Zwed, ben Menfchen jeber Zeit 
und jeden Drtes die Entfaltung und Bethätigung ihrer Anlagen zu ermög⸗ 
lichen, und diefem rein fubjeltiven Zweck dienen auch bie wechjelnden objektiven 
Bwede der Entwidelung wie die Schöpfung neuer Rafſſen und Kulturen 
und die Gründung neuer Staaten. 

Die Abfiht, feinen Lefern einen feiten Halt darzubieten, hat den Ver⸗ 
fafler des Buches, das uns nun ein Wenig befchäftigen fol, nicht geleitet. 
Er verwirrt fie vorläufig nur noch mehr (ich fage vorläufig, weil man ja 
nicht weiß, was die folgenden Bände feiner Philofophie des Imperialismus 
bringen werden), indem er Gobineaus Theorien und Geſchichtkonſtruktionen 
fritifch zerfegt und durch Aufdeckung ihrer Widerfprüche, ihrer Willfürlich- 
feiten, ihres phantaftifchen Charakter dem Spott preisgiebt, ohne ihnen eine 
andere Lehre entgegenzufegen. Damit foll nicht gefagt fein, daß das Bud; 


Seillioͤres Gobineau. 213 


frivol wäre oder daß der Berfafler die dem Genie und dem edlen Eharalter 
des Grafen fchuldige Pietät verlegte; den hohen literarifchen Werth ber meiften 
Schöpfungen Gobineaus erfennt er ohne Rüdhalt an. Und feine Tritifche 
Aufgabe, für die er fi) mit dem nöthigen gelehrten Rüſtzeuge verfehen hat, 
nimmt er fehr ernft. Auch fein Spott ift nur die Hülle für den bitteren 
Ernft, der fi darunter verbirgt. Es kann einem franzöfifchen Patrioten 
unmöglich gleichgiltig fein, wenn ein Landsmann von ihn Iehrt, zwei Drittel 
der Franzofen ftünden als Menfchen nieberer Raſſe außerhalb der ariſchen 
Kultur, und wenn dieſer Landemann das Haupt einer einflußreichen beutfchen 
Schule wird. Zwar hatte Bobineau auch die Deutfchen als ein minders 
werthiges Miſchvolk gefchildert; aber nachdem fie 1870 ihre Ueberlegenheit 
über die Franzofen bewiefen haben, kann ſich die deutſche Jüngerſchaft darüber 
mit dem Gedanken tröften, daß der Meifter in diefem einen Punkte geirrt 
habe. Seillidre nun macht, um einer Anficht, die für Frankreich wenig 
fchmeichelhaft ift und fogar praftifch unheilvolle Folgen haben kann, den 
Boden zu entziehen, gleich im Anfang feiner Einleitung ganze Arbeit: alle 
Geſchichtphiloſophien find von der Leibenfchaft, vom Borurtheil und vom 
Intereſſe eingegebene willfürliche Konftruftionen und die von Rouſſeau, Hegel, 
Eomte fammt denen der allerneuften Autoritäten ftehen al3 Apofalypfen auf 
einer Stufe mit dem Buche Daniel und der Offenbarung Johannis, bie 
nichts Anderes find als die Gefchichtphilofophien ihrer Zeit. Die neufte Ges 
fchichtphilofophie hat nach unferem Kritiler drei Wurzeln: den Yeudalismus, 
den Germanismus und die von den Sandfritgelehrten verbreitete Schwärs 
merei für die indifchen Arier. Die gemeinſame Frucht ift der Imperialis- 
mus, die Lehre, daß den europäifchen Ariern die Weltherrfchaft beftimmt ſei. 
Der Berfafler bemerkt gelegentlich, da der Name Arier heute eigentlich nicht 
mehr zeitgemäß if. „Die wiflenichaftliche Mode hat gewechſelt; die Zu— 
‚ gehörigfeit zur indogermanifchen Sprachenfamilie fol noch nicht die Bluts⸗ 
verwandtfchaft eines Volkes mit den Herrenvölfern beweiſen; man fett die 
Entftehunggeit der indifchen und der iranifchen Sprachdentmäler herab, um 
die afiatifhen Kulturen zu Ablegern europäifcher machen zu fönnen, umd 
erlärt die europäifche Kultur für autochthon. So verblaft das Bild des 
Ariers immer mehr, bis ihm eine Reaktion in der Gelehrtenwelt neuen Glanz 
verleihen wird.“ In Frankreih ift nach Seilliere, der fich vielfad auf 
Auguftin Thierry ſtützt, die Sache ander3 verlaufen. Der Adel blieb fich 
feiner Abkunft von den fränfifchen Eroberern bewußt, die Stadtbürger führten 
ihre Berfaffungen auf die Römer zurüd, die Banern hatten gar feine Tra= 
bittionen und pochten in Zeiten dev Empörung auf die natürliche Gleichheit 
aller Menſchen. Die Legiften endlich halfen mit dem römifchen Recht die 
fih über alle Stände erhebende Macht des abfoluten Königs begründen. Da⸗ 


214 Die Zukunft. 


neben wurde über den Urfprung ber Franken gefiritten; während ihnen die Einen 
ihre germanifche Abkunft ließen, machten Andere fie zu Galliern, die über 
den Rhein ausgewandert und fpäter von da zurüdgelehrt fein. Der „Keltis 
mus“ wurde eine Zeit lang Mode und fah Kelten in allen germanifcher 
Stämmen, fchliegli fogar in den Hunnen. Unter Ludwig dem Bierzeiuten 
wurde diefe Theorie dazu benugt, die franzöfifchen Eroberungpläne zu recht» 
fertigen; „fo wahr ift es, daß die Gefchichte immer die ‘Magb der augen- 
blidlichen Leidenſchaften Derer ift, die fie ſchreiben.“ Der keltiige Urfprung 
der Hauptmafle der franzöfifchen Bevölkerung konnte felbftverftändlich nicht 
angezmweifelt werden. Der erfte Begründer de3 Germanismus ift Hotman 
geweſen. Er bewies in feiner Frankogallia (1574), daß die alte franzöfiſche 
Verfaffung auf die Freiheit und Gleichheit aller Bürger gegründet und ber 
König an die Beichlüffe der Nationalverfammlung gebunden gewefen fei 
Hotman gehörte dem Bürgerftande an. Hundert Jahre fpäter verquidte 
feine Theorie der Graf Boulainvilliers mit dem Feudalismus. Auch er ver 
fünbete die Freiheit und Gleichheit, aber nur die ber Dlitglieder des Adels, 
dem fich der König unterzuordnen habe, und deſſen Recht, da8 Voll zu be 
berrfchen, in der fränfifchen Eroberung wurzle. Der gräflihe Staatsphile- 
foph bekämpft die „Löniglichen Baftarde“, die ſich als Prinzen von Geblin 
über den echten Adel erhöben, die Befreiung der ländlichen Knechte und bie 
Berufung von Bürgern in hohe Staatsämter. Ein Abbe Dubos Fichte 
dadurch Verföhnung zu ftiften, daß er die Franken als Bundesgenoffen der 
Galloromanen im Kampf gegen die übrigen Barbaren auftreten lief. Mably 
wendet dann wieder da8 hohe Gut der germanifchen Freiheit dem ganzen 
Bolf zu und macht Karl den Grogen zum Wiederherfteller der Volksrechte 
und zum konftitutionellen Muftermonarhen. Im felben Fahrwafler gelangte 
der populärere Rouffeau zum Sozialfontralt, von dem aus man nicht mehr 
weit hatte zur Herrfchaft des tiers tat und zum Abbé Siey&s, der die fick 
ihrer Abftammung von Eroberern rühmenden Ariftofraten in ihre beutfchen 
Wälder zurüdichiden wollte Nach der Reitauration ftellte der Graf Mont 
lofier die ariftofratifche Doltrin wieder her. Nur durfte er nah Dem, was 
zwifchen der Revolution und 1815 gefchehen war, nicht wagen, die Anfprüdhe 
des franzöjifchen Adels auf feine deutſche Abftammung zu gründen. Ihm 
ift der Adel die Gefammtheit der Freien, der Herrfchenden, gleichviel welhen 
Urfprungs, gegenüber dem handarbeitenden Volle; in beiden Ständen | 

alle drei Raſſen vertreten: Gallier, Römer und Germanen. In Deutſch. 

läßt Seillidre den Germanismus als Reaktion gegen die Eroberungskr 

des vierzehnten Ludwig und gegen feine Steltomanen entftehen ‚und mr 

Leibniz al3 den erften Träger der neuen Strömung, bie fi) dann in He. 

fortgefegt Habe. An ihn fchloffen ſich die Dichter und Philofophen 





I" 


Seillieres Gobineau. 215 


Freiheitkriege, dann die Nechtsphilofophen, die Romantifer, die Indologen. 
Damals wurde ganz Europa vom Naflentaumel ergriffen. „Diefer Rafſen⸗ 
wahniinn: Schladten, die man mit Wörterbüchern, Archivalien und Volks⸗ 
Liedern gewann, bintige Heldenthaten, die man um biftorifcher Regenden willen 
werrichtete, diefe bis dahin beifpiellofen Erfcheinungen charakterifiren den politis 
fchen Gemüthszuſtand eines Theils von Europa im nennzehnten Jahrhundert.“ 
Damit war fir einen Gobineau der Boden bereitet und zugleich ihm das 
Material geliefert. Die Kritik feiner Schriften bildet den Inhalt des vor⸗ 
liegenden Buches. " 

Eine Analyje diefer kritiſchen Analyfe würde ein gleich dickes Buch 
erfordern. Sie wäre auch überflüflig, wie ſchon Seilliöres Buch felbft es 
fein würde, wenn es nichts weiter als eine Kritik der Raffentheorie enthielte. 
Denn die Webertreibungen und Phantafien bes Romantikers der Anthropo: 
logie, etwa, daß die äfthetifche Anlage aus Negerblut flamme, nimmt doc) 
Fein ruhiger Denker ernft; und die enthuſiaſtiſchen Verehrer laſſen fich durch 
Kritik nicht anfechten. Vielfach geht Seillidre in der Ablehnung zu weit; 
fo, wem er gegen die Schilderung der „ariſchen“ Schönheit den Einwand 
erhebt, daß die Schönheit Geſchmacksſache fei und daß fie von jeder Thier⸗ 
und Menfchenart ander3 verftanden werbe. Freilich, meint er, werbe Go⸗ 
binean dieſen Einwand nicht gelten laſſen, da er die Schö 
abſolute idee halte. Dafür halte — ich ſie _und_nicht, wie manche Biologen 
lehren, für-eine dem Ge dienende Illuſion, die auch dem Heus 
ſchreck die : Heufhredin. als das Khönfe aller irdiſchen Wefen erfcheinen laſſe. 
Ber Menichen ift 8 beſtimmi wicht" ſo, daß fi Jeder Jein Schoönheitideal 
nach der eigenen Geſtalt formt. Der Häßliche liebt nicht eine Häßliche, der 
Krüppel nicht die Verfrüppelte, und während ficherlich noch fein Weiner ges 
wänfcht hat, wie ein Neger oder Mongole auszufehen, beneiden wahrfcheinlich 
alle gebildeten Veger und Mongolen bie Europäer um ihre Hautfarbe und 
ihren Sefichtsfchnitt. Hier und da flicht Seilliere treffende, ja, glänzende 
Charakteriftilen feines Helden oder vielmehr Opfers ein; ein Beifpiel: „Wenn 
man. Sobineaus Parteinahme für die Kaften, feine Vorliebe für Ausdrüde 
wie Mißheirath, Emporkömmling, Erllufivität ins Auge faßt, fo erfcheint er 
Einem als ımverbefferlicher Junker. In Wirklichkeit gehört er eher unter bie 
extremen Nepublifaner al8 (ich würde jagen: eben jo — wie) zur Kavallerie 
das ancien rögime. Reaktionär ift er gewiß und nicht etwa blos um ein 
Jahrhundert, auch nicht um fünf Jahrhunderte, fondern um drei Jahrtaufende 
zurüd, benn fein Feudalismus beruht ja ſchon auf Rejignation (weil durch 
das Vafallenverhältnig die urfprüngliche Freiheit und Gleichheit aufgegeben 
wird), Sein Focal ift der äußerſte Individualismus, der fouveraine Beſitz 
eines Allodiums in Gardarife. Nichts Anderes ift er als ein ariftofratifcher 





216 Die Zuhmft. 


Nouffeau, der für die Arier fordert, was der genfer Philoſoph auch ber 
ganzen Menfchheit wünfchte. Hat nicht biefer wahre Bater ber Nomanti 
bamit angefangen, die Skythen, bie alten Perfer, die Germanen des Zarıtub 
zu verberrlichen, die Korruption ber Athener, das befadente Nom, bie trez 
Iofe Renaiffance des fechzehnten Jahrhunbert3 zu verbammen? Der Abfchen 
vor der Naffenmifhung Hat eine merkwürdige Uehnlichleit mit der Ber 
wunſchung des Gefellichaftlebens. Die Wirkungen diefer beider gefährlichen 
Wandlungen des vermeintlichen Urzuftandes find in den Augen beider Utopiflen 
bie felben: für die Entftehung ber verderblichen Künfte und Wiſſenſchaften 
macht ber Eine die Gefellfchaft, der Andere die Mißheirath verantwortlid. 
Und Keiner von Beiden wagt, das gefährliche Element ganz zu verbannen: 
Rouſſeau kann ein Wenig Gefellichaft, Gobineau ein Wenig Kultur erzeugende 
Raſſenmiſchung nicht entbehren, — aber um Gottes willen nur eine homöe: 
pathifche Dojis! Sonſt degenerirt der Arier des, Verſuchs iiber bie Ungleid- 
heit der Menſchenraſſen‘ wie der gute und glüdliche Urmäldler ber ‚Ab: 
handlung über den Urfprung der Ungleichheit unter den Menfchen.‘ Auch 
haben Mifhung und Geſellſchaft gemeinfam, dag ihre verberbliche Wirkung 
weile erft in einem Stadium fihtbar wird, wo es für die Umkehr zu fpät 
it. Wenn Gobineau der Mifchung zufchreibt, was fein Vorgänger für eine 
Folge der bloßen Bergefellfchaftung hielt, fo kommt Das daher, dag euer 
als Schüler Boulainvillier8 beffer weiß, welche Rolle Gewalt und Erobermg 
bei der Geſellſchaftbildung gefpielt haben. Aber aus dem Schoß ber weißen 
Raffe, die ihm die echte Menſchheit ift, verbannt auch er Kampf und 
Sklaverei auf Grund des Naturrechtes. Noch mehr: in diefen engeren Kreis 
führt er den Geſellſchaftvertrag ein — denn die Feudalität ift nach ihm ald 
eine Uebereinkunft zwiſchen Gleichen entftanden —, nicht, ohne, gleich feinem 
Meifter über diefen erften Schritt zur Entartung einige Thränen zu vergiehen.“ 

Könnte man die Kritik des Gobinismus, fo intereffant und geiftreid 
fie ift, recht gut entbehren, fo ift dagegen Einem, der kein Mitglied der 
Schemann-Wagner: Gemeinde ift und der fi daher mit dieſen Dingen nicht 
ex professo beihäftigt, da8 Buch deshalb hochwillkommen, weil es eine 
fragmentarifche Biographie de Grafen und den Inhalt feiner zahlreichen 


übrigen Werke angiebt, die zur Iefen man wenig Beranlafiung bat, wenn 


man nicht zur eben genannten Gemeinde gehört. Die Novellen und Romane 


zu lefen, würde Einem Seilliere8 Bericht wohl Luft machen, wenn man meht 
Muße Hätte und der Tag nicht fo viel Neues brächte; aber wer hätte Zeit 


übrig für eine aus orientalifhen Märchen gefchöpfte Gefchichte der Perfer 
(die freilich nach der Meinung, die Seilliere von der Gefchichtfchreibung im 
Allgemeinen Hegt, ihm fo viel werth fein müßte wie jede andere Geſchichte) 
oder für Gobineaus nicht weniger phantaftifche Keilfchriftendeutung, die von 


| 


Seillioͤres Gobineau. 217 


den Aſſyriologen verſpottet wird, oder für die Geſchichte Ottars Jarl, worin 
der Sprößling einer füdfranzöfischen Familie fein Geſchlecht auf einen ſkandi⸗ 
naviſchen Seehelden zurüdführt? Den Ueberfeger Gobineaus, das Haupt 
der beutfchen Gobiniften, den Profeſſor Schemann, ber fi die Miſſion zu- 
ſchreibt, Richard Wagners Teftament zu vollftreden, behandelt unfer Franzofe 
recht ironifh. Er meint, das Urtheil über die Sprache Gobineaus in feinen 
poetifchen Werken möge der Herr nur den Franzofen überlafjen, und jchreibt: 
„Welcher Franzoſe würde nicht über die Werthung der Tragoebie ‚Alerander 
der Dealedonier‘ (eines Ingendwerkes) durch ihren bdeutfchen Herausgeber 
lächeln?“ Was das Verhältniß Gobineaus zu Richard Wagner betrifft, 
fo glaubt der Kritiker, die gemeinfame Liebe zur Kunſt, die Gobinean in die 
feltfamften Widerfprüche mit fich felbft, mit feiner Tulturfeindlichen Theorie 
perwidele, babe Beiden die Kluft verbedt, die fie trennte. Zu der Zeit 
nämlich, wo fie Freundfchaft fchloffen, hatte Wagner ſchon den von Niegiche 
fo tief beffagten Bufammenbruch erlitten: er war katholiſirender Chrift ges 
worden und fah das Heil nicht im Arierblut, fondern im Heiligen Gral, 

im Blute des Erlöfers, das fich erneuernd in die Adern der Menſchen aller 
Farben ergieße. In feinen legten Tagen bat Gobineau einen Auffag für 

die Bayreuther Blätter (Ueber den gegenwärtigen Zuſtand der Welt) ges 

fehrieben, den ber Meifter mit einer Vorrede einführte. Diefer Auffat treibt 

den Peſſimismus auf die Spite, entwirft von den „revolutiowären” Romanen 

das gehäffigfte Bild und ſchreckt mit der gelben Gefahr: binnen zehn Jahren 

Könnten die Mongolen, von den Slaven eingelaffen, Europa umgeftaltet haben. 

Dazu bemerkt der Vorredner ganz gemüthlich: wie Schopenhauers Peſſimis- 
mus duch die Vernichtung des falfchen Optimismus die Hoffnung auf Er- 

löſung gewedt und damit diefe ſelbſt vorbereitet habe, fo fei auch diefe 

Schilderung allgemeinen Berderbens ein neuer Hoffnungerreger; benn man 

böre aus ihm den felben Seufzer tiefiten Mitleides heraus, der von Golgatha 

ertöne. Das fei, meint Seillidre, da8 gerade Gegentheil von Dem, was 

Gobineau gewollt habe. Diefer Habe aljo feine ganze Mühe verloren. 

„Können zwei Zeute einander mehr lieben und einander body unverftändlicher 

bleiben als diefer Vorredner und Der, den er einführt? 

Dem Endurtheil Seillidres über Gobineaus Hauptwerk kann ich bei⸗ 
fimmen, ohne jedoch den Gobinismus fo gefährlich zu finden, wie ihn bie 
Furcht des Franzofen flieht. Der „Verſuch“ müſſe als ein Heldengebicht auf- 
gefaßt werden, das fi in der Form dem wiflenfchaftlichen Gefchmad der Zeit 
anpafle, aber aus der Seele eines Aöden, eines Troubadours ſtröme. Gobi⸗ 
neau fei, fchopenhauerifch zu reden, nicht ein Logifches, wohl aber ein intuis 
tive8 Genie geweien. Solche Menfchen würden von Heineren Beiftern be 
richtigt, erwiefen ſich aber als fruchtbare und fchöpferifche Infpiratoren. In 


218 Die Zukunft. 


einer Gefchichte der Ideenentwickelung habe man ben Werth von Literatur: 
werlen nicht an ihrem Gedankengehalt abzumeflen (Seilliöre jchreibt: par 
leur merite intrins&que), fondern an der Tragweite und Dauer ihres Ein- 
fiufies. Wer glaubt, daß feine auf die Darftellung des Aryanismus und 
Gobinismus verwendete Arbeit in keinem Verhältniß fiehe zum Gegenflanbe, 
daß den Phantafien eines Dilettanten eine zu große Wichtigleit beigelegt 
werde, Der möge fein Endurtheil aufichieben, biß ihm über Das, was fidh 
(in Deutfchland) vorbereite, berichtet worden fein werbe, über bie Neberbäche, 
in denen verwandte Gedanken rinnen und bie fi) zu Strömen vereinigem. 
Vorgreifend folle für jegt nur bemerkt werben, daß der wirkliche, wenn auch 
nicht eingeftandene Jünger Gobineaus jenfeits des Rheines nicht Richard 
Wagner fei, fondern der anfängliche Bundesgenoffe unb fpätere Feind bei 
Meifters von Bayreuth: Friedrich Nietzſche. 
Neiſſe. Karl Jentſch. 


vi | 


Rosmifche Wanderungen. 


ee der auf das neunzehnte Jahrhundert zurüdblidt, muß bie Geftalt 
” bes Philofophen aus dem Rofenthal, Fechners, feſſeln wie faum eine 
zweite. Alles ift in ihr, was in dem vollendeten Wogenliede dieſes Fahr 
hunderts zufammenklingt: das grenzenlos, fternenweit vergrößerte Wiflen umb 
bie grenzenlofe Sehnfucht, die zwifchen all diefen Firfternfonnen und Aeonen 
auf ihrer ſchwarzen Erbe liegt und fingt: Was bin ih? Was bin ich, ber 
ich auf diefen fchimmernden Aeonen heraufihwimme, wenn ich morgen Hin: 
abftürze in die ewig fternenloje Nacht der Vernichtung? Was find diefe ſtrah⸗ 
lenden Lichtpunfte da oben am Firmament, wenn ich allein eine Seele habe, 
während durch diefe Billionen Meilen des Raumes nichts rinnt als inner 
fich tote Kraft? Was bift Du, mein Mitmenſch, den ich Liebe, ber mein 
Nächſter fein foll, was bift Du, wenn zwijchen uns felbft die Grabeshülle, 
Grabesſchwärze einer feelenlofen Körperwelt fich fchiebt? Meine Lippe preft 
fih im brennenden Kuß auf Deine, — und zwifchen Lippe und Kippe Tiegt 
biefer ganze jchmweigende Raum mit al feinen Milliarden ftarrer Sternen 
augen, die nicht fehen können . . . Wer diefe Stunde des Ringens mit fi 
felbft nicht erlebt hat, kann freilich Fechner nicht begreifen." Diefe We 

Bölfches, die er dem Andenken des faft vergefenen großen Natırrforfche 

wor Jahren widmete, laſſen und Mar die Leerheit ber gewöhnlichen Schl 

wörter erfennen, mit denen wir bie geiftige Bedeutung großer Dlänner | 

greifen zu können vermeinen, die Hinfälligfeit der üblichen Kategorien, d 

vielleicht bequeme Schemata für den trodenen Verſtand fein mögen, aber nid 





Kosmiſche Wanderungen. 219 


entfernt den wahren, zeugenden Lebensgehalt der been erfaflen. Ein folder, 
mit elementarer Expanſivkraft wirkender Gedanke war die Heberzeugung von 
der organischen Entwidelung alles Wirklichen: er hat denn auch unfere ganze 
geiftige Kultur, unfere gefammte Wiffenfhaft von Grund aus unigeftaltet. 
Selbſt Fechner, der unter ganz anderen Anfchauungen erwachfen war, kann 
fich, wie er felbft bekennt, diefer magnetifchen Berührung nicht entziehen und 
wählte feinen Standpunft nah bei Darwin. Was befagen da noch die alten 
Rubriken: Materialismus und Idealismus? Kommt nicht Alles darauf an, 
was ich unter diefen emigem Wechjel unterworfenen Begriffen verfiehe? Wenn 
Zone, jedenfall ein unverbächtiger Zeuge, offen erklärte, die Materie fei ihm 
nur begreiflich als Wiederſchein eines inneren geiftigen Lebens: wie viel fehlte 
noch daran, daß, als die Schranken des Dualismus gefallen waren, in moniftifcher 
Auffaflung Natur und Geift als wefentlich identifch erfchienen, nur verſchieden 
vielleicht in ihren Formen, in ihrer Entfaltung, mindeſtens für den perjön- 
lihen Standpunkt des einzelnen Menfchen? Je mehr die Unklarheiten und 
Ueberfhmwänglichkeiten der anfangs vielleicht allzu enthufigftifchen Stimmung 
einer ruhigeren, tiefer eindringenden Prüfung Platz machen, um fo fefter wird 
der Glaube an die untheilbare Einheit alle Werdend und Gefchehens. 
Eins der gebräuchlichften und bequemſten Schemata, mit denen wir 
die Wahrheit der Wirklichkeit fälfchen, it die befannte Gegenüberftellung der 
mechanifchen, ſtreng gefegmäßigen, empirifchen und der animiftifhen, mit 
Wundern und plöglichen unvermittelten Eingriffen in den Naturlauf ver: 
trauensjelig rechnenden religiös-mythologiſchen Weltanfhauung. Dieſe zeige 
fich befonders anfchaulich bei den Naturvölfern, in der Auffaſſung efftatifcher 
Berfünlichkeiten oder ganzer Zeitalter. Jene fei das untrügliche Kennzeichen 
Earer, nüchterner Forfchung, die mit diefen Spuf unmündiger Generationen 
gründlich aufräume. Das Klingt bis zu einem gewiffen Punkt ganz plaufibel; 
rihtig und erfreulich zugleich ift die Befeitigung aller nachweisbaren Irr— 
thümer durch die Wiffenfchaft; und in diefem Sinn mag der alte, oft miß— 
veritandene Spruch des Lufrez immerhin heute noch gelten: Tantum religio 
potuit suadere malorum. Über falfch, grundfalfch und verderblid ijt der 
Wahn, daß der Michanismus das große Räthſel des Daſeins endgiltig zu 
löfen vermöge. Das Hat das Icharfe Auge Bölſches richtig erkannt, der des— 
halb auch ingrimmig gegen das ftolze und hohle Wort „jelbitverjtändlich* 
fämpft, das die Gedanken nivellire, wie der diluviale Sand das Geſteins— 
profil der Mark. Was wollt hr denn, ruft er zornig aus,*) mit dem 
Selbitverftändlihen? „Dieſes Eclbjtverftändliche ift ja das große Wunder 
unferer Zeit, da8 Wunder aller Wunder. Nicht, daß myftiihe Blumen im 





*) Yon Sonnen und Sonnenjtänbchen. Georg Bondi, Berlin 1903. 


17 


220 - Die Zukunft. 


dunklen Kabinet aus den Lüften regnen, ift da8 wahre Wunder für den editen 
Ofterfucher von heute, ſondern daß überhaupt auch nur die fehlichteite Blume 
nach fchlichteftem Naturzufammenhang aus dem Erdboden wächſt. Nur eine 
Rettung giebt «8, daß unfere Sehnſucht den großen Oſterpfad wieberfindet 
durch unfer fternenweit gebehntes modernes Wiſſen. Wir müffen uns wieder 
darauf befinnen, wie wunderbar das Natürliche felbft ift, als Natürliche. 
Ich will ihm nichts fortnehmen im ftrengften Naturforſcherſinn; ich wil 
es nirgends durchbrechen. ber gerade biefe abjolute, in ſich gefchlofiene, 
durch und durch einheitliche Natur ift mir dann aud wieder das hödft 
Wunder. Was für ein unfagbar Geheimnigvolles ift diefe ‚Gefeßmäßigfeit‘ 
alles Geſchehens? Warum ift die Welt nicht wirflih ein Haufe regellos 
ftäubender Atome? Im Grunde fehon: welches Wunder ift e8, daß über: 
baupt Etwas ift! Und dann, da uns dieſes erfte Wunder immer wieber wie 
ein Auferftehungmorgen gefchenft ift, das zweite, nicht minder große, daß es 
Berfchiedenes giebt. Immer, wohin wir finnen und forſchen mögen, bewegt 
ung dieſes dunkle Ahnen, daß Alles in einem ewig Einen ſchwimmt, eine 
tieffte kosmiſche Einheit bildet. Und doch ift dieſes Eine auseinander ge 
fpannt zu dem unendlichen Majaſchleier des Bielfältigen. Nicht nur Sonn, 
fondern auch See, der fie fpiegelt. Und am Eee diefes liebliche Blumen 
auge, eine Individualität, wie ich. Und ich felbft, in befien Oftern fuchendem 
Auge noch wieder das Alles ſchwimmt.“ Das mag Manchem, dem für bie 
legte, höchfte Problem der Sinn fehlt, ſchwärmeriſch vorlommen, myftild, 
wie man es wohl in thörichter Ueberlegenheit faft mitleidig nennt, und es if 
trogdem ber Treffpunkt, wo alle Weltweifen aus allen Zonen und Bölfer, 
trog allen ethnographiſchen und Fulturgefchichtlichen Verfchiebenheiten, einander 
begegnen. Gerade unfere moderne Wiffenfhaft, die uns durch ſchaͤrfft 
Analyfe, wie Max Müller einmal fagt, begreifen lehrt, wie natürlich, mt 
organıfh entfaltet das Uchernatürlihe, die Entftehung von außerweltlichen 
ES piegelungen, fei, darf in ihrem eigenen Intereffe nicht gleichgiltig an dieſer 
Tundamentalvorausfegung alles Denkens und Erfennens vorübergehen. Thut 
fie «8, fo läßt fie SEopf und Herz falt und zwingt Viele, ſich außerhalb dieſer 
Haren Erfenntnißfphäre in Dogmen, bie ihnen ein sacrificio dell intellett 
auferlegen, Rath und Troft zu holen. Doch auch das Schaufpiel, für dad 
der blöde, ſelbſt nicht duch die fchärfiten Inftrumente genügend erleuchtet 
Blick des Menſchen ausreicht, auch die Rundſicht auf die Zergliederung in die 
urfprünglichen, einfachen Elemente und Keime alles Werdens nöthigt und zu det 
ſtummen Verehrung, von der als der Weisheit letztem Schluß alle wahrhaft großen 
Scher, Weifen und Dichter von je her redeten. Wer durfte ſich als ehrlicher 
Forfcher, im volliten Bejig aller wiſſenſchaftlichen Hilfsmittel, je des Glauben? 
vermeflen, er fenne das Leben? Wir wiſſen nicht, fagt Bölfche, wie © 











Kosmifhe Wanderungen. 221 


urſprünglich entſteht. Möglich wäre im Sinn ſolcher Betrachtungweiſe, daß 
es ſich unter Berhältniffen gebildet hat, die wir gar nicht kennen, da fie in 
Urtagen auf zonenfernen Sternen vielleicht nur einmal gegeben waren. Zu 
uns wäre das Leben erſt fpät, als längft fertiges Bazillustörnlein, herüber- 
gewandert. Oft, immer wieder famen folche fliegende Körnlein im Trocken⸗ 
heit und Kältefchlaf des Raumes zu und heran. Lange aber glühte bie 
Urerde gleih der Sonne; da hielt ſich nichts. Bis die Erdrinde fi auf 
hundert Grad etwa abgekühlt hatte: da konnte der erfte Bazillus gedeihen, 
wehrte ſich, änderte, entwidelte ji und umgrünte die Erde endlich als Wiefe 
und Wald. Freilich verfchiebt diefe geiftzeiche Hypothefe Bölſches das Räthfel 
nur um eine Station, da der urfprüngliche Entftehungherd hier ausgefchaltet 
ift. Und nicht minder offenherzig geiteht Bölfche, daß diefer erfte fragwürdige 
Bazillus ſchon im Keim die ganze fpätere Generationenreihe bis zum Menfchen 
bin,in fich getragen haben müſſe. Und da ftehen wir abermald vor einem 
Räthſel der Erkenntniß, das der Natur der Sache nah in alle Ewigkeit 
menfhliden Scharfiinnes fpotten wird, weil e8 ganz und gar jenfeit8 von 
tritifher Erfahrung liegt. Dagegen läßt fih wohl von diefem Anfaugspunft 
aus die weitere organische Beftaltung des Lebens beobachten, die verfchiedenen 
Formen der Individualität, der ſozialen Erfcheinungen in Thier⸗ und Pflangen- 
reich, der eigenthümlichen Symbiofe, des gemeinfchaftlien Haushaltes, den 
Pflanzen und Thiere auf gleiche Koften beftreiten. Endlich kann man auch noch, 
wie Bölfche fagt, die ganz wunderbare Zähigfeit, mit der ſich, felbit unter 
den ungünftigften Exiftenzbedingumgen, eine urfprüngliche zeugende Lebens⸗ 
traft hält, nachrveifen. Doch wir gelangen damit, wie ſchon bemerkt, nicht an des 
„Lebens Duelle“. Ich möchte dies Ariom, um ein etwas hochtrabendes 
Wort zu gebrauchen, noch durch einen anderen Hinweis erhärten. Bekannt⸗ 
Ti) hat die moderne vergleichende Rechtswiſſenſchaft auf ethnologifcher Baſis 
und mit ihr im Berein die Soziologie die völlige Nelativität (wefentlich 
durch die jeweiligen fozialen Berhältniffe und die ganze Kulturftufe bedingt) 
aller fittliden und rechtlichen Anfchauungen nachgewiefen; und doch kommt 
man nit um einen wichtigen Punkt herum: um das Zugeftändnig eines 
freilich ganz formalen Gefühles, je nach Lage der Dinge entjcheiden zu können, 
was Recht oder Unrecht ift. 

Der Zweifel an der Bedeutung des Mechanifchen läßt ſich auch nach 
der äfthetifchen Seite verwerthen. In der guten alten Zeit des Dualismus 
fonnte für die Kunſt der Schnitt haarſcharf zwifchen Menſch und Thier ge: 
zogen werden; und was fonft etwa an aufdringlichen, unbequemen Erfchei: 
nungen bei unferen Verwandten entdedt wurde, gehörte einfach, jo weit man 
3 überhaupt zuließ, in das Kapitel vom Inſtinkt. Je weniger man ſich über 
dieſes Räthſel Har wurde, um fo willfommener war folder Schlupfwintel, um 

17* 


222 | Die Zukunft. 


böswilligen VBerhören und Frageftellungen auszuweichen. Da kam bie Sturm: 
fluth Darwins und feiner Nachfolger, überall fielen die früheren Schranfen, 
nichts hielt mehr Stand, Alles fchien aufgelöft, feit die mikroſkopiſche, tu 
duftive Detailarbeit überall einfegte. Gewiß ift in diefer rafch erblühenden 
Thierpfychologie manche voreilige Hypotheſe entflanden, die dann bald in ihr 
wohlverdientes Grab ſank; aber der wiſſenſchaftliche Gewinn dieſer Unter: 
ſuchungen war trogbem beträdtlih. Man braucht nur an Ameifen und 
Bienen zu denken; da haben wir eine fehr reichhaltige Literatur, die aud) 
nach der äfthetifchen Eeite noch viel Material liefern wird. Was Fechner, 
zum Entfegen feiner ihn als Sonderling betrachtenden Zeitgenoffen, von emer 
Aeſthetik von unten ſagte, gewinnt jetzt an greifbarer Deutlichkeit. Ohne 
Zweifel, ruft uns Bölfche zu, ift die Natur auch unterhalb des Menſchen vol 
von Objelten, die unferem menfchlihen Sinne noch als volllommene fünf 
leriſche Leiſtung erfcheinen, die zweifellas Objekt der Lehre vom Schönen, ber 
Aefthetik, fein müffen. Man betrachte einen Schneeftiftall oder Bergkriſtal. 
Da ift die Anlage diefer Dinge ſchon im Anorganifchen, im fogenannten 
„Toten“. Nach geheimnigvollen Gefegen der Natur erfcheint eine rhythmiſche, 
eine harmonifche Anordnung der Stofftheilchen, die uns als „künſtleriſch', 
ala „Thon“ entzüdt, — fogar noch jenſeits der Grenze des fogenannten 
„Lebendigen*. Für den Laien hat allerdings die Frage immer das Haupt 
gewicht, ob diefe Geftalten nur rein „mechanifch“ oder ob fie durch einen be 
wußten fünftlerifchen Akt gefchaffen feien. Wenn er hört, daß diefe Föfllichen 
Stiefelftelette der Nadiolarien doch von lebenden Wefen geformt feien, 0 
neigt er dazu, noch an dieſe Weſen zu denfen. Beim Kriſtall aber erideint 
ihm Alles bereit3 als „mechanisch“. Wenn man nun aber die Gebilde felbf 
vergleicht, wen man die Aehnlichkeit zwiichen Kriftal und Radiolarienſchale 
erfennt und jich fagt, dar gerade das „Echöne“ in Beiden unverfennbar für 
unfer Auge das Gleiche ift, fo muß man ſchwankend werben, ob jene Unter: 
ſcheidung wirklich etwas Präzifes ausfagt. Bölfche läßt die Aeſthetil der 
Radiolarien in die Philoſophie münden; jedenfalls führt eine ununterbrocdent 
Linie von den Pflanzen über die Thiere zu den Menfchen, wo dann in 
thörichter Kontraſtirung Kunſt und Natur einander gegenübergeftellt werben 
Bolſches Werk bedarf feines Kobes; feine Efjays fprechen für fich ſelbſt. 
Wer den Verfafler fennt, wei aus Erfahrung, daß er eines wiffenfchaftli 
und zugleich eines kunſtleriſchen Genuſſes fider fein kann. Das Bel 
Bölſche it aber, dag er Probleme anzufalien und dem trägen Bildung, 
liter recht eindringliche Fragen zu ftellen verjteht. 
Bremen. Dr. Thomas Agelik 


Sr 








Drei alte Weiber von Berlin. 223 


Drei alte Weiber von Berlin. 


SS: alte Seilern machte in einer Laube ihres ſchönen Obftgartens den 
Kaffeetifch zurecht. Sie ftellte die Taffen und eine große Kaffeekruke auf 
den Tiſch und einen Teller voll Streußelkuchen daneben. Dann jeßte fie ſich 
in bie Zaube, fah in ihren Obitgarten hinaus und dachte, big die beiden anderen 
alten Weiber famen, über ihr Leben nad. Sie bohrte mit etwas zitternder Hand 
die Streußelkügelchen von den Kuchenſtücken und ftedte fie einzeln in den Mund. 
Nadı einem Weilchen bemerkte fie, daB dadurch auf einem Kuchen leere Stellen 
entitanden. Deshalb nahm fie von den anderen Stüden einzelne Kügelchen weg, 
legte fie jäuberlid auf die kahle Stelle, damit die Gäſte nichts merkten, und 
guckte ſich verjtoglen um, ob man fie nicht aus den Nachbargärten etwa beobadite. 

Sie ſchaute in ihren Obftgarten hinaus, wo die Kirſchen ſchon in rothen 
Glöckchen fommerlich reifend im Schatten der Blätter Hingen und einzelne Vögel 
noch zwiticherten. Sie empfand wieder einmal mit angenehmem Grufeln, daß 
fie nun Schon die zweite Hälfte der achtziger Lebensjahre hinter fi Hatte. Das 
war ihr Stolz. Und fie hoffte, neunzig und hundert erreichen zu können. Denn 
wenn fie auch ein Wenig mit der Hand zitterte beim Kuchennaſchen, jo war fie 
doch noch feit im Geilt, wie fie meinte, konnte der Portierfrau mit lauter 
Stimme, die man durch den ganzen Garten hörte, befehlen und die Miether 
ihre8 Haujes in Ordnung halten, jo daß die Frauen und Dienftmädden in 
trogener Sommerszeit nicht zu viel Waſſer aus der Wajjerleitung verjchwendeten, 
was ihr ein Gräuel war. 

Wie war doch das Leben jo fonderbar lang und kurz zugleich gewejen! 
Faſt jeit dreißig Jahren haufte fie bier im Vorort, als Villenbefigerin, die jelbit 
mit ein paar Zimmern im Gartenhäuschen fürliebnahm und vom Mieihertrag 
der Villa lebte. Offiziere, Künftler, Gefchäftsleute hatten da gewohnt und die 
ihönen Lauben des großen Gartens benugt, an Sonntagen mit gepußgten Damen 
und Kindern ihre Frühlingsfefte da gefeiert und Maibomlen getrunfen. Die 
waren gelommen und wieder ausgezogen, je nachdem Beruf und Schidjal es 
mit fi gebradt. Sie war jelbft jchon eine ältere Yrau gewejen, al$ ihr Mann 
nad) dem großen Sriege billig das Land kaufte und bie Billa baute; eine ſtarke 
Fünfzigerin, für die damals fchon die jhönen Beiten der Liebe und des Scherzes 
mit den Männern in weiter Ferne der Vergangenheit lagen. Und fie hatte 
doc die Männer immer gern gehabt und mit fiebenzig Jahren jogar noch ein- 
mal flüchtig ans Heirathen gedadt. Denn einſt, als die Leute noch in Alt- 
Berlin in engen Hofen und Batermördern gingen, war fie eine Iuftige Stellnerin 
gewejen, die nichts dagegen hatte, wenn ein fhmuder Soldat fie einmal beim 
Kinn nahm und in der Stehjeibelftube zwiſchen Bier und Rauch fih einen Kuß 
ftahl. Das Hatte fie immer gern gehabt. Und als fie in der Zeit, da „Unter 
den Linden” das Denkmal des Alten Fritz aufgerichtet wurde, eine chrbare 
Bierwirtdsgattin und Stehfeidelftubenbefigerin geworden war, jpäter aber aud) 
ein größeres Gafthaus mit ihrem Manne gehabt hatte, waren aud) viele mun— 
tere Gejellen mit netten, Iuftigen Mädchen in ihrem Schuße eingefehrt und fie 
hatte fih immer daran gefreut, daß die Männer jo hübjch mit den Mädchen 
umzugehen wußten. Das waren die Zeiten gemwejen, wo in Berlin gejchoflen 





224 Die Zutunft. 


wurde und die Leute vors Schloß zogen; um 1848. Und dann badite fie an 
Beiten, wo fie felbft eine große Krinoline getragen hatte und auf der. Friedrich 
ftraße allmählig größere Häufer entftanden und die alten großen Gärten dort 
immer mehr zugebaut und mit Hinterhäufern vollgeftopft wurden. Damals hatte 
fie ftch Schon an den König, den Dann ber Königin Luife, mit Wehmuth erw 
innert, weil er ein fo ſchmucker Mann geweſen war und ihr vom Pferde einen 
Blick zugeworfen hatte, als er einmal an ber Stehfeidelftube vorbeiritt. Und 
bann war fein älterer Sohn König geweſen; wonad dann die Zeiten Bismards 
famen. Sie hatte zwar immer gefagt, daß fie den Kaiſer Wilhelm überleben 
werde. Das war ja auch eingetroffen; daß aber Moltke und Bismard auf 
wegſchwinden follten, war ihr doc) nıım wie ein Traum geworden. hr Mann 
war geftorben, nachdem fie einige Jahre die Villa ſelbſt bewohnt und vermietbet 
hatten. Denn die Gaftwirthichaft in Berlin war ja gut gegangen umd jo fonnten 
fie fich die Billa gönnen. Ihre Kinder waren auch tot; nur Enkel und Urenkel⸗ 
finder lebten noch in Sadfen. Die konnte fie aber nicht recht leiden, denn fie 
jchrieben immer nur, wenn fie Geld brauchten, und konnten, wie fie meinte, ihren 
Tod nicht erwarten. Deshalb hatte fie jich vorgenommen, womöglich jo alt za 
werden, daß bie Enfel auch feinen rechten Genuß von der Erbjchaft hätten. Sie 
ließ die Villa, die ohnehin nur ſehr billig auf Spekulation gebaut wor, abſicht⸗ 
li) verfallen, um die Erbſchaft zu entwerthen. 

Einftweilen aber freute fie fid) an ihrem Garten und daran, daß jie ſich 
noch ans Jahr 1814 erinnern konnte, wo fie al3 feines Mädchen die Freiheit 
fämpfer in Berlin einzichen jah und jchon damals für diefe Schmuden Männer 
eine heimliche Sympathie fühlte. Indem fie ein paar Streußelfügelchen in den 
Mund fhob, empfand fie es zu diejen <fugenderinnerungen al3 einen wunder 
lien Gegenſatz, daß jegt nur nod) ganz alte Weiber zu ihr auf Bejuch kamen. 
Tie alten Männer konnte fie nicht leiden. Die fchienen ihr Alle zu kindiſch. Alle 
blicben eben dod) nur die alten Weiber... Da waren fie auch ſchon. Zwei ſehr 
alte Damen, unter großen altinodifhen Sonnenjdirmen und Hüten, deren Hut 
bänder fie unter dem Kinn aufgebunden trugen, da e3 ihnen von der Sommer. 
bie zu warm geworden war. Die Cine war die alte Witwe Beelig, eine 
behäbige, breitgebaute Frau von fehr herausforderndem Gefichtsausdrud, al 
wenn fie bereit wäre, Jeden, der ihr jemals zu widerſprechen wagte, fofort mit 
niederfchmetternden Verweiſen jeiner Sünden oder Fchler zu Boden zu jtreden. 
Sie trug ein leid von fchwarzer Halbſeide und einen ſchwarzen Spigenüber 
wurf. Ueber ihre Jugend wußte Niemand etwas Genaues; ſicher war nur, daß 
fie in den Sriegen von 1866 und 70 als Marketenderin mit im Felde geweſen 
war und ihr damaliger Mann durch Lieferungen viel Geld verdient hatte. Seit⸗ 
dem waren fie emporgefommen. Ihre Tochter war an einen höheren Staai® 
beanten verheiratet, der Sohn ein angefehener Buchhändler geworden. Der 
Mann war geftorben; und weil Mutter Beelitz aus ihrer Jugend noch mande 
anſtößige Manieren Hatte und jo derbe Reden führte, die ihrer zarter bejaiteten 
Todter und Schwiegertochter nicht recht gefielen, ſuchte fie licher die alte Seiler 
auf, die ihre Stallausdrüde ohne bejondere Mienenfpiele-gebuldig anhörte. 

Der andere Gaſt war das Fräulein Klaus. Das war ein außerordentlid 
langes, hageres Mädchen von fiebenzig Jahren, dem auf ber Oberlippe ein paor 





Drei: alte Weiber von Berlin. 235 


graue Barthaare hingen und das fein ſchneeweißes, noch immer volles Haar in 
- einem großen Neb trug, wie e3 vor vierzig Sahren Mode geweſen war. Fräulein 
Klaus war Elementarlehrerin in Berlin gewejen, aber ſchon feit zwanzig Jahren 
in einem nahen Stift für alte Lehrerinnen, wo fie fich eingelauft Hatte. Auch 
in einer Sterbefafle war fie, da fie einft geglaubt hatte, fie werde früh fterben. 
Das geſchah nicht; aber fie zahlte ihre Kleinen Scherflein weiter, die allmählich 
ein recht ſtattliches Guthaben ausmachten, jo daß fie einmal auf ein bejonders 
Ichönes Begräbniß erjter Klaffe vechnete. 

ALS der Kaffee der Frau Seiler die Gemüther ihrer alten Gartengäfte 
aufgefrifcht hatte, geſchah es, daß aus allerlei Yebenserinnerungen das Gefpräd 
fih auch auf das Alter der Einzelnen lenkte. Fräulein Klaus wurde gefragt, 
wie alt jie num wohl eigentlich fei. Das alte Fränlein nahm verfhämt einen 
Schluck Kaffee auf den Zuder, den fie ſchon im zahnlojen Munde fteden hatte 
und brachte ſchüchtern die Antwort hervor: „Fünfundſiebenzig, Tran Geilern; 
Sie können es glauben: erſt fünfundjiebenzig.‘ 

Die Seiler ſah die Mutter Beelig etwas enträftet an. Frau Beeliß 
zudte die Achſeln und legte die Arıne über dem Schoß in einander. „So eine 
Aufſchneiderei!“ jagte rau Seiler. 

Man muß nämlich wiſſen, dab Fräulein Klaus bie eigenthlimliche Uns 
gewohndeit Hatte, auf ihre alten Tage ftark zu lügen. Sie erzählte mandınal 
ganz verblüffende Geſchichten, die ihr paffirt jeien; daß fie, zum Beilpiel, im 
Stifsgarten einen ganz rothen Vogel gejehen, der wie eine Nachtigall gejungen 
habe, daß junge Männer vor ihrem Fenſter auf und ab promenirten und ihr 
briefliche Anträge machten, und dergleichen Berfänglichfeiten. Was aber ihr Alter 
anlangt, fo log fie ſtets. Sie hatte fchon in jüngeren Jahren den Grundjag 
gehabt, fich für älter auszugeben, als fie wirflid war. Ganz im Gegenſatz zu 
anderen weiblihen Weſen. Als fie ein junges Mädchen war, hatte fie nämlich 
einmal einen Bewerber gehabt, der fie Heirathen wollte. In einem Schäfer— 
fündchen hatte er fie gefragt, wie alt fie fei. Um ihn zu neden, Hatte fie ſich 
für Dreißig ausgegeben, während fie doch erjt fünfundzwanzig zählte. Er hatte 
ſich dadurd nicht abfchreden lafjen und fie hatte fich vorgenommen, um ihn zu 
belohnen, ihm in der Hochzeitnacht zu jagen, daß fie fünf Jahre jünger jei, wor 
mit fie ihm eine große, angenehme, beglüdende Ueberraſchung zu bereiten hofite. 
Uber es war niemals zu diejer glüclichen Offenbarung gelommen. Er war 
nicht lange vor der Hochzeit an der Schwindjud)t gejtorben und hatte nicht er: 
fahren, daß feine Braut jo viel jünger war. Seitdem gab fid) Fräulein Klaus 
ftet8 für älter aus und machte cın verichämtes Geficht dabei. 

„Kein, jo 'ne Auffchneiderei !‘ wiederholte ‚rau Seiler. Und nun rechnete 
fie dem Fräulein vor, daß fie ſelbſt Ichon ein fünfzehnjähriges Mädchen geweien 
fei, al3 die Klauſen drinnen in Berlin auf die Welt gebracht worden jei von 
einem Dienftmädcden, das nicht viel älter als fie, die Seilern, war. Und fie 
babe fie ja, da fie ein vaterlojes Wurm gewejen fei, jelbjt troden gelent; und 
nun wolle fie Hier in Gegenwart der Frau Beelig folche Lügen anfahren! „Wenn 
Sie mir damit näher kommen wollen, daß Sie fid) gleich fünf Jahre zulegen, dann 
verfennen Sie Ihre Stellung!” jagte Frau Seiler etwas bijjig, während jie mit 
zitternder Hand dem Fräulein friihen Kaffee einſchänkte. Sie ließ nicht uns 


226 Die Zukunft. 





deutlich merken, daß ſowohl die Beeliß wie die Klaus gegen fie mit ihren Tänt- 
undachtzig Jahren die reinen unmündigen Kinder feien. Das made ihr de 
Steiner nad), ſo alt zu werden und noch fo energiich und fröhlich zu fein. 

„Na,“ fagte Frau Beelig. „Ob wir nun fünf oder ſechs Fahre Alter werden, 
darauf kommt es bei uns alten Nachtlichtern auch nicht mehr an. Auslöſchen 
thun wir doc, und wenn wir meg find, jagen die Leute auch nur: Her Je! 
ift die alte Beeligen und die alte Seilern nun auch nit mehr?!” 

„Wahrhaftig“, rief auf einmal die Seiler, indem fie mit der Hand Luftig 
vor fih auf den Tiſch jchlug, „wenn ich einmal abgegangen bin, dann denken 
meine Enkel und Urenfel aud nur: Na, Gott fei dank, daß der alte Hader 
lump weg iſt! Und nicht einmal einen Kranz follen fie mir auf den Sarg legen, 
ben fie werben ihn doch nur von meinem Gelbe faufen. Ich möchte überhaupt 
willen, ob wir einen Kranz Eriegen. Fräulein Klaus Hat keinen Menſchen.“ 

„Ach, keinen einzigen“, fagte das Fräulein verfhämt und machte dabei 
ein Geſicht, als ſchäme fie ſich dieſer Lüge, während es doch eine Wahrheit war. 

Die alten Damen waren im Gedanken an den Tod immer Luftiger und 
übermüthiger geworden. Bon der Unjterblichfeit hielten alle Drei nichts, mie 
fich herausjtellte. „Was meinen Sie, Beeligen?‘ fragte die Seiler; „glauben Sie, 
dab Sie in den Himmel fommen werden?!” 

„J wo! Wat follte ih denn im Himmel anfangen? Ick würde mir 
geniren, bei meiner Korpulenz, Hinten mit langen Flügeln zu gehen! Und meinen 
feligen Dann, den möchte id) nun gar nicht wieder fehen mit fo lange Flüge 
bei feiner unterfegten Statur; er ift mir in der bloßen Erinnerung viel lieber!” 

„Na, Das iſt doch mal ein Wort!” fagte die Seiler. „Das können Zit 
mir glauben: wenn wir erft mal unter der Erde find mid und die Stlaufen 
nchmen die Würmer nicht mal mehr an, denn was foien fie mit fo einer alten 
Knochenſammlung maden? Aber ein Kranz hat das Bute, daB man denkt, was 
darunter liegt, wäre auch noch fo hübſch wie die rothen Rofen im Garten.” 

„Wiſſen Sie was?" ſagte die Beclig, indem fie vom Stuhle aufiprang: 
„wenn es denn chen fo eine Sade mit dem Sterben ift und Niemand red 
weiß, wozu man eigentlich jterben muß und die Verwandten, wenn man welche 
hat, auch nicht recht wiljen, wozu man tot iſt, fo jchlage ih vor, daß wir und 
gegenfeitig verpflichten, Jede einen Kranz zu ftiften fiir Diejenigen, bie zuerit 
von ung jterben, und dal wir aud) bei einanter mit zu Grabe gehen. Das iſt 
doch wenigſtens etwas Gewiſſes, daß man weiß: man bekommt von Der und 
Der den und den Kranz. Stirbt die Seilern zuerſt, fo bekommt fie von ım? 
beiden Anderen zwei Stränge; und jo weiter herum, Eine nach der Anderen. 
Das iſt auf Gegenjeitigfeit und Das hält immer beſſer.“ 

In jelbitgefeltertem Johannisbeerwein jtießen die Drei auf diefed 
fommen an, das fie treulich zu halten verjprachen. Sie tranfen ſogar nod |! 
zweites Öläschen, wovon ihre Gedanken nicht ganz Ear blieben. Als die be ! 
Gäſte ſich verabjchiedeten, fühlte die Seiler nod ein Bedürfniß, die Anderer 1! 
begleiten. Sie waren fehr aufgeräumt, und als fie in die nächſte Seitenjti ! 
bogen und am Sargınagazin bes Tiichlermeijters Ulrich vorbeifamen, blieben ' 
vor dem Fenſter mit den ſchwarzen und vergoldeten Särgen ftehen und lad ! 
darüber, daß man zuquterlet in cine ſolche Truhe geftedt werde wie ein 











Drei alte Weiber von Berlin. 227 


Muff in eine Muffihadtel. Die Klaus brauche wegen ihrer Länge Überhaupt 
noch ein Halbes Dieter mehr als andere Frauen, was bei den theuren Holzs 
preilen doch aud eine Rolle jpiele. Da Frau Seiler mit dem Tiſchler gut be- 
kannt war, traten die Drei zuleßt in den Laden und verſchworen fi, daß ihre 
Särge alle bei ihm beftellt werden follten; auch erzählten fie ihın ihr Abkommen, 
Damit er, jobald für Eine eine Sargbeftellung käme, die Anderen gleich auf- 
fordern fünne, Sränze zu bejorgen und beim Begräbniß ınitzugehen. Der Tifchler 
war auch ſchon ein Dann von jehzig Jahren und notirte die Wünfche der 
Damen mit Humor, da er fie jelbjt über eine fo bedenkliche Sache, wie nun ein: 
mal der Tod iſt, in fo guter Laune fand. Frau Beelig wollte den Sargdedel 
jteil anfteigend haben, um hochliegen zu können, da fie jonft immer zu ſchnarchen 
pflege; die Seiler wollte den Sarg auzgepolitert Haben, da fie, bei ihrem ftarfen 
Knochenbau, fi nicht gern wund Liegen wolle. So war des Spaßes fein Ende 

... Erft ein halbes Jahr mochte vergangen fein, ala eines Tages die 
Pförtnersfrau, die in der Dachwohnung bei Frau Seiler haufte, zu ihrer Wirthin 
geſtürzt fam und die Nachricht brachte, die alte Frau Beclig ſei plöglich ge- 
ttorben. Es ſei ein Herzichlag gefommen und da ſei fie auch ganz fanft um: 
gelunfen. Beim Tifchler Ulrich fei au ſchon der Sarg beitellt. 

Frau Seiler war nicht ſehr betroffen; fie meinte nur: „Du lieber Gott! 
Sie war ja erſt jechsundfiebenzig! Ich kann mir jeden Tag den Tod wünſchen 
und er thut doc, als ob ich gar nicht da wäre! Nun laufen Sie aber jchnell 
zum Gärtner und beitellen einen großen Kranz für die Beeligen und dann gehen 
Sie ind Stift zum Fräulein Klaus und bringen Sie ihr die Nachricht; denn 
fie muß aud) einen Kranz ftiften und mitgehen.“ 

„Was joll der Kranz denn koſten, rau Seiler?!" 

Die Alte ſchwieg einen Augenblid. Sie gab gar nicht gern viel Geld 
aus und dachte, drei Mark würden wohl genügen. Sie magte c3 aber nidıt 
auszuſprechen, weil die Bortierfrau dann ein Geficht machen Fünnte. Eine Weile 
dauerte der innerliche Kampf, dann aber ſagte fie äußerlich gauz mit der Würde 
einer feinen alten Dame: „Na, beftellen Sie etwa in der Höhe von zehn Mark; 
und er joll recht Schön werden. Wenn Sie aber zu Fräulein Klaus kommen, 
jo jagen Sie ihre nur, ich hätte zehn big zwölf Mark daran gewendet; da muß 
Die ja aud und fannn nicht zurüdjtehen, wenn ich einmal ſterbe.“ 

Sın Stillen aber dachte die Seilern, daß dem Fräulein Klaus die zehn 
Mark jehr ſauer würden und ihr Tafchengeld gleich auf vierzehn Tage mindefteng 
draufgehen müſſe. Das bereitete ihr eine Art von angenehmer Genugthuung. 
Denn fie fonnte die zehn Deark nicht leicht verſchmerzen. 

Am Begräbnißtage war Fräulein Klaus ganz gefnidt. Als der Sarg 
mit der feligen frau Beeliß in das Grab gelajjen wurde, weinte dag alte Fräu— 
fein jogar jehr ftark, denn fie hatte wirklich auch für zehn Mark beftellt, die jie 
fi abdarben mußte. Und es fiel ihr ein, daß, wenn die Frau Seiler vor ihr 
fterben follte, e3 fie Anftands halber doc) aud) wieder zehn Mark koſten würde; 
und die Seiler ging auf jehsundadtzig. Diele Empfindungen im Verein mit 
der rührenden Grabrede des Pfarrers wirkten jo auflöjend auf das Gemüth des 
alten Fräuleins, daß fie fih nur in einem Strom von Thränen erleichtern 
konnte. Die Seiler merkte dagegen, daß ſie gar nicht weinen konnte; ſie vers 


228 Die Zuhmft. 





ſuchte wieberholt, mit den Augen zu zwinkern, aber es kam nichts und jo konnte 
fie nur ein recht gottergebenes und frommes Geficht machen, wobei fie mit ihrem 
zahnlojen Unterkiefer hin und ber mumpelte. Als die Feierlichkeit beendet wer 
und die beiden alten Damen, nachdem fie ihre Kränze unter den anderen om 
Grabe geprüft und herausgefunden, heimgingen, fing frau Seiler an, ausw 
ſprechen, was ihr während der Herablafjung des Sarges eingefallen war: „Gott, 
fie war eine fo gute rau, die Berligen, eine recht gute Frau. Und man fonnte 
ihr auch gar nichts nachſagen! Rein gar nichts! Aber willen Sie, Fräulein: 
bereingelegt Hat fie uns Beide doch. Richtig Hereingelegt. Denn fie bat um 
ihre zwei Sränze weg! Uber wer gicht denn uns zwei Kränze? Wenn ich rım 
zunädjit dran komme, dann können Sie ja allein mit zu Grabe gehen. Aber die 
Beeliten? Die liegt ja num feft. Und, jehen Sie, gerade fie wars, bie ben 
Borfchlag mit den Kränzen machte!” 

In diefem Augenblid ging es auch Fräulein Klaus erft richtig auf, daß 
fie in der That das jchlechtere Gefchäft bei der Sache machten. Damals, in der 
Freude Über den finnreihen Einfall mit den Kränzen, hatten die alten Damen 
in einer gewiffen Bergeßlichkeit des Alters gar nicht daran gedacht, daß eine 
jolde Ehrung auf Gegenfeitigkeit nicht durchzuführen war und daß die zulept 
übrig Bleibende feinen Kranz von den Anderen erhalten fonnte. 

Nach einer langen Weile erft, nachdem Beide diefe zwingende innen 
Nothwendigkeit fih klar gemacht Hatten, fand Fräulein Klaus das Mort: „Na, 
zwiſchen uns, Frau Seiler, bleibt es trogdem beim Alten. Nicht wahr? Deshalb 
fricge ich doch von Ihnen meinen Kranz und Sie von mir, je nachdem?“ 

„Ra, denken Sie denn, ich werde mir Ihnen gegenüber lumpen laflen?” 
jagte Frau Seiler. „Wegen meiner können Sie ruhig fterben. Aber feien Sie 
ohne Sorge: diesmal muß ich nım zuerjt dran glauben!“ 

In den nächſten Tagen trafen die beiden alten Damen mehrmals am 
Grabe der Fran Beelig zuſammen. Beide kamen, um nachzuſehen, ob ihr 
Kränze nod) da ſeien und ſich gut gehalten hätten; thener genug waren fie je 
gewejen. Aber Keine ſprach darüber. Sie redeten nur von den guten Eigen 
Ihaften der jeligen Frau Beelitz. 

... Abermals mochte ein Jahr vergangen fein, als die alte Frau Seiler, 
die noch immer recht munter war, am Scaufenfter des Tiſchlermeiſters Ulrich 
vorbeiging. Der Meijter jtand in der Thür jeined Ladens und rief fie gleih 
an: „Na, Mutter Scilern, Sie kommen ja gerade regt! Sie haben aber 
wirflih Glück! Darauf jollten wir eigentlih Eins zuſammentrinken!“ 

„sa, wieſo denn, Herr Ulrich!“ 

„Na, wijien Sie es denn nicht? Die alte Klaus ift nun auch gejtorben. 
ben habe ich die Bejtellung auf den Sarg befommen. Die haben Sie nun 
aud) überlebt. So ein Glückskind wie Sie, findet man ja in ganz Berlin und 
Nororten nicht mehr, Mutter Seilern!“ 

Die Alte mußte ſich erſt ein Bisıhen von dem Schreden erholen. Dann 
aber jagte fie: „Na, habe ichs nicht immer gejagt? Sie war zeitlebens ſchwächlich. 
Es fehlte an Yebenstraft. Da konnte fies freilich nicht lange maden. Woran 
iſt jie denn fo ſchnell geſtorben? Ich habe doch gar feine Ahnung gehabt!” 

„Bott, es ijt eine Roulcaujtange beim Rorhangaufmaden herunterge 


Trei alte Weiber von Berlin. 22% 


fallen und ihr gerade auf ben Kopf; da hats wohl eine Gehirnerſchutterung ge⸗ 
geben; ſie war ſchon nach einer Stunde tot!“ 

„Und Unſereins kann nicht ſterben! Rein gar nicht! Das iſt eben die 
Lebenskraft! Bei ihr fehlte die Lebenskraft. Was wirds denn für ein Sarg?” 

Der Tiſchler berichtete, daß ein jeher ſchöner Sarg und aud das Be- 
gräbniß erfter Klaſſe bejtellt ei; die Frau Seiler würde in einer Eguipage 
nad dem Kirchhof fahren, denn das Fräulein habe faſt jo gut wie nichts hinter 
loflen, aber tüdhtig in eine Begräbnißkaſſe gezahlt und da könne er denn auch 
eine hübſche Rechnung maden. „Willen Sie was: fommen Sie mit, Frau 
Seilern! Darauf maden wir ung einen vergnügten Tag. Trinfen Sie mit! Sie 
können ja noch immer einen guten Stiebel vertragen!“ 

Die Alte lachte erit; dann aber fagte fie: „Na, weil ic) hier das Nachſehen 
babe und mir Steine nun einen Franz ftiften wird, darum: will ich es wenigftens 
ein Bischen feiern, daß ich noch auf der Welt bin mit meinen jiebenundadhtzig 
Sahren. Zuerſt muß ich ihr aber noch einen Sranz beitellen.” 

Der Meiſter zog einen Rod an, um auszugehen. Er war aud ſchon 
fange Witwer. Die alte Seiler hatte ihm in früheren Jahren Manches zuge- 
wendet und das alte Weib machte ihm Spaß, weil fie gar nicht fterben wollte. 
Sie gingen. Doch vorher traten fie in den nächſten Blumenladen, wo Frau Geiler, 
nad einigem Feilſchen, wirklich einen Kranz für zehn Mark für das tote Fräulein 
Klaus bejtellte, der einftweilen immer in die Teichenhalle geihafft werden jollte. 
Der Meifter wunderte ſich über den hohen Preis, fand es aber nett, daß die 
Alte ihre Freundin fo ehrte. Dann gingen fie zulammen weiter, fegten fich 
in einen fchönen Wirthsgarten und der Meiſter beitellte Bier; und da gerade 
Mittagszeit war, rieth er der Alten, fie jollte fi doch erft ein Süppden und 
dann einen Braten und vielleicht noch einen guten Nachtiſch beftellen. Frau 
Seiler that ſehr bedenklich, fand die Preiſe hoch und wollte nicht recht daran, 
da ihre Sparfamfeit ji in die Gefühle der Lebengluft mifchte. Da aber ftieß. 
der Meiſter mit jeinem Glaſe Biljener bei ihr an und fagte: „Ad, machen Sie 
feine Sefchichten, Frau Seiler! Profit! Auf hr neunzigftes Jahr! Wer weiß: 
Sie erleben noch hundert, wenn fie nur fich ordentlich ernähren. Und wegen 
der Preile machen Sie jih feine Sorgen. Das fommt mit auf die Sarg» 
rechnung. Es iſt Schon jo ein ſchöner Sarg beitellt, daß es auf ein paar Mark 
mehr oder weniger nicht anfommt; und beurtheilen kann fein Sachverſtändiger, 
ob ih das Holz fo oder fo nchme. Kommt alfo auf die Geſchäftsſpeſen.“ 

Nun wurde Dlutter Seiler luſtig. Auf Geſchäftsſpeſen mitzueflen: Das war 
eine andere Sache. Sie beitellte fih eine gute Suppe, als Noreifen ein halbes 

- Dubend Anjtern und einen Braten. Sie lich es fih munden und freute fich, 
daß es ihr bei ihrem Alter jo gut ſchmecke. Mit dem Meiſter erzählte fie fi 
Geſchichten aus Altberlin; feine Erinnerungen reichten freilich nicht jo weit zurück; 
fie Hatte immer noc fjünfundzwanzig Jahre voraus. Sie erzählte vom alten 
Hindeldey und von Slasbrenners Boffen und vom Stralauer Fiſchzug, den der 
längft vergefjene Aultus von Voß bejchrieben hatte. In ihrer Gaftwirthichaft 
war auch der alte Ludwig Devrient geweſen und von Döring und Seydelmann 
wußte fie. Mit jolden Erinnerungen ging das Eſſen gut hin. 

Dann fragte jie auf einmal: „Na, jagen Sie mal, Meiſter, für wie viel 
babe ich denn nun verzehrt?” 


230 Die Zukunft. 


Der Tijchler wollte erft al& feinfühliger Mann nicht ınit der Sprade 
Heraus. Endlich gejtand er, daß fie etwa für fünf Mark verzehrt habe. z: 
lächelte fie fchlau, daB ihre alte Naje ganz fpib davon wurde, und fagte: „Ert 
fünf? Na, Meijter, da müſſen wir auch nod, weils bod auf Sargkoſten geb: 
ein Fläſchchen Champagner zufammen trinten; für zehn Darf. Wenn id dir 
Hälfte mittrinte, jo fommen auf mid) fünf Darf heraus. Das macht im Ganzt: 
zehn. Na, und für zehn Mark darf ih ja, denn da...“ Sie wollte weite 
reden, unterdrüdte aber die Schlußworte „Ichinde ich wenigitens den Kranz wieder 
heraus“. Es ſchien ihr feiner, e8 lieber nicht zu fagen und als geheimnißvoll 
Genugthuung für fich zu behalten. Und fo geſchah ed. Der Meeiſter bejtelt: 
wirklid Champagner, der Mutter Seiler jehr gut befam. 

Zwei Tage danach wurde das alte Fräulein begraben. Frau Seiler x 
ihr beites Stleid an, das ſchwarzſeidene, und fuhr in der Equipage nad dein Friet 
hof. Beim Begräbniß Stand fie neben dem Zijchler, der einen ſehr fchönen Sur 
geliefert Hatte. Auch bewunderte man den großen, reihen Franz von Frat 
" Seiler. Sie nahm die Komplimente mit wahrhaft antiter Würbe entgegen. Cm: 
am Grabe hatte fie eine Eleine unangenehme Empfindung: Da wurde nämlıd 
für das tote Fräulein ein allerdings beicheidener Kranz niedergelegt: „auf An 
ordnung und im Namen der feligen Frau Beelig". Da deren Spinterbliebene 
verzogen waren, hatte der Friedhofswächter den Auftrag ausgeführt, der von dr 
Berftorbenen in richtiger Auffajjung des Abkommens nocd bei Lebzeiten ertheit 
worden war. Hierin lag aber für Frau Seiler eine Kleine Beihämung. Sie 
fagte zu dem Tiſchler am Kirchhofsausgang: „Die Beelig wollte aud imme 
etwas Belonderes haben! Da renommirt jie nun noch nad dem Tode, al: 
wenns ihr auf jo eim paar Kränze nicht weiter ankäme!“ 

Der Meifter fagte: „Gehen Sie Acht, Frau Seiler! Für Sie hat fe 
aud) einen noch bei Yebzeiten bejtellt. Sie find ein Glüdsfind! Denn da fommen 
‚ Sie mit Ihrem Kranz auch noch heraus! 

„Na, dann wäre cs ja was Anderes! meinte die Alte, fichtlich beſſer 
geſtimmt. 

... Erſt fünf Jahre fpäter iſt auch noch die alte Seiler geſtorben. Kur 
nach dem Tode des Fräuleins war ſie auf ihrer Gartentreppe gefallen und hartt 
fid) beide Schenfelfnodhen gebroden. Und das Wunder war geichehen, daß fit 
nad zwei Jahren an Krücken wieder in ihren Garten herauskonnte und fid an 
den Blumen und den reifenden Kirſchen und den Finken erfreute. Sogar den 
Kukuk hörte fie zur Maienzeit von Lichterfelde herüber ſchlagen. Ihr Haus abtr 
ließ jie immer mehr verfallen. Sie gönnte es den Enkeln nun einmal nidt. 
Sie jollten gar nichts von der Erbichaft, höchſtens noch Koften von dem Fans 
Haben. Eines Tages aber lag jie doch tot im Bett. Das Herz hatte nV * 
ſchwäche jtill gejtanden und jie hatte keine Ahnung gehabt, daß fie fterbeny . 

Auf ihren Grabe lagen zwei Kränze. Der eine war abermals im N: Mm 
der Frau Beeiiß gefommen. Der andere wurde im Namen bes verblid en 
Fräuleins Nlaus vom Tiſchlermeiſter Ulrich niedergelegt. Diejen Kranz Ha « 
Tijhlermeifter auf die Nojten des Sarges für die Seiler verrechnet; er db % 
damit ganz im Sinne des feligen ‚zräuleins Klaus zu handeln. 

Steglig. R Wolfgang Kirchb 


Napoleon in Kaffe. 231 
Napoleon in Jaffa. 


St Profeflor Dr. Julius von Pflugk Harttung veröffentlichte kürzlich in 
SD: der „Zukunft“ einen Aufiag über „Amoraliſche Kriegsgeſchichte“, der eine 
jeltfame Miihung von hiftorifcher Polemik, Bußpredigt und richterlihem Urtheil, 
über Napoleon bot. Die Kritil, die der Herr Profeſſor an jeinem hiftorto» 
grapbifchen Stollegen Roloff übt, mag der Angegriffene jelbft zurlidweifen. Auch mit 
der Bußpredigt, die der Herr Profeflor der entfittlichten „modernen Geſchicht⸗ 
Ichreibung” in düſterem Prophetenton zu halten ſich nicht entbrecden kann, mögen bie 
abgefanzelten armen Sünder ſich jelber auseinanderjeßen, fei es nun, daß fie 
demüthig zerfniricht ihre Neue befunden oder ihren früheren bafeler Kollegen 
an das edle Heilandswort vom Zöllner und Phariſäer „mildiglich“ erinnern. 
Dod wenn der Herr Profejjor fich auf den Richterftuhl ſchwingt und den großen 
Napoleon in ſummariſchem Verfahren des „Mordes“ jchuldig Spricht, um feinem 
falburgvollen Zorn gegen die Vertheidiger dieſes Mannes (und damit die 
„moraliſch abgeſtumpfte“ moderne Geſchichtauffaſſung überhaupt) ein bejonders 
prägnantes Beijpiel und interefjantes Nelief zu bieten, dann iſt e8 ein Gebot 
der Gerechtigkeit, dem Herrn Profeilor ein Wenig das Gewiſſen zu ſchärfen, ihn 
daran zu erinnern, daß er enticheidende Umftände, die Napoleon zur völfers 

rchtligen Begründung des ‚Mordes‘ anführen konnte, dem Publikum verjchweigt 
und jomit das aud im hiſtoriographiſchen uftizverfahren analog anzumendende 

Wort: Audiatur et altera pars! gröblich verlegt. Doppelt liegt diefe Pflicht der 

Gerechtigkeit Denen ob, die in Napoleon (den „Ichlauen Korſen“ nennt ihn der 

Herr Profeflor) den größten Mann verehren, den die europäifche Menjchheit 

hervorgebracht Hat, und zugleich einen wahrhaft von Bott gejandten Mann, ein 

Werkzeug in feiner Hand, geeignet zur Qäuterung, Erziehung und Fortbildung 

der Menſchheit zu dem von Bott gewollten Endziele hin, fie reinigend, wie der 

Blitz die Luft, und fie befruchtend, wie cin Strom Segen jpendenden Regens, 

den Gott über Europa nad) langer Dürre herniedergehen lich. 

Napoleon hat auf feinem egyptiſch ſyriſchen Feldzug in Jaffa einen „Mord“ 
begangen. Nicht einen Ginzelmord wie den „Mord“ des Herzogs von Enghien 
(jo wird diefer gerechte Aft der Nothwehr unjeren preußiich-deutichen Schulfindern 
ja noch immer dargeftellt). Nein: einen Dlajjenmord, der den von Thomas in 
Bremerhaven beabjichtigten zehnfach übertrifft. Napoleon bat dreitaufend Kriegs— 
gefangene „wie Raubthiere mit dem Bajonnet erinorden laſſen“: fo verfiindet 
fein Richter, Profeſſor Dr. Julius von Bflugf-Darttung. Den von Napoleon 
angeführten Grund, daß er die dreitaufend Gefangenen aus Mangel an PBroviant 
nit ernähren und aus Mangel an Truppen nicht überwachen konnte, läßt der . 

ichter. Brofeffor nicht gelten. Napoleon ift ein VDiörder. Uber wenn unjer 
rofejjor ji) in dem Amte des Kichters gefällt, der dem großen Mann das 
zerdikt: „Schuldig des Maſſenmordes!“ ſpricht und ihn mit jtählernem Schreib— 
ihwerte köpft, muß er ſich auch gefallen lajien, zu hören, daß jein Urtheil vor 
wahrhaft gerechten Richtern als ein biltoriographilcher Juſtizmord, wenn auch glüce 
ſicher Weiſe nur mit Stahlfeder und Papier verübt, fich darjtellt. 

tapoleon Hat die Thatſache der Tötung der Befangenen (die Angaben 

manten zwiſchen 2000 und 4000) jtets freimüthig zugeltanden; nur bejtritt 


232 Die Zukunft. 


er, daß es mehrere Taufend gewefen fein. Walter Scott (Life of Napoleon 
Bonaparte, vol. II, p. 228) berichtet, auf Sankt Helena habe ber Kaiſer zu 
dem Dr. O'Meara (feinem Leibarzt) gejagt, er babe ımı 1200 Gefangene en 
Schießen laffen. Doch ob 1200 oder dreimal 1200: die grundſätzliche Frage 
nach ber Berechtigung dieſes kriegsrechtlichen Altes wird von der Zahl ber Ge 
töteten nicht berührt. Drei Gründe führte Napoleon zur Rechtfertigung jene 
That an. Nur der dritte Grund wird von unferem Nidter-Profeflor erwähnt 
Der erfte Grund. Nicht nur Walter Scott, dem bei allem edlen Streben 
nad) Gerechtigleit ein gewilled Vorurteil gegen ben „General Bonaparte in 
feiner umfangreichen, fünf Bände faffenden Biographie überall tiefes Mißtraner 
gegen Napoleon eingiebt: auch franzöfiiche Geſchichtſchreiber der Reſtaurationzei 
müffen zugeben, daß die Bejagung von Jaffa einen Brud des Völkerrechtes ver 
Abt Hatte, wie ex fchwerer faum denkbar ift. „Bonaparte fandte an den Kom 
mandanten einen Barlamentär, um ihn aufzufordern, fich zu ergeben. Der aba 
ließ dem Gefandten, ftatt aller Antwort, den Topf abſchlagen.“ (Arnault, Leben 
Napoleons.) Scott fucht die Berechtigung diefes erſten Grundes durch folgende 
Worte zu entfräften: „If the Turkish governor bad behaved like a bar 
barian, for which his country, and the religion, which his country, and 
the religion (!), which Napoleon meditated to embrace (!), might be some 
excuse, the French general had avenged hinself by the storm and plunder 
of the town with which his revenge ought in all reason, to have been safis- 
fied.“ Scott, ber feine Befangenheit durch da8 Nachplappern der albernen Vei⸗ 
dädhtigung, Napoleon habe Mohamedaner werden wollen, hinlänglich dokumen. 
tirt, muß dennoch einräumen, daß der Feldherr gegen „Barbaren“ zu kämpfen 
Batte, die ihm gerechten Grund zu „Reprefjalten‘ Soten. Wenn er aber meint, 
daß das Recht der Repreffalien mit der Erftürmung und Plünderung der Stadt 
erihöpft geweſen fei, fo verfennt er die Schwere des gegen Napoleon begangenen 
Verbrechens, den Umfang des Repreifalienrechtes und vor Allem das Gewicht bei 
Umjtandes, daß es ſich um einen Krieg gegen Barbaren handelte. Selbft ein ſo 
milder Dann wie Bluntſchli Hat achtzig Jahre nah Jaffa das Repreffalientcd! 
der Tötung von Kriegsgefangenen anerkannt („Das Vöolkerrecht der civilifitter 
Staaten.*). Qualifizirend kommt aber noch hinzu, daß im Kriege gegen „Barbaren 
nach unbejtrittener Theorie und Praxis die Friegsrechtlihen Normen des Kölle: Ä 
rechtes überhaupt nur gebrochene Wirkung haben. Die preußijch-deutiche Lrieg⸗ 
führung hat ſchon 1870/71 von dem Repreſſalienrecht einen fehr ausgiebigen Ge | 
brauch gemadjt. Und die Straferpeditionen, bie von deutichen Kolonialtruppen 
gegen „barbarijche* Negerſtämme in Oſt- und Weſtafrika durchgeführt worden 
find, waren wohl vielfach nicht minder rüdjihtlo8 als das Strafgericht, das Ra 
polcon wegen der Ermordung feines Parlamentärs über Jaffa werhängte. 
Der zweite Grund. Wapoleon verteidigte fein Verfahren ferner damit, 
daß die Gefangenen, die „die Beſatzung von El-Arifd) (einer Küftenfeftung ſüdlich 
von Jaffa) gebildet hatten, auf ihr Mort, im dieſem Feldzuge nicht weiter zu 
dienen, freigelaſſen worden waren, ſich aber jogleich wieder mit ben Türken Der 
einigt, die Befagung von Jaffa verftärft und dur ihren hartnädigen Wider 
ftand viele Franzoſen dag Leben gekojtet hätten.” (Laurent: Lebensgeſchichte des 
Kaiſers Napoleon.) Und Wachsmuth (,„Geſchichte Frankreichs im Revolutionzeit 





Napoleon in Jaffa. 233 


alter”, Theil von Heeren und Ulert, Europäifche Stantengefchichte), deſſen Feind⸗ 
ſchaft gegen Napoleon nur noch von dem napoleophobilchen Fanatismus des 
Kefuitenzöglings Lanfrey überboten werden Tann („eine Zeit der Gewalt“, die 
„Die Züge zur Begleitung hatte“, nennt er Konjulat und Kaiſerreich), muB troß« 
dem über Jaffa jagen: „Bon der Bejayung famen 3200 Mann als Gefangene 
in die Hand des Siegerd. Unter ihnen waren die auf Geldbniß entlafjenen 
1600 Dann der Befagung von El-Arifh. Der Wortbrud) diefer Leute lehrte, dab. 
auf eine Zufage der Muſelmanen nicht zu rechnen ſei.“ Wahsmuth berichtet 
dann die Schwierigkeiten der Ernährung und Ueberwachung der Gefangenen, deren 
Tötung ihm eine jo unausweichliche kriegsrechtliche Nothwendigkeit zu fein fcheint, 
daß er auch nicht ein einziges Wort des Tadels binzufügt. Und doch gehört 
er zu den bornirten Hiftorifern, die mit fchmetternden Phrajen verfünden, daß 
„Gewalt“ und „Lüge“ die beiden Säulen bes napoleonifchen Thrones geweſen 
feten. Daß in folden Fall mwortbrücdige Kriegsgefangene ihr Leben verwirft 
haben, ift feitftegende Hegel des Völkerrechtes jogar unter civilifirten Staaten: 
um wie viel ınehr gegenüber Barbaren, die damals nocd als gänzlich außerhalb 
des europätichen Völkerrechtes ftehend erachtet wurden. 

ALS dritter Grund kam zu dieſen beiden, ſchon allein ausreichenden Srünben 
noch Hinzu: die Unfähigkeit, die Sriegsgefangenen zu ernähren und zu bewachen. 
Daß in foldem Fall der Sieger das bittere Nothrecht Hat, die Kriegsgefangenen 
zu töten, nicht verpflichtet ift, fie zu entlafjen oder gar gegen fich felbit wieder 
loszulaffen (wie es, zum Beijpiel, die Buren im legten Kriege thaten, vielleicht 
aus Nitterlichkeit, vielleicht auch aus diplomatijcher Berechnung): Das ift herr- 
chende Theorie und Praris des Völferrechtes (Siehe: Lueders in Holtzendorffs 
Handbuch des Völkerrechtes IV, ©. 441; Heffter, Völkerrecht 8 128; Bluntidli, 
$ 580: „Wenn es der eigenen Sicherheit wegen unmöglich ift, fi mit Kriegs. 
gefangenen zu belaften“; gegen den völferrechtlihen Doktrinär, ber allein diejes 
Nothrecht beftreitet, ben Südamerilaner Calvo, wendet ſich QUueders, bei Holgen- 
dorff, mit berechtigter Schärfe: „Cs ift deshalb auch ganz unzuläſſig, wenn Calvo 
gegen die genannten Autoren von Erſtickung des driftliden Gefühls und der 
Stimme des Gewiſſens, von einem crime l&se-humanits und Rückfall in die 
Sitten der Wilden Innerafrikas jpridt.") Wenn Herr Profefjor von PBilugf- 
Harttung das Dajein dieſes Nothredtes im Stil eines mittelalterlichen In‘ 
quilitionrihterd mit den Worten leugnet: „Längſt iſt diefe von dein Schuldigen 
verbreitete Mär widerlegt“, jo erwartet man mit Spannung nun einige Details 
biefer Widerlegung; leider vergeblid. Pflugk-Harttung locutus est, causa finita 
est. Hören wir, was Laurent berichtet: „ALS der Chergeneral diefe Maſſe von Ge» 
fangenen erblidte, rief er in durchdringendem Ton: ‚Was jollich mit ihnen anfangen ? 
Habe ich Lebensmittel, fie zu ernähren, habe ich Fahrzeuge, fie nach Egypten au 
ihaffen? Was hat man mir da angethan?‘ Und wieder: ‚Was fol ih mit ihnen 
machen?““ Unſer Profeſſor vermeint, die Gründe durchſchaut zu haben, die den 
„Ihlauen Korſen“, den „gutmüthigen Napoleon“ veranlaßten, mehrere Tage mit 
der Erſchießung zu warten, den Sprud) feiner Generale einzuholen und zu über 
denken: „Er wollte die Berantwortung und mit ihr die üble Nachrede von jich ab» 
lenken.“ O diejer Feigling! Diefes ſchwächliche Bürſchchen Napoleon! Diefes ängſt— 
liche Frauenzimmer im Obergeneralsrock! Er, unter deſſen eiſerner Fauſt acht 


234 Die Zukunft 


Monate fpäter die ganze Mafchinerie der Direftorialregirung zufammenbrach wie 
ein Kartenhaus, vor deſſen Donnerworten wenige Jahre |päter einige Dutzend 
europäiicher Könige zitterten wie verbummelte Schuljungen vor den Strafreden eines 
ftrengen, aber gerechten Schulmeifters, — er hat bie Berantwortung für eine wichtige 
friegärechtlide Maßregel geſcheut! Dieſe Verdächtigung ift jo naiv, daß man fie 
faum ernſt nehmen fann. Hören wir, wie Laurent diele breitägige Wartefrift 
erklärt. „Er berathichlagte drei Tage lang über das Scidjal diefer Unglück⸗ 
lichen, in ber Hoffnung, das Meer und die Winde würden ihm Fahrzeuge zus 
fiihren, um ihn von feinen Gefangenen zu befreien, ohne Ströme Blutes ver» 
gießen zu müſſen. Aber das Murren der Urınce geftattete ihın nicht, eine Maß⸗ 
regel, die ihm ben größten Widerwillen einflößte, zu verjhieben. Der Befcht, 
die Gefangenen niederzuichießen, wurde am zehnten März gegeben.” So war 
die Stimmung und Gemüthsart dieſes „Mörders": einen aus dreifachen Grunde 
gebotenen Alt militärifcher Selbjterhaltung inmitten eines Barbarenlandes ver- 
ſchob er ſchweren, hoffenden Herzens noch drei Tage, che er ihn vollzog; und 
doch war es eine gebieteriiche Nothwendigkeit, die fi) eben jo wenig länger auf 
Ichteben ließ wie etwa das Bombardement von Paris im Januar 1871. 
Napoleon war ein Menſch und nichts Dienjchlicdes war ihm fremd. Er war, 
wie alle Menjhen, ein Sünder und hat viel gefündigt; er hatte Fehler und 
hat viel gefehlt, zumal in den Jahren 1812 bis 14, als er die Grenzen jet: er 
Macht nicht erkennen wollte, der Hybris mehr und mehr verfiel und in tragifcher 
Verblendung fi am erjten Januar 1814 bis zu den fein treues Volk ſchwer be 
leidigenden Worten fortreigen ließ: „Frankreich bedarf meiner mehr ald ich Frank⸗ 
reichs!“ Doc wenn faſt hundert Jahre nad) Xena, im Dentihland Wilhelms des 
Zweiten, das Andenken des großen Mannes beihimpft, wenn er als ein Maſſen 
mörder, al8 ein zweiter Attila, als ein Tſchengis Khan oder Tamerlan, als cz 
Gemiſch von Grauſamkeit, Defpotismus und korfiiher Schlauheit dargejtellt wirt, 
wenn er noch immer, wie es leider in ben fiebenziger und achtziger Jahren gejchah, 
der heranwachſenden Jugend als ein verteufelter, der Hölle entjtiegener und ihr 
wieder verfallener Bluthund vorgemalt wird, etwa fo, wie auf dem Höllenbitde 
des genialen, aber bizarren Meiſters im brifieler Muſée Wierg, wo Napolcon 
in der Hölle inmitten von Wuth und Nade Ichnaubenden alten und jungen 
Weibern, die ihre durch ihn gejtorbenen Männer, Söhne, Brüder von ihm 
zurüdfordern, vor dem Belchauer fteht, dann muß die Stimme der Geredtig- 
feit aus doppelten Gründen gegen die öffentliche Ausftellung folder Napoleon- 
Karikaturen Nerwahrung einlegen: im Intereſſe Napoleons und auch im Inter— 
ejle der deutschen Jugend. Gerade fie muß eindringlich vor dem zunehmenden Chauvi⸗ 
nismusgeiwarnt werden, der fich in der fteigenden Ueberſchätzung der eignen „Helden“ 
und Unterihägung der großen Männer anderer Völker befonders ſymptomatiſch 
offenbart, vor einer Bejchichtlehre, die auf der einen Seite den guten alten Rai, 
Wilhelm mit der Bloriole der Größe umgiebt, auf der anderen Seite aber c 
einen Bluthund und Maſſenmörder den Dann hinzuitellen wagt, den kommen, 
Generationen nidt in dunfel ſchwärmender Diyftik, fondern in klarer Erfenntnil 
und nücterner bijtoriicher Kritif als einen der größten Wohlthäter der Menſt 
heit würdigen umd verehren werden, als den politiich wirkſamſten europäiſch 
orläufer und Bahnbreder der mejjianischen Seit. 


£ 


Moritz be Konge. 


Gelbftanzeigen. 235 


Selbitanzeigen. 


Ausgewählte Fallland- Stiszen von Hermann Heijermans jr., Verlag 
von Bruno Feigenfpan, Pöhned. 2,80 Marf. 


Ungeregt durch eine Mittheilung des Heren Brofeflors J. Sittard vom 
„Hamburgiſchen Correſpondenten“, der mir vor einiger Zeit mittheilen ließ, daß 
er gern beffere holländifche Arbeiten in meiner Ueberjegung veröffentlichen würde, 
begann ich vor ungefähr fünf Jahren, mich in der holländiſchen Literatur, aus 
der mir bis dahin nur Multatuli genau befannt war, umzujehen. Da es fi) 
zunädjft um feuilletoniftilches Material handelte, griff ich nach ben Tagesblättern 
und fand gleih am nädften Sonnabend im Amfterdamer Allgemeen Handels- 
blad eine padende Skizze von S. Falkland, in ber Erfcheinung, Umgebung und 
Ideengang eines idiotijchen Kindes gejchildert wurden. Da ich jelbit öfters Ge- 
legenheit hatte, mich in das Seelenleben eines lleinen Idioten zu vertiefen, ergriff 
mid diefe Schilderung mit doppelter Gewalt. Ich bat Herru ©. Falkland, in 
dem ich den ftarfen Künftler erfannte, um die Autorifation zur Ueberſetzung. 
Als bald darauf Herr Hermann Heijermans jr. fie mir ertheilte, war ich wohl 
jehr erfreut, ahnte aber damals feineswegs, daß ſchon zwei Jahre fpäter ein 
Werk diejes holländiichen Dichters, das Drama: „Die Hoffnung‘, die europäifchen 
Bühnen erobern und feinen Verfaſſer mit einem Sclage zum erjten lebenden 
Dichter Hollands jtempeln würde. Denn damals waren außer feinen Noyellen 
„Zrinette” (in meiner Ueberſetzung bei S. Fiſcher, Berlin), „Ein Judenſtreich?“ 
(Wiener Verlag, Wien), „Intoͤrieurs“ (Bruno Feigenſpan, Pößneck) und dem 
Drama „Ghetto, das in Holland großen Beifall gefunden Hatte, noch feine 
bedeutenderen Werke von Heijermang befannt und die allmöchentlih vom Publikum 
gefpannt erwarteten Fallland- Skizzen brachte auch damals in Holland nod) 
Niemand mit feinem Namen in Verbindung. Das hat fih inzwiſchen geändert. 
Heute weiß man überall, wer Heijermans und wer Falkland ift. 


Hamburg Roſa Ruben. 
8 


Die Spekulation in Goldminenwerthen. F. E. Fehſenfeld, Freiburg i. B. 

Ungefähr 450 Millionen Mark guten deutſchen Geldes ſind in ſüdafrika— 
niſchen Minenwerthen angelegt und es iſt erſtaunlich, eine wie große Anzahl 
der rund 45000 in Goldminenwerthen ſpekulirenden Deutſchen wenig oder falſch 
über die wirklichen Verhältniſſe und Ausfichten der von ihnen erwählten Spiel: 
objefte unterrichtet iſt. Iſt e8 nicht eine traurige Ironie des Schickſales, daß ge« 
rade die Deutichen, die in der ganzen Welt wegen ihrer gejchäftlicdhen Tüchtig— 
feit bekannt find und die fich meilt mit Aufwand hoher Antelligenz ihr Vers 
mögen erworben haben, doch auch fo leicht beſtimmt werden, ihr jauer verdientes 
&eld in das große Loch zu werfen, das jchon jo viel Stapital verjchlungen Hat 
und noch verfchlingen wird, ohne auch nur ein einziges Goldkörnchen zurückzu— 
geben? Ich Habe mir deshalb in meinen Bud die Aufgabe gejtellt, meine 
leichtgläubigen und falfch unterrichteten Landsleute zu warnen, ehe es zu ſpät iſt, 
zu helfen, wo Hilfe noththut, und den Vetrogenen zu retten, was nod) zu retten ift. 


London. S. Gumpel. 
* 18 


236 Die Zukunft. 


Kritifhe Anmertungen zu Haeckels „Welträthſeln.“ Ein Kommentar 
für nachdenkliche Lehrer. Berlin, Stopnit. 50 Pfennige. 

Es ift ein gar leichtes Ding für den Speztaliften, ben Begriffsſpalter 
oder ben Kärrner philologifch-Hiftorifchen Materials, in einem Werk, das jo vide 
Gebiete menſchlicher Denlarbeit berührt, mit felbftgerehtem Handwerkerſtolz aui 
Fehler und Wiberfprüche in Einzelheiten hinzuweiſen. Aber damit ift Haedel 
nicht im Ganzen vernichtet. Die große Perjönlichkeit, die kraftvolle Stimmung, 
die aus dem Welträthſelbuch zu uns redet, ift überhaupt. nicht zu wiederlegen; 
da giebt es nur ein mißmuthiges Ablehnen oder ein freubiges Anerkennen. 
Haedel als Kämpfer für freie Wilfenfchaft und Lehre ift der Mann unſeres 
Herzens. Auf bem Boben freiften Denkens entfpinnt fi nun der Kampf um 
die höchften Fragen. Gegen bie bogmatifch-naturaliftiihe Stellung Haedels wird 
in leicht beweglichem ffeptifchen Geplänkel vorgegangen, wobei denn im Hand 
gemenge auch mancher Scharfe Hieb fält. Mit den Waffen aus der unerfchöpfligen 
Rüſtkammer bergroßen beutichen Philoſophen fuchte ich meinen eigenen Stanbpuntt, 
eine theiftifche Weltanfchauung, zu vertheidigen. Freilich: für den Katholikentag 
überhaupt für orthodoxes Kirchenthum ift in biefer Streitfchrift nichts zu holen. 

Charlottenburg. 5 Dr. Diaz Apel. 


Der Synodale. Eine faft wahre Geſchichte. Dresden-Bühlau, Verlag von 
Heinrih Minden. 

Eines Sommertages ſaß ih nad Tifh in meinem fühlen Zimmer und 
(a8 in der Zeitung von ben Verhandlungen einer Synode. Und alg ich an eine 
beftimmte Stelle gelommen war, faltete ih das Blatt zufammen und lädelte 
vor mich Hin. In dieſem Augenblid wurbe „Der Synodale“ geboren. int 
Sommernahmittagslaune ..... In der Synode hatte man nämlich beantrag!, 
die Staat3- und Stabtbehörden um Einſchränkung der ‚„‚VBartstd- Theater, Sing 
fpielballen und verwandter Lokale” zu bitten; einige Mitglieder der Synode hatten 
im Anſchluß daran gefagt, daß es bei den vorliegenden Anträgen doch an det 
genügenden Information, an ausreichender Begründung und Aufklärung fehlt 
und zulegt war man übereingefommen, „einen Bertreter zu ernennen, ber der 
Synode Bericht zu erftatten habe." An diefer Stelle hatte ich geläckelt. 34 
ftellte mir nämlich vor, wie fi wohl der gute Paftor Klemm aus Sandlage 
benehmen würde, wenn er ald Vertreter der Synode die Singfpielgallen und 
dann vielleicht auch die Lokale mit weiblicher Bedienung zu erfarfchen habe. Und 
allerlei abfonderlihe und Iuftige, doch auch zu ernftem Nachdenken anregende 
Bilder ftiegen vor mir auf. Ich begleitete Gotthold Klemm auf feinen Im 
fahrten durch das berliner Leben, jah ihn von Born, Zagen, Bweifel, Mitled, 
Verſtändniß und Efel erfaßt werden, fah ihn ftraucheln und faft fallen, aber 
auch fich wieder aufrichten und feine volle moralifche Haltung zurückgewinnen, 
fo ſehr, daß er fpäter alles Menſchliche, das ſich vor ihm und in ihm aufgethan, 
und alle Lehren, die biefer Einblid ihm gegeben Hatte, wieder vergaß . . . Die 
Wahrheit tft gleich einem Fiſch, der fi) wohl anfafjen, aber ſchwer fefthalter 
läßt. Ein Menſch, dem in allen Lebenslagen dies Feſthalten beſſer gelingt alt 
Botthold Klemm, mag ihn ſchelten. Ein Berftehender wird lächelnd verzeihen 

Zehlendorf. Felix Freiherr von Stenglin. 
° 





— 


Lotte. 287 


CKotte. 


5: macht mir Deine Eltern lieb und werth, 
Daß fie den Namen Lotte Dir gegeben, 
Den theuren Namen, der dte Geber ehrt 
Und der verpflichtet für das ganze Keben. 
Du bift fo fchön, fo abgeflärt und rein, 
Du fühlft die Pflichten gegen Deinen Namen 
Und fügft Dich ihm fo herzgefällig ein, 
Gleichwie ein Bild in feinen fchönen Rahmen. 
Drum duld’ es gern — wie ftill ich fonft auch bin —, 
Kann idys den Kippen manchmal nicht verfagen, 
Daß fie den holden Namen vor fi hin 
Und wärmeren Gefühls zu fprechen wagen . . 
Prag. hugo Salus. 


DR 
Nachwuchs. 


I: Winterfelbt junior, Geſchäftsinhaber der Handelsgefellichaft, ift in ber 
legten Beit ſehr oft genannt worden; vielleicht noch öfter, als ihm lieb 
ift. Er lehrte von einem der Ausflüge nad dem Dollarland zurüd, die nun 
einmal in die Mode gefommen find, weil ein Geſcheiter damit begann und bie 
Anderen nicht dümmer erſcheinen wollen als der Eine, und wurde plötzlich in 
dem Kreis der erftllaffigen Menſchen — ich denke an die Urwählerklaſſen, nicht 
an bie Progenitur des Heren Direktors Rudolf Koch — zum Helben des Tages. Die 
Börfe widmete ihm nach allen Regeln ihres Comments die Blume einer recht 
würzigen Hauffe in den Antheilen der Hanbelegejellihaft und die Beitungen 
ſchickten ihm Reporter ins Haus, um ihn „auszufragen“ ober, wie es, aus dem 
Voſſiſchen in verftändliches Deutſch übertragen, heißt: ihn zu interviewen. Hatte 
Herr Dr. Salomonfohn in feinem amerkaniſchen Reifebericht mehr bie kosmetiſche 
Seite der Sache betont, jo fonnte ſich Herr Winterfeldt junior an einigen ver⸗ 
blüffenden Gedanken wirthſchaftlichen Inhaltes um jo eher genligen laflen, als 
ja da8 Thatfächliche, das Über das moderne ökonomiſche Leben der Vereinigten 
Staaten zu jagen war, zu eben der felben Zeit in einem vortreffliden Buch 
aus Goldbergers Feder artig und lehrreich gefammelt erſchien. Durch einen 
diefer bahnbrechenden Gedanken, den der Interviewer Herrn Winterfeldt ablodte, 
wurde dem Lefer bie intereffante Neuigkeit vermittelt, die mißtrauifche Zurück⸗ 
haltung des amerikaniſchen Kapitals gegen heimifche Anlagen werbe bewirken, 
dag Amerika nächftens als Geldgeber in Europa ericheint; ſchon jeßt wiſſe man 
in Berlin von amerifanifchen Bewerbungen, deren Zwed fei, geeignete Unter⸗ 
lagen für Kapitalsanlagen zu ſchaffen. Sehr ſchön, mag der Reichsbankpräſident 
gemurmelt haben, als er dieſe erbauliche Kunde vernahm; ſchade nur, daß der 
junge Winterfeldt mit dem offenen Blid feine Sprittour nah Amerika nicht 
etwas früher machte: dann hätte ich vor meinem Jubiläum mir all Die Mühe ſparen 
können, bie es mich koſtete, den Metallſchatz in unferen Kellern durch Zuzüge aus 


18° 





238 Die Zukunft. 


London und Paris zu ftärken, um für alle Fälle gerüftet zu fein. Andere Leute, 
die nicht in der glüdlichen Lage find, die Eingebungen der Logik von Mebite- 
tionen über einen Metallſchatz zurückdrängen zu laſſen, werben fich gefragt haben, 
wie es denn fomme, daB die Hanbelsgejellihaft im Bunde mit der Darmitäbdter 
Bank einer amerifaniihen Bahn und einem amerifaniiden Bankhaus gerade 
in dem Augenblid Hilfe gewährt, da Amerika ſich anfhidt, Europa mit dem 
tleberfchuffe feiner verfügbaren Kapitalien jegensvoll zu befruchten. Als Hüter 
des Geldes der Handelsgefellfegaft tritt Herr Winterfeldt in die nem yorker Banl- 
firma Hallgarten ein. Wenn aber zutrifft, was er dem Interviewer offen 
bart bat, dann müßte viel eher ein Vertreter von Hallgarten Gejchäftsinhaber 
der Hanbelsgefellichaft werden. So ſpricht die Logit. Der junge Winterfeldt 
hat aber die richtige Witterung bewiefen. Logiſch Heißt Heute: Altväteriſch. Bor 
ausſetzung des Erfolges ift in unferen Tagen die Verkündung eines Unſinns, 
ber durch Graßheit ſelbſt den trägften Dickhäuter zum Widerfpruch reizt. So 
ift nun aus Winterfeldt junior eine Kapazität geworden. Doch — ad! — 
da padt er auch ſchon feine Koffer und kehrt uns den Rüden, um fortan in 
New-Nork zu wohnen. Und wir? Wir bleiben zurück und betrachten mit Web 
muth die Lücke, die fein Abgang in den Nachwuchs unferer Hochfinanz reißt. 
„Der Berluft ift wie ein Bliß, der verflärt, was er entzieht“. 

Hand aufs Herz, Herr Direktor Fürſtenberg: Warum laffen Sie Hans 
MWinterfeldt ziehen? Der Gefragte ſchweigt. Da fteht er vor uns, den Cylinder 
in die Stirn gedrüct, gefund und fräftig noch, aber auf dem alternden Geſicht 
einen ernften Zug. Baumeifter Solneß! Zittert er wirklich vor der jugend? 
Möglich wäre es. Als Herr Fürftenderg ben jungen Winterfeldt, ſogar, als 
er den durch viel ftärfere Leitung befannten jungen Rathenau zum Geſchäfts⸗ 
inhaber machte, meinten Viele, diefe Wahl habe den Zweck, bie fürſtenbergiſche 
Alleinherrichaft in der Handelsgeſellſchaft zu fihern; bie jüngeren Herren würden 
in der Hand des älteren nur Werkzeuge fein. Daß Herr Fürſtenberg auch den 
früheren Direftor der Allgemeinen Elektrizität Geſellſchaft jo gering eingeſchaͤßt 
habe, iſt nicht anzunehmen; er ſoll ſeiner Freude über dieſe Acquiſition oft unge⸗ 
mein lebhaften Ausdruck gegeben haben. Ob nun Herr Winterfeldt, Sohn 
feines Vaters, Pläne entworfen Bat, die den Meiſter durch ihren Herrſcherflug 
erſchreckten? Oder genügte dem Vielerfahrenen ſchon die Vorftelung ſolcher Mög 
lichkeit und ſchob er, Elüger als Solneß, einen Riegel vor, noch ehe bie Situation 
für alle Betheiligten fo peinlich wurde wie in Ibſens Drama, — den alten 
Brovif nicht zu vergeffen? In Meſſels Palaft, zwifcgen der Behren⸗ und det 
Franzöſiſchen Straße, werden dramatijche Konflikte freilich anders geldſt als 
auf der Bühne des Dentichen Theaters. Herr Fürſtenberg wird der Jugend, 
die an feine Thür Elopft, nicht den Gefallen thun, auf das Dad} feines B 
pueftraßenhanfes zu Klettern und von da aufs Pflaſter zu ftürzen, um It 
Bahn für den Nachwuchs frei zu machen. Sein Gewiflen ift etwas robu 
als das des Baumeiſters Solneß. Wäre Dem nicht die verrüdte Hilde War, 
über den Weg gelaufen, die feine Schwäche ſofort erfannte und auszunügen 
ſtand: er Härte e& vermuthlich auch Flüger angejtellt, um den aufftrebenden Rag 
der fih an feine Stelle jeßen wollte, loszuwerden. Sin Appell an den“ 
geiz de3 jungen Mannes hätte nach menjchlihem Ermeſſen hingereicht, u 











Nachwuchs. 239 


ſelbſt, der den Meiſter ſchon für abgethan hielt, auf die Spitze des Thurmes 
hinaufzuſchicken und dem Untergang zu weihen. Herr Fuürſtenberg entſendet den 
jungen Winterfeldt „in ehrenvoller Miſſion“ nach New⸗-York. Die Börfe inſzenirt 
eine Winterfeldt-Hauſſe und die ewig blinde Freihandelspreſſe behandelt den 
jungen Herrn wie eine Perſönlichkeit. Der alſo Gefeierte ahnt nichts Boͤſes und 
drüdt zum Abſchied dankbar bie Hand des Meifters, der ihm die berliner Direktor⸗ 
ftelle rejerbirt: nur das Amt, nicht die Würde foll dem Sceidenden genommen 
werden. Mehr kann Winterfeldt juntor wirklich nicht verlangen. Ich kann mir 
denfen, wie gerührt er war, als Fürſtenberg nach Ordnung des Wichtigſten zu 
ihm trat und ihn zum „Direftor & la suite meiner Handelsgefellichaft” er- 
nannte... AU Das tft natürlich nur Kombination. Vielleicht wird Herr Winter 
feldbt aus ganz anderen — doch nicht minder ehrenvollen — Gründen übers 
Waſſer geſchickt. Vielleicht ſchätzte ich den Charakter des Herrn Fürſtenberg zu 
hoch ein, als ich eine Seelenverwandtſchaft mit Halvard Solneß konſtruirte. 
Vielleicht den des jungen Winterfeldt zu gering, als ich annahm, er könne um 
äußeren Glanzes willen dem eigentlichen Ziel ſeines Strebens entſagen. Hans 
Winterfeldt iſt muthig. Dafür zeugen die Narben in ſeinem Geſicht; dafür 
zeugt auch das Interview über Amerika. Muth aber, Unerſchrockenheit iſt eine 
für den Beruf der Hochfinanz ſehr wichtige Eigenſchaft. Ein halber Direktor 
up to date iſt Hans Winterfeldt jetzt alſo mindeſtens ſchon. Wer weiß? Am 
Ende hat der Altmeiſter ihn nur zu den ſmarten Yankees geſandt, damit er dort 
auch die zweite Hälfte Deſſen erwerbe, was ein vollendeter Bankdirektor heut⸗ 
zutage braucht, um ganz auf der Höhe der Zeit zu ſtehen. (Siehe namentlich 
Dr. Salomonjohns Darftellung amerilanifcher Sitten, Kapitel über Schönheit- 
pflege und Wehnliches.) Dder Hans Winterfeldt geht, weil für Caeſar neben 
Pompejus fein Raum ift. Ich werde mich hüten, zu jagen, wer von den Beiden 
— Aung-Winterfeldt und Jung-Rathenau — bier Caefar und wer Pompejus tft. 

Der Leſer verzeihe mir, daß ich fo viel von Hans Winterfeldt |preche. Aber 
wer bie berliner Börje kennt, wird mir den Schmerz über das Entſchwinden 
diefed Mannes nachfühlen. Mit feiner Shmädtigen Geſtalt und feinem jugend- 
lichen Ausfehen ift gerade er der markantefte Vertreter des unferer Hocfinanz 
befchiedenen Nachwuchſes. Dan mußte ihn fehen, wenn er, hoher Verantiwor- 
tung voll, die Arme in die Hüften geitemmt, vorn auf dem erhöhten Podium 
in der Handelsgeſellſchaft Niſche ſtand und einem Makler nad dem anderen 
fouverainen Befcheid gab, mit Freunden Grüße und Dleinungen austaufchte, 
für Jeden ein williges Ohr, für Jeden ein MWeisheitkörnchen Hatte. So viel 
Rührigkeit, fo viel Jugendfriſche erwärmt. Wer bleibt jet noch? Die Börſe 
hofft, nad dem Abgang WinterfeldtS werde Herr Dr. Walther Rathenau endlich 
wieder aus feinem Zelt bervorfommen, das er faum noch verlaflen hat, feit man 
feinen „Smpreffionen” einen fo expreſſiven Empfang bereitete. Wird aber bieje 
Hoffnung fich erfüllen? ... Junges Blut ift dann auch noch bei einer von den 
alten Privatfirmen, die mit den Großbanken auf gleihem Fuß ftehen, und bei 
einer Aftienbant, die auf der linken Seite des Saales poftirt ift, in leitende 
Stellungen gebrungen. Ich nenne die Namen der Herren nicht, weil ich nicht 
anzunehmen vermag, fie lönnen eines Tages jo Hervorragendes leijten, daß es 
nöthig würde, in einer Geſchichte deutſcher Finanz ihrer zu gedenken. 


240 Die Zukunft. 


. | 
Im Allgemeinen ift leider mehr Repotismus als Nachwuchs fihtber. Ben 
ich von Nachwuchs rebe, meine ich ungewöhnlich begabte junge Leute, die ſich mitten 
in bem großen Organismus eines Banfinftitutes, ohne Rückſicht auf ihre Gebun 
und die pefuniäre Lage ihres Vaters, ſolche Geltung zu verfchaffen willen, da 
fie von Stufe zu Stufe aufräden, bis zur höchſten hinauf, und zwar mit de 
beichleunigten Geſchwindigkeit, die unfere Zeit ber unaufhörlich einander über 
bietenden Rekords ermöglicht und von der Auslefe fordert. Warum fehlt um 
diefer Nachwuchs? Line ausführliche Beantwortung ber frage würde viel Zeit 
koften; nureine Nebenurfache will ich heute erwähnen. Mehr und mehr wädjit unte 
ben tüchtigen Bankbeamten die Neigung, ungeduldig aus der Bahn zu fpringen 
und fi) journaliftifch zu bethätigen. Progentuell liefert bie Berliner Bank, wenn 
ich nicht irre, das ftärkfte Kontingent diefer Fahnenflüchtigen; vielleicht, weil fe 
ihren Beamten am Meiſten Muße läßt, auf andere Gedanken zu kommen, vie, 
leicht, weil ihr Weſen die in ihrem Betriebe Stehenden am Meiften zu Ent: 
ſcher Regung reizt. Kaum haben foldde Beamte das Bankhaus verlaffen, ſo 
ericheinen fie auch ſchon tm Börfenfaal und fehen fi die Welt, die fie jo lange 
von unten betrachtet haben, nun von oben an. Diefer plögliche Wechſel der 
Berfpektive bewirkt, wie die Erfahrung lehrt, aud wenn der pathologiſche dw 
ſammenhang noch nicht aufgeklärt ift, gewöhnlich eine Blähung bes Bruftfordes, 
ein Wachsſthum der Figur und eine Anſchwellung des Organes. Das Exit, 
was dann geſchieht, ift eine nad allen Megeln der Kunft vorgenommene Der 
möbelung der Bankdirektoren. Aus dem Hausllatfh, den man in den Quli⸗ 
jahren aufgeſpeichert hat, wird den früheren Chefs eine Suppe gekocht, die mand 
mal viel Talent und Sachkenntiniß verräth, aber ſtets einen efelhaften Ra 
geihmad hat. Nah Allem, was ich jelbjt bier ſchon gefagt habe, wird mit 
wohl Niemand zutrauen, daß ich die BZimperlichleit und Unehrlichfeit, die fd 
auf anderem Gebiet in dım heuchleriſchen Aufſchrei Über eine „Verrohung der 
Kritik” Quft gemacht hat, nun auch auf die Börfen- und Finanzkritik Über: 
tragen wolle. Ich muß auch gleich hinzufügen, daß die Bankdirektoren in ihr 
Abwehr einen noch Häglicheren Eindrud machen als ihre Angreifer. Denn dir 
Abwehr befteht darin, daß fie durch ihre Preßbureaux, trog Börfengefeh md 
Pommernprozeß, noch immer allerlei unfauberen Börfenblättchen, bie feinen 
Inhalt und faum einen Leſer haben, ihre Finanzinſerate geben. Diefer Sumpi 
ſoll die Banken vor der Schimpfluſt ausgeſchiedener Beamten ſchützen; vergeſſen 
wird dabei nur, daß ein Sumpf noch lange kein Wall iſt. Ich denke von Banken 
und Bankdirektoren im Allgemeinen nicht gerade gut und finde, die Beweisloft 
für ihre bona fides müſſe in der Regel ihnen felbft zufallen. Alle Banten zu 
ſammen können aber nicht fo Arges verbroden haben, wie man anzunehmen 
gezwungen wäre, wollte man ihre Unmoral an der Demuth meflen, die fie bem 
Abſchaum der Preſſe oft zeigen. Kluge Bankdirektoren follten den Talenten 
in ihren Bureaux den Weg nad} oben, fo weit es irgend möglich ift, ebnen, ſtatt 
fie aus Dienern zu Feinden werden zu lafien. Daun würde es an Nachwucht 
nicht fehlen; und das Unkraut, das ſich jegt nur von der Furcht nor entartetem 
Nachwuchs, vor jchreibluftigen jungen Leuten nährt, könnte nicht weiterwuchem. 


Die. 


perausgeber und verantwortlicher Medatteur: M. Harden in Berlin. — Berlag der Zukunit in heclu 
Drud von Albert Damde in Berlin⸗Schöneberg. 





Berlin, den 14. November 1905. 
—7 — — 





Ariesiche und Rohde. 


FR einem Bilde, das bie Mitglieder des leipziger Philologiſchen Vereins 

darftelt (Winter 1866/67), fallen bei genauerer Betraditung von den 
zehn um einen Tiſch gruppinten jungen Leuten dem Beſchauer zwei auf, die 
einen viel bedeutenderen Eindrud machen als ihre Kommilitonen: an ber 
finten Ede der fofort kenntliche zweiundzwanzigiährige Niegfche, heiter und 
nachlaſſig wie Einer, der die feierliche Prozedur als einen Scherz aniieht; 
ganz rechts an der Ede ein Jüngling von einem ſonderbar ernften und ſtolzen 
Ausdrud in Geſicht und Haltung; der feine Kopf merkwürdig ſchmal; Hinter 
dem ſich emporwölbenden Scheitel wird ein mächtiger, ſtark außgerundeter Hinter: 
ſchadel fihtbar, eine Kopfbildung, wie begabte Menfchen, beſonders Mufiter, fie 
oft zeigen ; das Kinn ift trogig; die Badenknochen treten energifch, doch nicht un« 
ebel Hervor; das Augenpaar blidt faft ſchwermuthig in eine unbeftimmte Weite. 
Der alfo Dargeftellte ift Erwin Rohde, Niegfches befter Freund. 

Ein Bild Rohdes ſchmuct aud die ſchöne Biographie des Mannes, 
mit der Profeffor Cruſius die nicht fehr große Zahl wertvoller Gelehrten 
biographien um ein Wert von gründliche Kenntniß, anziehender Darſtellung 
und erquidender Herzenswärme bereichert hat. Die Züge des Dreißigiährigen 
find noch bebentender geworden; ſtärker wölbt fi die Stirn, trogiger find 
die von einem ſchmalen ſchwarzen Barte beſchatteten Kippen aufgemorfen; 
eine unausdrüdbare Fdealität liegt über der Erfcheinung; aus ben düfteren 
Augen fpricht fchmerzlihe Entfagung, aber zugleich eine unbedingte, harte 
Wahrhaftigkeit, die fid) dem Befchauer ins Herz bohrt. Ein feltfamer Zauber 

- und Zwang geht von dieſen forfchenden Augen aus; fie nöthigen Eprerbietung 
ab, fie heifchen Liebe. 






19 


2 — 


242 Die Zukunft. 


Erwin Rohde iſt geliebt worden. Nicht von feiner reinen und gläd- 
lichen Ehe fei hier bie Rede: wer das Buch von Erufiuß lief, wird mand- 
mal ergriffen innehalten, wenn er auf rührende Denkmale dieſer Liebe ftößt. 
Uber bevor Rohde fi einen Hausftand gründete, hatte er Jahrzehnte Lang 
in Freundſchaft mit Niegfche gelebt. Keiner von Denen, die Nietzſche ihren 
Freund nennen durften, ift ihm fo ganz nah gelommen. Keiner war feiner 
Weſen fo verwandt. An Keinem hing Niegfche mit treuerer Liebe. Nun 
liegt der Briefwechfel zwifchen Rohde und Niegfche in einem ftattlichen Bande 
por. Profeſſor Frig Schöll hat die Briefe des Freundes, Frau Eliſabeth 
Börfter-Niegfche bie ded Bruders herausgegeben. Sich kennen und lieben 
gelernt zu haben, empfanden die Zwei als ein tiefes Glück. Diefes Gtüd 
mitzuerleben, gewährt der Briefmechfel den Freunden der Freunde. 

„Rohde ift jet auch Ordentliches Mitglied, ein fehr gefiheiter, aber 
trogiger und eigenfinniger Kopf“, fchreibt Nietiche im September 1866 an 
den Freiherrn von Gersdorff. Es handelte fih um den auf Ritſchls An: 
regung geftifteten Philologifchen Verein. "Bald waren Niegfhe und Rohde 
die Ylügelmänner der jungen Geſellſchaft. In Niegfches ſechſtem Semeſter, 
Dftern bis Herbft 1867 zu Leipzig, wurde die Freundſchaft eng und herzlich; 
Beide fahen fid mit einem Male allein, „auf einem Sfolirfchemel“, wie 
Rohde fagt; fie waren über ihre mitftrebenden Altersgenoſſen hinausgewachſen 
und auf einander angewiefen. Freund Rohde war e8, zu dem Riegfche mit 
dem fertigen Manuffript feiner Preisaufgabe de fontibus Diogenis Laertü 
in dunkler Regennadt ftürmte; feierlich bewegt, tranken fie eine Freudenflaſche 
zufammen und rebeten ſich von Hoffnungen und Entwürfen die Köpfe heiß. 
„Sch habe e8 bis jet nur dies eine Mal erlebt”, notirte Niegfche ein Jahr 
fpäter, „daß eine fich bildende Freundfchaft einen ethifch:philofophiichen Hinters 
grund hatte. Einig waren wir nur in ber Ironie und im Spott gegen 
philologifche Manieren und Eitelfeiten. Für gewöhnlich lagen wir uns in 
den Haaren, ja, es gab cine ungewöhnliche Menge von Dingen, über die wir 
nicht zufanımenflangen. Sobald aber das Geſpräch fih in bie Tiefe wandte, 
verftummte die Disfonanz der Meinungen und es ertönte ein ruhiger und 
voller Einklang.“ Wie ein Echo fchallt es zurüd aus dem erſten Brief, den 
wir von Rhode an Niegfche beigen: „Ich benfe, old boy, daß auch Du mit 
Vergnügen an fo mande Augenblide innigfter Harmonie in ben Grunt 
ftimmungen des Denkens und Seins zurückdenlſt. Die herzliche Theilnahme 
die Du mir querföpfigen und abftoßenden Kerl erwiefen haft, empfinde id 
um fo wärmer und tiefer, weil id nur zu genau weiß, wie wenig meine 
Art zu näherer Theilnahme auffordert. Bor Allem denke ich mit Freude 
zurüd an die Abende, wo Du mir im Finftern auf dem Klavier vorfpieltejt 
ich fühlte den Abftand zwifchen einer produftiven Natur und mir ohnmächti 


Nietzſche und Rohde. 243 


wollenden Halbheren, aber die Seele ſchloß ſich doch auf unter den Tönen 
und ging einen somewhat elaftifcheren Schritt.” Diefer Brief ift ein Selbit- 
portrait, in einem anderen Sinn allerdings, als fein Schreiber es gemeint 
hatte. Dan erräth eine vornehme, ſchamhafte, hochitrebende Seele, mit einer 
unfeligen Veranlagung, fi zu quälen und Bitternig aus den Blüthen des 
Lebens zu faugen; einen düfteren und leibenfchaftlichen Geift, Leicht verwund- 
bar und ſchwermuthvoll, der das Geheimniß feiner Zartheit ängftlich hinter 
ber Maske eines bärbeigigen Humor$"Derhehlt; einen Freund, ber bei aller 
unbedingten Verehrung Spuren leifer Eiferfucht nicht ganz verbergen kann: 
der reicher und alljeitig begnabete Genoſſe ift ihm ein mundervolles Glück 
und ein fehmerzlich fchirfender Stachel zugleich. So meiche Klänge diefer 
fpröden Seele zu entloden: Das erforderte einen Seelenkünder wie Nietzſche; 
er fah duch Falten und Schleier die hüllenlofe, in einfamer Sehnfucht fich 
verzehrende Seele. Wie ein mühſam verhaltener Jubel brauft e8 durch Rohdes 
Jugendbriefe. Gelegentlich, wie in dem herrlichen Weihnachtbriefe vom Jahre 
1868, fpringen alle Riegel dieſes verfchloffenen Herzens auf und wie aus 
tiefen, Tauteren Brunnen quillt die Empfindung: „Dir allein verdanfe ich die 
beiten Stunden meines. Lebens; ich wollte, Du könnteſt in meinem Herzen 
leſen, wie innig dankbar ich Dir bin für Alles, was Du ihm gefchenft; ber 
Du mir das ſelige Land reinſter Freundfchaft erfchloffen Haft, in das ich, 
mit Tiebedurftigem Herzen, früher wie ein armes Kind in veiche Gärten ge- 
blickt hatte. Der ich von je her einfam war, ich fühle mich jegt vereint mit 
ber Bolten Einem; und Du kannft fchmerlich veritehen, wie Das mein inneres 
Leben verändert hat; bei meinem tiefen Bewußtſein meiner Hirten und 
Schwächen erquidt mich Liebe und Milde wie etwas Unverdientes unfäglich.“ 

Noch find e8 zwei jugendliche und harmloje Menſchenkinder, die ein- 
ander die ſchwärmeriſchen Brautbriefe ihrer Freundſchaft fchreiben; noch haben 
fih nicht die drohenden Schatten des Lebens auf ihre fonnige Eriftenz gelegt; 
ihr gern betonter Peſſimismus hat etwas jünglinghaft Theoretifches: die 
müde und fchmerzlihe Weisheit Schopenhauers ift ihnen in Hirn und Herz 
gedrungen und gläubig beten fie dem Meiſter nach, der ihrem Geifte das 
auszeichnende Stigma der Philofophie aufgeprägt hat. Sie berathen einander 
in ihren philoloziſchen Studien, ſch värmen von Objektivation bes Willens, 
bon der platoniichen dee als Objelt der Kunft, von Bejahung und Ber: 
neinung des Willens zum Leben. Daneben aber freuen fie ſich kindlich auf 
eine parifer Weife, die fie zu machen gedenfen, und Nienfche fchreibt in 
ſcherzhafter Renommiſterei von der göttlichen Kraft des Cancan und vom 
gelben Gift Abſynth. Der felbe vierundzmanzigjährige Niegfche ift entzüdt 
über feine Qualififition zum Landmwehrlieutenant, die ihm „von äußerſtem 
Werth“ zu fein fcheint, angeſichts der täglichen, immer drohenderen Kriegsgefahr. 


19° 


214 Die Zukunft. 


Die gleichzeitig ausgefprocdene Hoffnung „auf fpätere artilleriftifche Thätig: 
feit“ Klingt dem Leſer ominds, der fich der Werke der achtziger Fahre erinnert. 
Siebenmal wird Suschen Klemm, die zierliche Naive des Leipziger Stadt: 
theaterd zu jener Zeit, im Briefiwechfel der Freunde erwähnt; ſie haben ihr 
das philologifche, fpätgriechifch:galante Koſe-Pſeudonym Glaulidion gegeben; 
Nietzſche berichtet triumphirend, daß er fie nach Haufe begleiten durfte; er 
fucht im ganzen Theater, ob fie anmefend iſt; er weiß, wie viel Gage, wit 
viel Zulage fie von Laube befommt; feine Stube ift „fo glüdtich, befagtes 
Weſen mit ihrer hübfchen Schwefter eine Stunde zu beherbergen. Und eb 
war eitel JeAws und TAurdıns“. 

Zum Zeichen Deffen, was mit dem ausdrädtichen Hinweis auf diele 
unfchuldige Herzendneigung für einen anmuthigen Theaterbadfifch beabſichtigt 
ift, jeien drei Jahreszahlen hier verzeichnet. Das Jahr, in dem diefe Briefe 
gefchrieben wurden: 1868; das Jahr, in dem „Menfchliches, Allzumenſch 
liches“ erfchien: 1878; endlich dad Jahr des „Fall Wagner“, der „Dionyio? 
Ditlyramben“, ber , Götzendämmerung“, des „Antichriſt“, des „Ecce Homo“, 
ber „Umwerthung aller Werthe“: 1888. Welcher Weg, weiche Entwidelung 
in zwei Jahrzehnten! 

1868: Der normale hoffnungvolle Jüngling; heiter, forglos, lebens⸗ 
luſtig; ſehr Airebfam, aus gutem Haufe: PBaftorsfohn, mit einem Dutzend 
gutmüthig bemutternder Tanten. Scheinbar nichts Außergewöhnliches ift an 
ihm; gewiß ift er begabt, fogar fehr und vielfeitig; aber der um ein Jahr 
jüngere Rohde macht faft einen reiferen, ernfteren Eindrud. Gründung 
philifter eines Vereins gefcheiter Philologen, Ritſchls Günftling; dieler 
Nietzſche wird vermuthlich eine glänzende, wenn auch durchaus typiſche ala⸗ 
demifche Karriere durchlaufen: er wird brav und filtiam als Privatdozent 
anfangen, wird zum Extraordinarius, zum Ordentlichen Profeſſor vorrüden; 
vieleicht bringt er fogar zum Geheimen Rath und ficher bleibt ihm der 
Rothe Adlerorden vierter Verdünnung nicht aus. Er wird ein Weib nehmen 
und feine Töchter an weife Privatdezenten verheirathen; er wird zwei ober drei 
grundlegende Werke und eine Unzahl Beitfchriftenartifel fchreiben, — Alles jehr 
gediegen, fehr wifjenfchaftlich, mit Cıtaten, Anmerkungen, Hinmweifen, Varianlen, 
mit kritiſchem Apparat... . 

1878: Er ift thatfählih Profeffor geworden, abnorm früh, unter 
“ ungewöhnlich ehrenvollen Umftänden. Aber er hat ſich durch heillofe Ber 
quidung von Philologie und Wagnerianigmus kompromittirt; für exnfihafte 
Philologen eriftint er nicht mehr, denn er ijt nicht wiffenfchaftlich; man dal, 
wie es fich gehört, feine Katheder boykottirt, angehende Jünger der Philologie 
vor ihm gewarnt. Seit einiger Zeit lieſt er nicht mehr, ſondern treibt ſich 
angeblich aus Geſundheitrückſichten, irgendwo in Italien herum, in bedenllich 


Nietfche und Rohde. 245 


internationaler Geſellſchaft. Sein neuftes Werl, lauter Aphorismen, zeigt, 
daß er fich total ausgelchrieben hat . . . 

1888: Diefer Nietfche, auf den gewille Leute vor fünfzehn Jahren 
fo übertriebene Hoffnungen gejegt Hatten, ift fo gut wie verfchollen. Er 
führt ein Nomadenleben: Oberengadin, Thüringen, Venedig, Riviera. Er 
fol immer nod fchreiben, aber kein Menſch Lieft ihn, Niemand Tauft, Nie 
mand beſpricht feine überfpannten Bücher, bie jedes Jahr den Verleger 
mechjeln. Eins davon foll fehr unmora'ifch fein, hat aber dennoch feinen 
Erfolg gehabt; ſchon der Titel läßt allerlei Ubjcheuliches vermuthen. Ein 
anderes handelt von perjiicher Mythologie, wie man hört. Um fich interefjant 
zu machen, hat er ein Pamphlet gegen Wagner verfaßt... Halt, gerabe 
fommt eine ganz unglaubliche Zeitungnadhricht über ihn: „Die von dem 
Dozenten Dr. Georg Brandes im größten Hörfaal gehaltenen öffentlichen 
Borlefungen om den tüske filosof Friedrich Nietzsche haben enormen 
Zulauf; jedesmal über dreihundert Perfonen." Wie? Das Ausland nimmt 
Notiz von dem Manne? Sollte der Dann am Ende ernft zu nehmen fein? 

Drei Dinge waren Niegfche und Rohde gemeinfam: Liebe zum Alter 
thum hatte fie zufammengeführt, Begeifterung für Schopenhauer brachte fie 
einander näher, Hingabe an die magnerifche Kunſt beiiegelte ben Bund. 
Rohde ift der Philologie treir geblieben und hat Glänzendes in ihr geleiftet; 
er bat nie Wagner den Rüden gelehrt, obgleich auch er den weihrauchſchwülen 
Duovadismus des Parfifal ablehnte; am Loderften wurde fein Berhältniß 
zur Philofophie, wenn er auch im feinen beiden Meifterwerken philofophifchen 
Problemen durdhans nit aus dem Wege ging. Niegiche Löft fi von 
Philologie, Schopenhauer und Wagner entfchlofien los: fie waren ihm nur 
Wegweiſer zu fich felbit gewefen. Alles in feinem: Leben drängte jcheinbar 
darauf hin, daß er Richard Wagner eine Art von Paulus würde: eine junge 
Sekte braucht den Bermittler, der fie in Beziehung zu den vorhandenen 
Kulturmächten fegt; Wagner hatte, wie kein Kunſtler vor ihm, einen fIrupel- 
{ofen Ehrgeiz, mit Allem, was irgendwo einmal in der Geſchichte groß war, 
in Beziehung zu ftehen; Inderthum, Griechenthum, Chriftenthum, bie alte 
Tragoedie, der Heilige Franz von Afjiit, Dante, Shalefpeare, Calderon, Goethe, 
Shiller, die Romantik, Schopenhauer, Beethoven, germanifcher Mythus, 
ritterliche Epik, bretonifche Fabulirluft: das Alles follte in die Weltanschauung 
Wagners hineininterpretirt werden, und zwar jo, daß es erft in und durch 
Wagner feine Vertiefung und Vollendung zu finden fchien. Niegfche fchien fo 
recht gefchaffen, der griechifche Kirchenvater de8 neuen Glaubens zu werden; die 
Umftände konnten nicht günftiger zufammentreffen; feine Berufung nach Bafel 
wie ihm deutlich die Richtung. „Luzern ift mie nun nicht mehr unerreichbar“, 


246 Die Zukunft. 


heißt es in dem Brief, in dem er Rohde feinen Ruf mitiheilt. So fah er 
der neuen Profeffur froh, wenn auch nicht ohne Sorge entgegen. Rohde 
fühlte dunfel, dag ihnen Beiden ein Lebensfommer voll Mühe und Edwäle 
bevorftehe; in ergreifenden Worten nahm er Abſchied vom Jugendgenefſen 
und vom Frühling ihrer Freundſchaft: „An diefem trivium unferer Lebens: 
pfade laß michs Dir noch einmal fagen, daß Niemand im Leben mir wohler 
und lieber gethan hat als Du und daß ih Das empfinde mit allen Fibern 
meines Weſens.“ 

Bafel ift die entfcheidende Wendung in Niepfches Lebenslauf. Er wird 
unvermittelt und unvorbereitet in einen Beruf hineingeworfen, den er unter 
normalen Umftänden in langem geduldigen Warten und Vorbereiten erreicht 
hätte; der Unterricht am Pädagogium vermehrte bedenklich Arbeitlaſt und 
Berantwortung. Die freien Stunden waren einer erftaunliden Produktion 
gewidmet: Alles, was der erfle, neunte und zehnte Band der Geſammtaus⸗ 
gabe enthalten, ift in Bafel entftanden. Ein außgedehnter Briefwechſel, auf- 
zegende Mufif und die Befuche in Tribſchen bei Richard Wagner jind nit 
zu vergefien. Mit der Berufung nach Bafel fcheint Nietsfches Lebensſchiffchen 
in das idyllifche Eeitengewäfler einer friedlichen Gelehrteneriftenz zu fleuern; 
in Wirklichkeit treibt e8 facht, aber unaufhaltfam hinaus in den Strom. Denn 
in Bafel wuchs Niepfche nur zu bald über da8 ganze Univerfitätwefen hin 
aus. Zunächſt verlor er den engen perfönlichen Konner mit Rohde; lange 
Briefe waren ein kümmerliches Surrogat. Neuen Anfhluß fand er nidt 
leiht. Der fpäter vertrautere Verkehr mit Jakob YBurdhardt und Dverbed 
beichränfte fi anfangs auf freumdliches Grüßen. So drängte Alles darauf 
hin, Niefche der Macht in die Arme zu treiben, die den Menſchen jäh und 
gründlich wandelt: der Einfamfeit. Sie verleiht von nun an feinem Leben 
und feinen Werfen Farbe und Glanz. Die Einfamtkeit ift das lebte Krite 
rium für alles Hervorbringen; fie ift das Auszeichnende und Unterfcheidente; 
man fühlt e8 fofort, wenn ein Werk „aus der Fremde“ kommt, aus Höde 
und Stille; ſeltſam und adelig ficht 8 da. Beethovens Ichte Quartette, 
Schopenhauers Hauptwerk, Ibſens letzte Dramen haben alle einen Hauch und 
Duft der firengen Einſamkeit an fi, in der fie entftanden find. Nietzſche, 
von Natur aus wie Stendhal geneigt & se singulariser, wurde durch ein 
fonderbares Zuſammenwirken verfciedener Umftände aus Beruf und Ant, 
aus Tradition und fozialem Leben hinausgedrängt, unmerklich beinahe, aber 
unaufhaltfam. Dean kann Edritt vor Echritt verfolgen, wie er die Wohn: 
ftätten der behäbig in Alltag und Gemeinfchaft Lebenden verläßt, wie er 
immmer höher feinen Berg Hinanfteigt und immer einfamer wird. Wohl preiſt 
fein Sonnenhymnus, da Barathuftra auf dem Gipfel fteht und füßen Honig 
opfert, in entzüdter Weiherede feiner Einfamfeiten fiebente und Ießte. Aber 





Nietzsche und Rohde. 247 


zu anderen Zeiten entlodte ihm das Gefühl, nicht einen einzigen Menjchen 
zu haben, der ihn liebend verftand, bitterliche Klagen. 

Kaum war Niegfhe ein Jahr in Bafel, al8 er Rohde fchon ganz 
revolutionäre Briefe fchrieb: ein radilales Wahrheitweſen fei an einer Uni- 
verſität nicht möglich; etwas wirklich Ummälzendes werde nie von hier aus 
feinen Ausgang nehmen können; er werde diefe Luft nicht mehr lange aus⸗ 
halten. Um aus diefer Roth herauszulommen, erwog Niesfche in vollem Ernſt 
einen Gedanken, der zu allen Zeiten feinere Geifter als felige Utopie gereizt 
hat: ben eines weltlichen Kloſters, in der Urt einer Platonifchen Afademie 
oder der Thelemitenabtei des weifen Meiſters Rabelais. Er bereitete einen 
Aufruf vor „an alle noch nicht völlig erftidten und in der Jeszzeit ver- 
Schlungenen Naturen.“ Auf Rohdes und Romundts Mitwirkung rechnete er 
zuverfichtlich, im Stillen wohl auch auf die Deuffens, Burckhardts, Over⸗ 
becks. Er fing an, feine Bedürfniffe auf ein Mindeftes einzufchränfen, um 
einen Heinen Reft von Bermögen für alle Fälle zu bewahren; er wollte in 
die Lotterie jegen, für feine Bücher die denkbar höchften Honorare verlangen. 
Rohde mahnte befonnen ab; er fand jich nicht produftiv genug zu folcher 
Welteinfamfeit. „Mit Leuten wie Schopenhauer, Beethoven, Wagner ift es 
eine ganz andere Sache; auch mit Dir, lieber Freund.” Die Stelle ift 
intereffant: hier alfo kommt Rohde fchon nicht mehr mit; er hat nicht mehr 
die nöthige Elaftizität. Und welche fonderbare Gleichſtellung von Nietzſche, 
der noch feine feiner größeren Schriften veröffentlicht hatte, mit Schopen- 
bauer, Beethoven, Wagner! Welden Eindrud von Größe muß Niegfche auf 
Nohde ftet3 gemacht Haben, daß Diefer eine ſolche Nebeneinanderftellung 
wagte, ohne zu fürchten, jih und ben Freund lächerlih zu machen! 

Nictzſche fühlte fih unbehaglih in Amt und Jah. Nun tritt ein 
Ereigniß ein, das in feiner einzigartigen Wichtigkeit für Nietzſches Entwide- 
lung noch nit erkannt worden ift: der basler Profeſſor der Philofophie 
Teihmüller nimmt einen Ruf nah Dorpat an. Nietzſche hat eine folche 
Sehnſucht, feinen Rohde wieder bei fich zu haben, daß er ordentlich erfinderifch 


wird: er trägt fih mit dem Wunfch, fih um die valante Profeffur zu bes 


werben, damit feine eigene für Rohde frei werde. In Lugano, wo er feine 
Erholung ſucht, wiegt er ih in goldenen Träumen gemeinfamen Wirkens 
an der basler Hochſchule; fich felbit aber — und Das ift das Entjcheidende — 
kann er ſich nur mehr als Philoſophen vorftellen: fo feſt hat er fich fchon 
in diefe neue Hoffnung hineingelebt. „Bon der Philologie lebe ich in einer 
übermüthigen Entfremdung, die ſich fchlimmer gar nicht denken läßt. Bald 
fehe ih ein Stüd neue Metaphyſik, bald eine neue Aeſthetik wachſen.“ Es 
war der letzte Verſuch, das ideale Klofter zu gründen. Der etwas fpätere 
Plan, Rohde wenigftens an die Nachbaruniverfität Zürich zu bringen, zerſchlug 


218 Die Zukunft. 


fi, weil Rohde mit Kiel unterhandelte. Man barf bie fundamentale Wichtig- 
feit diefer vergeblichen Bemühungen nicht überfehen: jetzt ift Nietzſche der Phils⸗ 
logie ganz entfrembdet, fie ift ihm, wie er felbit im nächiten Briefe befennt, 
„ein Ekel." Sie hat nur noch einen Werth für ihn, wenn fie fich in ben 
Dienft des Lebens, der hohen Kultur, der großen Kunſt ftellt; dieſe Holle 
weift ihr „Die Geburt der Tragoedie aus dem Geifte der Mufif“ an. Als 
das Werk erfchienen war und von einem jüngeren Philologen vom Stand: 
punft der Wiffenfchaft aus ungeftüm angegriffen wurde, ftellte Rohde ſich 
tefolut auf die Seite bed Freundes. Ob auch. der Sache, ift zweifelhaft. 
Zwar haßte Rohde die „fatale göttinger Weisheit von der Heiterfeit des echten 
Griechenthumes“ eben fo grimmig wie Niegiche; auch er fah bie Zeit tieffter 
müftifcher Erregung zwifchen Homer und Aeſchylos; „purifizirten Altenweiber- 
proteſtantismus“ nennt er die zünftige Darftellung griechiiher Weltanfchauumng. 
Über Nietzſches erſtes Buch enthielt Kühnheiten und Vorahnungen feiner 
fpäteren Entwidelung, die einem forgfältigen Lefer nicht entgehen Tonnten. 

Im Juli 1876 erhielt Nießfche die Anzeige von Rohdes Berlobung. 
Sogleich ſchrieb er einen herzlichen Glüdwunfchbrief, der jedoch eine merf: 
würdige Stelle enthält: „Ja, ich werde ruhiger an Dich denken Tönnen: 
wenn ih Dir auch in dieſem Schritt nicht folgen folltee Denn Du batteft 
die ganz vertrauende Ceele fo nöthig und haft fie und damit Dich jelbfi auf 
einer höheren Stufe gefunden. Mir geht es anders. Mir ſcheint das Alles 
nicht fo nöthig, — feltene Tage ausgenommen. Vielleicht habe ich da eine 
böje Lüde in mir. Mein Verlangen und meine Noth ift anders; ich weiß 
kaum, e8 zu fagen und zu erklären.“ Er ahnte wohl felbit nicht, welchen 
Haffenden Abftand er mit diefem Bekenntniß zwiſchen fi) und dem Freunde 
fonftatirte; auch Rohde ſcheint die Stelle „Du hatteft bie ganz vertrauende 
Seele nöthig“ nicht verftanden zu haben; noch einmal flammt, zum lebten 
Male und am Höchſten, feine Liebe auf: „Mein Freund, ja, wahrlich mein 
Freund und Bruder! Eins denke immer: daß in meinem zufünftigen Haufe 
Dir Herz und Herd allezeit zur Verfügung ftehen; nicht wie ein Gefchent, 
fondern wie Dein eigener und rechtmäßiger Befig! Ich bleibe Dein in un- 
veränderter Liebe.“ 

Dieſer Brief fteht auf Seite 534 des Bandes; dann folgen nur noch 
fünfzig Seiten. Wann fchreibt man einem Mädchen die glühendften Briefe? 
Wenn man fih unbewußt mit bem Wunfch trägt, ihr ben Abfchieb zu get 

Zwei Dinge giebt es, die den Menſchen entjüngen; fie fchneiden fei 
Entwidelung ab: Amt und Ehe. Sie find des Durchſchnittsmenſchen 
und Glüd, auch des fehr begabten. Dem Philofophen aber ift jedes Au 
eine Kette und die Ehe ein Verhängniß; er verfagt ſich Beides aus Inſtinl 
Schon dem vierundzwanzigjährigen Nietfche ftand diefer Sag fell. „ 





Nietzſche und Rohde. 249 


habe hier Gelegenheit, mir die Ingredienzien eines glücklichen Familienlebens 
in der Nähe anzuſehen: hier iſt kein Vergleich mit der Höhe, mit der Singu⸗ 
larität der Freundſchaft. Das Gefühl im Hausrock, das Alltäglichſte und 
Trivialſte überſchimmert von dieſem behaglich ſich dehnenden Gefühl: Das iſt 
Familienglück, das viel zu häufiz iſt, um viel werth fein zu können.” So 
ungefähr fagt Das einmal jeder Jüngling; man erinnere fich der köſtlich 
friſchen Eingangsfzene von Stifters „Hageſtolz“. Niegiche hat feine Sugend- 
anfhauung fiber die Ehe feitgehalten; fie ift ihm immer ftrenger und ent⸗ 
fchiedener geworden. Wundervoll befang er im Zarathuſtra das Glüc der 
Ehe und die Seligkeit der Elternſchaft, aber er vergaß keinen Augenblid, 
dan e8 nicht für ihn und er micht für es geſchaffen ſei. Fürs „dumpfe 
beutihe Stubengläd“ vollends Hatte er nur höhnende Verachtung, und als 
er dem fromm und mürb gewordenen Wagner die Summe feiner Eriftenz 
303, ſchrieb er an auffällige Stelle den böfen Sag: „Die Gefahr der Künſtler, 
der Genies liegt im Weibe; die anbetenden Weiber find ihr Verderb.“ Nicht 
in der unglüdlichen Ehe fah er die Gefahr: ohne Xanthippe Fein Sokrates. 
Das „Behagen zu Zweien“ war ihm das zu Fürchtende, das eigentlich Un- 
phifofophifche. In dem Glückwunſchbrief deutete ers Rohde in einem zarten 
Symbol an: Ein Wandrer geht durch blaue Naht und laufcht in weicher 
Wehmuth der füren Weife eines Vogels. Aber der Vogel fpricht: 

„Kein, Wandrer, nein! Di grüß ich nicht 

Mit dem Getön! 

Ich finge, weil die Nacht fo ſchön: 

Doch Du folljt immer weiter gehn 

Und nimmermehr mein Lied verftchn!... 

Leb wohl, Du armer Wandersmann!“ — — 


——— En — — — — —— — 


Rohde hatte vielleicht als Erſter die aphoriſtiſche Technik Nietzſches 
erkannt. „Du deduzirſt zu wenig“, ſchrieb er ihm über die zweite Unzeit⸗ 
gemäße Betrachtung; „Du überläffeft dem Lefer mehr, als billig und gut ift, 
die Brüden zwifchen Deinen Gedanken und Sägen zu finden. Zumeilen 
babe ich den Eindrud, als ob einzelne Städe und Abſchnitte zuerft für fich 
fertig gearbeitet worden wären und dann, ohne in dem Fluß des Metalles 
völlig wieder aufgelöft worden zu fein, dem Ganzen eingefügt worden wären.“ 
Als Niegfhe in dem Aphorismenbande „Menſchliches, Allzumenſchliches“ 
gänzlid auf die Eſelsbrücken verzichtete, in denen philofophirende Flachköpfe 
das Syſtem einer Philofophie erbliden, war Rohde weniger von ber neuen 
Form als von dem neuen Inhalt überrafht: „So muß e8 fein, wenn man 
direft aus dem caldarium in ein eisfalte8 frigidarium gejagt wird.“ 
Shmerzlich befremdet, fand er zu viel Rose in dem Werle. So fehr er den 


250 Die Zulunft. 


rückſichtloſen Wahrheitstrieb, bie fühle und ftrenge Zerlöſung religiöfer, 
metapbufifcher und künftlerifcher Illuſionen bewunderte: er gab nur bie rela= 
tive Wahrheit der Eäge zu und fand den Gehalt des Buches mehr im Ein- 
zelnen als im Ganzen. Seltfam Hingt der Schluß: „Nichts, Deſſen jet 
gewiß, fol mich Dir je im Innern entfremden.” Go jchreibt man nur, 
wenn die Entfremdung thatfächlich ſchon begonnen hat. Rohde mußte blig- 
artig erkennen, daß fein und Niepfches Weg ſchon weit augeinandergingen. 
Daß er nicht, wie Wagner, da8 Buch en bloc verwarf, zeugte von Freiheit 
des Geiſtes. Daß er ihm nur zum Theil zu folgen vermodte, lag daran, 
daß Niegfches Entwidelung ein ganz andere® Tempo annahm, nachdem er 
feinen Beruf aufgegeben hatte und nur noch fich felbft lebte. Rohde war 
durch Amt und Ehe davor bewahrt, ein rein Tontemplatives Leben zu führen. 

Bon nun an wird au der Ton Niepfches in feinen Briefen anders; 
ganz langfam und allmählich, aber deutlich erfennbar. Es ift, al® ob er 
aus der Höhe ſpräche; eine eigenthümliche Ueberlegenheit und Nachſicht Hingt 
leife dur. Die Antwort auf Rohdes Brief zeigt fchon biefe neue 
Weile; wer genau hinhorcht, Hört durch alle Herzlichkeit doch einen Ton 
ſelbſtbewußter Ironie. Niegfche erklärt dem Freunde kurz und bündig, das 
Bud fei fertig und zu einem guten Theil fchon reingefchrieben geweſen, ehe 
er überhaupt Rées Belanntichaft gemacht habe. „Dadurch erfcheine ih Dir 
vielleicht noch fremdartiger, unbegreifliher? Fühlteſt Du nur, was ich jegt 
fühle, feitdem ich mein Lebensideal endlich aufgeftellt Habe, die frifche, reine 
Höhenluft, die milde Wärme um mid, — Du würdeſt Dich jehr, fehr 
Deines Freundes freuen fünnen. Und e8 fommt aud der Tag." Wirklich 
fand Rohde mit der Zeit fich befler in die Wandlung hinein; immer mehr 
erfaßte er die Souverainetät Led Buches: „Du wohnt in Deinen eigenen 
Geiſt, wir Anderen aber hören ſolche Stimmen fonft nie, nicht gefprochen, 
nicht gedrudt: und fo geht e8 mir, wie von je her, wenn ich mit Dir zu= 
fammen war, auch jett: ich werde für eine Zeit lang in einen höheren Rang 
erhoben, als ob ic) geiftig geadelt würde.“ 

Leider fehlen ung mehrere Briefe der fpäteren Korrefpondenz. Man 
fönnte an der Hand diefer verlorenen Dokumente den Finger auf eine Stelle 
nad) der anderen legen, durch die fich das Fremdwerden offenbart. Denn 
fremder werden fih immer mehr die früher jo innig PVertrauten, deren Ge 
birne und Herzen wie Gefchwifter gewefen waren. Aus diefer drüdenden 
Empfindung heraus bittet Nictzſche, Rohde wolle ihm doch etwas recht 
Perfönliches fchiden, damit er nicht immer nur den vergangenen Freund im 
Herzen babe, fondern auch „den gegenwärtigen und — was mehr iſt — 
den werdenden und wollenden: ja, den Werdenden! den Wollenden!* Niepiche 
hat Das ficher nicht böfe gemeint; aber der Hieb ſaß. Sofort entfchulbigte 


Niegfche und Rohde. " 251 


fi Rohde: es fei eben gerade der Fluch des Profefforenthumes, fich als 
einen Seienden zu geben; er wifle ſich kaum zu helfen vor Seminar: und 
Borlefungbürde; er verglich fi mit einem Dorfteich, der langfam mit 
Schimmel überwädhft. Für Rohde war das „Werden“ vorbei. Er mußte 
froh fein, wenn er fi In feiner Wiſſenſchaft auf dem Laufenden halten 
konnte. Der Univerfitätgelehrte, ter zugleich Forſcher und Lehrer fein fol, 
bat viel zu thun, wenn er nicht Eins von den Beiden vernachläffigen will. 
Nohde hatte in Amt und Ehe eine reiche und tiefe Perfönlichkeit mitgebracht, 
aber er entwidelte fi nicht mehr in dem Sinne, wie Nietzſche e8 erfehnte. 
Ihm mußte Nietzſches fortwährendes Werben, Wachen, Ueberwinden unheimlich 
erfcheinen. Die Briefe, die er ihm jchrieb, zeigen die bewußte Abjicht, einen 
Leidenden zu fehonen. In den Briefen an Dverbed, Ribbeck und Andere, 
die man in dem Buch von Cruſius nachlefen mag, klingt Alle um ein paar 
Nuancen fhärfer, auch Fühler. Ihm war Niegfche ein Lieber alter Freund 
neben lieben neugewonnenen Freunden. Er war Niegfche der älteite, geliebtefte 
Freund, „der“ Freund. Gernde von feinen Fugendfreunden wollte Niegfche ver- 
ftanden werden; er fühlte dunkel, daß fie ihn nicht mehr verftehen Tonnten, 
vielleicht auch nicht mehr begreifen wollten; mit der zarten Empfindlichkeit des 
Leidenden hörte er aus all diefer fihonenden und herzlichen Nüdjicht die tiefe, 
nicht wieder gut zu machende Entfremdung: „Mein alter, lieber Freund, ich 
weiß nicht, wie es zuging: aber als ich Deinen legten Brief [a8 und namentlich, 
als ich das Liebliche Kinderbild fah, da war mirs, als ob Du mir die Hand 
drüdteft und mich dabei ſchwermüthig anfäheft: ſchwermüthig, al ob Du 
jagen wollteft: ‚Wie ift e8 nur möglid, daß wir fo wenig noch gemein haben 
und wie in verfchiedenen Welten leben! Und einfimals....“ Und fo, Freund, 
geht e8 mir mit allen Menfchen, die mir lieb find: Alles ift vorbei, Ver— 
gangenheit, Schonung; man fieht ji noch, man redet, um nicht zu ſchweigen. 
Tie Wahrheit aber jpricht der Blid aus: und der fagt mir (ic) höre es gut 
genug!): ‚Zreund Niepfche, Du bift nun ganz allein!‘ Ach, Freund, was für 
ein tolles, verfchwiegenes Leben lebe ich! So allein, allein! Eo ohne ‚Kinder‘ 1* 

Es war nur die traurige Beftätigung des längſt Geahnten, als im 
Frühjahr 1886 die Freunde einander in Leipzig wiederfahen, zum erften 
Mal feit zehn Jahren, zum letten Mal fürs Leben. Rohde war in Leipzig 
in fo viele Widerwärtigfeiten verwidelt worden, daß er wenige Wochen nad 
feinem Eintreffen einen Ruf nad) Heidelberg annahm. So traf Niekfche 
nicht den Jugendfreund, wie er ihn in immergrüner und verflärender Er— 
innerung gehegt hatte, fondern einen verdrieglichen und ſcheltenden Profefior. 
Kein Gefpräh wollte glüden. Kein gemeinfamer Grundton Hang mehr. 
Jetzt wußten fie, wie fremb fie einander geworben waren. Zum äußeren 
Bruch kam es, als Rohde im Mai 1887 in einem Brief ein fpöttifch:Hoch- 





252 Die Zukunft. 


müthiges Wort über Taine fich entich/üpfen Tief. Nietzſches Antwort mar 
wie ein P:itfchenhieb: „Wenn ich nur diefe eine Aeußerung von Dir wüßte, 
ih würde Did auf Grund bes damit ausgedrüdten Mangel an Ynftinkt 
und Takt verachten. Glüdlicher Weife bit Du mir anderweitig ein be 
wiefener Menſch.“ Zwei Tage darauf frenzten fich zwei Briefe. In dem 
einen bat Rohde wegen des Tones feines letzten Schreibens um Entſchuldi⸗ 
gung. Im anderen Niepfhe den Freund wegen feiner harten Antwort. 
Aber es war doch das Ende. Ein halbes Jahr darauf fandte Niegfche an 
Nohde die „Genealogie der Moral.“ Der Brief ſchloß: „Wer wäre mir 
bisher auch nur mit einem Taufendftel von Leidenfchaft und Leiden entgegen- 
gelommen! Hat Irgendwer auch nur einen Schimmer von dem eigentlichen 
Grunde meines langen Siechthums errathen, über das ich vielleicht doch noch 
Herr geworden bin? Ich habe jet dreiundvierzig Jahre Hinter mir und bin 
. genau nod fo allein, wie ich es als Kind gemwefen bin." Rohde brachte es 
fertig, auf diefe wie mit Blut gefchriebenen Zeilen kühl und förmlich dankend 
auf einer Starte zu antworten. Er war wieder, wie vor einundzwanzig Jahren, 
nein ſehr gefcheiter, aber trogiger und eigenfinniger Kopf.“ 

So endete diefe Freundfchaft mit einer unwiderruflichen Entfremdung. 
Aber wenn auch Rohde die perfünlichen Beziehungen abgebrochen hatte, fo 
hörte er doch nicht auf, an Nietzſches weiterem Schaffen reges Intereſſe zu 
nehmen. Cr erlebte den wachſenden Ruhm des Freundes. Wenn über ben 
einft fo Geliebten unehrerbietig geurtheilt wurde, brach er in mächtigem Fu: 
grinm 108. Darin hat er Niegihe auh nad bem Bruch Treue beivahrt. 

Am fiebenten Januar 1889 befam er ein aus Turin batiıtes Blatt 
Papier, mit einer kurzen Anrede; die wohlbelannte Schrift, aber unterzeichnet: 
Dionyſos. Da Niegfches Geift ſich umnachtete, trat noch einmal das geliebte 
Bild Rohdes vor die Seele des unglüdliden Mannes und er mußte das 
Billet als legten rührenden Gruß dem Freunde fenden. ALS [päter Niegfches 
Schweſter daran ging, den philologifhen Nachlaß herauszugeben, war ihr 
Rohde, trotz vielen und drüdenden Berufspflichten, der treufte Helfer. Ex 
ordnete die langen, von Erinnerung fchwer getränkten Biiefe, die er in zwei 
Sahrzehnten von Niegiche empfangen hatte; wehmüthig fah er’ feine eigenen 
wieder und ließ fie mit verhaltenen Thränen durch die Hände gleiten. Einen 
einzigen wollte er verbrennen: den, der ihm einft in böfer Stunde durch c’- 
unbedachtes Wort ben Freund geraubt hatte. ALS ein paar Jahre dar 
Erwin Rohde fih zum Sterben legte und die Kunde ind Niegfche-Aru, 
kam, theilte die Schweiter jie dem Kranken mit: „Er ſah mich lange n 
großen, traurigen Augen an: ‚Rohde tot? Ach!‘ fagte er leiſe; dann wand 
er ſchweigend da8 Haupt; und eine große Thräne rollte langfam über fe 
ſchmale Wange herab.“ 


 —— 0 Gi — Ed m EEE m EEE 


Das Lafter der Perföntichkeit. 253 


| Das Verhältniß Niegfches zu Rohde ift eins der fchönften und bes 
deutfanften Kapitel der neueren Geiſtesgeſchichte. Der Konflikt vertieft ſich 
aus dem Perfönlichen ins Typiſche. Er wird zum Antagonismus zwifchen 
dem Hochbegabten und gemüthvollen Fachmenfchen und dem Philoſophen. Tem 
Einen ift die Philofophie ein Sugenderlebnig vol feinen Duftes, dem Anderen 
Inhalt des ganzen Lebens, das Leben felbft. Man kann beobachten, wie Rohdes 
philofophifches Intereſſe abbrödelt; er ift der typiſche Akademiker, der jich mit 
Arbeit betäubt und bem fein Beruf zum Horizont wird. Es ift ein Glücks⸗ 
fall, daß zwei jo bedeutende Vertreter dieſes Gegenfages vor uns ftehen. Daß 
Beide ihr Gegenfägliches verlannten, zu verföhnen fuchten, wo es nichts zu 
verjühnen gab: Das ift das Tragifche und Ergreifende. 


Münden. Dr. $ofef Hofmiller. 


Das $after der Perfönlichkeit. 


erfönlichkeit: das Wort ift Fanfare geworden. Ein Philifter fcheint 

Jeder, den ber Klang nicht beraufcht, und ein Frevler, der ihn zu 
fäftern wagt. Über e8 wäre wahrlich nicht dad erſte Mal, daß Fanfaren 
zu einer ſchlechten Sache riefen; und wenn wir fehen, daß es hier einer faft 
ruchlos fchlechten Sache entgegengeht, dann wollen wir ung nicht bang machen 
laffen vor der Frevlerfhande und die Yanfare unterbrechen. 

Der Klafjiter des Kultes der Perfönlichkeit ift der Philofoph Max 
Stirner. In fenem Werk „Der Einzige und fein Eigentbum“ hat er dem 
Kult Methode gegeben und die erften einleitenden Sätze diefes Werkes find 
vielleicht die Fürzefte Wormel des ganzen Syſtemes: „Was fol nicht Alles 
meine Sache fein! Vor Allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die 
Sache der Menſchheit, der Wahrheit, der freiheit, der Humanität, der Ge⸗ 
rechtigkeit; ferner die Sache meines Bolfes, meines Fürften, meines Vater⸗ 
landes; endlih gar die Sache des Geiftes und taufend andere‘ Sachen. 
Nur meine Sache fol niemals meine Sade fein... Über meine Sache 
ift weder das Göttliche noch das Menſchliche, ift nicht das Wahre, Gute, 
Rechte, Freie u. |. w., fondern allein das Meinige; und das tft feine allge 
meine, fondern ift — einzig, wie ich einzig bin. Mir geht nichtS über mich.“ 
Nun mag e8 ja fehr ſchmeichelhaft fein, ein Ich mit folcher Sicherheit in 
den Mittelpunkt der Schöpfung zu rüden. Wenn man aber fo gute Ein= 


254 Die Zulunft. 


wände wie Stirner gegen unfaßbare Allgemeinheiten, wie „DMenjchheit”, vor⸗ 
zubringen weiß, fo fann man fi) doch nicht wundern, wenn eim Leſer endlich 
einmal fragt: Welches Ich fpricht Hier? Das Ih im Allgemeinen, das Ich 
an ſich ift doch fchlieklich nicht konkreter al3 die Menſchheit, der Staat, die 
Familie an fih. Welches Ich alfo rebet in diefem fchrillen Ton über Ideen. 
die lange Jahrtauſende auf unferem Planeten lebend waren und an ihm 
formten? Stirnerd Buch bleibt uns die Antwort ſchuldig. Erſt fange nad 
dem Tode des Perfönlichleitphilofophen wirrde fie uns in der jorgfamen und 
ausführlichen Stirnerbiographie von Maday. Es war eine arge Enttäufchung. 
Der Einzige als eine trodene, dürre, feelenlofe Schulmeifternatur von be 
fchränkteftem Horizont: Das war freilich ein Naturell, deffen Blid die Sache 
der Menfchheit oder der Humanität, eines Volkes oder einer Heimath wicht 
umfpannen fonnte. Ein ſolches Naturell mußte allerdings bei feiner Sache 
bleiben und alles Andere ihr opfern. 

Der bedingunglofe Perfönlichkeittult als ein Mangel an Weitblid, 
als eine Art geiftiger und feelifcher Augenkrankheit: Das ift die Diagnofe, 
bie wir dem ftärkiten Buch diefer Lehre ſtellen müſſen. Wenn wir aber bie 
felben, ja, ſchlimmere Beobachtungen wie bei Stirner bei all den Kleinen 
Ichlein maden, die uns im Leben draußen über den Weg laufen: ift ed dann 
nicht an der Zeit, daß wir ein Wenig „alte Werthe ummerthen“ ? 

In der Form der Polemik gegen den Staat bat der Perfönlichkeit- 
fanatismus heute feinen Fräftigften Ausdrud gefunden. “Der legte Hand⸗ 
arbeiter weiß uns umſtändlich zu erzählen, wie brutal der Staat oft in der 
Aberkennung perſönlicher Rechte verfahre. Was aber alle Handarbeiter und 
all ihre geiſtigen Souffleure nicht verſtehen, iſt: daß der Staat die Ent— 
perſönlichten in einen großen Organismus zuſammengebracht hat und daß 
dieſer Organismus Größeres und Stolzeres geleiſtet hat, als die Summe der 
von ihm beherrſchten Menſchen ohne Einbuße an ihren unterſchiedlichen Ichs 
jemals geleiſtet hätte. Man laſſe in einem Volke die Perſönlichkeiten wuchern, 
wie ſies gerade mögen: was iſt die Folge? Ein ungeheures Kurioſitäten- 
kabinet wird ſich ausbilden, Millionen von Eigenbrötlern wimmeln durch— 
einander. Höchſt intereſſant im Einzelnen, höchſt ſpaßhaft und an Ab— 
wechſelung reich. Aber was wollen dieſe Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten 
am Ende bedeuten! Mit welchem kläglichen Nutzeffekt wird da ſchließlich 
gearbeitet! Sind es wirklich die den Einzelperſönlichkeiten feindlichen Organismen, 
die die tollſte Verſchwendung mit Menſchen theilen? Und ſollte Das wirklich 
eines himmliſchen Sternes letzte Metamorphoſe ſein, daß es in ſeinen Ländern 
ausſieht wie in Kinderſtuben, wo jeder Zweikäſehoch ſich in einem Edchen 
aus altem Gerümpel ſein Zimmerchen zuſammenbaut? 

Die Perſönlichkeit anarchiſirt; je mehr wir ſie ſchalten laſſen, um 














Das Lafter der Perſoͤnlichteit 955 


fo mehr fchaffen wir einander paralyfirende, einander entwerthende Kräfte. 
Machen wir die Probe aufs Erempel am Beifpiel ber Kunft, der menſch⸗ 
lichen Bethätigung, in der das Perfönliche den höchſten Werth behaupten 
fol. Da ift denn zunächſt auffallend, wie wenig Genialifches im rein per- 
fönlihen Sinn die Gefchichte der Baukunſt aufweiſt. Was ift Perfönliches 
am Öriechentempel oder am gothiſthen Dom? Namen werden bin und. 
wieder genannt; aber die Männer dahinter find nur Repräfentanten, ges 
wifienhafte Verwalter, ehrlihe Makler oder wie mand nennen will. Selbft 
ein Werk wie ber Sankt Beter in Rom: mer feine Gefchichte fennt von 
Bramante bis Bernini, ja, ſchon von Brunelleshi (Kuppelbau), Der wirb 
den Namen Michelangelo nicht allzu ſtark unterftreichen. Und verfolgt man 
gar im Einzelnen da8 Iangfame Hinübergleiten der Renaiffance zum Barod 
(Wölfflind „Renaiffance und Barock“ giebt die Gelegenheit), fo kann man 
bei Michelangelo nur bewundern, mit welcher Kraft er feine Perfönlichkeit 
gezwungen hat, um die ganze Gewalt feines Genies der Sache zu weihen. 

Das Gegenbeifpiel: die moderne Malerei. Da ift fein Maler noch 
fo Hein, er möchte gern perfönlih fein. Wir kennen fie zur Genüge, bie 
Kuriofitätenfabinete, die fo entitanden, die Jahrmarktsbuden der Kunſtaus— 
ftellungen, wo fie fich heiſer Schreien in Farben, um nur auf Augenblide bie 
Kirmeßbummler zu fefleln. Und das Ende? Daß die Perfönlichiten unter 
den Perfönlichen fich fchließlih mit Farbe und Leinwand einer fo durchaus 
unperfönliden, aber durch treue Ueberlieferung grandiofen Art verfchreiben 
wie der japanifchen oder auch einer nicht minder unperjönlichen, nur noch zu 
jung unfteten, wie der ber parifer Atelierd. In der gepriefenen Renaiffance 
waren die Dealer nicht fo erpicht auf Originalität; aber ihr ſelbſtlos lang 
fames Schaffen, das fich taufendfah am gleichen sujet verfuchte, hat es zu 
einem Zizian gebradt. 

Zwei weitere Beifpiele. Die pathetifchen Redner an der Jahrhundert⸗ 
wende haben mit viel fchönen Reden das neunzehnte Säkulum gepriefen ob 
feiner beifpiellofen Erfolge erſtens in den eralten Wiſſenſchaften und zweitens 
in der Technik. Sie hatten Recht; aber nicht Recht Hatten fie, wen jie zur 
Erklärung der Erfolge einige glänzende Namen in ein glänzendes Licht 
rückten. Vor einiger Zeit erfchien ein intereffantes Buch, das den wahren 
Grund aller Erfolge klar darlegte. Das Buch war betitelt „Vorreden zu 
Hafiiihen Werken der Mechanik.“ Gar mander Neugierige mag danach ge: 
griffen haben, in der ficheren Erwartung, endlich einmal diefe trodenen Ge: 
lehrten sınd Techniker „perfönlicher“ Iennen zu lernen. In der Vorrede darf 
der Autor fi ja perfönlich geben, darf vor den Vorhang treten und man 
verzeiht es felbft, wenn die Rede etwas ftarf gefärbt it von Selbitgefällig- 
feit, etwa wie das Wort des Schöpfungepiloges: „Und er fahe Alles, was er 





256 Die Zukunft. 


gemacht hatte, und fiehe da: es war gut.” Terlei Dinge alfo mochte man 
in einem Sammelband von VBorreden erwarten. Und was boten die Vor⸗ 
reden ber Mechanifer in Wirklichkeit? Nicht Einer umter ihnen, der „pers 
fönlih“ war. Streng fachliche Berichte, kurze Zufammenfaffurgen der Bücher. 
Im Augenblick der perfönlichen Vorſtellung hatten all diefe Männer nur den 
einen Wunfch, noch einmal ganz Mar, ganz fcharf und knapp zu fagen, um 
was es fich handeliee Man bat fi) wohl öfter als ftummer Zuſchauer fo 
feine Gedanke gemacht, auf welche Weife Wunderwerke wie unfere elektriſchen 
Eentralen entftichen konnten. Diefe fo ganz und gar unperfönlichen Vorworte 
der Mechaniker gaben eine Antwort. So widerfinnig e8 fcheinen mag: vor 
biefen Unperfönlichen empfand man das Beduürſniß nach Heroenfult. 

Seit Friedrich Nietfche feine unglüdfälige Theorie von der Minder- 
werthigfeit aller Heerdentriebe und Heerdeninftinkte aufftellte, haben die Viel- 
zuvielen nach der Methode jener alten Gauner, die am Lauteften brüllen: 
„Haltet den Tieb!*, immer neues Material angehäuft zur Diskreditirung 
einer der mächtigften, elementariten Naturerfcheinungen. Wollten die Piel- 
zuvielen fi die Mühe geben, das große Buch der Naturgefchichte und Natur- 
entwidelung gewifienhaft zu lefen, fo würben fie die überrafchende Entdeckung 
machen, daß die thierifchen Arten hienieden nie Größeres leifteten, als wenn 
fie fi willig der Macht eines Heerdentriebes hingaben; daS Leben der Einzel- 
weien mußte aufgehen in diefen einen Trieb, der fo über bie einzelnen Gat⸗ 
tungwefen, ja, über die ganze Art hinausgreifen lonnte. Und ferner: went 
an diefem Erdorganismus ein Artenorgan verfümmern follte, fo zeigte das 
beginnende Erlöfhen des Stammes fih an in ftarfen Inbividualifirungss 
gelüften. Diefe Löfung von dem Träftigenden Heerdentrieb ift wie eine Locke— 
zung von der allein belebenden Kraft des Sterne (auf Einzelheiten kann 
ich mich Hier nicht einlaffen; bei anderer Gelegenheit habe ich fie bereit zu: 
fammengeftellt). 

Eine mächtige Bewegung geht wieder einmal dahin über den räihſel⸗ 
vollen Exrdenftern, ein Wille zur Metamorphofe. Sie nennen ihn Impe— 
rielismus. Die Länder, in denen er wirklich gedeiht, nehmen ein anderes 
Gefiht anz ein neuer Stern wird bier aus der alten Erde herausgemeißelt. 
Iſt die menfchgewordene Planetenkraft, die fich dem beutfchen Boden anpaßte, 
noch frifh genug, hier mitzufchaffen? Haben wir noch Entſchloſſenheit 
genug, mit der ganzen Rüdjichtlojigkeit, die dazu nöthig ift, das Laſter ber 
Perſönlichkeit zu unterdrüden? " 

Wilmersdorf. Willy Bator. 


KR 





Serufalen. 257 


Serufalem. 


ch hab: den zweiten Theil von „Serufalem“ (von der ſchwediſchen Dichterin 

Selma Lagerlöf) zweimal gelefen; beim zweiten Dal mit faft noch in= 
tenfiverem Genuß als beim erften. Daß folche Bücher gefchrieben werten, ift 
eine Wohlthat für den Kulturmenſchen. Der erfte Theil — ein Werk für 
fi — ift ſchon vor einigen Jahren erfchienen. Neben dem zweiten Theil ver 
blaßt der erſte einigermaßen, obwohl aud) er von ergreifender Innerlichkeit 
ft. Nirgends eine Anlehnung, nur Ureigenes. 

In ein abgelegenes barlelarlifches Dorf kommt nad langer Abweſen⸗ 
heit ein religiös fanatifirter Landsmann zurüd, ein Erweckter, der ſich in 
Amerika der Sekte der Gordoniften angefchloffen bat und mit ihr nad 
Jeruſalem ausgewandert ift. Wie ein neuer Rattenfänger, der e8 aber auf die 
Geiſter abgefehen hat, lodt er mit heiligen Klangen die Kindermenfchen weg 
von Heimath und Arbeit, — hin zu dem fernen, geheimnißreichen Wunderlande, 
dem wirklichen und dem bimmlifchen Jeruſalem. . 

Diefer erfte Theil erinnerte mich fofort an „Iörn Uhl.“ Beider Bücher 
Inhalt ift die innere und äußere Gefchichte der Bauernhöfe ihrer Heimath. 

‚Hier wie dort ftehen alte, ftolze Bauerngefchlechter, gewiſſermaßen Tönigliche 
Bauern von Gottes Gnaden im Vordergrund, bei Yrenfien bie Uhls, bei 
Selma Lagerlöf die Ingmarsföhne auf dem Ingmarhof. Gleichartiges bieten 
auch die Begebenheiten. In beiden Romanen ftehen die bäuerlichen Ariftos 
fraten vor ihrem Ruin und ein Schimmer nachdenklicher Weisheit adelt Jörn 
wie Ingmar. Die feelenvolleren Betonungen aber und ben tieferen Sinn findet 
die Dichterin. Wenn Ingmar fein geliebtes Mädchen aufgiebt, um durch eine 
reiche Heirath fi den Hof zu erhalten, fo Liegen ihm dabei gemeine ‘Motive 
— Beflgesgier etwa — fern. Was gefchieht, ift ein Opfer, das er ber Größe 
feines Geſchlechtes, das er in flarfem Pflichtgefühl feinen Ahnen und Enteln 
bringen zu müffen glaubt: wie ja auch Könige, von hohem Pflichtgefühl ge= 
leitet, unerwünfchte Verbindungen fchließen. Hier wie dort find die Bauern 
wit ihrem Boden verwachfen, unentwurzelbar. Und dieſe Bodenliebe fcheint 
faft ein Naturtrieb, wie die Liebe der Mutter zum Kinde; nur ift e8 hier um: 
jelebrt: bie Kiebe des Kindes, des erwachfenen, zur Mutter Erde. 

Bei Frenſſens Menfchen könnte man auch an Roding Skulpturen 
enten, die fih aus dem Marmor kaum erit herausgewunden haben. So 
sehlt Frenſſens Bauern — weil fie zur tief noch im Heimathboden fteden 
jeblieben find — die Ganzheit der Perfönlichkeit. Ex begnügt ſich wohl auch 
nit der Exfcheinungwelt; Selma Lagerlöf dringt in das innerſte Sein der 
Renfchenfeelen. 


20 


258 Die Zukunft. 


Mir fcheint, „Jörn Uhl“ leſe fi) wie das Tagebuch eines alles Menſch 
liche verftehenden edlen Seelforgers, der, warmen Gemüthes und hellen Kopfes, 
über die Felder und Wieſen feines Dorfes gemächlich gemanbert if. Was 
er ſah und hörte, hat er notirt. "Den Naturtönen hat er gelauſcht. Mit 
Bauern und Knechten plaudernd, ift er ftehen geblieben. Und im inter 
figt er an den bäuerlichen Herden und horcht auf die Gefchichten, die da 
erzählt werden. Er zeichnet gut, fein, kernig. Sie malt mit unvergleich 
licher Farbenpracht. Er sieht, fie ſchaut. 

Das religiöfe Element in Jörn Uhl ift von herkömmlicher Art, ohne 
feelifche Ergriffenheit. Kehrt er den Geiftlichen heraus, fo fagt er wohl audı 
Trivialitäten. Seine Bauern hören des Paſtors Stimme. Die Darlefarlier 
der Selma Lagerlöf hören Gotte8 Stimme. 

Der zweite Theil von „Jeruſalem“, ift die Gefchichte der erwedten 
Darlekarlier in Jeruſalem. Sie gehören ber Sette ber Gordoniſten an, bie 
außerhalb der Etadt ein ſchönes und großes Koloniftenhaus bevvohnen. Des 
Wert ift ein Ausfchnitt aus der Gefchichte der Dienfchheit, mit dem ſeheriſchen 
Auge einer begnabeten Dichterin erfaßt und in Bildern und Szenen darge 
ftelt, deren plaftifche Kraft und Farbengluth fchier unerreihbar if. Ein 
großer, tragifcher, meltgefchichtlicher Zug geht durch das machtvolle Bud. 
Choräle braufen hindurch, Geifterftimmen laſſen fich vernehmen. 

In ihren Charakterfchilderungen vereinigt fie Verinnerlichung und 
plaftifche Vollendung des Geftaltens. Ihre Menfchen haben ein m.niyet 
individuelle8 als typifches Gepräge. Es ift die Pſyche einer Klaſſe, eins 
Landſtriches, es iſt die Volksſeele, die ſich ihr offenbart. Ich war nie in 
Schweden, nie in Darlekarlien. Nun aber war ich in Darlekarlien; nun 
kenne ich dieſe Leute. Ich kenne fie als feftgefügte Menſchen, wie aus Edel⸗ | 
bronze geformt; diefe Bauern, die zugleich befcheiden und ſtolz jind, far, 
mit verborgenen Echägen im Innerften. Schmweigende oder Einfilbige, dit 
gern nur reden, wenn brängende Seelenftrömungen ihnen die Zunge löſen, 
wie etwa ein ftarfer Wind den Duft, der in einer Pflanze ruht, erft entbindet. 

Serufalem! Ich war niemals in Zerufalem. Nun aber war id in 
Serufalem. Unauslöſchlich hat die Dichterin das Bild Jeruſalems mir m | 
die Seele geprägt. Zwar zeichnet fie das Jerufalem der Gegenwart, aber dt | 
Gegenwart überfpannt fie mit den breiten, leuchtenden Schatten der Ber 
gangenheit. Sie zeigt das Serufalem, da8 ung das Herz ſchwer macht mil 
der büfter gewaltigen Tragik vergangener Sahrhunderte. Wir fehen das heilige 
Jerufalem, defien Boden noch erfchauert vonzden Wundern und Myſterien 
bes Gottesfohnes. Wir athmen die Seele von Jerufalem, fein geheimniß 
volles Weben in heißen Auguſtnächten. Wir erleben die Perzücdungenfber 
Ermwedten, die abergläubige mohammebanifche Unkultur, die ſittliche Noth, die 





Serufafem. 259 


verleumbderifchen Zettelungen der religiöjen Selten gegen einander, Wir 
erleben das Jerufalem, das wahnſinnig macht, und das Ferufalem, das tötet. 

Sch habe den Eindrud, als würde ich nım, da ich alle Wege und 
Stege, die Jeſus gewandelt, wie aus eigener Anfchauung kenne, die Bibel 
mit lebendigerem Intereſſe lefen als früher. 

Die Engheit und Beſchränktheit der religiöfen Anſchauung biefer 
Bauern, die der Satan noch fchredt, berührt uns weder antipathifch noch 
gewinnt fie und ein Rächeln ab: fie zwingt ung in ihren Bann; wie ja aud) 
alte Heiligenbilder — mag ihre Technik von primitiver Unbehilflichkeit fein — 
durch ihre innere Verklärtheit und Innigkeit Fromme Sehnfuht in uns 
weden. Aus der inbrünftigen Hingebung an Gott leuchtet Afthetifcher Glanz 
und erhabene Wahrheit, Gefühlswahrheit; denn dieje fonzentrirte Glaubens» 
Traft läutert hinauf zum himmlichen Jeruſalem. Ä 

Selma Lagerlöf ift feine fpezifiih flandinavifche Dichterin. Das 
taucherartige Hinabgleiten in die dunkelſten Abgründe der Menfchenbruft, 
die Jagd nad) pſychiſchen nouveautes, das grüblerifche Belauern der eigenen 
Seele it nicht ihre Sade. Sie ift' Mar, einfach, tief, ein immer quellender 
Bronnen lebendiger Kraft und Schönheit. Ihre Tiefe aber ift wie eine 
angeborene, nicht wie das Reſultat ftarfer Gehirnarbeit oder wifjenfchaftlicher 
Erkenntniſſe. 

Bilder und Szenen von unvergleichli.‘ er (Hroßartigkeit und gluthvoller 
Pracht bietet das Wert. Aber felbft ihrer täten Effelte Duelle ift tieffter 
Seelengrund. Manchmal find es Hymnen, die Jich bis zu einem Hofianneh 
in der Höhe auffchwingen, manchmal Elegien, rotb von Herzblut oder ge— 
tragen von ftiler Sabbathfeier. 

Ein düfter pathetifches Gemälde ift ber irrfinnige Büßer, ber, bie 
Dornenfrone auf dem Haupt, Tag vor Tag das ſchwere Kreuz durch Thäler, 
über Berge, durch Weingärten und Dlivenhaine fchleppt, immer in Schauern 
der Angft fpähend, Den fuchend, der e8 ftatt feiner tragen fol. Und als 
die Schweden in Jaffa and Land fleigen, ift das Erfte, was jie erbliden: 
der Büßer mit der Dornenkrone und dem Kreuz, — ein Symbol, das fie big 
ins Mark erfchüttert. 

Da iſt Gunhild, eine Schwedin, die am Sonnenftich ſtirbt; auch an 
dem Brief des Vaters, in dem gefchrieben fteht, daß die Mutter geftorben 
ift, „weil fie in der Mifftonzeitung las, bat Ihr da draußen in Jeruſalem 
ein Schlechtes Leben führt." Und fie fchreitet durch den fürchterlich weißen 
Sonnenſchein, der hinter den Augen hinandrang und im Gehirn brannte, 
und fie fpricht vor fih Hin: Wenn ich nur fterben dürfte! Wenn ich nur 
fterben dürftel* Und fie fieht hie Sonne, eine große, blaumweiße Flamme, 
wie einen glänzenden Bogen über fi, der Pfeile auf fie abſchießt. Scharfes 


” .20* 


260 Die Zukunft. 


Feuer regnet auf fie herab; und nicht nur vom Himmel Alles um fie ber 
funfelt und gleißt und flicht fie in die Angen. Sie hat in einem Gewölk 
fühlen Schatten gefunden. Sie fängt an, fi) zu erholen. Da fühlt fe 
den Brief. Und nun glaubt fie, dat es Gottes Abjicht ift, fie vom Leben 
zu befreien. Und da geht fie ganz ruhig wieder in den Sonnenſchein hin 
aus, als ginge fie mitten durch eine Kirche. Und wieder funfelt und leuchtet 
Alles auf der Erde um fie her und die Sonne fährt faufend auf fie oh, 
wie ein fcharfer Funke, — und ſticht fie in den Naden. 

Ein anderes Bild ift die efftatifch viſionäre Frommheit der Schwerin 
Gertrud, die täglich bei Morgengrauen auf den Delberg wandert, um bie 
Erfte zu fein, die Chriftus fchaut, wenn er, zur Erde wieberlehrend, auf den 
Ylügeln der Morgenröthe nieberfteigt. 

Einer der Schweden ift fchon totkrank, halb bewußtlos, in Jaffa anf: 
geichift worden. ALS er auf dem Gipfel des Bergrüdens Jeruſalem erblidt, 
if die Sonne im Untergehen und in rother und goldener Gluth erfirafli 
die Stadt Gottes da oben. Und er meint, ber Blanz gehe von ben Daum 
ans, die wie helles Gold ſchimmern, und von den Thürmen, bie mit Platten 
aus Kriftall gededt feien. Als er dann im Koloniftenbaus hoffnunglos 
krank Liegt, kommt Verzweiflung über ihn, daß er niemals das Jeruſalem 
mit der goldglänzenden Mauer und den leuchtenden Thürmen, die Gottes Stadt 
bewachen, fehen fol. Da erbarmen fid) die Schweden feiner und eines Abends 
tragen fie ihn auf einer Bahre nach Jeruſalem hinaus. Und er ficht die grau 
braunen Dlauern, die häßlichen grauen Häufermaffen, er flieht entjegt bie ver: 
Kümmelten Ausfägigen und die zahllofen abgemagerten ſchmutzigen Hunde auf 
Miftdaufen. Er athmet fchroüle Luft und efelhaften Geſtank. Und er trauert 
Wie konnten feine Freunde nur fo fchlecht fein, ihm biefen armſälig elenden 
Drt als Jerufalem vorzutäufchen! Und er wollte doch das wahre Jeruſalem 
fehen mit den goldenen Gaffen, in denen die Heiligen in weißfeidenen Ge 
wändern mit Palmen in den Händen wandeln. Und fie zeigen ihn bie Aber 
dem Heiligen Grabe und Golgatha zwifchen Häufern eingeffemmte Grabes 
fire. Das fol ein Gotteshaus fein? Er wills nicht glauben. Und al 
er jenjeitS der Mauern die verbrannten, unfruchtbaren, mit Schutt und Kehricht 
bededten Felder erblict, fliegt er müde die Augen. Unb da er fie nod er 
mal auffchlägt, glänzt weit Draußen ein Wafferfpiegel und jenfeits davon « 1 
fih ein Berg, der in ſchimmerndem, mit lichtem Gold überfluthetem ° ? 
erftrahlt, fo fchön, fo licht, fo durchſichtig, daß er nicht mehr ber Erde ı | 
gehören fcheint. Bon Entzüden gepadt, erhebt ber Keidende fi) von ber Bat 
um diefer fernen Erfcheinung entgegenzueilen, — und finft bewußtlos zum - 

Die ſchwediſchen Koloniften, von Fieber und Heimweh verzehrt, ’ 1 
dem Tod ind Auge. In liebender Barmherzigkeit will die Gemeinde | a 


Jeruſalem. 261 


die Heimath zurädichiden. Nein: fie wollen der Gefahr nicht entfliehen; 
fie fühlen fich den alten Märtyrern verwandt, die da flarben, wenn fie glaubten. 
Und Karin, die alte Ingmarstochter, ſpricht: „Gottes Stimme hat uns 
berufen, hierher nach Jeruſalem zu ziehen. Hat nun Jemand Gottes 
Stimme gehört, die befohlen hätte, daß wir von hier wegziehen follen?“ 

Zu den ergreifendften Szenen gehört Ingmars Ankunft in Serufalem. 
Gewiſſensnoth hat ihm hingetrieben. Sacht und zaghaft öffnet er die Thür 
und tritt in den Saal der Koloniften, bie eben Gottesdienſt halten. ALS 
die Landsleute ihn fehen, erheben fie fih von ihren Sigen und fingen ftehend 
weiter. Kein Lächeln erhellt ihre Züge: doch ber Geſang wird plöglich Lauter, 
ber Ton wächſt zu kraftvollem Jubel, zu einem Jauchzen wie nie vorher: 
und Alle fingen, ohne es felbft zu merken, ſchwediſchen Tert. 

In die Romane der Lagerlöf fpielen mitunter myſtiſche Elemente 
hinein. Okkulte Kräfte regen ſich. Sie fügen jich aber fo völlig dem Ge: 
fammtbild ein, fcheinen fih fo aus der Situation zu ergeben, daß fle bei- 
nahe wie ein natürliches Gefchehen wirken, ohne darum an Stimmungzauber 
zu verlieren. Die telepathifche Mittheilung von einer großen Gefahr, bie 
den Gorboniften droht, diefe VBerlündung, die Mrs. Gordon in einer Mond: 
ſcheinnacht empfängt, ift bei aller Schlichtheit und Maren, faft filberhellen 
Durdfichtigkeit der Erzählung in einen magifchen Duft getaucht und berührt 
und wie ein Klingen aus myſtiſchen Tiefen. 

In den Büchern, die ich von Selma Lagerlöf Tenne, fehlt eins: die 
Zukunft, ich meine die Ydeenantizipation der Zukunft, das ahnungvolle 
Schauen Deflen, mas fein wird. Keine der Geiftesbewegungen und Erregungen, 
die unfere Zeit charalterifiven, klingt bei ihr an. Sie hat nicht bie lechzende 
Sehnfucht moderner flügelftarfer Seelen, ihrem Ich, alte Tafeln zerbrechen, 
neue geiftige Welten zu erobern. Bis zu den Mlorgenröthen auf hohen 
Gipfeln reicht ihre Blickſchärfe nit. Sie ift mehr Dichterin als Denkerin. 
Bom Genie fehlt ihr der prophetifche Zug. 

Um nichts zu verfchweigen, will ich zugeftehen, daß fie fogar manch— 
mal langweilig fein kann; folche Stellen verſchwinden in der Fülle ihrer 
Geſichte; auch nicht verfchweigen, daß mir nicht immer gefällt, wie ihre 
Romane fchliegen. Diefe Schlüffe ftehen nicht auf der Höhe der Originalität 
ihrer Werke, haben zuweilen fogar einen Heinen Stich ins Bhilifterhafte. 
Trotz Alledem aber: Sol ich einer Dichterin unferer Zeit die Balme reichen, 
fo bift Du e8, Selma Lagerlöf, die fo entzüdend zu fabuliren verfteht, Du 
jungfräuleich Reine, Du des himmlifchen Jeruſalems Theilhaftige. 

Möchte Selma Lagerlöf noch viel fchreiben! Denn noch viel möchte 
ich von ihr leſen. Hedwig Dohm. 


. 


263 Die Zukunft. 


Die Reform des Auffichtrathes. 


Fach Sombartd Buch über die „Deutfche Bollswirihfhaft im neun- 
9 zehnten Jahrhundert“ befaß Deutfchland um die Jahrhundertwende 
ungefähr 5500 Altiengefellfchaften mit einem Kapital von zuſammen etwa 
9 Milliarden Dart. Bedenft man obendrein, daß dabei die von Alftien- 
gefellfchaften ausgegebenen Obligationen noch nicht berüdjichtigt find, To kann 
man ſich eine Borftellung von der Bedeutung des verhälinigmäßig noch 
jungen Altienwefens für die Volfswirthfchaft machen. Mit vollen Recht Hat 
daher die Geſetzgebung gerade auf diefem Gebiet immer wieder Ordnung zu 
Schaffen verfucht; aber die Bemühungen, die gefährdeten Intereſſen zu ſchützen, 
find leider noch meit von ihrem Biel entfernt. 

Zu den rafıher Beſſerung bedürftigftien Gebieten des Aftienrechtes ge 
hört das Aufſichtrathsweſen. Das hat Allen, die noch zweifelten, die Wirth: 
ihaftfrilis der leten Jahre bewiefen. Nur über die Wahl ded Weges hat 
man ich noch nicht zu einigen vermocdt. Nach meiner Meinung muß jede 
gefetggeberifche Thätigfeit, die das Aufſichtrathsweſen reformiren will, in erfler 
Linie die Aufgaben des Aufſichtrathes als Kontrolorganes neu regeln. Das hat 
in der „HZeitichrift für das gefammte Handelsrecht” (Band 53) auch der banner 
Dozent Dr. Etier-Sonilo in einem lefenswerthen Auffag gefordert. Unfer Han- 
delsgeſetzbuch überträgt zwar dem Aufiichtrath die Ueberwachung der Geſchäftse 
führung des Vorjtandes, behantelt ihn aber datei al8 ein Geſellſchaftorgan, 
das regelmäßig nur als Kollegium thätig wird; die Kontrolbefugniſſe ftehen 
nur dem Kollegium als folden zu, nicht dein einzelnen Dlitgliede des Auf: 
fichtrathe, wenn dieſes Diitglied nicht etwa ausdrüdlic vom Kollegium dazu 
beauftragt ift. Der Apparat einer Follegialen Ueberwachung ift aber zu 
ſchwerfällig. In Aufüchtrathsigungen kann man nicht einen Geſchäftsbetrieb 
überwachen. Das ift nur möglich bei dauerndem Verkehr der einzelnen Auf- 
fichtrathsmitglieder mit dem Vorſtand. Viele Erfahrungen aus ben legten 
Jahren haben mir beitätigt, dat, wo nıd dem Zuſammenbruch von Aftien- 
geſellſchaften Anſprüche gegen Aufiichtrathsmitglieder erhoben worden ſind 
meist der Vorſitzende einen erheblichen Theil der Schuld trug. In faft jeder 
Aufichteathstollegium hat er die überr:gende Stellung; ift er eifrig um 
tüchtig, jo erfüllt der Aufiichtrath feine Pflichten; ift er läflig, verfammel 
er inSbefondere den Aufichtrath) nur felten, fo iſt fein Verhalten meift typifd 
für das ganze Kollegium. Daß einzelne Mitglied kann ja nur ſchwer geger 
eine Indolenz des Vorigenden ankümpfen. Aus eigenem Antrieb aber zum 





Die Reform des Auffichtrathes. 263 


Vorſtand zu gehen, Yufflärungen zu verlangen, Bücher einzufehen: dazu ift 
das einzelne Aufſichtrathsmitglied weder verpflichtet noch berechtigt; der Vor: 
ftand fünnte e8 fogar mit der Erflärung abfpeifen, er fei nur dem Kollegium 
"oder einem von diefem ausdrüdlich beauftragten Mitgliede Nechenfchaft fchuldig. 
Thatſächlich Haben auch in vielen gegen Aufjichtrathsmitglieder geführten 
Regreßprozeſſen die Beklagten ji) darauf berufen — fat jede Vertheidigung 
gipfelte hierin —, ſie hätten ihre Pflichten erfüllt, feien auf Einladung des 
Borfisenden jtet3 zu den Aufjichtrathsfigungen erfchienen, zu einer darüber hin: 
ausgehenden Kontrolthätigfeit aber, beim beiten Willen, nicht befugt geweſen. 
Hier muß der Geſetzgeber alfo eingreifen. Heute ift der Auflichtrath oft, be= 
fonderd wenn dem Vorjigenden das rechte Intereſſe fehlt, nur eine Puppe. 
Das einzelne Aufjichtrathsmitglied muß nicht nur das Necht, fondern auch die 
Pflicht Haben, nach eigenem Ermeſſen die Geſchäftsführung der Geſellſchaft zu 
überwachen: nur dann wird der Einzelne fich feiner Verantwortlichkeit bewußt 
werden. Gegen diefen Vorfchlag darf man nicht einwenden, daß es oft be— 
denflich fe, dem Einzelnen Gefchäftsgeheimniffe anzup:rtrauen: man wähle 
rben in den Aufjichtrath nur Perſonen, von denen Judiskretionen nicht zu 
fürchten find. Daneben aber könnten AufiichtrathSdezernate für die verjchiedenen 
Gruppen der gejellfchaftlichen Thätigfeit geſchaffen werden. 

Nicht minder wichtig wäre es, für die Vertretung der Minorität 
im QAuffichtrath zu forgen. In diefer Beziehung bin ich anderer Meinung 
al8 Stier-Somlo, der die Frage als noch nicht fpruchreif bezeichnet. Ich 
halte eine Beſtimmung für möglich, wonach der Beſitz eines gewiſſen Theiles 
de8 Grundkapitals das Recht verleiht, aud gegen den Willen der Mehrheit 
eine Etelle im Auffihtiath zu befegen. Ein folches Recht könnte natürlich 
mißbraucht werden: die Konkurrenz konnte e8, zum Beifpiel, benugen, um 
ich in den Aufüchtrath zu drängen. Doch ſolcher Mifsrauch liche fi) ver: 
meiden, wenn die Höhe des erforderlichen Aktienbeſitzes richtig feitgefegt und 
für Streitfälle gerichtliche Entfcheidung vorgefchrieben würde. Jedenfalls 
wäre dieſes Minderheitrecht nur eine logiiche Weiterbildung der fchon bes 
ftchenden Mlinderheitbefugniffe: Vrinoritätklage, Einberufung von General: 
verjanmmmlungen und Anfündung von Gegenitänden der Tagesordnung, Bes 
ftellung von Neviforen auf Antrag der Minorität. 

Diefe beiden Reformvorſchläge ſcheinen mir wichtiger als alle anderen. 
- Für umdisfutirbar Halte ih, mit Stier-Somlo, alle Bejtrebungen, die den 
Aufüchtrath im feiner jegigen Form überhaupt abfchaffen und die lebers 
wachung der Altiengejelichaften unmittelbar dem Staat übertiagen wollen. 
Die unvermeidlide Folge diefer Mafregel wäre eine bureaufratifche Bevor: 
mundung; und Schlimmered fönnte dem Altienrecht nicht woiderfahren. 
Stier-Somlo wünfdt, dag den Vorftandsmitgliedern nah Verwandte von 


964 Die Zukunft. | 


der Wahl in den Auffichtrath geſetzlich ausgefchloffen werden und daß einem 
Auffihtrath nie mehr als zwei unter einander verwandte Perfonen angehören 
dürfen. Ich lann mir diefen Wunfch nicht aneignen. Gewiß find die 
Vebelftände nicht zu verlennen, die aus dem bei manchen Altiengefellfchaften 
berrfchenden Vettern⸗ und Sippenweſen herrühren; bie Menſchen aber, nicht 
die Geſetze Schaffen die Verhältniffe und es ift ein Irrthum, zu glauben, 
jeder Mißſtand fei durch ein Gefe leicht zu befeitigen. Das Proteltion- 
fyitem, da8 man vernichten möchte, ift ohnehin nicht auf Berwandtfchaftgrabe 
befchräntt; gefährlicher ift e3 gerade da, wo nicht Verwandtiſchaft, fondern 
die Gemeinfchaft perfönlicher Intereſſen, die denen ber übrigen Aktionäre 
oft entgegengefegt find, den Untergrund bilden. Ich bene an Zälle wie die, 
wo X im Auffichtrath der Geſellſchaft fit, deren Borftand 9) if, — der felbe 
M der wieder im Auflichtrath der Gefellfchaft fit, deren Direktor X ift, 
wo alfo eine Art Berjiherung auf Gegenſeitigleit befteht. Sole Fälle 
follten, weil fie eine Kolluſion erleichtern, verboten werden. Cine gejeßliche 
Regelung der von Stier⸗Somlo vorgefchlagenen Art würde oft zu dem 
größten Härten führen. Ein in der Praris fehr häufig porlommender Fall 
ift der, daß ein Vorftandsmitglied, etwa ber Borbefiger eines in die Form 
der Altiengefellichaft umgewandelten Fabrilunternehmens, fich entlaften will 
und deshalb fein Vorſtandsamt niederlegt; man wählt den von ihm vorge: 
bildeten Sohn, der feinem ganzen Erziehungsgang nach verfpricht, das Unter 
nehmen in den Bahnen des Vaters fortzuführen, in den Vorſtand, möchte 
aber auch den werthuollen Rath des mit der Gefellichaft feit Fahren eng 
verfnüpften Vaters nicht entbehren; das einfachite Mittel zu dieſem Zweck 
it, dap man den Vater, ſobald ihm als Vorftandsmitglied bis zum Schlufle 
feiner Direltorialthätigkeit Entlaftung ertheilt ift, in den Aufſichtrath wänlt. 
Es wäre ein Fehler, biefe Möglichkeit abzufchneiden. Oft, beſonders bei’ 
Atiengefelfchaften, deren Altien zum größten Theil noch im Beſitz ber 
Familie des Vorbeſitzers jind, ift auch gar nicht zu vermeiden, daß mehr 
al8 zwei Berwandte dem Aufjichtrath angehören. 

Ein anderer Borfchlag geht dahin, daß Perfonen, die im Konkurſe 
find oder mährend der letzten Jahre waren, von einem Auflichtrathgamt ges 
ſetzlich ausgefchloffen fein follen. Auch dagegen babe ih Bedenken. Ein 
Konkurfifer wird wohl felten in einen Auffichtrath gewählt werden; 
hört er ihm ſchon zur Zeit der Konkurseröffnung an, jo wird er m 
freiwillig augfcheiden. Die Thatſache des Konkurſes aber hat an fid I 
nicht8 Ehrenrühriges und man kann nicht ohne Weiteres annehmen, daß e 
Menich, der Unglüd gehabt und in Konkurs verfallen ift, fchon deshalb alle‘ 
nicht mehr geeignet fei, an der Verwaltung fremden Vermögens mitzuwirke 
Das Höchfte, was ich nach diefer Richtung zugeftehen möchte, wäre, ba r 





Die Reform des Auffichtrathes. 265 


Auffichtrathsmitglied, das in Bermögensverfall geräth, aus feinen Aemtern 
fcheibet, damit die Aktionäre entfcheiden fönnen, ob fie e8 wiederwählen oder durch 
eine andere Berfon erfegen wollen. Der Geſetzgeber mag ruhig den Altionären 
überlaffen, ob fie einen Konkurſifer trog feiner Lage für geeignet halten, in 
einem Auffichtrath Sig und Stimme zu haben. Ich kann mir Fälle vor: 
ftellen, wo die Wahl eines folhen Mannes im Intereſſe der Geſellſchaft 
Tiegt; man denke an einen technifch Sachverftändigen, deſſen Rath, troß feinen 
zerrütteten Bermögensverhältnifien, für das Unternehmen von allerhöchiter 
Bedeutung fein Tann. 

Der Gefeßgeber kann eben nur beftimmen, wie der Aufjichtrath zus 
fammenzufegen ift und welche Pflichten er zu erfüllen hat; die geeigneten 
Perfonen zu wählen, ift die Sache der ‚Aktionäre. Mögen fie regelmäßiger 
in die Generalverfammlungen fommen und nicht entweber ihre Altien über 
haupt unvertreten laffen oder die Ausübung ihrer Altionärrechte Perfonen 
übertragen, denen vielleicht andere Interefien näher liegen. Schon oft wurde 
auch hier über die Bleichgiltigleit der Aktionäre gellagt — bie freilich meift 
nur fo lange anhält, wie die Gefchäfte gut gehen und reichliche Dividenden 
gegeben werden — und nah Mitteln dagegen geſucht. Um den Beſuch ber 
Beneralverfammlungen zu erleichtern, haben Eifenbahngefellfchaften freie Hin⸗ 
und Nüdreife gewährt, Schifjahrtgefellihaften einen Ausflug mit obligatem 
Fruhſtück veranftaltet, Brauereien nach Schluß der Generalverfammlung einen 
guten Tropfen geboten. Das find kleinliche Mittel, die höchftens ein paar 
Spiegbürger anloden können. Intereffant war auch der Verſuch, den der 
Credit Lyonnais in Lyon machte, um bei der Erhöhung des Grundkapitales die 
ftatutarifch vorgefchriebene Hälfte des Altienlapitales in der Generalverfamm- 
fung vertreten zu fehen: er zahlte damals jedem anmwefenden Aktionär ein 
Präfenzgeld (jeton) von 1 Franc für jede vertretene Aktie. Doch erftens 
wurde dadurch nur erreicht, daß in der Generalverfammlung viele Aftien 
vertreten waren, nicht, daß die wirklichen Afiionäre felbft kamen, und gerabe 
darauf fommt es an; und zweitens wäre eine ſolche Maßregel weder nad: 
ahmenswerth noch nach deutſchem Altienrecht ohne eine befondere Statuten- 
beſtimmung zuläſſig. AU diefe und ähnliche Mittel würden verfagen; und 
doch werden die Schäden bes Aftienwefens nur verfchwinden, wenn bie Altionäre 
ih um ihre Intereſſen mehr fümmern lernen. Ihre Indolenz ift die Haupt- 
quelle des Uebels. Die meiſten Altiengefellfchaften haben den Aufjichtrath, 
den ihre Altionäre verdienen. 


Dresden. . Dr. Felir Bondi. 


ET 








256 Die Zukunft. 


Ihre Stau. 


FR chneider Maſchke ift mit einer Kellnerin durchgegangen. Die eigene Frau 
5: bat an ihm nichts verloren, aber fie trauert ihm doch nach; vielleicht ihm 
weniger als dem legten Zufammenbrud ihrer Hoffnungen. 

Während fie den Zettel in Händen bielt, den ein Straßenjunge ir grinjend 
mit dem Hausſchlüſſel hinaufgebracht hatte — es waren nur ein paar Worte: 
„Weil Du mid fchon lange nich intellijent jenug bift und weil Du mich über- 
haupt über, fahre ich mit Fräulein Marie ab heute Nadt nah Amerika“ —, 
während fie diefe Worte las, flimmerte es ihr vor den Augen; ihre Knie zitterten, 
und als fie noch den Boten auf feinen Holzpantoffeln ihre vier Treppen hinab 
flappern hörte und die Melodie der „Liebesinſel“ unten aus der Budike deutlich 
zu ihr binaufflang, fiel fie um. 

Nun war Alles jtill in der Stube. Dann, nad) einer Weile, fing das 
Kind zu jchreien an. Es jammerte und winfelte, es ſchrie und fehrie: Niemand 
fünmerte fih darum. Da richtete fih das Würmchen auf; Ted gudte es um 
fi, und als es den Plan fondirt Hatte, Half es fi) und plapperte drauf los: 
„Dam: Dam-Da!" Zum erften Mal formten die kleinen Lippen in biefer 
Stunde bie Silben „Mam-Mam-Ma!“ 

Stöhnend richtete fich die Mutter auf. Erſt jeßt ſah fie, daß Blut über ihr 
Stleid rann. Da wußte fie Beſcheid. In ihrer Familie gingen Alfe fo drauf; und 
bei ihr war es heute nicht das erſte Mal, daß der rothe Strom fie erſchreckte. Ihr 
war aber ganz wohl, gar nicht fchlecht; viel leichter alg in all den Wochen vorher. 
Sie erhob fid), gab dem Kinde ein Stüdchen Semmel und überlegte: Was num? 

Summer noch johlten fie unten die „Liebesinſel“. 

Sollte fie die Nachbarin rufen? Aber dann würde es jofort heraus- 
fommen, — Das von der Kellnerin und dem Marne. So jebte fi die Frau 
vorläufig unſchlüſſig auf den Bettrand. In die dunkle Küche, in der fie jchlief, 
dien der Diond. Den jtarrte fie an. Das Kind ftredte ihm die Hermchen entgegen. 

Allmählich glitt an der Frau das ganze Elend ihrer kurzen Che vorüber. 
Es war beinahe, als ob3 der Mond ihr faltlächelnd vortrüge. Sie hatte aber 
feine Wuth mehr auf ihren Franz; es war förmlich Erleichterung, nun nidt 
mehr auf das Gepolter warten zu müſſen, das der Heimfehrende, machte. 

Eigentlich empfand fie nichts als Schnfudt nad „ihrer rau“. 


Auch dies Leben wies Glanzpunkte anf. Im Dienſte damals ftand fie 
in Anfehen. Die Derrihaft wußte Treue und Arbeitiamfeit zu ſchätzen. Das 
Mädchen gehörte — bejonders in ſchweren Zeiten — fait zur Familie. Da hieß 
es: Anna hier, Anna da. Jeder braudte fie. Manchmal hätte fie jich wohl zer. 
reißen mögen. Nichts war ihr zu ſchwer. Freundlich erfüllte fie jeden Wunſch 
Das auf der Punge fam erft mit dem Kinde. Daß fie mit dem Schneider 
„nina“, wußte die rau; daß der Auserwählte ein Taugenichts, wußte bie 
Herrſchaft nicht. 

tur an ihren Sonntagen machte fie ſich für ihn fo ſchön mie möglich, 
Kiel Schönheit mar abeg nicht zu erzielen; ihr Erſpartes lodte wohl mehr ala 
jonftige Reize. So ging die Zeit hin. 


Ihre Frau. | 267 


Sechs Jahre ſchaltete und waltete fie auf ber jelben Stelle. Sechs Jahre 
begte fie eine jtille Liebe zur Madonna, auf der das Wort: „Murillo“ ihr ans 
fangs fo großes Sopfzerbrechen gemacht hatte. Mit wahrer Zärtlichkeit entfernte 
fie ſechs Jahre lang jeden Diorgen den Staub von dein Gemälde. ben fo 
lange gehörten dem Schneider die Sonntage. Von Heiraten war nie die Rede, 
bis ... Ja, — dann mußte es fein. Ein Mädchen mit einem Sind blieb in 
Schande. Als fies merkte, reinigte fie immer jchluchzend ihre Madonna mit 
dem Kind. 

Alles Eriparte ging für die Einrichtung drauf. Aber fie fam doch aufs 
Standedamt. Nun war alfo wieder Ordnung geihaffen; die Ehre Hergeftellt. 

Der Abjchied von der Herrichaft Tojtete viele Thränen. Sie hing an 
dem Hanje, dem fie fo lange treu diente, als ob man fie dort ſechs Jahre nur 
gefeiert hätte. 

Ihr zweites Mort hieß von nun ab: Meine rau, die Frau, unfere 
rau. Die ganze Vergangenheit verklärte fich ihr im Bilde der einftigen Herrin. 

Zuerſt, in der Aderftraße, glaubten ihr die Nachbarn, wenn fie von ver: 
gangenen Beiten erzählte, von dem guten Dienst und „ihrer Frau“. Als fie 
dann aber in die jegige Barade umzogen, Webdingftraße, Hof vier Treppen, 
als die Leute im Haufe von dem Ehepaar nur Armuth zu jehen befamen, als 
der Dionn immer jeltener zur Urbeit ging und Ama auch nicht mehr recht was 
auf.ihr Aeußeres hielt, lächelten die Leute unglänbig, jobald fie von „ihrer 
Frau“ anfing. Man hielt „die Frau“ für eine Reflamefigur, die Erzählung 
von der reichen Weihnachtbeſcheerung für Prahlerei, den ganzen Hayshalt in der 
Bellevneftraße für ein Märchen. Diefe gebüdte, elend ausjchende, immer huftende, 
nad Armuth riechende Perſon konnte unmöglich noch vor fo furzer Zeit in einem 
vornehmen Haufe des Weftens fill fait unentbehrlih gemadt haben. Man 
lachte fie heimlich aus. vamiſch hieß es, wenn ſie ſich zeigte: „Kiek! Ihre Frau 
geht übern Hof!“ 

Arme Leute haben kein Herz für einander. Vielleicht ging ihnen unter 
den Stößen der Lebensmühle jegliches Mitleid verloren. Im Kampf ums Brot 
wird viel zerjtoßen. 

Annas Unglüd war — fo erklärte fie ſichs ſelbſt —, daß fie feinen 
Menſchen ärgern konnte. Sie hielt immer ftill. Alles ließ fie ſich aufhalfen. 
Daß ein ordentlicher Menſch fich zu wehren habe, fiel ihr nie ein. irgend ein 
Kampforgan mußte die Natur ihr verfagt haben. ud es fchien, als wollte 
das Schidjal diefen Vortheil ausnußen. Geduldiger nahın Niemand Püffe in 
Empfang. Nur der Rüden wurde immer um eine Yinie krummer. Laute Merk: 
male ihres Niederganges waren nicht vernehmbar. 

Der Schneider fpazirte einfah als „feiner Wilhelm“ durch feine Ehe. 
„Arbeit ſchändet“, lachte er, wenn Anna zum WVerdienen antrieb. Er Batte fi 
in ihrem Sparlafjenbuche geirrt. Das ließ er fie entgelten. 

Am Wophlften fühlte fie fih, wenn fie wuſch. Waſchen war gewiß nicht 
das Aergfte. Der Wrafen und der fhöne Seifengeruch benebelten jie fürmlid. 
Sobald fie, in Qualm eingehüllt, tüchtig rieb und rumbantirte, zerrich fie ge- 
wilfermaßen ihre Sorgen. Sie träumte ſich dann in die Bellevueſtraße zurück. 
Noch einmal dort Staub zu wilden und die Zimmer aufjzuräumen: ein deal! 


— — « 


268 Die Zukunft. 


In Wirklichkeit zeigte fie ſich nie bei der Herrin; fie ſchämte ſich zu ſehr 
der erbärmlichen Wahl. Nur mit dem Herzen ſuchte fie „ihre Frau“ auf. Tag 
vor Tag klagte fie ihr in Gedanken die Noth. Abends firih fie manchmal durch 
die vornehme Straße. Scheu drüdte fie ſich durch die Dunkelheit; am Tage 
hätten die Bekannten — Portiers, Briefträger, Blumenhändler — fie gegräßt; 
der Untergebende aber fürdtet den Glücklicheren. 

Wie der Eine im Leben als Höchſtes fi das Große Los wünſcht, wie 
ein Anderer von SXtalien träumt, der Dritte in ber Fremde fich frank in die 
Heimath fehnt, jo hoffte biefe durch die Che halb Vernichtete anf den Augen 
blid, einmal noch — felbit fauber und nett ausſehend — Staub wildend all 


die Herrlichkeiten, die Bilder und koſtbaren Nippes und namentlich bie heiß⸗ 


geliebte Madonna zu berühren, mit der fie einft fo vertraut gewefen war. Da 
ſollte tann ihres Lebens größter Augenblid werden. 

Während der Minuten, die diefen Erinnerungen galten, mußte bie Arme 
ihr Taſchentuch feft vor den Mund drüden; das Blut quoll langfam weiter. 

So entſchloß fie fi, um Hilfe zu bitten. 

Mühſam fchleppte fie fi bis an die Thür. Im Vorübergehen ftrid fie 
dem Stinde über das Köpfchen und ein bünnes Stimmden quittirte bie Lieb 
koſung. Dann Elopfte fie nebenan. 

In fünfzehn Minuten war nun Alles verändert. Zwei große Neuig: 
feiten auf einmal alarmirten das Hinterhaus: Schneider Maſchke war mit Der 
von unten aus dem Chantant durchgebrannt; und feine Frau ſchien Miene zu 
maden, ohne Begleitung auf und davon gehen zu wollen. 

Auf den Zügen ber Helferinnen Tag geheime Genugtäuung über das Gr 
eigniß. Was bat ein armer Menſch fonft? Die felbe Plage jeden Tag umb 
das Bischen Klatſch, von dem man doch nie fo recht weiß, 05 denn aud wirk 
ih was dran ift. Ueber den Fall Mafchke konnte aber kein Zweifel mehr 
berrichen. Jede Flurgenoſſin fühlte ſich förmlich als Mitfpielerin in bem Drama. 

Die dide Waſchfrau bob den Zettel auf, der noch am Boden lag, ſchüt⸗ 
telte deni Kopf und gab das Ding weiter. „Das Aas!"... „Der Hund“... „Das 
Stüd Miſt!“ Sole Worte wurden hörbar. Halblaut ereiferten fi Alle. Rut 
die Kranke ſchwieg. | 

Dan überlegte, was zu thun fei. „In dem Klinik mit fie? Unfalftation?” 

Anna ſchüttelte den Kopf. Sprechen konnte fie nicht oder wollte fie nidt; 
wer ahnt, was in der Bedrücten Bruft worgehen mochte? Endlich winkte fi: 
Alle ftürzten über fie ber. Kaum verjtändlich flüfterte fie der Fleiſchermamſell 
ins Ohr: „Die Frau‘. j 

Ungläubige Mienen antworteten. Man wollte fi) nicht blamiren. Gut 
mütbig begann die Dläntelnäherin wieder „von dem Klinik.” Aber Anna wi 
holte leife nur das Eine: ‚Die Frau!“ 

Als der Tag dämmerte, wollte eine Alte es endlich verſuchen. 
Bellevuelttaße war weit. Insgeſammt begleitete man die Botin big au 
Treppe. Da erft fing das Schnattern an: „Zum Laden! Solde Feine, 
noch Schläft! Die weden! Und dann: die Reichen find jegt im Badel Ueberhi 
wird fein wahres Wort dran fein. Und jo Eine wie die Schneiberäfrau, 








Ihre Fran. 269 


ber eigene Mann nicht mal eftimirt hat, jollte bei Fremden in Reputation ftehen? 
Und ſchuld is fie man doch blos allein; wie man fich bettet, fo jchläft man, Er 
taugt nichts umd fie is nicht viel beſſer. Ach Jott, die Mannsleutel Wenn ich 
Eine treffe, die zur Hochzeit geht, muß ich mir immer ausweinen.... Uber das 
arme Würmchen! Und bie halbe Wirthichaft verjegt . . .” 

Endlih verfhmand die Alte Am ganzen Hinterhaus rubte die Urbeit. 
Die Frauen rührten fi nicht aus Annas Küche, wo ein dider Armeleutegeruch 
Berwöhnteren den Athem rauben mußte. 

Der Arzt. der Unfallftation batte wenig Hoffnung gegeben. Die Nad- 
borinnen brübten fi) einen Kaffee und faßen nun, ruhig ſchlürfend, neben dem 
Bett. Sie erwarteten irgend etwas fehr Aufregendes. Der Rückkehr der Alten 
ohne Begleitung waren fle fiher. Die Wäfcherin Hatte ihren Sjungen zum Ab- 
fogen geſchickt. Das bier wollte fih Keine entgehen lafien. Die Portierfrau 
ließ ihren Dann fegen. Das Fleifcherfräulein meldete fi per Rohrpoſt für 
den Bormittag frank. Der Schneiderin kams nie jo genau auf eine Stunde an. 

Allmählich wurde die Gejellichaft elegiſch. „Son Menſch!“ jammerten 
fie. „Ueberhaupt ..... Die Welt... . So traurig Frepiren zu müſſen!“ 

Nur Eine fühlte nichts von dem ganzen Unglüd: Unna Sie wartet 
auf „ihre Frau“. Alles Andere iſt verjunten. Ihre müden, halb gejchloflenen 
Augen richten fi immer nad der Thür... Nie Tann ein Süngling die Ge— 
liebte jehnjüchtiger erwartet haben als bier das arme, vom Geſchick zermürbte 
Weib die Herrin. | 

Während die Schwäde zunimmt, während allmählicde Ohnmacht fich über 
die Sterbende breitet, kommts wieder umb wieder ſtoßweiſe, faft irr über bie 
Lippen: „Die Frau!“ ... „Die Frau!“ 

Leife ftreicht eine Hand Über des Weibes Stirn. Zärtlich beforgt, Elagend 
Elingt es: „Anna, meine licbe Anna!’ 

Die Krante erwadt. Einmal noch ſchlägt fie die guten, treuen Augen auf. 

„Liebe Anna!‘ 

Die Küche und die neugierigen Weiber find verſchwunden; auch die jammer: 
volle Ehezeit iſt vergeilen. Die Mutter Gottes iſt gekommen, fie zu holen. 
Und biefe Madonna, bie jie fo genau kennt, nad der fie fich geſehnt in all ihrer 
Noth, trägt die Züge ihrer Frau und das Kind auf deren Arın gleicht dem eigenen 
Heinen Anuchen. 

Frau Maſchles großer Augenblid iſt da. 

Man hat die Fenſter geöffnet. Luft fluthet herein. Xicht bringt über bie 
ſchon in Schwäche faft Bergehende. Die ſuchenden Hände, die den Tod „pflücken“, 
wie ber Bollsmund dies legte Symptom bes nahen Endes nennt, fahren un- 
big, als wollten fie Staub wilchen, durch die Luft. Nur die Mugen, dieſe 
müden, müden Uugen bängen an der Mabonna. 

So tft fie doch zurüd in ihr Gelobtes Land gelangt, ehe der letzte Tobes- 
fampf begann, der ihr Stille brachte und eine gute Stelle für immer.’ 


Yranzisla Mann. 


270 Die Zukunft. 





Selbftanzeigen. 


Jahrbuch für feruelle Zwiſchenſtufen. Wünfter Jahrgang. Verlag von 
Mar Spohr in Leipzig. 

Der neue Band iſt nahezu 1400 Seiten ftarf, enthält über 170 Il. 
Iujtrationen und iſt gut ausgeftattet. Cingeleitet wird das Bud von einem 
Bilde de3 im vergangenen Jahr verjtorbenen Profeſſors von Krafft⸗Ebing und 
einem anerfennenden Schreiben, das diejer Gelehrte kurz vor feinem Tote 
über den Werth der Jahrbücher an mich gerichtet hat. In der erften größe 
ren Arbeit, „Urfachen und Wejen bes Uranismus“ (auch jeparat unter dem 
Titel: „Der urniſche Menſch“ erſchienen), fuche ih auf Grund von über 15 
eigenen Beobachtungen nachzuweiſen, daß homojeruelles Empfinden ſtets an ein: 
geiftig und Eörperli von Geburt an in beftimmmter Weiſe charakterifirte Per⸗ 
ſönlichkeit gebunden iſt, von deren Merkmalen — einer beſonderen Miſchung 
männlicher und weihlicher Eigenſchaften — ich eine eingehende Schilderung gebe. 
Als Anhang folgt die Selbftbiographie eines urnifchen Arbeiters, die nicht mur 
die Eigenart des Homoſexuellen wiedergiebt, fondern aud die furchtbaren Kon 
flifte, in die ein folcher Denfch durch die normale Majorität jo häufig verwidet 
wird. Nach einer Eleineren Abhandlung des Medizinalrathes Näde, die das 
jeltene Vorkommen der Domofegnalität bei Geiſteskranken erörtert — Näde hat 
ein Material von 1481 Irren verarbeitet —, kommt Hofrath von Neugebauer 
aus Warſchau mit einer ehr intereffanten Arbeit, betitelt: Chirurgiſche Ueber- 
rafchungen auf dem Gebiete des Scheinzwittertfumes. Da find 134 Fälle zu 
fammengeftellt, in denen ſich während einer Operation berausftellte, daß Per⸗ 
fonen, die irrthümlich als Mädchen getauft und erzogen waren, in Wirklidfet 
Männer waren und umgekehrt. Manche diefer verfanuten Perſonen waren fogat 
verheirathet. Es folgt ein bisher faft unbefannter Brief & | 
Karl Auguft, den Mochiu ein eſchigt hat, „über die nf 
Joy. Daraıtı a ey Mibeiten”"Der zı aroctte Halbband 
als Titelbild eine Reproduktion des bekannten Hermaphroditen aus dem alten 
berliner Muſeum. Darauf folgt zunächſt eine große Arbeit des Herrn Dr. von 
Römer: „Die androgune Idee des Lebens“, worin der junge amfterbamer Ör 
lehrte zeigt, wie in ſämmtlichen Religionen die oberfte Gottheit urfpränglid 
doppelgefchlechtlicd gedacht war. Die Kenntniß diefer mit nicht weniger als &6 
Abbildungen verſchiedener antiken Hermaphroditen geſchmückten Monographie 
dürfte für den Archäologen und Kunftfreund eben fo wertvoll fein wie für ben 
Theologen und Theoſophen im weiteren Sinn. Wie in früheren Jahren, jo 
hat auch in diefen Numa Prätorius bie Bibliographie des Uranismus gewiflen- 
haft bearbeitet, diesmal unter befonderer Berüdfichtigung ber belletriftifchen Literatut. 
Ihm folgt der peteröburger Strafrechtslehrer Wladimir von Nabokoff mit feinem 
Vortrag: „Die Sittlichkeitgefege im ruſſiſchen Strafgefeßbud“; er forbert au 
juriftifden Gründen die Aufhebung bes Uxrningparagraphen. Damit mieder 
olle vier Fakultäten zum Wort kommen, ſchildert ſchließlich noch ein katholiſcher 
Geiftliher die feelforgerifchen Vortheile, die ihm während feiner Amtszeit 
aus ber Kenntniß des urnifchen Phänomens erwuchſen. Am Schluß wird det 
Jahresbericht des wiſſenſchaftlich humanitären Komitees veröffentlicht, aus dem 






Selbftanzeigen. 271 


ich die Nachrufe an Krafft-Ebing und ben Prinzen Georg von Preußen — ber 
die Arbeiten des Komitees finanziell unterftligt hat — hervorhebe, bejonders 
aber. eine genaue und objektive Darftellung des Falles Krupp. | 


Charlottenburg. Dr. Magnus Hirichfeld. 
% 


Schanfpielfunft und Schaufpielfünitler. Beiträge zur Aeſthetik des Theaters. 
Schuſter & Loeffler, Berlin. 


Die Abſicht, die ich mit dieſer Arbeit verfolge, ift die alte. Ich ſchrieb 
nicht etwa ein Lehrbuch der Schaufpielfunft. Was hätte Das für einen Sinn? 
Als 0b man jemals eine Kunft nad) Büchern lehren, aus Büchern lernen könnte! 
Es handelt fich Hier auch nit um das Aneinanderreihen von Spigfindigkeiten 
einer ſpekulativen Aeſthetik. Zu welchem Zweck wohl? Als ob dadurch vielleicht 
die künſtleriſche Kultur irgendwie geſteigert zu werden vermöchte! Nicht mehr 
und nicht weniger als eine Ueberſicht über die innere Organiſation des in Rede 
ſtehenden Kunſtzweiges wollte ich geben. Das Schaffen und Mühen, die weſent⸗ 
lichften Aufgaben des Menjchendarftellers follen abgegrenzt und prinzipiell durch: 
gefprochen und dann die großen äfthetiihen Normen jeiner Kunſtübung hieraus 
gewonnen werden. Natürlich intereffirt ung dabei nicht nur die Schaufpielfunit, 
fondern au der Scaufpielfünftler:: eben als Künſtler, aber auch als Menſch, 
in feiner Stellung zu Welt, Leben und Geſellſchaft. Auch Hierliber dürfte des» 
Halb kurz zu reden fein. So wenden fi diefe Studien alfo in erfter Linie 
an den Genießenden. Nachdem fie zunächſt ganz allein für mich angejtellt wurden 
— weil ich mir die Unterlagen und das Recht zu Fritiicher Thätigkeit im Pargquet 
“erwerben wollte —, gebe ich fie hiermit an Alle weiter, die es angeht. Ich 
dachte nämlich, daß ich Denen, die im Theater eine Stätte der Kunft und nicht 
nur des zerftreuenden Vergnügens fehen, durch meine Auseinanderfegungen bier 
und da das PVerftändniß für den komplizirten Mechanismus der Bühne ein 
Wenig erleichtern fönnte. Das jcheint mir wichtig. Ich bin nämlich der Anſicht, 
daß ein gewiſſes Erkennen feiner inneren Bedingungen den eigentlichen Genuß 
des Kunſtwerkes nicht unmefentlich fördert. Die Befchäftigung mit den Theoremen 
einer Kunſt ſchärft nicht nur die Sinne, fondern macht auch gerechter. Vielleicht 
fließt diefe urjprünglide Abſicht aber auch nicht aus, daß die Lecture jogar 
dem einen oder anderen Bühnenfünftler Etwas bedeuten könnte. Das wäre 
dann allerdings bad Höchſte. 


Eſſen. Karl Hagemann. 


Wirklichkeit und Schein. Novellen von Roberto Bracco. Einzig autoriſirte 
deutfche Ueberfegung. Verlag von Dr. Marchlewsti & Co. Münden. 


Zwei diefer Novellen, „Das Bioloncell des Doktors“ und „Seelenheil”, 
find in der „Zukunft“ erfchienen. Bracco ift bem deutjchen Publikum als Drama- 
tifer wohl befannt und ich hoffe, ber geiftvolle Sungitaliener wird auch als Novellift 
willlommen fein. Die neunzehn Novellen, heiteren und düſteren Inhaltes, find 
leicht und flott Hingeworfen und Haben trotzdem, denke ich, einen nicht zu unter 
ſchätzenden pſychologiſchen Werth. Flott find fie gejchrieben, aber nicht flüchtig, 
und in jeder von ihnen liegt ein Stückchen Seele bes Dichters. Aus einigen 


272 Tie Zukunft. 


fpricht eine cynifche Welt- und Menſchenverachtung, andere wieder find von Menſchen⸗ 
liebe und Berföhnlichleit durchglüht; aber Leiner fehlt der perfönlihe Ton bes 
Autors. Ich war redlich bemüht, den Schimmer des Originals in ber Ueber- 
ſetzung nicht zu verwiſchen. 

Wien. * 


Die Hilfsſchulen für ſchwachbegabte Kinder in ihrer Entwickelung. Be— 
deutung und Organifation. Preis 1 Marl. Hamburg und Leipzig 1903. 
Verlag von Keopold Voß. 


Erſt um die Mitte bes vorigen Jahrhunderts fing man an, einer lange 
vernachläffigten, aber um fo bedauernswertheren Menichenklafle, den geiftig Armen, 
befondere Theilnahme und Yürforge angebeihen zu lafien. Menfchenfreunde 
eröffneten zu jener Zeit Anjtalten zur Erziehung und Bildung blöbfinniger Finder 
und Ulyle zur Verpflegung erwachjener, erwerbsunfähiger Beiftesichinadgen. Doch 
diefe Beitrebungen kamen nur einer bejchräntten Anzahl von ſchwachſinnigen 
Individuen zu Gut; der größte Theil führte nach wie vor ein kümmetliches, 
oft menſchenunwürdiges Leben. Allmählich aber hatte man erkannt, daß ihnen 
durch eine ihrer ſeeliſchen Verfaſſung angepaßte Erziehung. und Unterricie: 
methode in mander Beziehung weſentlich geholfen werden könnte. Deshalb 
errichtete man neben den vorhin genannten AUnftalten gumächft einzelne Klaſſen, 
fpäter ganze Schulen für geiftesfchwache Kinder; hauptſächlich in größeren Stähten. 
Die Bahl der Schulen, Hilfsihulen für fhwachbegabte Kinder bürfte zur Zeit 
in Deutſchland 150 betragen. Ahr Zweck ift, den geiftesichwaden Kindern eine 
ihren geiftigen Fähigkeiten entiprechende Ausbildung zu vermitteln und ihre 
Erwerbsfähigleit anzubahnen, damit fie fich nicht als unnützen Ballaft ihrer 
Ungebörigen oder der Gemeinden durch das Leben zu ſchleppen brauchen. Danch 
haben die Hilfsſchulen in ihren Beitrebungen wichtige und umfangreiche Arbeiten 
zu leiften, über die meine Schrift orientiren will. 

Stolp. * Fr. Frenzel 


Apollon und Dionyſos. Dualiſtiſche Streifzüge. Axel Juncker, Stun⸗ 
gart 1004. 3 Mark. 


Die hier gebotenen Aufſätze verdanken ihre Vereinigung zu einem Bande 
nicht einem Zufall; fie bilden in der That ſtiliſtiſch wie gedanklich eine Einheit. 
die den Bufammenfchluß rechtfertigt. Ohne Dualift im philoſophiſchen Sinne 
diejes Wortes zu fein, habe ich mich daran gemacht, in allen behandelten Gegen⸗ 
ftänden bie dualiftifche Formel nachzuweiſen, die ihm als die dialeftifch günftigite 
erſcheint. „Apollon und Dionyſos“, die einleitende Arbeit, behandelt den Unter 
ſchied zwilchen apolliniicher und dionyſiſcher Kunſt. „Bom Sinn bes Der’'“- 
thumes“ ift ein mit Kleinen Mitteln unternommener raſſenpfychologiſcher 
ſuch. „Rainer Maria Rilke’ ift die kurze Gejchichte des ungemein ftarlen k 
drudes, den ber Berfaller von diefer feinen, auf eine fabeldafte Nervenkul 
gegründeten Kunſt erfuhr. „Vom Werth ber Worte” endlich und „Litermil 
Schlagworte” befaflen fi auf felbftändige, insbejondere von beim verdienftun 
Werte Fritz Mauthners unabhängige Weife mit dem Problem der Spradfri 


Münden. Wilhelm Michel 
8 


Otto Eiſenſchitz. 


Zauberlehrlinge. 273 


Dana Petrowitſch. Drama in drei Akten. Wiener Verlag, Wien und 
Leipzig. 1904. 

In den ſüdungariſchen Sumpfwäldern gedeiht das bravſte Edelwild Eu⸗ 
ropas. Bringt man die Thiere auf feſten Boden, fo athmen fie gierig die ge- 
funde Luft ein und... . fterben am ihr. So geht es Dana Petromwitich, der 
Tochter eines froatifhen Edelmannes, der Bolitifer von PBrofeffion und Leber 
mann aus Weberzeugung ift. In der Umgebung, für die Danas Rafje vorbe- 
ſtimmt ift, gefällt es ihr; da weiß fie fi zu bewegen. Als Bojo Danas Ge- 
mahl wird und fie in bürgerlich moraliiche Remifen bringt, freut id Dana all 
des Neuen und meint, da müßte es fich leben laflen. Doch fie verfteht dieſe 
Umgebung nit. hr fehlt der Kompler von Begriffen, mit denen man hier 
denkt. Diefe dumme jchöne rau habe ich drei Männern gegenüber geitellt. 
Bei allen Dreien entfacht fie Zeidenfchaften und zieht fich, als fie am Lauteften 
toben, hilflos und erfchredt zurüd. Wie eine Hindin von fern dem Kampf der 
Brunſthirſche zufieht, von dem ihr Schidfal abhängt, fo bleibt aud fie paſſiv, 
faft bis zum legten Augenblick. Als fie fih endlich aufrafft, thut fie es auch 
nur injtinktiv und treibt einen von ihren Bewerbern, den abgethanen, in dem 
Hinterhalt ber beiden anderen. 


Wien. Roda Roda. 





Sauberlehrlinge. 


hr Yrühling 1900 war Deutichland auf dem beiten Wege, das Hexen zu 
lernen. Die Konjunktur ſchien jo günftig, wie man fie nur träumen 
fonnte, der Kurszettel glänzte in rofigem Licht und an der Börfe hielt Jung 
und Alt fi zu Dingen berufen, an die man fidh kurz vorher gar nicht heran 
gewagt hatte. Juſt auf diefem beiten Weg aber, dem Weg zur Hexenſchule, 
gerieth der kecke Wanderer, dem Stnaben des Märchens gleich, in ein fumpfiges 
Erlenmoor; und nad langen Irrfahrten erjt, nach vielen Abenteuern, die nur 
um Haaresbreite an drohender Vebensgefahr vorbeiführten, fand er endlich wieder 
beim. Drei „Sabre waren verftrichen. Man athmete auf. Die böje Alte, das 
Sinnbild des Niederganges, war, wie eine Giftblaſe, zerplat. Die Bahn jchien 
frei; ein neues Leben fonnte beginnen. Nun war Deutſchland, jo durfte man 
hoffen, von dem unjeligen Drang, heren zu können, geheilt... Wirklih? Das 
Märchen ift zu Schanden geworden. Im Herbft 1903 ift die Luſt am Hexen 
in der deutfchen Finanz und Induſtrie, troß all den harten Lehren der legten 
Zeit, mit der alten Kraft wieder erwacht und ftaunend fieht die Welt, wie 
Deutſchland fi ftrebend bemüht, um jeden Preis die Hexenkunſt zu erlernen. 

Der Eifenbahn-Rekord von Zoflen-Marienfelde Iodt die raſtlos vorwärts 
Drängenden wie ein Irrlicht. Jeder will e3 erreichen; und fo geht die milde, 
verwegene “Jagd über Stod und Stein. Zwiſchen Käje und Birne verfündet, als 
handle ſichs um eine Kleinigkeit, dieman zum Geburtstag ſchenkt, Herr Kommerzien— 
rath Baare feinen bochumer Aktionären, der Gußſtahlverein werde nächſtens auf dem 
Tilmannshof ein neues Stahlwerk in größtem Stil errichten. Man traut ſeinen 


21 


Zauberlehrlinge. 275 


dem Machtwort der Großen zu gehorchen oder zu Grunde zu gehen. Die deutſche 
Hütteninduftrie fühlt ſich alſo wieder einmal bes Sieges gewiß. Die Roheiſen⸗ 
erzeugung Deutihlands bat die bisherigen Höchftziffern ſchon um ein Beträdt- 
liches übertroffen. In den eriten neun Monaten des laufenden Jahres betrug 
fie mehr als 7'/, Millionen Tonnen, hat den Rekord aljo um eine Million ge- 
ſchlagen. Eben fo fchnell tft ber Abſatz von Koks gejtiegen; und die Nachfrage 
nad Kohle tft nicht allzu weit zurückgeblieben. Diefer Geſundungprozeß iſt zum 
Theil auf natürlichem Wege, zum anderen Theil aber durch Fünftlicde Mittel be- 
wirft worden: durch eine Ueberſtürzung, die haftig das dem ruhigen Blid unmöglich 
Sceinende möglich zu machen ſucht. Man thut, als müfje die Welt übermorgen 
untergehen und bis morgen deshalb noch geleiltet werden, was in normalen Zeiten 
Jahre zum Wachen und Reifen braucht. Jeder will hexen, weil fi plötzlich Aller 
der talmi⸗darwiniſtiſche Wahnglaube bemädhtigt hat, nur wer here, Eönne in die 
Reihe der fittest survivors aufgenommen werben. 

Der Antrieb zu folder Haft kommt natürli von den Banken; und in 
den eigenften Lebensregungen diefer Gewaltigen tjt die Meberreiztheit noch deut⸗ 
licher fihtbar. Wer verpflichtet ift, nichts von Alledem, wa3 die Banken jebt 
unternehmen, fid) entgehen zu lafien, weiß kaum noch, wohin er zuerft den Blick 
wenden fol, Doch der Deutihen Bank gebührt immer der erfte Plab. Herr 
Direktor Gwinner ift Hoher Bewunderung würdig. DaB ihm die Verhandlungen, 
die Graf Lamsdorff mit dem Minifter Delcafje in Paris über — richtiger: 
gegen — die Bagdadbahnr führte, nicht gleichgiltig waren, weiß Jeder, der fich 
erinnert, wie oft der erfte Manager der Deutſchen Bank im Intereſſe der Bagdad- 
bahn zwiſchen Berlin, Konftantinopel und Paris Hin- und herflog. Das find 
Fahrten, die, jelbjt wenn das Menu an der Tafel des Orient⸗-Expreß leidlich 
ift, nicht zu den Sreuden des Lebens gezählt werden können. Herr Gwinner, 
der für das Bagdadbahnprojekt Feuer und Ylamme ijt, blidte alfo jedenfall3 
in Außerfter Spannung auf die parijer Verhandlungen, deren Ergebniß für ihn 
ungemein wichtig zu werden verſprach und thatfächlich zu einem fchweren Schlag 
.. gegen das Preftige der Deutſchen Bank wurde. Uber er ließ fich nichts anmerken und 
eilte, al gebe es auf der weiten Welt nichts Dringenderes zu thun, gerade in biejer 
Beit nah Wien, um das öſterreichiſche Petroleumgeichäft feiner Bank in Ord⸗ 
nung zu bringen. Das genügte noch nicht. In den felben Tagen vernahmen 
wir auch, feinem Jupiterhaupt ſei der Gedanke entfprungen, eine — oder gar 
mehrere? — in Berlin bisher nicht gehandelte amerikaniſche Eifenbahnaltie in 
unferen Börfenfaal einzuführen. Kein Anderer als er kann ber Proteftor ber 
Baltimore- Shares fein; der frühere Amerifafundige der Deutfchen Bank, 
Herr Mantiewig, bat ja in der Northern Bacific-Affaire Keine überwältigend 
fihere Erkenntniß der amerikaniſchen Verhältniſſe bewieſen; die Canoſſafahrt, die 
er 1901 nach London antreten mußte, um die arme Deutſche Bank und ihre blinde 
Gefolgſchaft von dem ſelbſtverſchuldeten Fluch der Northern⸗Schwänze zu befreien, 
dürfte ſein Urtheil über amerikaniſche Dinge in den Augen ſeiner Mitdirektoren 
erheblich entwerthet haben. Nebenbei hat die Dentſche Bank auch noch die Emiſſion 
von 17"/, Millionen Mark Schuldverſchreibungen einer ſkandinaviſchen Erzgeſell⸗ 
ſchaft beſorgt. Dieſe Geſchwindigkeit grenzt wirklich ſchon an Hexerei. Doch ber 
fieberhafte Bethätigungdrang, der jedem im Nebel auftauchenden Phantaſiegebild 

21r Fr" 


276 Die Zuhmft. 


nachjagt, ift nicht nur im Palaſt ber Deutfchen Bank zu finden. Daß die Handels⸗ 
gefellfchaft nach Amerika Hinübergreift, wurde” im vorigen Heft ſchon erzählt; 
jeitbem ift auch von einer neuen ſerbiſchen Anleihe gewiipert worden; freilich folgte 
ſchnell eins der Dementis, deren Heftigleit ſtets verbächtig Klingt. Aber ſchon bie 
bedeutfamen Borgänge, in deren Mittelpunft jetzt die Allgemeine Elektrizität⸗ 
Geſellſchaft jteht, würden in normalen Zeiten binreichen, um das betheiligte Finanz⸗ 
inftitut vollauf in Anfpruch zu nehmen. Die Diskontogeſellſchaft, bie eben erit 
zu ihrer peinlicden Meberrafhung vernehmen mußte, daß ihr die rumäniiche Re— 
girung mit dem Projekt eines ftaatlihen Tankwagen-Monopols einen Strid) durch 
das frifch gewagte Petroleumgefchäft machen will, und von der man annehmen 
durfte, daß Ballins Reife nah Nem-Mork ihr nicht ganz gleichgiltig ift, fühlt 
das Bedürfniß, viele Millionen nordargentinifcher Eiſenbahnbonds zu emittiren, 
jener merfwürdigen Obligationen, an deren Proſpekt die naiven Herren der berliner 
Bulaflungftelle zwar den Mangel an Mittheilungen über argentinische Coupon⸗ 
verjährung auszufeßen haben, nicht aber das Verſchweigen der Thatjache, daß 
fie die abgelehnte Hälfte einer mißglüdten Iondoner Voremiſſion repräfentiren. 
Die Dresdener Bank bringt das Kunſtſtück fertig, zugleich an eine Yufion ihrer 
Berzweigungen in Rheinland. Weftfalen und an eine ſtarke Kapitalgerhöhung zu 
denfen (da das Gerücht dementirt wurbe, darf man wohl daran glauben), 
während fie doch andädtig dem Tamtam laufchen follte, das — fchwerlich wider 
ihren Willen — zu Gunſten der Großen Berliner Straßenbahn gejchlagen wird. 
Diefen größten Banken gefellt fi ein Fleineres Inſtitut: die Nationalbank für 
Deutſchland. Sieht man von allerlei mißlichen Gerüchten ab, bie vor einiger 
Zeit über die Zukunft des Binfendienftes von ſchleſiſchen Kleinbahnobligatio— 
nen umliefen und recht ärgerliche Erinnerungen an die unfelige Landau⸗Epoche ber 
Nationalbank wedten, jo fann man zugeben, daß dieſe Anftalt mit dem nie- 
drigften aller Banken: Ultimofurje feit Jahr und Tag erfolgreich bemüht ſchien, 
id den guten Ruf dadurch zurüdzugewinnen, daß fie möglichft wenig von 
fi) reden machte. Jetzt bat fie diefe mwohlthuende Stille jäh unterbroden. 
Aud fie iſt von der Tendenz fortgerifjen worden, nah Allem zu haſchen, was 
groß jcheint, gewaltig, auffällig, impofant. Herr Ernft Friedländer, defien Name 
mit der Geſchichte der nicht eben rühmlich vom Schauplaß verſchwundenen Bres« 
lauer Disfontobanf unzertrennlich verbinden bleibt, fieht jich über Nacht wieder 
zum Vorkämpfer deutjchen Kapitals befördert. Die Nationalbank für Deutjch- 
land ift am Ende noch ftolz darauf, Fünftig mit der neuen johannesburger 
Minenfirma Friedbländer & Eo. eben jo identifizirt zu werben wie die Deutſche 
Bank mit Goerz. Ich nehme an, daß Herr Ernſt Friedländer den Aufenthalt im 
Trangvaal, der zwischen feinem Scheiden aus der Diskontobank und feiner jüngft 
erfolgten Rückkehr in die berliner Börſe und die berliner Klubs lag, ausſchließ⸗ 
(ich dazu benußt Hat, um, nad buriſchem Vorbilde, die Bibel zu lefen. Da 
wird ihm die Mär vom Soldenen Kalb fiherlich nicht entgangen fein. Vielleicht 
erzählt er fie einmal den wiedergewonnenen alten Sreunden. Wenn der Eine 
oder der Andere von ihnen fi die Moral der Gefchichte zu Herzen nähme, 
hätte Herr Friedländer zu‘ unzähligen älteren fi ein neues Berdienft erworben. 
Dis. 


m mn 


Herausgeber und verantwortlicher Redattrur: VI Harden in Berlin. -- Verlag der Zukunft in Bertir 
Truck von Albert Same un Berlin- Schöneberg. 





Berlin, den 21. November 1903. 
— —— — — —— 


Rwiledis. 

BLy dem Großen Schwurgerichtsfaal figt, dicht neben der Eingangs» 

thür, auf dem Holzftuhl des Gerichtsbieners ein faft fieben Jahre 
alter Knabe. Ganz in Weiß gefleidet. Der weiße Klerikerhut hängt auf dem 
Rüden; der Blondkopf ift forgfam frifirt, der Vorder ſchopf zierlich gefräufelt. 
Ein hubſcher Junge, der auf der Straße jedem Borübergehenden auffallen 
würde. Stämmig und doch fein; ſchwarze Augen, ſehr lange Wimpern und 
die milchfarbige Haut eines von der erften Lebensftunde an zärtlich gehegten, 
gepflegten Kindes. Ein paar Damen bewachen ihn, nehmen ihn auf den 
Schoß, ftreicheln ihn; und Hinter den Hüterinnen drängt ſich die Menge. 
Gepugte Polinnen, auf Senfationen birfchende Schreiber, Rechtsanwälte 
in der Robe, im Landgericht heimifche Kriminalftudentinnen, Freiherren, 
Kutjcher, Taglöhnerfrauen: Jeder will, Jede den Kleinen ſehen; recht lange, 
rcht nah. Den Hüterinnen ſcheint der Drang nicht unbequem, ſcheint die 
Möglichkeit, ihr weißes Schätschen zur Schau zu ftellen, ſogar willfommen. 
Sie Haben fich ſchnell aflimatifirt und fragen von felbft ſchon den Betrachter, 
aus deſſen Miene beſonderes Intereſſe fpricht, von welcher Zeitung er fei; fie 
zeigen Zuverficht und find zu Ausfünften immer bereit. Auch dem Knaben 
macht, feit er ſich entſchuchtert hat, das Gedräng offenbar Spaß. Die Kinders 
‚eitelteit ift erwacht; zu nett, von fo vielen Leuten bewundert zu werden. Aus 
Iuftigen Augen blidt er in das bunte, endlos wechjelnde Bilderbuch. Das 
Näschen merkt nicht, wie fchlecht die Luft iſt; noch ſchlechter al fonft. Theure 
und billige Parfums, verſchwitzte Kleider, Tabak, Allohol, Säuglinggerüche 
— benn mande Zeugin trägt ihr in verbächtige Deden gewideltes Kind 

2 


278 Die Zukunft. 


mitfich herum —, die Ausdünftung armer Leute, Roffäten, Wildwärter, Stalf- 
mägde, Knechte, die fich den Luxus ber Sauberkeit nicht leiften önnen: der 
Nuntius fogar, ein rothblonder Rieſe, Hagt über Kopfichmerz. Die Neugier 
drängt weiter. Noch ein zweiter Knabe ift fehenswerth. In einem Zeugen- 
zimmer figt er neben einer einfachen Frau. Seit geftern ift er genau wie der 
andere gekleidet und frifirt. Er ftehtim neunten Lebensjahr, ift aber viel Heiner 
als der Siebenjährige. Die Ürtheile schwanken. Bis einem Schlauen der Ein» 
fall kam, auch den Kleineren zu Eräujeln und in Elfenbeinfarbe zu Heiden, 
gabs wenig Zweifel. „Keine Spur von Aehnlichkeit. Der Kleine ein ſtumpf⸗ 
finniges, unfchönes Proletarierfind, der Größere ein echter Adelsſproß mit 
allen Merkmalen alter Familienkultur.” Jetzt regen ſich Bedenken. „Beide 
haben fchwarze Augen und lange Wimpern, Beide die jelbe Apfellopfform 
und das felbe Kinn, dag vorgebogen ſcheint; auch die Haarfarbe ift beinahe 
gleich. Der ganze Unterjchied befteht darin, daß der Eine gut, der Andere 
ſchlecht gehalten ift.” „Unfinn! DieBeiden können garnicht den jelben Bater 
und die jelbe Diutter haben. Warum wäre der Aeltere dann im Wachsthum 
jo zurüdgeblieben? Ueberhaupt macht die beſſere oder fchlechtere Pflege bei 
Kindern nicht jo viel aus. Seht Euch die Kadetten und die Militärwaijen- 
hausſchüler an! Nein: ber Junge im Zeugenzimmer bliebe auch im Brolat- 
gewande der Sohn einer Magd, bie felig fein mußte, als ein Weichenfteller 
fie zur Ehe nahm; und den feinen Knaben, der im Korridor mit angeborener 
Würde Cercle hält, müßte auc) im Bahnwärterhaus das tundige Auge als 
Kindeines Grafen erkennen.“ Solches Gerede beweift nichts. Mit Klaſſenphy⸗ 
ſiognomik fäme man, ſelbſt wenn fie mehr wäre als Spielerei, bier ſchon des- 
halb nicht aus, weilauch der Neunjährige von einemadeligen Offizier gezeugt 
ift, Die Spermatozoen, die ihn entftehen ließen, alfo nicht aus dem niederen 
Menſchenreich ſtammen. Trotzdem fieht der rachitiſche Junge wie ein aufges 
putstes Elendskind aus. Er hat auch weniger Zulauf und gudt trüber als 
das weiße Herrchen im Korridor. Das lacht, giebt Belannten gnädig eine 
Patſchhand und räfelt fich Tokett auf dem Holzſtuhl. Hinter der Thür wird 
inzwijchen die Frage verhandelt, ob feine Elternins Zudäthaustommenfoll ı. 

Zweiter Theil, zwölfter Abſchnitt des Reichsftrafgefegbuches: „U 
brechen und Vergehen in Bezichung auf den Perſonenſtand.“ Baragraph16 : 
„Wer ein Kind unterfdjiebt oder vorſätzlich vermechfelt oder wer auf and 
Weile den Perfonenitand eines Anderen vorfäglich verändert oder un 
drüdt, wird mit Gefängniß bis zu drei Jahren und, wenn die Handlung 
gewinnfüchtiger Abficht begangen wurde, mit Zuchthaus bis zu zehn Syah 


a 2 ve 


Kwileckis. 279 


veſtraft.“ GrafZbigniew Wefierski⸗Kwilecki und ſeine Ehefrau Iſabella, gebo⸗ 
rene Grafin Bninska, ſollen ein fremdes Kind für ihr eigenes ausgegeben haben. 
Den weißen Knaben, der auf dem Holzſtuhl im Korridor Cercle hält. Den 
habe ein armes Bolenmädchen ihrem Xiebiten, einem öfterreichifchen Haupt» 
mann, geboren. Dem Serualverfehr diejes Paares entſtammen zwei Kna⸗ 
ben; dereine, derim Zeugenzimmer fitt, iſt nah bei der Deutter aufgewachien, 
der anderebald nach ſeiner Geburt, in der letzten ganuarwoche des Jahres 1897, 
an eine vornehme Dame verkauft worden. Am zweiundzwanzigften Dezem⸗ 
ber 1896 hatte ihn Fräulein Parcza zur Welt gebracht ſie heirathete ſpäter den 
Weichenfteller Meyer, der das ältere der beiden vor der Ehe von ſeiner Caecilie 
geborenen Kinder adoptirte und fich bereit erflärte, auch das jüngere zu ſich zu 
nehmen. Wohl nicht ganz freiwillig. Ein Bahnnwärter, der ſich danach fehnt, 
vom erften Tag der Ehe an fein Budget mit den Unterhaltskoften für zwei 
— nicht von ihm gezeugte — Kinder zu belaften, wäre feine Alltagser- 
ſcheinung; und ſelbſt der edelfte Sinn brauchte den Heinen Baftard nicht aus 
dem warınen Schloß in die Weichenftellerhütte zu holen. Doch die Recherchen 
ın Sachen wider Kwiledi und Genoffen hatten begonnen und ein gutes 
Stüd Geld mochte dem Paar ficher fcheinen, deffen Zeugniß den Eleinen 
Grafen aus dem Majoratsrecht der Herrihaft Wroblewo drängen würde, 
Wroblewo ijt ein vom Grafen Joſeph Kwiledi als Familienfideikommiß un: 
veräußerlich feftgelegtes Nittergut in der wronker Gegend, das nach den Grund: 
fägen der MajoratSordnung vererbt wird; zur Erbfolge berechtigt find, wenn 
ein direkter männlicher Erbe fehlt, die Agnaten des erften Beſitzers, von der 
Erbfolge ausgejchloffen uncheliche und Adoptivföhne. Der Stifter des Fidei⸗ 
tommijles fette den Sohn feiner Tochter, Zbigniew von Wefiersti, zum Erben 
ein und beftimmte,dererjte Majoratsherr ſolle ſich Weſierski-Kwilecki nennen, 
jeder folgende nur Namen und Titel der Grafen Kwilecki tragen. Wahr: 
fcheinlich murrten die Agnaten fchon damals; denn das Haupt des Haufes 
war nun ja fein echter Kwilecki, hatte einen Vater aus einfachem Adel und 
Tonnte ihnen die Raffe verderben. Allmählich aber fanden jieTroft. Der Knabe, 
den Gräfin Iſa ihrem Zbigniew gebar, ftarb früh, und als, nad) ſtandes 

gemäßen Pauſen, ihrem Schoß drei Töchter entbunden waren, fehien, ander 
Schwelle des Jahres 1890, neue Nachkommenſchaft nicht mehr zu hoffen, 
zu fürchten. Zwar dachte der Graf noch als Fünfziger nicht an Nefignation. 
Er ftrebte dem großen Muſter weiland Auguſts des Starken nach, blidte 
ftolz auf anderthalb Dutend illegitimer Sproffen und frähte, wie ein von 
brünftigen Hofdamen umfchmeichelter Hahn, wenn in Monte Carlo dietheu- 


22* 





280 j Die Zukunft. 


ren Seidenmädchen von ihm fagten: Ungaillard infatigable; un mäle; 
fait pour la reine Isabelle... Doch die ihm angetraute Iſabella war nicht 
das Biel feiner erotischen Wünſche; mit ber ſchönen Ungenirtheit der Slachta 
pflegte er zu erzählen, die Dralle Wade einer Kuhmagd reize ihn mehr als die 
hüllenlofe Wohlgeftalt der Hochgeborenen Sattin. Jeder Schürze ſchnüffelte 
er noch, auf den heimischen Gefilden und unter dem wärmeren Himmel der 
Azurfüfte, fand, außer den vom Geſctz privilegirten, alle Genüffe ſchmack⸗ 
baft und feinem Vermögen erreichbar und fühlte fid) wider Recht und Sitte 
gekränkt, wenn die Ehegefährtin vor Gäften und Tienerfhhaftihnein Schwein, 
einen Bummler und Lumpenſack hieß. Vielleicht folgte fo unfanften Reden 
mandmal ein Schäferftündchen, das der Graf nicht eingeftand, weils ihn 
intereffanter dünfte, von Freunden und Buhlen fich als ftarren Weigerer der 
Geſchlechtspflicht anſtaunen zulaffen. Sicher ift, daß die Ehe für zerrüttetgalt; 
und als Iſas fünfzigiter Geburtstag nahte, durften die Agnaten aufathmen. 
Bald würde über Wroblewo nun wieder ein echter Kwiledi herrichen: Graf 
Heltor, Miecislaws Sohn, der bei den zweiten Garde-Ulanen Lieutenant ges 
weien, Reichstagsabgeordneter und Seheimlämmerer des Bapftes geworden 
war. Eine hübjche Ausficht. Das Gut ift zwar arg vermahrloft, bringt aber 
noch einen Jahresertrag von jiebenzigtaufend Mark und wird fich unter einem 
guten Haushalier, der Kapital hineinſtecken kann, ſchnell heben. Für bie 
perfönlichen Schulden des Vorbefiters haftet die Familie als Allodialerbin. 
‚Stirbt Zbigniew Weſierski, dann muß Iſa mit ihren Töchtern den Hof ver⸗ 
laſſen und Heltor, der Befiger von Kwilcz, wird Herr von Wroblemo. Allzu 
zärtlich Icheinen die Beziehungen der beiden Häuſer nie gewejen zu fein; nun 
mußte der Gedanke an den Beſitzwechſel ſie noch mehr verbittern. Der Majorats⸗ 
herr konnte freilich noch zehn, zwanzigJahre leben; erſtens aber liebt wohl ſelten 
Einer den fremden Erben, der die Hausbrut vom Futternapf drängen will, 
und zweitens ſtockt der Kredit, wenn die Leuze willen, daß der nädhfie Tag den 
Darlehnsſucher aus der Nechtsmohnung werfen fann. Und auf Wroblewo 
brauchte man immer Geld. Der Gerichtsvollzieher kam fo oft, daß Herrichaft 
und Gefinde ihn traulich al3 Onkei begrüßen, und Inſpektoren fogar, Ren⸗ 
danten, Wanderkrämer wurden von dem Örafenpaar um Feine Beträge ange» 
pumpt. Dakommt, im Lenz 1896, vom Genfer See her die unbe, Frau Iſa jet 
in the family way. In Bojen, inWronte, in Kwilcz und Wroblemwo erregt 
die Botschaft zunächſt nur Heiterkeit. „Die? Seit 1879 hat fienicht geboren. 
Der Srafrührtfielängft nicht mehr an. Woher alio? Und vor drei Monaten 
ift fie Yünfzig geworden.“ Ein guter Wıg. Am Ende, meint Herr Stephan 





Kwileckis. 281 


Kwielecki, hat fie das Kind in der Ohrmuſchel; jedenfalls nicht da, wo an 

dere Menſchenweiber die Frucht tragen. Doch Iſa kehrt heim und beſtätigt, 
von Wonne ſtrahlend, das holde Wunder. In Montreux iſts geſchehen; die 
Sonne lockte friſche Triebe hervor, ich ſehnte mich nach einem Sohn, der 
Graf war charmant, — und unſere Betten ſtanden im Hotelzimmer dicht 
neben einander. Nach und nach wuchs ihres Schoßes Umfang; und im Kreis 
der Agnaten verſtummte das Lachen. Die Gräfin war ſtets excentriſch ge⸗ 
weſen; die Rolle der vernachläſſigten, von Mägden und Cocotten aus der 
Geſchlechtsgunſt vertriebenen Frau konnte der herriſch Stolzen nicht beha⸗ 
gen und ihre ungezügelte Phantafte ſcheute vor dem abenteuerlichſten Unter⸗ 
fangen gewiß nicht zurück. Siewird, hieß es, den alten Schwachlopf zu einem 
Schwindel überredet haben und wir können erleben, daß fie ung irgendeinen 
aufgelejenen Bankert ing Majorat ſchmuggelt. Verwandte, Dienftboten, De- 
teftives, Beobachter aller Art werden nad) Wroblewo geſchickt. Nichts zu er- 
ſpaͤhen. Iſa? Sie ſieht aus wie alle ſchwangeren rauen. Wahrſcheinlich ftopft 
fie ſich ein Kiffen unter den Rock; in Paris, hat Einergehört, werden nach Maß 
Gummibäuche gemacht, die ſolchen Trug erleichtern. Eine Depeſche ſchürt 
den Verdacht; ſie iſt in Paris aufgegeben, ins poſener Slachtahotel an Zbig⸗ 
niew oder Iſabella adreſſirt und wird — zufällig? — dem Grafen Miecislaw 
ũberreicht. Inhalt: Femme trouvée, mais demande trop chere. Da 
hätten wir aljo die Schmuggelfährte. Iſa fit in Baris, fucht ein für die 
Unterfchiebung brauchbares Kind und telegraphirt an den Gatten, die Ver⸗ 
fäuferin fei gefunden, fordere aber zu hohen Preis. Necherchenin Paris. Die 
Hotelliften haben feine Gräfin Kwilecka gemeldet. Doppelt verdächtig: fiehat, 
um hinter fich feine Spur zu laffen, ihren Namen verfchwiegen. Und leugnet, 
mitmunterem lächeln, daß fiejegtüberhauptander Seine gewefen jei. Früher 
warfiedort, —ja;umeinegute Hebamme zu fuchen ; darauf beziehe fich auch das 
Telegramm, das für fle beſtimmt war und ihr anzeigen folite, die empfohlene 
sage-femme verlange zu viel Geld. Die Erklärung wird höflich angehört, 
doch nicht geglaubt; Hebammen braucht man janicht aus Frankreich zu holen. 
ALS dann gar erzählt wird, die Gräfin wolle nach Italien gehen und erit zus 
rüdtehren, wenn fie aus dem Wochenbett entlaffen fei, fchreibt Herr Mie⸗ 
cislaw einen felerlichen Warnbrief an Herrn Zbigniew. Der Verdacht, die 
Schwangerſchaft ſei fimulirt, Tönne dem Herrn Vetter nicht unbelannt ge- 
blieben jein; die Abficht, das erhoffte Kind der Frau Bafe im Ausland zu 
entbinden, müſſe den Verdacht zur Gewißheit wandeln, denn folche Abficht 
koͤnne nur aus dem Wunſch ftammen, die Geburt der Kontrole zu entziehen. 


282 Die Zukunft. 


Iſabella lacht. Die zärtlichen Verwandten mögen um das Erbe zittern, fie 
aber, eine Bninska, mitVorfchriftengefälligft verfchonen. Sie lacht auch des 
Sippengetufchels: eigentlich müffeihr Wochenbett auf dem pofener Wilhelms⸗ 
plat ftehen;; fonft fönne man Keinem zumuthen, das Kind als legitim anzus 
erfennen. Sich unterfuchen, die Mutterſchaft beicheinigen laſſen? Das fehlte 
noch. Ihr durftefein Doktor je an den Leib; undfie jollte jetzt eine Ausnahme 
machen, um ben Neid zu entwaffnen? Der freut fie ja. Den möchte fie um 
feinen Preis miffen. Vielleicht war der Blan der italieniichen Reife in den 
Klatſchbezirken ausgehedt worden; vielleicht rieth Klugheit, ihn aufzugeben, 
nachdem fein Zweck, die Agnaten zu ärgern, erreicht war. Eines Tages jagte 
die Gräfin zu ihrem Hausarzt, Heren Dr. Rofinsti: „Ich reife zur Ent⸗ 
bindung nad) Berlin und rechne darauf, daß Sie fommen, wenn id) rufe.” 
Berlin W. 10, Raiferin Augufta-Straße 74. Da, wird dem zuftän- 
digen Standesamt gemeldet, habe die Gräfin Weſierska⸗Kwilecka am fieben- 
undzwanzigften Januar 1897 morgens um Fünf einen Knaben geboren, 
Leichte Entbindung. Die Hebamme follte eine Polin fein und doch nicht zur 
Einflußiphäre der Miecislaw und Hektor gehören. Eine in Rußland bes 
güterte Freundin Iſas Hatte fich, weil die Entbinderin ihrer Tochter ver- 
hindert war, nach Warfchau gewandt und, durch Vermittlung einer Hotels 
wirtbin, Frau Cwell gemiethet, deren Charafterbild, von der Parteien Gunft 
und Haß verwirrt, in der Prozeßgeſchichte ſchwankt. Am Vorabend, als die 
Schmerzen begannen, war Dr. Roſinski telegraphifch gebeten worden, nad) 
Berlin zu kommen; nach der Geburt wurde die Bitte dringend wiederholt. Die 
erfte Depeſche muß in Wronke über Nachtliegen geblieben ſein; beide erreichten 
den Arzt erſt, als er von den Morgenbeſuchen heimkam. Um Mitternacht war er 
in Berlin. Die Gräfin ſah aus wie alle Wöchnerinnen. Temperatur und Buls 
normal. Noch immer die alte Abneigung gegen ärztliche Unterſuchung. Wozu? 
Alles war ja glatt gegangen und eine Komplikation einſtweilen nicht zu fürch⸗ 
ten. Die Hebamme mißfiel dem Doktor; ſchmutzige Nägel und Cigarettengeruch 
im Säuglingzimmer. Das Kind ſelbſt kräftig und auffallend hübſch. Nackt 
ſah es der Arzt nicht. Es ſei eben erſt friſch gewickelt worden. Roſinski fand 
weiteres Drängen nicht nöthig. Er mahnte die Czwell auch nicht zu größerer 
Sauberkeit, fragte nicht nad) Urin, Bettwäfche, Nachgeburt. Und war doch, 
weil er an die Schmangerfchaft nie recht geglaubt hatte, mit ftarlem Miß⸗ 
trauen gelommen, das Iſas Weigerung, ſich unterfuchen zu lafjen, natürlich 
noch mehrte. Jetzt ſchämte er fich faſt feines Yweifels. Nicht nur, weil yrau 
von Moſzezewska, Iſas Freundin, eine Dame aus vornehmen Haus, ihm 





Kwileckis. 283 


ſagte, ſie ſelbſt habe die Entbindung mitangeſehen. Auch ſonſt ſchien Alles 
in Ordnung. Der Hausarzt, der die Gräfin ſeit Jahrzehnten kannte, hielt 
fie für eine Wöchnerin, den Knaben, den er im Stedliffen ſah, für ihr Kind. 
Nur Kopf und Hände fah er freilich; und im Schwurgericht3faal wurde 
von Sadhjverftändigen behauptet — und von Yuriften geglaubt —, am Geficht 
fönne man nichterfennen, ob ein Find geftern oder vor fünfWochen geboren 
ſei. Deütter, die von diefer Sache auch Etwas verftehen follten, hoben darob 
die Augen entjegt zum Himmel. Einem Würmchen, das man in Muße be- 
gucken darf, nicht anmerken, ob «8 am zweiundzwangigften Dezember 1896 
oder geftern, am fiebenundzwanzigften Januar, geborenward ?.. Der Haus» 
arzt Schtedin froher Zuverficht von feiner Patientin. Vorher hatte er dem Kind 
noch das Zungenbändchen gelöft. Nachher meldete er den unruhigen Agnaten, 
er habe keinen Zmeifel, daß dem Grafen Zbigniew ein legitimer Erbegeboren jet. 
Auch Andere zweifelten nicht mehr. Das Gräflein wuchs heran und 
wurde der Mutter von Monat zu Monat ähnlicher. Ein echtes Bninski— 
Geficht, hieß es in Wroblemo, in Wronke und Poſen; und: Die Leute hatten 
wir in falfchem Verdacht. Im Agnateneckchen ergab man fidy nicht jo ſchnell. 
Das Eingeftändnig des Irrthums hätte bewieſen, daß man allzu leicht be> 
reit gewefen war, Verwandte um des lieben Geldes willen eines Verbrechens 
zu zeihen. Und natürlic) fehlten auch die Tüchtigen nicht, die brao ſchürten, 
um an dem Feuer ihr Süppchen zu wärmen. Fideikommißftreit, großes Ob- 
jekt: was parafitifch zu leben gewöhnt ijt, drängt zum Mitichmaus, — und, 
verſteht fich, auf die Seite der Botenten, nicht dahin, wo Onkel Gerichtsvoll⸗ 
zieher feine Bifitenfärtchen anklebt und irgendein Subalterneraushelfenmuß, 
wenn zwei Bläulinge fehlen. Der Kwilczer ift hoch eingefchägt und fein Va⸗ 
ter Miecislaw, deſſen Verhältniſſe von Weiten wohl mehr als in der Näheglän- 
zen, hat in GalizienreiheKtunfelmagen. Gilt auch nicht als vieux marcheur 
undBruderSaufewind,wieZbigniew. Würdiger; vom ScheitelzurSohle kor⸗ 
rekt. Herrenhausmitglied; ſehr ftatilich und feudal⸗preußiſch joignirt ; Altwil- 
heimsbart und treuer Blick unter hoffähiger Toryfrifur. Wahrſcheinlich 
wurde an diefem älteften Agnaten von allen Seiten herumgefratt. Familien» 
ehre auf dem Spiel; ein faljcher Dmitri im Haus der Kwileckis, die feit fünf- 
hundert Jahren . .. Jedenfalls fam der Peer von Preußen bald wieder in 
Bewegung. Er bat Seine Hochgeboren auf Wroblewo um eine Unterredung 
„Anter vier Augen”. Rundweg abgelehnt. Zweiter Brief. Miecislaw traue 
dem Majoratsrummel nicht, wolle aber, wenn Zbigniewihm das Verbrechen 
der Kindesunterſchiebung offen geftehe, ſchweigen, bis Verjährung einge: 


281 Die Zukunft. 


treten fei. Das Heißt: um des Erbes ficher zu fein, alfoeigenen Vortheils we⸗ 
gen, den Verbrecher der Beitrafung entziehen. Ein recht gewagter Vorſchlag; 
wäre er angenommen worden, fo hätte der Erbieter fidy der Begünftigung 
fchuldig gemadjt. Allerdings einer ftraflofen; denn die von einem Angehört- 
gen dem Thäter gewährte Begünftigung ift von der Strafnorm des 8 257 
SGB ausgenommen. Immerhin follte ein Mitglied des Herrenhaufes ſol⸗ 
Ken Vorſchlag nicht einmal als Köder verwenden. Wefiersfis gingen nicht 
in die Falle. Um den Schreden zu enden, Hagen fie gegen den Grafen Mie 
cislaw auf Anerkennung ihres Sohnes. Terminin Bofen. Iſa mit dem Kna⸗ 
ben vor Gericht: der Augenschein zeigt die Aehnlichkeit Frau von Moſze zewska 
beſchwört, fie jei während der Entbindung im Wohnzimmer gemweien. Nach 
diefer Aussage beantragt Miecislaws Anwalt Bertagung und ſchreibt feinem 
Mandanten, die Sache jcheine ihm einftweilen wenigſtens ausfichtlos. Im 
nächften Termin ift der Bellagte nicht vertreten noch felbft anmefend. Ver⸗ 
ſäumnißurtheil zu Gunſten des Klägers. Die Agnaten haben den kleinen Joſeph 
Stanis laus Adolf als Grafen Kwilecki anzuerkennen. Bon Rechtes wegen. 
Inzwiſchen find vier Jahre vergangen. Die gerichtlich zum Anerfennt- 
niß Gezwungenen erzählen Jedem, ders hören will, daß fie den Knirps in 
Wroblewo nach wie vor für ein gefauftes Kind halten. Weſierskis figen fo 
tief in der Kreide, daß fie gezwungen find, eine Bank zu fuchen, die ihnen, 
gegen das Recht, das But zu bewirthichaften, eine halbwegs auskömmliche 
Rente zahlt. Auch unterihren Leuten magin folcher Kalamität Mancher wohl 
denken, daß es fchliehlich am Beiten wäre, wenn ber Kwilczer ins Schloß ein- 
zöge. Eine langeBormundfchaftSgjabellens, die ftetS bunte Plänemachen, doch 
nie rechnen konnte: Das hätte juft noch gefehlt. Die Legende war nie ganz 
verſtummt. Eine Kindesunterfchiebung ift aufallen Hintertreppen ein unge» 
mein beliebter Stoff. Jetzt war die Zeit erfüllt: die Mirakel fonnten begin 
nen. Von der Sorte, die der ſkeptiſche Blick nicht für unerflärliche Wunder 
nimmt. Sie famen, wuchien im Wandern und häuften fi. Im Civil⸗ 
prozeß hattedie Hebamme Kotharina Offowstabejchworen, fiehabedie Gräfin 
in den Anfängen der Schwangerichaft maſſirt und fid) dabei felbft über» 
zeugt, daßein Kindzuerwartenwar; bie Frau hatte biefe Wahrnehmung auch 
jchriftlich befcheinigt. Bald meldete fi in Kwilcz Irgendwer, der ganz, 
aber ganz genau wußte, die Oſſowska habe in einer ſchwachen Stunde aus. 
geichwagt, Beugeneid und Atteft ſeien falſch. Dann trat Herr Hechelski auf 
den Kampfplag. Kaufmann, Agent, Detektive; in alle Sättel gerecht. Der 
wußte mehr; jo ziemlich die Hauptfache: woher Iſas Spätfrudt geholt, wen 


Kiwiledis. 285 


der Baftard abgefauft fei. Zu Miraleltagen gehören vor allen Dingen aber 
Hyfterifche. Für fie iſts Feftzeit. Endlich darf ihr Drang, fid) wichtig zu 
machen und höchft intereffant zu fcheinen, fich feſſellos bethätigen. Eine 
wentgftens war im wronker Amtsbezirk fchon gefunden. Fräulein Jadwiga 
Andruſzewska, Tochter einer Frau, die in Wroblewo Jahre lang Wirth: 
ichafterin und Familienfaktotum geweſen war. Anſehnliche Symptome. 
Hager, nervös, reizbar ; die Rede bald wie ein Gießbach, bald ftodend und ſcheu, 
als verblaffe das Gedächtnigbild während des Sprechens. Mit [pigen Ellbo⸗ 
gen drängt fie fich inden Mittelpunftdes Grafenzwiſtes. Sacht fing es an. Un: 
glaublich,wie ſie in Vroblewo behand. It werde! Zurüdgefegt,eingeiperrt,anges 
fahren, geprügelt,an den Ohren gezauft. Warum? Die Gräfin fei doch fonft 
nicht fo ſchlimm; ftolz zwar, doch gut zu den Leuten und gerade der alten 
Andruſzewska bis zum legten Tag die gnädigfte Herrin. Ja, warum! Weil 
ic) eben mehr weiß als Andere. Was denn? Na, von dem Kind. Nach und 
nad) fams heraus. Mutter Andruſzewska war tm Auftrag der Gräfin, deren 
Leib keine Frucht trug, in Krakau geweſen, um einen paflenden Knaben zu 
kaufen. Hatte ihn auch bei einer Hebamme gefunden und, ſammt Nachge- 
burt und Nabelfchnur, nach Berlin gebracht, wo er ihr von zwei Dienerinnen 
aufden Bahnhof abgenommen und in die Katjerin Augufta-Straße befördert 
wurde. "Die Mutter hats der Tochter anvertraut, fie aber, um nicht wegen 
geleifteter Beihilfe ftrafbar zu werden, verpflichtet, den Mund zu halten, fo 
lange bie Alte lebe. Alles hat Mutter erzählt. Die Gräfin war 1897 nicht 
ſchwanger. Kein Gedanke! Sie wickelte fi Tücher um den Leib, hing 
Schrotbentel um ben Taillengurt, war aud) in Paris, um einen Gummi: 
bauch zu faufen. Und ehe fie zu der Wochenfomoedie nad) Berlin fuhr, Tieß 
fte Schweine ſchlachten und nahm ſechs mit Schweineblut gefüllte Noth- 
weinflaſchen mit auf die Reiſe. Damit Bettzeug und Unterlagen hübſch 
röthlich feten. Bei Alledem hat Frau Andruſzewska mitgewirkt. Und Alles 
der Tochter erzählt; fogar,daß die Nachgeburt in einem Steintopf von Kra⸗ 
kau nad) Berlin gefehafft wurde. Und auf dem Totenbett — das durftenicht 
fehlen — ermahnte die Mutter ihre Jadwiga, dem Grafen Heltor Kwiledi 
auf Kwilcz das furcdhtbare Geheimniß zu enthüllen. Dann ftarb fie; und 
weil die Tochter im Verdacht ftand, dag Verbrechen zu kennen, wurde fie 
natürlich Schlecht behandelt und weggeärgert. Natürlich? Noch natürlicher, 
wird Mancher meinen, wäre der Verſuch geweſen, ein Mädchen, das Einen 
ins Zuchthaus bringen kann, durch Wohlthatanfich au fetten und um keinen 
Preis aus den Händen zu lafjen. Vielleicht aber dachte Iſa, mit der Aus⸗ 


286_ Die Zukunft. 


jage einer Toten fei nichts Nechtes anzufangen. Einerlei. Die alte Andru- 
ſzewska muß jedenfalls eine wunderliche Heilige gemejen ein. Sie konnte ein 
Vermögen einheimfen — denn die Ausſage der Lebenden hätteden Streit fürden 
Kwilczer entichieden — und haufte und ftarb in Kümmerlichkeit. Nur aus 
Furcht vor Strafe? Erftend mußten Weſierskis ihr geben, was fie verlangte. 
Und wenn da nicht viel zu erprefien war: dem Grafen Heltor hätte eine no- 
tariell beglaubigte Ausfage genügt, die er erft nad) dem Tode der Alten zu 
verwenden brauchte. Nod) Wunbderlicheres. Bis an ihr Ende fchilt Frau Ans 
druſzewska Jeden, der Iſas Mutterſchaft zu befritteln wagt, einen Narren 
und jchlechten Kerl: und ftiftet dann ihre Tochter, deren Zerfahrenbeit fie 
doch kennt und mit der fie manchen Tanz hatte, an, daS Geheimniß nad) 
Kwilcz zu tragen. Offenbar aus reinftem Rechtsgefühl. Jadwiga fchreibt 
Alles auf; was ſehr nützlich ift, denn ihr Gedächtniß vermag nicht einmal 
Erlebniffe fefthalten, die, man darfes wohl, ohne zu übertreiben, fagen, nicht 
ganz alltäglich find. Schwarz auf Weiß kommt die Geichichte in Hechelskis 
bewährte Hände. Der recherchirt, fombinirt, eruirt und bat ſchnell alle Ketten- 
glieder am blanfen Schnürchen. Das Pfeudogräflein heißt Xeo Barcza und 
ift von einem öfterreichiichen Hauptmann im Schoß der jett dem Bahn- 
wärter Meyer angetrauten Caecilie gezeugt und die wirkliche geheime Mutter 
hat den Jungen, den fie fünf Wochen nach der Geburt für Hundert Gulden 
weggab, nach dem Bilde als ihr Kind refognofzirt. Die Stimme des Blutes! 
Auch die krakauer Zwiſchenhändlerin hat Hechelski ermittelt. Leider ift fie 
ſchon tot. Wie die Czwell und die Andrufzemsfa. Doch Hechelstis Genie hat 
Leichenſcheu nie gelernt und weiß, daß Tote fehr beredt feinfönnen. Hechelski 
forscht, verspricht, droht, ift nirgends und überall und läßt jich, ein Ritter 
der Wahrheit und Legitimität, von Heltor nicht vielmehr als feine Auslagen 
erjegen. Andere Helfer melden ſich, gewiß vom Beifpiel felbftlofer Bürgers 
tugend angelodt, und neue Spur taucht aus dem Dunkel. In Baris hateine 
Dame, diemit ausländischem Accent ſprach, thatfächlid) 1896 einen Gummi⸗ 
bauch beftelit und gefauft. In Paris hat ungefähr um die felbe Zeit eine 
Dame bei einer Hebamme ein Kind zu faufen gefucht. Solche Gefuche find 
dort nicht ganz felten und dem polizeilichen Aufruf antworteten denn auch 
prompt etwa zwanzig Entbinderinnen, von denen Säuglinge zur Adoption 
verlangt worden waren. Doc) eine Sucherin hatte un accent allemand — 
daß die parifer Unſchuld Deutjche, Rufjen, Polen nie an der Sprache erfennt, 
ift über jeden Zweifel erhaben —: warum alfo ſolls nicht die Selbe geweſen 
fein, die fich die Mutterfonturen aus Gummi anmefjen ließ? Nach der Heb- 


Kwilecis. 287 


amme die Waſchfrau. Die bezeugt, daß fie vorn im Hemde der Gräfin wäh: 
rend der angeblichen Schwangerfchaft einen Blutfled gefunden habe, dernur 
von der Menftiuation kommen konnte. Ratamenien; alfo nicht in der Hoff- 
nung. Auch Dienfiboten wollen Menſtrualblutſpuren gefehen haben. Mira: 
fel über Mirakel. Frau Oſſowska, die früher felbft Schon in Gemüthsruhe 
eine Kindesunterſchiebung arrangirt hat, erliegt der Gewiſſensfolter und be- 
fennt, daß fie der Gräfin ein falfches Atteft ausgeftellt und in Poſen, ohne 
angeftiftet zu fein, einen Meineid geleiftet habe. Kadwiga Andruſzewsta und 
Katharina Oſſowska: Das ift viel. Mindeftens zwei neue Thatfachen, diezur 
WiederaufnahmedesBerfahrenshelfenkönnten. DazuKrakau, Caecilie Meyer, 
die Stimme des Blutes(auch des in Nachthemden gefundenen), die pariſer Polin 
mit dem deutſchen Accent: über Wroblewo zieht ſichs dräuend zuſammen. Und 
ſchließlich meldet ſich auch noch ein Trofchkenkuticher, der 1903 ganz genau 
weiß, daß er am ſechsundzwanzigſten Januar 1897 zwei grauen, die er nad) 
der Sprache für Polinnen hielt, von der Kaijerin Augufta-Straße nad) dem 
Schleſiſchen Bahnhof und, nad) langer Wartezeit, wieder zurücgefahren hat. 
Die Eine hielt die Arme unterm Mantel und ſchien Etwas zu verbergen. 
An dem felben Tage aljo, wo dag in Krakau gekaufte Kind nad) Berlin ges 
bracht worden war. Nun fehlte Fein Glied mehr in der Kette. Frau An⸗ 
druſzewska war mit der Amme, die den Knaben unterwegs fäugen mußie, 
auf dem Schlefifchen Bahnhof angelommen und von zwei DienerinnenYias 
empfangen worden, denen fie Kind und Steintopf übergab. Den Topf in 
den dazu mitgebrachten Handkoffer, das Kleine in einem Körbchen unter 
den Diantel: nach Hauſe! ... Hechelsfi als Triumphator. Ein lückenloſer 
Beweis. Graf Miecislaw Kwilecki, Mitglied des Herrenhaufes, hatte die 
Staatsanwaltichaft aufgefordert, in Sachen c/a Weſierski⸗Kwilecki und Ge- 
nofjen energiich und ohne Anfehen der Perfon vorzugehen. Das geichah. 
Hinreichender, bald danach dringender Verdacht. Vorunterſuchung mit un- 
zähligen Zeugen. Die Anklage wurde erhoben, das Hauptverfahren eröffnet. 
Zuerft war die Gräfin, dann aud) Zbigniew verhaftet worden. 

Da figen fie. Beinahe ſchon heimisch auf der Marterbank der Ange- 
Hagten. Seine Hochgeboren nicht gerade überwältigend elegant. Grauer 
Salkkoanzug und gelbeSchuhe. Für den Schwurgerichtsjaal fonnte er mehr 
leiften. Schlotterige Haltung. Die Sprache faft unverftändlich. Zahnlücken 
oder Schwere Zunge. Aber er füllt feinen Typus aus, wie die Franzoſen jagen. 
In Schönheit verlüdert. Manchen Sturm erlebt, manche Demüthigung 
hingenommen. Doch der Ton des Wefens Hingt nicht Schlecht. Und wenn er 


288 Die Zukunft. 


nachdenklich die grauen Eotelettes ftreicht, iftS, mit dem müden, aber Hugen 
Auge, ein vornehm verwitterter Herr, ber fich an vielerlei Kulturen gerieben 
bat. Wenns auch oft nur Courtifanenkultur war: beſſer als keine. Die Riviera 
. batihreeigenemimiery. Der Herrvon Wroblewo ſieht garnicht polniſch aus, 
tönnte, fo wie er ift, durch einen Schwank von Biſſon, eine ſanfte Satire von 
Donnayfchreiben. Ob8 wahr fei, wird er gefragt, daß er Verhältniſſe gehabt 
habe. In Gegenwart der Gattin, ineinem überfüllten Gerichtsfaal, als Ange- 
Hagter. Ganzleifehebterden Kopf. Ganzerftaunt. Dan fühlt, wiedieBrauen 
fih hodhzichen. „Warum jollich feine Verhältniſſe haben?“ Ancien regime. 
Wird heutzutage natürlich ausgelacht; mit der Nuance tieffter Verachtung. 
Solche Sittenlofigfeit! Nicht mal der Heucheltribut, den das Lafter der 
Zugend ſchuldet Zbigniew aber denkt wohl: Was fällt den Leuten ein? Daß 
ſie mich eingeſperrt haben und mich eines Verbrechens anklagen, muß ich 
dulden. Was aber gehen denn meine Amouren ſie an? Bilden ſie ſich gar ein, 
ich würde vor Ihnen kriechen, Keuſchheit oder Reue mimen?... Keine Spur 
von Pofe. Nichts von der Suggeftion, bie in ſolchem Käfig jo leicht den 
Willen lähmt, dieWürde duckt. Meiftfigt er weit Über die Brüftunggebeugt, 
beide Hände als lange Schalftrichter an den halb jchon verfagenden Ohren, 
und laufcht. Laufcht einer höchſt merkwürdigen, verworrenen, abenteuer- 
lichen, an Boulevardinelodramen erinnernden Geſchichte, der man zuhört, 
weil man nun einmal da ift, die Einen aber nicht näher berührt. Fabel⸗ 
- Haft, was folchen Lieferanten de8 Ambigu heute noch einfallen kann. Grä⸗ 
finnen, Hebammen, Schweinemäöchen, Blut in Medocflafchen, angeklebte 
Nabelſchnurſtückchen. Nicht zu glauben... Manchmal iſts dann, als zer» 
rijje vor dem inneren Auge ein Wölfchen und der Yaufcher befönne fi: Du 
fpielft ja mit, haft die ſehr undankbare Hauptherrenrolle und das Städ kann 
bös enden! Das dauert nie lange. Ancien regime. Wie in Goncourts 
Patrie en danger: man jpielt im Gefängniß Karten, bi8 man auf ben 
Henterslarren gerufen wird, macht ben legten Stich, verabfchiedet ſich artig 
von den Standesgenofjen und geht unters Fallbeil. „Schade, daß idy nicht 
länger den Vorzug hatte. Bitte, mich angelegentlich zu empfehlen.” Das 
Gewimmel da unten kann Einem den Kopf, aber nicht das Gefühl inniger 
Geringfhätung nehmen. Auch diefe Menſchenſorte Hat Reiz und Raſſen⸗ 
werth; und Graf Weſierski⸗Kwilecki ſcheint nicht ihr übelftes Exemplar. Ich 
glaube nicht, daß er den Richtern fo leichtwas vormeinen würde wie ber Pom⸗ 
mer Wilhelm von Hammerftein, den feine Leute doc) „ftarknervig“ nannten. 


Mitwirken mag das Bewußtjein,nicht vor Volksgenoſſen zu ftehen, ſondern vor | 


Kwileckis. 289 


a ben fremden Eroberer, dem man, ſolange es irgend geht, nur die Faſſade zeigt. 
Dieſes Bewußtſein, dieſer Ini jegten hat dem ganzen Prozeß die be⸗ 
ſondere Farbe gegeben.. KRETA 
tuß der Verhandlung. Ehe die Auffeher die Angeklagten abführen, fteht 
er auf, bückt ben langen Oberleib galant herab, faßt und füßt die Hand feiner 
Frau. Mit der er beinahe ein Jahr nım fein Wort wechjeln durfte. Deren 
excentriſches, verbrecherifches oder TranthaftesWefen ihn hierher gebracht hat 
und mit deren Schimpfreden er auch hier noch gepeitfcht und zum lächerlichen 
Bantoffelgelden gemacht wird. Unddieertrogdem bewundert. Wenigeachten 
drauf; und das Schauspiel lohnt doch. Vor einem Stanislaus fönnte, in 
Warſchau, der Abfchied nicht graziöfer und ceremonidöfer fein. Manweißeben, 
was ſich gehört, und hat vor dem Feind Polens Würde zu wahren. 
Bequem ift der Handkuß nicht. Denn zwiichen Iſa und ihrem Ehe- 
herrn figt, auf dag die Haupibeſchuldigten nicht durch Beichenfprache oder 
gehauchte Silben mit einander verfehren, Frau Katharina Oſſowska. Recht 
behaglich, feine Todfeindin halbe Tage lang neben fich zu haben. Und welche 
Larve! Halb Fromme Helene in hohen Semeftern, halb Wolfſchluchtviſion. 
Ein Geficht, das dem Schöpfer nichtfertig gemorben ſcheint. Die Naſe nur an- 
gedentet. Syn den Augenhöhlen etwas Glimmerndes, das gleich zu erlöfchen 
droht. Dünne, ausgeblichene Haartrefjen ; wieeine Karilaturauf die für Hold» 
heit bezahlte Cleo von Belgier: und Kongoland. Dürrundhartedig. Nichts von 
den Malen der Weiblichkeit. Niemand würde dem Spufgebilde das zarte Ge⸗ 
wiſſen zutrauen, das freiwillig Kreuz und Zuchthaus auf fi) nimmt. Frau 
Oſſowska hats. Lieber das Aergfte leiden, als die Meineidsſchuld noch weiter 
Ichleppen. Der Schwurgerichtspräfident glaubts ihr und läßt Milde walten, 
wenn fle einen ihrer Anfälle belommt. Denn diefe Märtyrerin ift nicht von 
der fanften Art; Satanas ift noch betrübend mächtig in ihr. Sie nennt Zeus 
gen Lügner und Säufer, pfaucht eine faſt Achtzigjährige an, die hinter ihr 
im Sünderwintel fit, und wird dann glimpflid) vermahnt. „Vorbei! Vor- 
bei!” Mephiſto felbft würde in diefem fahlen Gehäufe nicht lange weilen und 
ſchickt wohl die Kleinften von den Seinen. Dann hockt nod) die Alte da, mit 
dem Alleweltgeficht einer freundlichen Schaffnerin, die Penelopen und Do⸗ 
rotheen gedient haben fönnte; und ihre Tochter: ftumm, ftumpf, eine Slavin 
und Sklavin ohne eigene Phylioygnomie. Und ganz vorn, dicht neben dem 
jüngeren Staatsanwalt, Gräfin Iſa Wefiersta-Kwileda, geborene Bninska. 
Hat man draußen vorher den Kleinen gejehen, to ift der erjte Trieb, 
lachend aufzufchreien: Was wollt Ihr denn Alle? Desift Die Mutter! Wer zu 


240 Die Zukunft. 


amtlichem Gutachten berufen ward, mag zaudern und klauſuliren: von jeinem 
Spruch hängt jadas Uriheilineiner Sache ab, die ſchon Unfummen verichlun: 
gen bat und anderen Ende eine gamiliengruft dräut. Der Unbefangene wird 
finden, daßer felten nocheineralten rau ein Kind fo ähnlich fah. Einer alten 
Tran. Iſa iſt ſchneeweiß. Und jetzt auch ſchon müde. Der zehnte Haftmonat, die 
dritte Verhandlungwoche. Sie regt ſich kaum noch. Am erſten Tag wars an⸗ 
ders. Da hatte ſie Charme, Leben, die Grazie der Herzoginnen aus Roloko⸗ 
büchern; auch, wie dieſe nic Welkenden, nieAbrüftenden, den Muth und den 
Humor, fi) felbft ironisch zu nehmen. Trogdem ihr Deutſch mangelhaft ift, 
war beinahejedes Wort gut, das fie Sprach; gut, weil menfchenverftändig und 
aus einer gewiſſen Diftanz gefprodyen. Sinn für Alkuſtik. En Herr, derbe, 
hauptet, Franzoͤſiſch zu können, und deshalb als Dolmetſcher beftalltift, quält 
ſich mitdem parifer Deteltiveam Beugentifch ab. Paris: alfo Kinderfucheund 
Oummibaud. Die mittelgroße Unbefannte, wir wiſſens fchon, Hatte einen 
deutſchen Accent. Langwierige Erörterung, wie der ſich vom polntichen wohl 
für den Franzmann unterfcheide. Endlich fteht Iſabella auf; wie ein Sou⸗ 
brettenſchmunzeln gehts über ihr Geſicht; fie führt die Lorgnette vors Augeund 
fragt, franzöſiſch, den Seineſpitzel, der in Moabit ungemein reſpektirt und 
ernſt genommen wird: „Spreche ich ungefähr jo Franzöſiſch wie der Herr, 
der Ihre Ausſage überfegt?“ Dit einem Hohn in der Stimme, der durch 
Guirlanden ftiht; und der denn auch unbemerkt bleibt. Sie redet faft nie, 
läßt Freunde und Feinde erzählen, was ihnen beliebt, verzieht keine Miene. 
Thut auch nicht prude, nicht damenhaft empört und marfirt beim Anblid 
des Knaben feine Weuttergefühle. Das überläßt fie Frau Meyer. Mauvais 
genre. Nur als fchon cine Stunde lang von ihren blutigen Hemden geredtt 
iſt — mo die Flecke waren, ob auch ſicher von Deenftrualblutoder vielleicht von 
Hämorrhoiden —, wird ihr zu. . bunt: fie rüdt den Stuhl und hält die 
Hand vor die Augen, bi& auf die Wäſcherei endlich der nächſte Hebammen⸗ 
klatſch folgt. Und gleich danad) lacht fie wieder wie ein Mädchen beim erjten 
Walzer. Die hohnothpeinliche Frage: Schwangerſchaft oder Schrorbeutel? 
Ein paar fine Damen, Mütter, Sroßmütter, haben mit größter Entſchieden⸗ 
h:it befundet: Die Gräfin war „in anderen Umftänden“. Das kennt Unſer⸗ 
eins doch Alsein Symptom wird Anſchwellung der Händeermwähnt. Die Graͤ⸗ 
fin, jagt der Zeuge Nofinsti, litt an Gicht und hatte oft geſchwollene Hände. 
Das beweijtaljo wieder nichts, meint der Präjident, will das gute Zeugniß noch 
heller beleuchten und fordert Roſinski auf, mal zu ſehen, ob die Schwellung 
nicht am Ende auch jetzt da iſt. Der Arzt zögert eine Sekunde. Er hat ſeiner 


Kwileckis. 291 


Patientin eben fo ziemlich das Schlimmfte nachgeſagt. Dann geht er hin. 
Und Sa, als ſei ein beiferer Wig ihr nie zu Ohren gelommen, ftredt ihm, 
mit übermüthigftem Lachen, die Hände entgegen. Nein; fie find nicht ge: 
ihwollen... Die Frau ift nicht gewöhnlich. Sie muß ſehr ſchön geweſen fein 
und hat noch heute einen perfönlichen Zauber, der ihr mehr nügen konnte als 
der beredtefte Advolatenmund. Als die Verhandlung begann, war, außer 
den Bninsfis, im Zufchauerraum faft Alles überzeugt: eine Verbrecherin. 
Am Ende der erften Woche hatte fa die Mehrheit gewonnen. Ohne viel zu 
reden. Sie hat Stil. Die Gevatterin nebenan ift für fie Luft. Und wenn fie 
gegen Abend abgeführt wird, glaubt man, eine verblühte Marie Antoinette 
in den Kerker fchreiten zu fehen. Das ifts: ihr Stil ift Rokoko. Ihres und 
ihres Mannes, fo verſchieden die Beiden in Blüthe und Kern jind. Wahr- 
fcheinlich wurde es ihr Verderben. So lebte, fo tändelte, zankte, fofte man, al3 
der Adel allein Menſchenrechte beſaß; und Herrenrechte. „Warum jollich feine 
Berhältnijje Haben?” Warum follich rechnen, ein Grafenkind, dem Krämer, 
der Hausmagd ind Handwerk pfufchen? Nobel Geld ausgeben, die beften 
Manieren und geniale Einfälle haben, die auszuführen Sache der Roture ift; 
Muſik, Geſelligkeit, Hübfche Frauen. Rokoko. Und obendrein mit der jarma- 
tiichen Neigung ing wildeſte Barod. Vorbei! Vorbei! So läßt ſich bei Wronte 
nicht mehr Yandmirthfchaft treiben. Der jähe Klimawechſel verfcheucht auch 
empfindliche Freunde leicht. Nur ſoll man nicht glauben, Das jei Polen. „Pol⸗ 
nische Wirthſchaft“ ift ein billiges Schlagwort; paßt aber längft nicht mehr, 
blendet nur und drängt zu Ueberhebung, mitder die, Hebung des Oſtens“ nicht 
zu leiſten iſt. So war die Slachta, als Mickiewicz ihr ſang. Heute baut ſie 
Fabriken, meliorirt, kultivirt, ſpekulirt, folgt dem Beiſpiel des engliſchen 
Adels, hält Ordnung, ſchickt ſich in die Zeit, — und iſt deshalb gefährlich; 
nur deshalb. In Warſchau und Lodz, in Lemberg und Krakau ſollten die 
Germaniſatoren polniſche Wirthſchaft ſtudiren. Kwileckis ſind Rokoko. 
Drüben, auf den Zeugenſtühlen, ſitzt ſchon moderneres Polen. Zbi— 
gniew und Iſabella hättens nicht fertig gebracht, in einem preußiſchen Ge⸗ 
richtsſaal Tage lang, Wochen lang zuzufchen, wie man ihren Verwandten 
den Prozeß macht; einen Prozeß, der ins Zuchthaus führen foll. Graf Mie- 
cislaw und feine Gattin bringens fertig; und fcheinen nicht darunter zu Ici- 
den. Und Graf Hektor, Ulan, Bapftlänmerer, ReichStagsabgeordneter,ftreng: 
gläubiger Junker, gejchmeidiger Prozeßregiffeur und ein Geſchäftsmann, der 
aufden Pfennig berechnet, was erdem Anwalt, Agenten, Ausſpäher zu zahlen 
hat: fo viel, doch nicht mehr... Ein Mann, der in die Welt paßt. Wer dieſes 


294 Die Zukunft. 


Üeberblidt man den Weg, den der Menſch zurüdgelegt bat, feit er 
als Menſch zu denken und zu fchaffen begann, dann wird man bei allen 
Volkern erlennen, daß nicht mit Hilfe der Gewalten, die als Gott ober 
Bötter gefürchtet oder geliebt wurden, fondern trog Furcht und Angft vor 
berfinnlichen Mächten der Menfch ans eigener Kraft manden Markſtein 
erreichte. Trotzdem bebt auch der moderne Staat, deſſen Zwed doch vor 
Allem in der Bewältigung großer Kulturaufgaben befteht, davor zurüd, die 
Zuchtruthe kirchlicher Höllenfurcht fallen zu laflen. Lieber will er felbft dem 
Einfluß der Priefter unterliegen, als auf da8 alte Schredmittel der Angſt 
verzichten. Man bat die chriftlichen Kirchen und die von ihnen aufgebrungene 
Moral mit einer Paliffade von Gefegesparagraphen eingezäunt, um fie zu 
fügen, wie die antiken Götter durch menfchliche Berichte vertheidigt wurden, 
fobald die Heilige, dem Glauben entſproſſene Scheu vor ihrer Herrlichkeit nicht 
mehr ausreichte, fie für unantaftbar zu halten. Noch immer giebt es Berurtheil- 
ungen wegen Gottesläfterung, Strafen für Handlungen, die nur der kirchlichen 
Moral, aber nicht der Natur widerfprechen, und heute wie feit Jahrhunderten 
greift die geiftliche Gewalt ungeftraft, fogar begünftigt in weltliche Angelegenheiten 
ein. Aber der Nachdrud, womit die Staatögewalt vieler Länder ben Werth 
und die Nothwendigkeit der Kirche öffentlich verlündet, erinnert an den Aus 
fpruch, den Feuerbach während der großen Reaktion zu Mitte des vorigen 
Jahrhunderts that: „Was ift das ficherfte Zeichen, daß eine Religion feine 
innere Lebenskraft mehr befist? Wenn ihr die Fürften der Welt ihren Ar 
bieten, um fie wieder auf die Beine zu bringen,“ 

Für die Zeitgenoffen felbft tritt diefe tiefe Wahrheit nur ſchwer deuiliqh 
zu Tage, denn jede Firchliche Macht, jede veligiöfe Ueberzeugung ſcheint äußerlich 
gefeftet und innerlid) unüberwindbar zu fein, fo lange der Staat gezwungen 
ift, die Dienfte ihre8 Büttels zu verrichten. Aber wenn man erforfcht, warum 
er die firchlihen Lehren mit feinen Gefegen fchirmt und durch feine Ver- 
treter im Bruftton der Weberzeugung immer wieder ihren Werth für die 
Menſchheit öffentlich verkünden läßt, zeigt ſich als wahrer Grund biejer 
Bemühung die Angft, daß die Kirche in ihrer jegigen Geftalt ohne Schutz⸗ 
maßregeln an ihren Schäden zu Grunde gehen muß. Sie bedarf des 
ſtaatlichen Schwertarmes; deshalb haben e8 ihre Reiter für gut gefunden, einen 
Kompromiß, ein Schutz- und Trugbündnig mit der weltlichen Macht zu 
fliegen. Die Schäden aller hriftlihen Kirchen Liegen aber in der Feind— 
fchaft gegen Kunſt und Kultur, in dem Widerfprucd, der die Lehre der Eut- 
fagung von dem Drang nad) Schönheit und Lebensgenuß fcheidet und die 
ftarren Dogmen von dem Verlangen nah Fortfchritt auf allen Gebieten. 
So lange der Priejter mehr gilt al8 der Künftler und der Krieger höher 
geachtet ift al& der Erfinder, wird freilih ber Heerbann der chriſtlichen 


Kunſt, Kultır, Kirche. 295 


Orthoborie eben fo zahlreich bleiben, wie e8 der Heerbann der antilen Götter 
war, fo lange fich die römischen Kaifer öffentlich zu ihnen befannten. „Das 
Chriſtenthum entfland, um das Herz zu erleichtern” fagte Nietzſche. „Uber 
jest muß es das Herz erſt befchweren, um es nachher erleichtern zu können. 
Folglich wirb e8 zu Grunde gehen.“ 

Die modernen Menſchen wollen nicht8 mehr won den Kompromiffen 
hören, mit denen Zweifel bisher befchwichtigt, Räthſel als unlösbar bezeichnet, 
Beweiſe als erbracht angefehen wurden. Theologen und Philofophen können 
nicht mehr vor ber ftaunenden Menge auf bem Schangerüft Ichöner Worte 
klettern und mit Phraſen ober Spipfindigfeiten täuſchen. Die Welt will 
nicht mehr eingefchläfert und geiröftet werden: fie will leben, ftatt zu hoffen, 
da3 Erreichbare genießen, flatt das Unerreichbare zu erwarten. Bon der 
Kultur verlangt fie, daß die Entdedungen der Wiflenfchaften dem täglichen 
Leben bienfibar gemacht werden und daß die Menfchen endlich fähig werben, 
auch ohne Furcht vor ewigen Strafen ji in einander zu fchiden und in 
eine Moral zu fügen, die ein gemeinfames, angenehmes Dafein ermöglicht. 

Der kirchliche Grundfag, daß der Menfh in Sünden empfangen und 
geboren jet, hat noch niemals eine That der Kultur, eine That der Schön: 
beit gefchaffen. Und er ift das Fundament der Religion, aus der jie ihre 
ganze Berechtigung herleitet, ihre ganze Macht entwidelt hat. In der Heilig: 
feit ber Liebe beruht die fiegreiche Größe, die unüberwindliche Kraft des 
Menfchenthumes; in ihren Flammen fprüht auch der einzige „göttliche Funke, 
der in uns die Luſt entzündet, etwas Schönes, noch nie Dageweſenes zu 
ſchaffen. Selbft die antiken Pelfimiften ehrten die Liebe als eine fchöpferifche, 
Kultur anregende Gewalt; und einer ber größten aus ihrer Zahl, Empe⸗ 
dofled, fah auf der großen Wiefe des Unheils nur eine einzige heilbringende 
und boffnungvolle Erfcheinung: Aphrodite, in deren Schönheit er die Bürg- 
haft erfannte, daß der Streit nicht ewig Herrfchen, fondern einem milderen 
Dämon einmal das Szepter überreichen werde. Wie zum Hohn nannte bie 
Kirche ihr Chriſtenthum die Religion der Liebe. Iſt der See von Menſchen⸗ 
blut, den fie forderte, ein Teich der Liebe? Iſt das Gefängniß, das ihr Ge: 
bot aus der Erde machte, ein Raum, in dem Liebe gedeihen kann? Die 
Liebe, in deren Namen ftille, friedliche Menſchen mit Feuer und Schwert be 
fehrt worden find, ift nur ein furchtbares, fleifchlofe8 Totengerippe, das bie 
Senfe in der Hand hält ftatt eines Schlüffel3 zum Leben. Unter den Laftern, 
die dem Menſchen als Exbiheil feiner Entwidelung von Natur aus anhaften, 
it Grauſamkeit eins der fchlimmften. Das Kind ift grauſam wie das Thier; 
erft das Bewußtſein der Kulturaufgabe, das Berftändnig für Schönheit und 
Güte können den erwachfenden Menſchen aus ben Klauen diefes Dämons 
löfen. Die Kirche behauptet wohl, daß ihr fegenreicher Einfluß alle Leiden: 


235% 


296 Die Zuhmft. 


ſchaften befänftige und befonders die Grauſamkeit unterdrüde, aber wenn 
eine beihwörende Stimme in die Vergangenheit dringt und Schatten herauf 
zuft aus der Kirchengefchichte, fo fteigen vor unferen Augen Verbrecher empor 
in unabfehbarer Reihe, die im Namen Gottes morbeten und brannten, Kriege 
führten und Urtheile fällten. Herzog Alba und Guſtav Adolf, Torquemada 
und Calvin, katholifche und proteftantifche Priefter überboten einander in grau 
famer Unduldfamleit und fäten Zwift, weil ihrer Lehre jeder Friede aufer 
bem Frieden bes Grabes unbegreiflich erfchien. In den ausfichtlofen blutigen 
Kriegen, in den an Geift armen geiftlichen Fehden, bie unter Chrifti Banner 
die Anhänger der verfchiedenen Kirchen ausfochten, fchienen bie Fadeln von 
ultur und Kunſt zu verlöfcen, wenn ihre Träger auch noch fo oft ver: 
fuchten, fie am heiligen QTempelfeuer der Antike wieder in Brand zu fegen. 
Berblendet ftehen noch heute gar Viele zu Füßen der Kanzel und lauſchen 
andächtig auf die Worte des Haffes, weil fie wie Liebe klingen. Sie wollen 
nicht darüber nachdenken, fie wollen blind und taub eingelullt fein, wie die 
Väter und Ahnen. Ya, e8 ift wunderbar — wie Novalis ſchon faft vor 
einem Jahrhundert ſchrieb —, „daß nicht längſt die Affoziation von Wolluft, 
Religion und Graufamkeit die Menfhen aufmerkſam auf ihre innige Ber 
wandtſchaft und gemeinfchaftliche Tendenz gemacht hat.“ 

ALS jüngft in einer Gefellfchaft freidenfender Menſchen Jemand dit 
Behauptung aufitellte, dag die Anweſenden, wenn fie am Anfang umfen 
Zeitrechnung gelebt hätten, wohl Ale Chriften gewefen wären, erwiderte Ein 
mit Niegfches Worten: „Sobald eine Religion herrſcht, hat fie all Die za 
ihren Gegnern, welche ihre eriten Jünger gewefen wären.“ 

Sit e8 der Geift des Widerfpruches, der in kräftigen Naturen gem 
auflodert, oder ift e8 ein Beweis, daß eine Religion, eine Kirche, die zit 
Herrſchait gelangt ift, ihren Zweck erfüllt Hat und jungen, auffpriegenden 
Feen Raum geben mug? Die Antwort auf diefe Frage liegt in der Ge 
ſchichte der Kunſt, die als höchſte Blüthe unferer Entwidelung nicht nur aus 
dem tiefen religiöfen Bedürfniß der Menfchyeit hervorging, fondern auch aus 
dem Zuſtand der allgemeinen Kultur. Die Kunft fuchte immer in den Er 
ſcheinungen das ewige Geſetz, den göttlihen Lebensfunken mit gläubiger 
Ahnung zu entdeden und darzulegen. Ihre Propheten empfingen die Ein: 
drüde aus der Zeit, geſtalteten ſie, Jeder auf ſeine Weiſe, wirkten wechſelſeitig 
auf einander und gaben dem Gewerbe, dem Geräth, der Tracht die Vor⸗ 
bilder oder doch die Geſchmacksrichtung. Wenn dann der felbe Sinn in de 
bäuden und Bildwerken, in der reichen Eymphonie und im einfachen Kied. 
im Gedicht und von der Bühne aus ich geltend machte, fo mußte er ſich 
anfangs nur der gebildeten und dann, immer weitere Kreiſe ziehend, der 
breiten Maſſe bemächtigen. Selbſt das unmittelbar Religiöſe der Naturauf⸗ 


Kunft, Kultur, Kirche. 297 


faſſung, ob num die Welt als zufällige Spiel von Kräften betrachtet oder 
ob das Walten eines höheren Weſens darin wahrgenommen wurde, ſprach 
fich immer in den Werken der Kunft auch dann aus, wenn fie nicht „heilige” 

Gegenftände behandelte. Klug, wie fie von je her waren, Tiefen aud die 
Lenker der chriftlichen Kirche die große, nachhaltig wirkende geheimnißvolle 
Kraft der Kunft nicht unbeachtet und fuchten fich ihrer zu bedienen, von nur 
wenigen innerlich verrohten Kirchenvätern und Reformatoren abgefehen. Aber 
die Kunſt kann auf die Dauer nicht lügen. Nur fo lange fie zu ihrem Be 
ftehen der innigen Gemeinſchaft mit ber Kirche bedurfte, blieb fie im chriftliche 
firchlichen Sinne religiös: Duattrocento. Die Kunft gleicht einer Sprache, 
bie das Bewußtſein vorausfett, daß fie verflanden werde, und richtet ſich 
daher nothgedrungen nach der Aufaffungweife Derer, zu denen fie ſpricht. 
So mußte fie, als man in ber niedergetretenen Antile von Neuem Führer 
des Lebens und Beifpiele der Schönheit erkannte, das Feld ber chriftlichen 
Legende und bes Dogmas verlafien und wandelte auf eigenen, von Schu 
beit gejchmüdten Bahnen. Ihre berühmten Werke waren unchriftlich ober 
wenigftend unfirchlich, felbft wenn fie chriftliche Namen tingen. Naffaels 
Madonnen find ein heiliger Ausdrud rein menfchlicher Mutterliebe, Michel⸗ 
angelo8 nadte Titanen fprechen von allem Anderen als von chriftficher Des 
muth. Der Zwiefpalt zwifchen Leben und Kunſt auf der einen und Kirchen- 
glauben auf der anderen Seite füllte die fommenden Jahrhunderte aus, in 
benen ſich der Sieg Bald einer „Aufflärung“ zuneigte, bald einer „Reaktion“. 
Aber wenn diefe auch noch fo weit ausgreifend ihre fchwarzen Flügel über 
die Völker fpannte: es gelang ihr nicht wieder, eine vollempfundene naive 
riftliche Kunft aufleben zu laffen, denn fie war kein Ausfluß überwältigender 
Gefühle, jondern ein Rückſchlag alteingefefiener Gewalt. Die Kunft, in ber 
bie feinften Schwingungen der Dienfchenfeelen wieberklingen, fand keine Stoffe 
mehr in einer Xehre, die, aus der Weltanfchauung eines fremden Volfes ent- 
flanden, ihre Kulturaufgabe erfüllt hatte und nicht mehr Führerin bleiben 
konnte auf neuen, unbetretenen Bahnen. Die wahrhaft religiöfe Kunſt war 
bereitö erjchöpft, als Naffael die vatifanifchen Zimmer malte; fie konnte nur 
refleftirende, nicht mehr naiv empfundene Werke heroorbringen. 

Die Kunft ift das große Barometer, das die Strömungen bes Geiftes 
anzeigt, ehe fie zu allgemeiner Herrfchaft gelangen. Die Freude am Schönen, 
die jubelnde Luft, mit der natürliche Dinge wieder als natürlich empfunden 
und ausgefprodhen werden, Tünbdet die Richtung, in der die Kunſt der all« 
gemeinen Kulturentwidelung ahnend vorangeht. 

Die Berfuche find wohl noch taftend und die frifch entzündete Leuchte 
Nadert no unruhig in der Dämmerung des neuen Tages; aber die Werfe 
werden doch immer häufiger und bemerkenswerther, in denen fich der jugend⸗ 


298 Die Zukunft. 


frohe Geiſt gegen die veralteten Begriffe auflehnt, bie gleich Fefleln . feine 
Schwingen hielten. Nichts darf auf heiliger Höhe unantaftbar thronen, nur 
weil e8 frühere Generationen angebetet haben. Das Wort des Carteſius: 
„Mein Denken ift mein Sein“ muß endlich über Luthers Wort triumphiren; 
„Dein Glauben ift mein Sein.“ Mit einem folgerichtigen Denlen ver- 
fchwindet der negative, religiöfe Geift und giebt ber Ehrfurdt Raum, die 
wir vor der irbifchen Natur und ihrer Größe haben müſſen. Weil die Kirche 
einen Unterfchied zwifchen Geift und Materie, Gott und Melt, Ueberfinn- 
lichem und Sinnlichem gefchaffen hat, wurde fie zu einer dem Leben feind= 
lichen, negativen Religion, die Alles für eitlen, verderblichen Tand erflärte, 
was Freude, Schmud und Glüd ind Leben brachte. 

Wandelbar wie ein Chamäleon, konnte fie fich allerdings in Vieles 
fhiden und dank ihrer Anpafjungfähigfeit manchen Angriff überwinden, ber 
fie ins Herz getroffen zu haben fchien. Der Geift des Menfchenthumes 
treibt einer umbefannten Vollendung entgegen, für die immer neue Yähig- 
feiten auögebilbet, immer neue Kräfte entdedt und bezwungen werten. Ein 
Glaube, defien Kern in dem Vers de8 Johann Amos Comenius enthalten 
ift: „Du lerneſt, Liefeft, fchreibft und gleichwohl kommt der Tod, ftudire Jeſum 
felbft, dies Eine ift Dir Noth“ hindert diefe Entwidelung, fobald alle Be— 
griffe, die der Name Jeſu zufammenfaßt, tief genug ergründet find, um neue 
Auffchläffe unmöglich zu machen. Aus dem Begriff der Exrbfünde entpuppte 
fich die Lehre von der Förperlichen Vererbung und das Erlöfungbedürfniß der 
Menfchheit Härte fich zu dem gewaltigen, unaufhaltfamen Trang nach Wifien, 
das fein Genügen findet im Ahnen und Glauben. 

Der große Pan ift aller Wunder mächtigfter Yeind. Die Natırr: 
erkenntniß räumt mit allen übernatürlichen Offenbarungen gründlid auf und 
die Kunft, die außer Schönheit auch Wahrheit ausdrüden will, verſchmäht 
die kühle Allegorie, die nicht mehr Empfundenes nur noch mit glatter Routine 
darftellt. Wie in die geweihten Andachtftätten das Licht gedämpft durch bunt 
bemalte Fenfter fallen mußte, fo follte e8 felbft in den Zeiten, wo der Geift 
wieder zum Denken erwachte und den Blid auf die Natur richtete, getrübt 
und gebrochen durch die bunten Scheiben der Theologie in den Palaft der 
Wiſſenſchaft dringen und in den reinen griechifchen Tempel der Kunſt. Aber 
Lebenswille und Lebenskraft, diefe beiden Gegengewichte jeder Entfagungreligion 
und jeder peflimiftifchen Philofophie, retteten noch immer Kultur und Kunft 
vor dem Untergang im Dunkel einer Kirche. Wie nach indifcher Sage bie 
Kunft als reizende Maja aus dem Haupt Brahmas Melancholie und Mi- 
fanthropie vertrieb, fo führte fie feit dem Zeitalter der Renaiffance bie Menfchen 
auf die oberften Zinnen der Kirche, wo fie aus beengter und geprefter Bruft 
frei athmen lernten und, die Herrlichkeiten der Erde erblidend, die Welt der 


Kunft, Kultur, Kirche. 299 


Freiheit, Schönheit, Humanität und Wiſſenſchaft zu erfchließen gedachten. 
Seitvem hat es immer Philofophen und Künftler gegeben, die mehr oder 
minder offen Rückkehr zum Heidenthum predigten. Mochten fie von Göttern 
Ihwärmen oder von einem freien Kultus der Natur: fie brachten das unklare 
Derlangen nah Schönheit, Liebe und Lebensluft zum Ausdrud, dem ſich feit 
ihrem Beſtehen die chriftliche Kirche entgegenftellte. Der moderne Menſch 
fieht fein Ziel mit größerer Klarheit. Um „fi audzuleben“ ‚will er alle 
Zähigfeiten_in fih entwideln und alle anderen Kräfte ſich ————— 
Ge hy a ea kam ar Vi "dig fein muß, kann ihn 
die Stiche nicht mießt at ſie einen ge öcperlich 
gebundenen Menſchen zur Borausfegung. As erften Führer auf dem 

der innerlichen umd äußeren Befreiung fucht er eine Kunft zu erfpähen, die 
zwar an die Vergangenheit anſchließt, aber ſtolz und vorurtheillos in neue 
Länder geleitet. Es iſt die Kunſt, auf die Feuerbach hinwies, als er ſchrieb: 
„So wenig der Baum, der auf einem Kirchthurm ſteht, aus ſeinem harten 
Geſtein entſproſſen iſt, ſo wenig kam die Kunſt aus der Kirche und ihrem 
Geiſt. Der ſchlaue Vogel des Verſtandes trug das Samenkorn auf ſie hin» 
auf. Als es aufging und zum Pflänzchen gedieh, war es freilich unter⸗ 
ſchiedlich, als es aber groß, als es Baum wurde, zerſprengte es den alten 
Kirchthurm.“ Mit ſolcher Kunſt kann erſt eine Kultur entſtehen, deren 
ethiſche Grundlage und deren Moral nicht mehr auf der Vergöttlichung des 
Todes und des Leides beruhen, fondern auf der PVergöttlichung des Lebens 
und der Freude, 

Was bisher als neues Prinzip in die Welt trat, mußte ſich als religiöfes 
Prinzip verlünden, denn nur dadurch konnte e8 die Gemüther beherrichen. 
Wenn e8 heute, von Schönheit umfloffen und von Erkenntniß bejchirmt, in 
die Schranken treten kann, liegt darin der größte Yortichritt über das Beit- 
alter der Kirche hinaus, in dem die Kunft als Magd, die Kultur als Teufels- 
wert betrachtet wurde. Selbft Viele, deren innere Sehnſucht eines Glaubens 
an überfinnliche Dinge bedarf, haben jich, erjchredt von der Starrheit und 
Unduldfamkeit der Dogmen, von ber Kirche abgewandt und find zu der 
myſtiſchen Weisheit Indiens geflüchtet. Der tiefe Zweck diefer Theoſophen, 
aus dem Glauben ein „Willen“ zu machen, giebt ihnen die Möglichkeit, 
jede Kulturaufgabe zu fördern und jede wiflenichaftlich gewonnene Erkenntniß 
auch ethiſch und moralifch zu verarbeiten. 

Das Wefen des Alterthumes mar: Einheit von Religion und Politik, 
Geiſt und Natur, Gott und Menſch; da8 Weſen der Kirche war: Zwiefpalt 
zwifchen Leben und Zod, Himmel und Erde, Luſt und Leid; das Weſen der 
Zukunft foll die Harmonie all unferer Kräfte, Gedanken und Gefühle fein. 

Münden. Alerander Freiherr von Gleichen-Rußwurm. 


* 


800 Die Zukunft. 


Aenaiffance.*) 


Sa einem ftol3 gemwölbten Saal, de Kuppel 
I Dom Abendgold wie eine Krone leuchtet, 


Und vor des zweiten Julius Heiligkeit 

Sind Kardinäle, Feldherrn, dunfle Möndye, 
Derträumte Künjtler zum Geſpräch verfammelt 
Und von des Papſtes bleihen Lippen firömt 

Die Rede wie ein windbewegtes Rauſchen: 
„Aus Wünfhen nur wächſt Großes. Ungenägen 
Un alten Gütern einer alten Zeit, 

Auflodernd wilde Gluth der größern Ziele 
Schafft Euch den ftolzen Bau des Datifans. 

Aus meines Berzens ungeftimem Ehrgeiz 

Steigt, wid ein Phönir, einig diefes Neid. 
Wär’ ich nicht Papft, ich wäre gern Jehovah. 
Und alfo frag’ ih Jeden jet von Euch, 

Der er zu fein fih wünfchte, trüg’ er nicht 

Der eignen Seele Dließ im eignen £eibe?” 
Schon fan? Bibbiena hin und füänfelte: 

„Wer zweifelt da? Auf meiner Stirne ſchimmert, 
Dom Wunſch verflärt, dies eine Wörtlein: Papit. “ 
Der Herzog von Urbin, des Papftes Neffe, 
Derfpann fich juft in einen füßen Traum 

Don Mädchenlippen, rothen Mädchenlippen, 
Gluthrothen, rofiarothen Mädchenlippen, 

Die eines fränfifchen Gefangnen Braut 

Su heigen Küffen — ah! — nidt öffnen wollte. 
Und leife fprah der Herzog: „Zaufcht: ich wäre 
Der Sultan gern und hätte einen Harem.“ 

Ein fchlanfer Mönch, des Herzogs ſchimmernde 
Feldherrngeſtalt mit feinem Blick verfchlingend, 
Sprach bebend jetzt zu ihm: „Ich wäre, Hoheit, 
Ein Mädchen gerı, das Ihr zn lieben wüßtet.“ 
And Alle lähelten. Und Alle fchböpften, 

Der Eine lachend, ftürmifch wild der Andre, 
Aus ihrer Seele ein verborgnes Wünſchen. 

Nur zweier Männer Kippen fibwiegen ncd. 
„un, Michelangelo”, erhob der Pater 

Jetzt feine Stimme, „warum jprichft Du nicht?“ 


Und Michelangelo erbebte. Lange 

Dermweilte feines_ lies dunkle Gluth 

Auf jenes Andern Locken, der noch ftumm war. 
Und lange jah er bin zu Raffael, 





*) Ein Stüd aus dem Gedichtband „Die lodende Geige“, ber vor Wei 
nachten bei Albert Zangen in München erjcheinen wird. 


Wien. 


Aenaifjantce. 


Der an des Fenſters leuchtend weißen Scheiben, 
Don Gold umflofien, felbft ein Bildniß, ftand. 
Er fah in Raffaels verträumte Augen, 

Sah feiner Wangen pfirfichzarte Blüthe, 

Der weichen Adern blaues Sarbenfpiel, 

Und weiter flog fein Blid durch holde Gärten, 
Wo weiße Mädchen, Gott im Angeficht, 

Sih mild an Jenen ſchmiegten, dunkle Rofen 
Sein Baupt, em Beiligenfranz, umblühten und 
Der Kies von feinen Füßen leuchtend wurde. 
Und lange fah er hin. Doc dann verſchloß er 
Der Augen fchwere £ider wie mit Schaudern 
Und fprah: „Ich, Heiliger Dater, wünfche mir, 
Der Künftler Michelangelo zu fein.” 


Jetzt, durch des Saales wunderbare Stille, 

Bub leife Raffael zu ſprechen an: 

„In meiner Seele”, fprach er, „weiſe freunde, 
In meiner Seele alüht, den Tulpen gleich, 

Die Gottes Sehnfuht aus den Wieſen heben, 
Ein heißer Wunfch, fo wild verwegen, daß 

Die Worte fcheu vor feinen Gluthen fterben; 
Und diefer Wunfd heißt: Michelangelo. 

Seht her! Was Eudy fo oft an mir entzüdte, 
Die goldnen Koden, -morgenrothen Wangen, 
Die ganze taufendmal gelobte Schönheit 

Zerreiß ich hier vor Euch und bete zitternd, 

So ſchön wie Michelangelo zu fein. \ 
Der Heilige Dater hats gefagt: aus Sehnſucht, 
Aus wilden Wünſchen nur wächſt Ewigkeit. 
Und ih? Ich bin vom Glücke fo umfchmeidelt, 
Don holden Gaben alfo reich gekrönt, 

Don Fraun verwöhnt, von Eurer Gunft verzärtelt, 
Daß Peines einzigen wilden Wunſches Gnade 
Die Wellen meiner fanftern Seele peiticht. 

Ihm aber, den die Götter fo gefegnet, 

Daß feine harten Hände Stein zu Blut 

Und Nacht in Sonne wandeln, ihm doch bleibt 
Dies eine Wünſchen ewig unerfüllt: 

Nach Leibes Schönheit und nach Srauengäte. 
Und aus der Sehnfucht wählt uns feine Größe.“ 


Er ſchwieg. Doc, Bibbiena neigte fi 
Su Sadolet mit lächelnd offenem Munde: 
„Seht, Eminenz, ift er zum Küffen nicht, 
Wenn feine Augen fo im feuer funfeln? 
Sit er nicht reizend, diefer Raffael?“ 


801 


Bans Müller. 


3 





802 Die Zukuuft. 


Selbitanzeigen. 


Die Deutſche Kirhe. Eine Umfrage in Sachen des Zufammenfchluffes ber 
deutfchen evangelifchen Landeskirchen. VBeranftaltet von den Wartburg⸗ 
ftimmen, Monatsfchrift für Deutfche Kultur, und beantwortet in Abhand⸗ 
lungen, Thefen und Betrachtungen von fechzig Perfönlichkeiten ber ver= 
ſchiedenen veligiöfen und kirchlichen Beftrebungen. Preis 2 Marl. Thü- 
ringifche Verlagsanftalt Eifenad und Leipzig. 


Ueber die Notwendigkeit und über die Form einer Bereinigung ber deutfchen 
evangelifchen Landeskirchen ftreiten ſich die proteitantifchen Kreife. Als Heraus- 
geber einer Beitichrift, bie die religiöfe Arbeit als nethivendiges Stüd nationaler 
Kultur und die Stärfung bes Protejftantismus als die wichtigfte Aufgabe einer 
beutihen Kulturpolitif im Gegenjage zu unferer vom Ultramontanismus bes 
berrichten Regirungpolitif betrachtet, empfand ich es als eine Gewiſſenspflicht, 
dte firchenpolitifche Verlage am Prinzip des Proteitantismus in der chriſtlichen 
Meltanfhauung zu mellen. Sch Eonnte die Bewegung nicht jo recht als ein 
organiſches religidjes Wahlen am Baum des beutjchen Bolfsthumes anerkennen. 
Um aber bie Borlage mit größeren Naddrud und in weiteren Wirlungfläden zu 
einer Frage zu machen, veranjtalteten die Wartburgftimmen eine Umfrage, die 
fih aus folgenden Einzelfragen zufammenfeßte: 

1. Entipridt die Bewegung zum Zuſammenſchluß der deutichen evange- 
liſchen Landeskirchen ber religiöfen Weltanſchauung des Proteftantismus im 
Gegenſatze zu Rom und entipridt eine Centralifation der kirchlichen Kräfte dem 
Bedürfniß der deutichen religiöfen Vollsanlage? 

2. Bleibt nicht die Beranftaltung unter der Führung des preußiſchen 
Oberfirchenrathes eine vom Proteftantismus nicht ernft zu nehmende, fo lange 
Preußens Staatsregirung die noch unvergefjene Stellung zur Jeſuitenfrage bewahrt ? 

3. Sind Sie nicht aud der Meinung, daß in unjerer Zeit, die eine Ver⸗ 
ſöhnung der Kulturfämpfer der verjhiedenften politiihen und kirchlichen Bar- 
teien auf dem Boden einer verjüngten religiöjfen Weltanfhauung gewiß vorbe» 
reitet, viel nothiwendiger als Konferenzen von ſtaatlich-kirchlichen Religionarbeitern 
ſolche Kongreſſe find, auf denen religiöje Kulturarbeiter aus allen geijtigen Lagern 
eine Berfühnung zwiihen altem Glauben und neuem Willen zum Zwecke einer 
erneuerten, das ganze Volfsthum durchdringenden Slaubensfreubigfeit verſuchen? 
Wie denken Sie fich die Berufung einer folden unabhängigen Konferenz? 

Dad die Methode einer. Umfrage auch eine Möglichkeit war, der litera- 
riſchen Weberproduftion in diefer Sache zu jteuern, beweift der Erfolg der Um⸗ 
frage. Bon jehzig Beantwortern wurden zehn vor eigenen Büchern oder Bro 
churen bewahrt. Das entitandene Buch wird allgemein als ein reizuolles Doku» 
ment für das religidöje Drängen unferer Tage beurtheilt. Da es mir nicht 
darum zu thun war, den kirchlichen Tendenzen zu dienen, jo 30g ich auch Männer 
beran, deren antilirchliches Wirten oder Denken mir befannt war. 


Eiſenach. Hans K. E. Buhmann. 


Selbſtanzeigen. 303 


Bud in die Welt. — Thiergeſchichten. J. F. Schreiber in Eßlingen. 

Für die Kleinen ſchreibt es ſich nicht ſo leicht wie für die Großen. Das 
liegt zunächſt daran, daß die Wahl der Stoffe ſo ſehr beſchränkt iſt. In einer Welt, 
in der man ſich noch Alles wünſchen kann, ſpielt das Geld keine Rolle; und damit 
iſt die ſoziale Frage von vorn herein ausgeſchteden. Die Kinder philoſophiren 
nicht; käͤme man ihnen mit Nietzſche, jo würden fie in ihrer eingebildeten und 
abſprechenden Art einfach jagen: „Das ift Unfinn.” Ch fi) Zwei Eriegen oder 
nicht, intereffirt fie nur, wenn die Sade in allerhöchſten Kreifen ſpielt, e8 um 
einen Prinzen und eine Prinzelfin ſich Handelt und, ehe fie fich Triegen, eine 
Entzauberung ftattfindet. In ber großen Welt aber gebt es nicht jo zu; ba 
erfolgt die Entzauberung gewöhnlich exft nach dem Sichkriegen. Erſt recht hätte 
es feinen Zweck, ein rührendes Seelengemälbe vor Denjenigen zu entrollen, 
bei denen ſchon das Weinen losgeht, wenn eine Puppe den Kopf verliert oder 
wenn man vom Apfelbaum fällt und fich die Holen dabei zerreißt. Dazu fommt, 
daß die Keinen Leſer und Lejerinnen viel ftrenger in ihrem Urtheil find als 
die großen Leute. Sachen jelbft, die von dreinal gefiebten Rezenjenten für 
beachtenswerth erllärt und, wenn es fi) au um Bilder handelt, von geaichten 
Kunſtkritikern gelobt werden, lehnen fie einfach als „langweilig ab. Wenn 
ihnen aber Etwas gefällt, jo.jagen fie ed nicht geradezu, ſondern es zeigt fich 
darin, daß fie es, wenn fie es gelefen Haben oder e8 ihnen vorgelefen ift, behalten. 
Nie bin ich fo ftolz auf ein von mir verfertigtes Werk gewefen wie an dem 
Tage, da ein kleines Mädchen, das noch nicht leſen konnte, mit den Worten: 
„Jetzt will ich vorlejen!” ein iluftrirtes Kinderbuch von mir in die Hand nahım 
und dann, indem es jo that, als läſe es, und richtig die Seiten umſchlug, ein 
Gedicht nah dem anderen vortrug, ohne ein einziges Mal fteden zu bleiben 
oder ein unrichtiges Wort zu jpreden. Das foll Einer von fi fagen fönnen, 
der für bie Großen fchreibt! Ich glaube aber, die Kinder urtheilen deshalb fo 
ftreng über Bücher, weil fie fih auf das Dichten fo gut verftehen. Ober ift 
Das etwas Anderes als Porfie, wenn ein Sind, das nod die Flaſche bekommt, 
fein hölzernes Thierchen füttert oder ein Fleines Ding fein Püppchen bemuttert? 

Unter dem diesjährigen Weihnachtbaum wünſchen zwet Kinderbücher zu 
liegen, die „Sud in die Welt” und „Thiergeſchichten“ heißen. Der Text des 
eriten Büdhleind rührt von Egon H. Strasburger und dem Unterzeichneten ber, 
der des zweiten von Cornelie Techler und Anderen. „Sud in die Welt“ ent: 
hält natürlih in Verſen und Proſa, was fo in der Welt der Kleinen vorgeht 
in Ernft und Spiel; in ben Thiergeſchichten wird felbitverftändlich erzählt, was 
jo in der Welt der Katzen und Hunde, der Füchſe, der abgerichteten Bären, der 
Hafen, Hühner, Schwalben, Fröſche und anderer Angehörigen des TI hierreiches 
fi) ereignet. Beide Büchlein find ſehr hübſch illuftrirt von 2, Meggendorfer, 
Mathilde Ude, Leo Kainradl, 3. Mukarowsky und anderen Künftlern. Mehrere 
Bilder find nah Skizzen von Specht gemacht. 

Die Zertverfafler und SUujtratoren beider Büchlein Hoffen, daß dieſe, 
wenn fie unter dem Tannenbaum zur Beicherung gelangen, das Scidfal der 
guten Bücher auf diefem Gebiet erleiden, Das heißt: in nicht allzu langer Zeit 
zerlefen fein werden. Der Berleger — vertrauensfelig, wie alle Buchhändler 
find — theilt ihre Hoffnungen. Johannes Trojan. 

s 


804 Die Zukunft. 
Pro patria. 


St Rolle |pielt unfere hohe und höchſte Finanz bei ber Anlage deutichen 
Stapitals in fremden Staaten und Unternehmungen? Diefer Frage galt 
einer der letzten Kämpfe, die Georg von Stemens auszufechten hatte. Deralte Streit 
war von Agrariern wieder aufgenommen worden und Siemens, der jeine Deutiche 
Bank gegen den böfen Borwurf vertheidigen mußte, fiehabe Deutſchlands Interefien 
geihädigt, war genöthigt, für jämmtliche Banken eine Lanze zu Bredden. Seitdem ift 
das Thema in Theorie und Praxis oft erörtert worden. Die Teorie hat Adolf 
Wagner und den übrigen Gegnern finanzieller Weltpolitif keinen allzu günftigen 
Kampfplatz geliefert. Doc muß man offen fagen, daß die praftifchen Erfahrungen 
aud nicht gerade für Siemens entjchieden haben. Wenn der tapfere Riıter Georg 
noch lebte, würde er, unter dein Eindrud neuerer und neufter Vorgänge, als 
ebrliher Mann den Yreunden gewiß felbft rathen, feine Vertheidigung der nadh 
Erpanfion luſternen Hochfinanz nicht ganz kritiklos hinzunehmen. 

Bon den Vorgängen, die kritiſche Regungen wecken konnten, erwähne ich 
zunächſt die Angelegenheit der Transvaalbahn, die ich, fo weit fie geeignet iſt, 
Mipftände im Syftem ber „Schugvereinigungen“ zu zeigen, bier ſchon beleuchtet 
babe. seht aber bat fih ein Greigniß abgeipielt, das nit nur irgend eine 
Bereinigung fompromittirt, fondern die ganze deutfche Haute Finance, — bie 
jelbe Großmadt alfo, für die fid Georg von Siemens jo kameradſchaftlich ius 
Zeug gelegt Hat. Das britiſche Kolonialminiftertum, dem das deutihe Schug- 
fomitee durch das Londoner Haus Rothſchild feinen ganzen Aktienbeſtand zur 
Einlöfung überreichen ließ, fordert, für jede einzelne Aktie müſſe durch den Schluß» 
fein der Beweis erbracht werden, daß fie am neunten Oftober 1899, als ber 
Burenfrieg begann, in Privatbejig, nicht in den Händen der Transvaalregirung 
war. Dieſe Forderung fagt — mehr deutlich als höflich —: „Sch, der Miniſter 
Seiner Dlajeltät, glaube Euch Deutjchen, troß all Euren Berficderungen, nicht; und 
weil ich Euch der Borjpiegelung falſcher Thatſachen für fähig Halte, verlange ich 
den fchriftlicden Beweis Eurer Ehrlichkeit." Wie parirt nun das deutfche Komitee 
biejen Streih? Geheimniſſe hat es von je her geliebt; alſo wird wieder eine geheime 
Sitzung einberufen. Mit dem Autor der „Fürſtlichen Schatz, und Rentkammer“ 
iſt es offenbar der Anſicht, daß „alle großen Deſſins durch Verſchwiegenheit zu 
einem glüdlihen Ende gebradt worden, während Das, was die ſchwaätzhafte 
Menge weiß, eine verrathene Sade ijt“. Und das „große Deifin“? Eine 
kümmerliche Rejolution, die zwar betont, daß die neufte Zumuthung der lon⸗ 
boner Regirung nicht der eriten englifhen Ablöfungofferte entipreche, den dentſchen 
Aktionären trogdem aber den Verſuch empfiehlt, die Forderung zu erfüllen. Das 
Komiteeſteckt aljo die Beleidigung ruhig ein; es läßt fih, ohne Die Hand zum Gegen- 
Ichlag zu erheben, vor Europens lachendem Auge eine Obrfeige verfegen. Dabet 
weiß das Komitee, daß e8 die Forderung Englands gar nicht erfüllen kann; denn es 
beiteht erjt jeit Ende 1900 und wäre faum im Stande, das frühere Borleben 
der einzelnen Aktien zu fontroliren. Daß es, aus triftigen Gründen, auch wenig 
Luft dazu haben wird, braudt uns Heute bier nicht zu fünmern. Dennoch wird 
nad) London geantwortet: Hübſch ijts nicht, daß hr fo viel verlangt, aber wir 
wollen ung nad beiten Kräften bemühen, Euch zu gehorden. So berrlidhe 


Pro Patria. 8305 


Offenheit fann fi neben der vielgefhmähten Heuchelei der Briten immerhin 
ſehen laflen. Der engliiche Dlinifter wird fich, als er dieje fanfte Antwort bekam, 
gedacht haben, offenbar fei die Abfidt geweien, ihm Aktien anzuhängen, die er 
nit einlöjen wollte, weil fie nach Ausbruch des Krieges noch im Beſitz der 
Burenregirung waren, die fie erſt päter, um für den Feldzug Geld zu erlangen, 
in Europa verfaufte. In diefem Glauben mußte England beftärft werben, 
denn Inſulten pflegt mar in Demuth nur hinzunehmen, wenn man ein fchlechtes 
Gewiſſen hat. Schon der vorher vom Komitee gefaßte Beichluß, die ganze von 
England auszuzahlende Einlöſungſumme folle auf alle deutfchen Aftien, bie 
zurüdgewiefenen jo gut wie bie angenommenen, vertheilt werden, mußte in London 
wie das Geftändniß wirken, das Komitee fühle fi im Befig gewifler Aktien 
minbeftend recht unficher. Und wer erfahren hat, mit welcher Rüdfichtlofigleit gerade. 
in der Finanz meijt die Kleinen von den Großen behandelt werden, fonnte aud 
bamals ſchon ahnen, baß bie Aftienpadete, um beren Schidjal das Stomitee 
äitterte, nicht in ſchwachen Händen fein mochten. Die Briten fünnen alfo mit 
einigem Recht behaupten, das Berhalten bes deutſchen Komitees felbit habe fie 
zur Borfiht gemahnt. Diefem Verhalten haben wir zuzuichreiben, dat England 
fih erlauben durfte, die Deutjchen als Betrüger hinzuftellen. Die Verdächtigung 
— anders fann man die engliſche Nachtragsforderung nicht nennen — trifft ja 
nicht nur das Haus Warfchauer und die Berliner Handelögejellichaft, jondern die ganze 
deutſche Jinanzwelt. Nah allen Widermwärtigfeiten, mit denen die Transvaal- 
bahnſache ung jchon erquicte, hat dieſer Schlußeffeft gerade noch gefehlt. Das 
Schutzkomitee hatte einfach darauf zu beitehen, daß England alle deutjchen Aktien 
bezahle; alle ohne Unterſchied: denn die Burenregirung war auch während tes 
Krieges zum Verkauf ihrer Aktien durchaus berechtigt. Natlirlich hat der erfte Fehler 
fih jchnell gerät. Noch haben die deutfchen Altionäre, die ſich vertrauensvoll 
von der Hochfinanz führen liegen, feinen Pfennig erhalten und ihr Befig tft heute 
mehr als je gefährdet. Der Beſchluß, den Geſammterlös für die Aftien gleich- 
mäßig zu vertheilen, bindet auch die Kopitaliften, die in der günftigen Qage 
find, die Vergangenheit ihrer Aktien big zum Oktober 1899 jeder Kontrole unter: 
breiten zu können. Wie viele deutiche Aktien wird jegt die engliſche Negirung 
überhaupt noch einlöjen? Ohne kräftigen Drud von außen vielleicht nur ſehr 
wenige. Und woher ſoll der Drud fommen? Graf Bülow wird faum Luft haben, 
fi von dem nad) Thaten dürftenden Nachfolger Chamberlains eine zweite Auflage 
des Refus zu holen, mit dem oe der Große ihn abgefpeift Hat. Er könnte jegt auch 
nicht mehr viel thun. Früher vertrat er eine Rechtsauffaſſung, die fich hören ließ. 
Nun aber, feit das deutiche Komitee fih auf den englifchen Redtsftandpunft 
geitellt hat, fönnte der Reichskanzler nur noch befcheinigen, daß ſämmtliche deutjche 
Altienbejiger untadelhaft ehrliche Dienichen find und daß feiner von ihnen nad) - 
dem neunten Oftober 1899 auch nur eine einzige Aktie der Transvaalbahn ge- 
kauft hat. Zur Austellung eines folden Sittenzeugniijes, deffen Grundlggen er 
gar nicht prüfen künnte, iſt aber wohl felbft Graf Bülow nicht höflich genug. 
Woher alſo fol der Retter foımmen? Aus den Hallen der Deutſchen Bank 
und der Disfontogejellfchaft wahricheinlich nicht. Diefe beiden Snftitute Haben genug 
mit der Aufgabe zu thun, das von ihnen in fremde Unternehmungen geitedte 
deutſche Kopital zu ſchützen. Sie müfjen verfuchen, die Rentabilität ihrer djter- 


306 Die Zukunft. 


reihiichen und rumänifchen Petroleumgeichäfte, von denen ich neulich erzählte, 
zu fihern. Geplant war ein großer Truft, der alles von den beiden Banken in 
Rumänien produzirte Petroleum und den ganzen Exportüberſchuß des neuen 
öjterreichifch-ungarifchen Kartells, an dem beide Inſtitute bireft oder imdireft be 
tbeiligt find, zum Bertrieb in Deutfchland Übernehmen follte. Dann hätte Deutid- 
land endlich fein „nationales“ Petroleum gehabt und Rockefeller ausgeladt. Dem 
Direktor der Ungarifchen Kreditbank, Herrn Kornfeld, war die Mifjion zugefallen, 
dem deutichen Betroleumtruft ins Leben zu helfen und zunächft einmal zwiſchen der 
Deutfhen Bank und der Diskontogeſellſchaft zu vermitteln, deren Leiter nicht mehr 
allzu Herzlich mit einander zu verkehren feinen. Zu diefem Zweck fam er nad 
Berlin. Er bat es in Bubapeft nicht nur zum erften ungariichen Financier, 
ſondern, was noch viel ſchwieriger zu erreihen war, zum Mitgliede der Magnaten⸗ 
tafel gebracht, wo er mitten unter den Sproſſen ber älteften Adelsgeſchlechter 
fit. Der Mann ift längft gewöhnt, zu fommen, zu fehen, zu fiegen. In Berlin 
aber, an der Stätte, wo er vor Sahrzehnten als befcheibener Nemifier — ber 
Stand war damals faum noch erfunden — eines wiener Haufes feine Yaufbahn 
begann, verließ ihn die Sicherheit des Siegers. Die Verhandlungen zerichlugen 
fih, Herr Kornfeld reifte, ohne einen Erfolg mitzunehmen, heim und becilte fid, 
dem amerifanifchen Truſt beizutreten, der ihn ſchon fehnfüchtig erwartet hatte. 
So foll denn, nachdem ſich beutiches Kapital an ber öſterreichiſchen Induſtrie 
beteiligt hat, der Standard Oil Trust den öfterreichtichen Export nad) Deutſch 
land übernehmen. Damit tft die Komoedie aber noch nicht zu Ende. Auch die Did 
kontogeſellſchaft verhandelt jet mit dem amerikaniſchen Truft. Deutjchland hat, 
wie man fieht, ben pfychologifchen Augenblid verjäumt. Eine ftattlicde Summe 
beutichen Geldes wird an die Herftellung fremden Petroleums verwendet, das 
beftimmt war, dem deutjchen Konſumenten al3 nationale Waare angeboten zu 
werben und ihn in patriotiſcher Wonne allmähliche Preisfteigerungen verjchmerzen 
zu laffen; aber NRodefeller ift der Stärfere geblieben und bat die Hand darauf 
gelegt. Ich glaube nicht, daß es ſchon Zeit tft, den Herren Gwinner und Hanle 
mann, als den Befreiern von fremden Joch, an der Wejermündung ein Doppel- 
ftandbild zu errichten. Doc eben fo wenig glaube ich, daß Georg von Siemens 
zum Verteidiger jeder ausländifchen Anlage geworden wäre, wenn er bie Tragi- 
fomoedien der Transvaalbahn und des Petroleumhandels erlebt hätte. 

Auch ein ſchlimmeres Aergerniß blieb ihm erjpart: ber Anblid des Zwei 
bundes Dresdemer Bank-Schaaffhauſen. Denn ber Deutfchen Bank, die ihren größten 
Moment erlebte, als fie, die Breußin, vom Magiftrat der ſächſiſchen Hauptjtadt um 
Auskunft über die Solidität der Dresdener Bank erfucht wurde, kann es nicht gerade 
angenehm fein, die Macht der Konkurrentin jegt fo gewachſen zu ſehen. Daß der 
Schaaffhauſenſche Bankverein einen Bundesgenoffen juche, war don im Sommer 
befannt; und jeit die Dresdenerin die Aktien der Kölniſchen Wechslerbank und der 
Rheinischen Ban erworben hatte, lagder Gedanke anein Bündniß mit Gutmann nah. 
Trotzdem hat die Berfündung der „Intereffengemeinjchaft" ‚die über das größte Kapi⸗ 
tal verfügt, wie eine fenfationelle leberraihung gewirkt. Vielleicht lernen Deutſche 
und Disfonto einander nun wieder Ichwefterlich lieben. Den im neujten Riefenpool 
Vereinten muß man jedenfalls dafür dankbar fein, daß fie nicht befaupten, dem 
teuren Baterland, nur ihm, das Opfer ihrer freiheit gebracht zu haben. 


Dis, 
s 





Lieutenant Bilfe. 307 


$ieutenant Bilfe. 


6 zu dreiundneunziger Mouton Rothichild Flettere ich; drüber bes 
ginnt das Reich der Geheimen Kommerzienräthe. Nichts mehr für 
Unjereinen mit Stab8offizierspenfion und Kartoffelllitiche. Aber ein Fran⸗ 
zole muß es Beute fein. Dreug, mein Junge! Keinen Dunſt? Natürlich. Ol 
sont les neiges d’antan? Son Lieutenant von heute denkt nicht einmal im 
Traum mehr an unfer 70. Verfchollene Choſe. Nachbarfchaft von Mantinea. 
Uebrigens war Dreux ja keine von den großen Sachen. Für ung, die dabet 
waren, immerhin Etwas. Siebenzehnte Divifion, fiebenzehnter NRovember70. 
Profit, Fränzchen: die beiden 17! Daß Dir bald Aehnliches befchieden fei, 
darf man nicht wünfchen; in Weltfrieden planfchen, Heißt jet die Ordre. 
Mir kanns recht fein. Auch, daß wieder die Wäfferigen gefiegt haben und bie 
Armeevermehrung, die dem armen Goßler den Magen verbarb, auf Eis gelegt 
wird, bis die neuenSchiffe von Tirpitz oder Büchſel durch die allgemein Gewahl⸗ 
ten bugſirt ſind. Aber fchön wars doch, Kleinet. Sogar Dreux. Dein geehrter 
Ohlim hatte damals den hijtorifchen Klaps. War noch Bischen jung für fo 
was? Macht nicht8 ; verwächftfich. Item ich ſchwelgte an der Blaiſe; trotzdem 
auch bei ung ’neachtbare Portion Blut gefloſſen war. Derliebe Feind hatte uns 
die Eroberungnicht leicht gemacht. Als wir aber drin faßen : Heiliger Bädeker! 
Dreur, Drocae, Druidenftadt. Karnutengebiet. Hier hielten die Druiden 
Gerichtstag. Kirche die reine Bauftilmufterlarte. Erinnerungen an fämmts 
Tiche Hugenotten (Du weißt doch: „hr Wangenpaar!”), an Condé (nee: 
kommt in der Oper nicht vor); Henri den Vierten, Habys in Gott ruhenden 
Vorgänger, und jo weiter bis runter zu Louis Philippe, der ſich da, ohne 
Bipp zu fagen, begraben ließ. Ein famojes Neft; fabrizirt nebenbei Stiebel, 
in denen felbft ein wegen hohen Adels des Schreibens unkundiger Garde du 
Corps feiner Liebfien unter die Augen lönnte. Und, fiehft Dur, ſeit donnemals 
breche ich an jedem fiebenzehnten Novembertag einem Franzoſen den Hals. 
Lächelft und dentft, bei Einem bleibe e8 nicht. Kommt auf dieSortean. Der 
Stoff ift nicht zum Begießen der werthen Naſe. Wenig, aber nobel. Schon 
fatt? Canis finis aus Potsdam ift wohl an feineres Futter gewöhnt? Wird 
nicht verabreicht. Perigord- Trüffeln hätte ich allenfalls fpendirt; hier bei 
Borchardt 'ne Nummer. DaeinTalleyrand-Perigord aber mit den anderen 
Nhodes- Stipendiaten von S. M. nad) Oxford gefchict ift, mache ich vor» 
läufig Schicht. Auch für Dich befjer, feiner Knabe. Ueber Maloſſol, ein Fa⸗ 
fänden und andere Hausmannstoft barfs nicht hinausgehen. Du mußt ins 





808 Die Zukunft. 


Haveliparta zurüd; und werm man Dich ſcharfe Ecken nehmen fähe, käme 
der Bruder Deiner Deutter ſchließlich noch in den Ruf eines Schlemmlehrers.“ 

„Keine Angft, Ontel; bin hölfifch ftill geworden.“ 

„Seit geftern? Einem Kaſinomümmel willft Du doch nicht erzählen, 
daß Ihr heute nicht noch ’ne felddienftfähige Flafchenbatterie auffahren laßt?" 

„Wo denkſt Du hin! Sollteſt mitlommen, wenns nicht jo lebern wäre, 
Drüben Zecherei überhaupt nur, wenn die Luft ganz rein tft; weil mannie 
wiſſen kann. Undgar jegt! Seit acht Tagen figen die flottftenleute beim Schöpp- 
chen Laubenheimer undlefen Rangliſte, Wochenblatt oder Norddeutſche. Nach⸗ 
her bei Weiß Kaffee mit halb verſtecktem Cognac und in die Klappe. Der 
Laſinodirektor rauft ſämmtliche Haare. Kein Umſatz! Kein Betrieb! Hier 
ſolls ungefähr eben fo fein. Alles maufeftill. Der lange Wolf von den Zweiten 
bat ſchon vorgefchlagen, die Sache fünftig Kaſynode zu nennen.“ 

„Nanu? Macht hr denn die ganze Woche Bußtag? Das riecht ja 
nach Rrankenftube. BeiS. M. handelt fichs, Sottfei Dank, doch um eine Klei⸗ 
nigkeit. Solche Polypchen läßt man fich abfnipfen und geht fidel nach Hauſe. 
Nicht der Rede werth. Blos von zweigliedrig formirtem Neflamebedürfniß 
ber Quakſalber und Beitungfchreiber zum Ereignißaufgeblafen. Jede Grippe 
hat mehr in fih. Nächftens auf Ded. Das kanns alfo nicht fein. Seid Ihr 
Alle Schufter geworden? Es muß doch auch Gäule geben, denen nicht Kar» 
mefinbeine um den Hals baumeln. Eıkläre mir, Graf Oerindur ...“ 

„Forbach!“ 

„Was denn? Nicht mitgemacht. War die Dreizehnte unter Glümer. 
Wir hatten im Auguſt andere Hunde zu peitſchen. Uebrigens bin ich nüchtern, 
Kleiner. Was, zum Deibel, geht Eud) Potsdamer Forbach an?“ 

„Nicht die Schlachtnatürlich: der Prozeß. Du weißt dod. Na: Bilſe! 
Hat wie das Donnermetter eingefchlagen. Die von unferen Bengels bie 
längſten Ohren haben, erzählen, die gräuliche Gejchichte werde Thema ber 
nächjten Nefrutenrede fein. Mächtiger Erlaß zu erwarten. Jeder Kom 
mandeur hat die Hofen voll. Nachtreviſionen in der Luft. Tiſchoffiziere 
ichwiten Blut beim Auszichen der Schuldfonten. Wenn plöglich alle Kafino- 
rechnungen eingefordert würden! Richtige Kataftrophe, Onkel. Alle Kör 
hängen. Dean weiß thatfädjlich nicht, was man noch darf. Traut auch fein 
Kameraden mehr,dernicht als ganz zimmerrein erprobt ift. Am Endefchrei 
er morgen. Läßts druden. Und man ift im Wurftfeffel mit Eichenfaub ur 
Schwertern. Die Preffe ift ja aus Rand und Band. Die Droſchkenkutſch 
fehen Einen von der Seite an. Zwei Ulanen, die noch dazu von mäßig d 


Lieutenant Bilſe. 309 


gofjener Familienſimpelei kamen, mußten an der Linkitraße durch ein fürm- 
liches Spalier und ein Kunde von ber Bebelfippfchaft ſchrie ihnen nach: ‚Det 
18 was vor Bilfen!‘ Da foll Einer noch Luft an einem guten Tropfen haben! 
Dante ganz gehorfamft. Man kommt ja um Ehre und Reputation.” 
„Aus der Luke wehts? Bilfel Hätte nicht gedacht, daß der Name noch 
mal fo unangenehm populär werben würde. Vor fiebentaufend Jahren ging 
man zu Bilfe ins Konzerthaus und ſah fich für fieben Groſchen Entree nette 
Bürgermädchen an, die da Verlobens halber Deckchen und Bettvorleger ftickten. 
Ungeheuer harmlos. Womit nicht etwa behauptet werden foll, wir hätten 
damals wie ein Eremit oder Wallach gelebt. Aber gar nicht. Orpheum oder 
Arkadia: ohne Mädel fcheint die Sache nun mal nicht zumachen. Namentlich 
nicht für Soldaten. Schon der felige Schiller hat erzählt, wie dem großen 
Guftav Adolf (der mir übrigens bei Deutfchen ein Bischen zu beliebt wird) 
die Leute wegliefen, weil er fie runterpußte, fobald fie Iuftig wurden. Kafy- 
node darum nicht übel. Aber Nerven habt hr wie Jungfern nad) Dreißig. 
Wir! Ein Hinterzimmer, dad man verrammeln kann, ift immer zu haben. 
Schlappiers find reif für die Heilsarmee. Schließlich werdet hr doch er» 
zogen, um vor dem Feind beider Stange zu bleiben. J dem Stand, bitte, 
feine Moral. Wer einen Zug Kerle gegen rauchlofe Bohnen führen foll, 
muß andere Begriffe im Schädel haben als Einer, deffen Lebensziel ift, als 
Superintendent mit dem Sammetfäppchen Blumen zu fprengen. Aber 
revenons & notre mouton Rothichild. Bimmele, mein Kind. Nod) Eine; 
nur von wegen Dreur. Syn diefer Nifche Eift Du bombenficher. Und kannt 
morgen bis in die afchgraue Bechhütte Bußethun. Eigarre? Die Heine Henry 
Clay kann ein Säugling vertragen. Die Temperatur der Greifenmilch ift Is; 
die Originalflajche können Sie getroft zu ihren Schweftern verfammeln.... 
Nun fage mal: Du haft einen gerührten Paftoralton... Der nomme Bilfe 
imponirt Dir am Ende? Offen, Kleiner. Vereidigt wirft Du hier nicht.“ 
„Bott... Train, Onkel! Was foll man da Großes verlangen? 
Sreffalienfuhrmann; beinahe ſchon Civik. Gehört doch faum noch zur Waffe. 
Kein befjeres Re’ment verkehrt mit den Herrfchaften. Sechs Monate Ge- 
fängniß ift ein ordentlicher Happen. Der arme Teufel hats wohl nicht fo 
ſchlimm gemeint. Roman gefchrieben. Wer auf fo was fommt, hat natür- 
lich den Rod anszuziehen. Das wollte er ja auch. Der Gedanke, in Forbach 
zu figen... Brr! Da fagen die Füchfe einander Gute Nacht. Saarbrüden 
als Weltftadt, dieman noch dazu nicht betreten darf, wenn der Kommandeur 
Ichlecht gefchlafen hat. In ſolcher Garniſon könnte jelbft ein richtiger Soldat 
21 





310 Die Zukunft. 


verrückt werden. Daß er Kameraden abmalte, auf die nım jeder Budifer mit 
dem Finger zeigt, war ja nicht Honorig. Aber eirie üble Raſſelbande muß da 
unten ſchon verfammeltfein. Rittmeiftersfrauindredigen Handſchuhenl Und 
bas Rriegsgericht hat was von guten Abfichten ins Urtheil gejchrieben.“ 
„Trotz derRückwirkung alſo Mitgefühl. Großartig. PotsdamerSchloß— 
abzug Sonnenſeite. Ich bin kein fo edles Gewächs. Nee, mein Junge. Gegen 
Train babe ich nichts. Muß auch fein. Aber den Lieutenant a.D., Maler und 
Tichter in spe kannſt Du Dir fauer kochen. Mit Kapernſauce. Gejegnete 
Mahlzeit! Das geht num doch nicht. Wenn der Schäfer wenigfteng jelbft ein 
Unſchuldslämmchen geweſen wäre, das, weiß wie Schnee, auf die Weideging! 
KeineSpur. Schulden nah Noten, gepfändet bis auf den legten Knopf; und 
in puncto Frauenzimmer wahrſcheinlich nicht fauberer als andere Fünfund⸗ 
zwanzigjährige in zweierlei Tuch. Dabei ein rechtfchaffener Renommiſt, der 
den Batentftuter fpielt, fich ein Automobil hält und den Leuten von Vierer» 
zügen und Vollblütern vorfchnurrt, die er zum Sieg führen werde. Das ge: 
hört doc) auch zum Milieu‘, das er malen wollte. Für fich felber hat er abet 
nur Roſenfarbe. Gute Abficht! DieAbficht war: Geld zu machen. Und dazu 
brauchte er einen Skandal. Zwölfhundert Mark hat der Verleger ihm für 
die erfte Auflage beim Erfcheinen aufs Brettgezahlt. Ich habe das Zeug geleien 
und — entichuldige gütigft! — genug mit Leuten vom Schreibermetier ver 
fehrt, um mitreden zu fönnen. Ein unbelannter Jüngling kann fange mi 
jeinem Manuffript rumlaufen, ehe erein Gemüth findet, das fich auch nurent- 
ſchließt, die Druckkoſten zutragen. Monſieur Bilfe hat ſchon dreitauſend Marl 
eingeſackt Warum? Weil der Verleger Spektakel roch. Damit ift die Sad 
für mid) eigentlich abgethan. Weder enorm edel nod) nad) der ‘Mode Fromm. 
Im Gegentheil. Aber epliche Grundfäge, die fo wenig diskutirt werben wie 
die Frage, ob man fich täglich das hochwohlgeborene Piedeftal abjcheuern 
ſoll. Wer den Nächſten — e8 braucht fein lieber zu fein — an den Pranger 
ſtellt, um Geld zu verdienen, hat bei mir ausgefpielt. Und hier Liegt der Fall 
befonders ſchlimm. Hätte ein forbacher Apotheker oder Schnittiwanrenhändler 
das Buch gefchrieben, fo liche fich drüber reden. Der p. Bilſe aber gebörte 
zum Bau. Die Kameraden vom Trainbataillon Nr. 16 ſchenkten ihm Ber- 
trauen. Das hat er getäufcht. Und wie traurig benahm er fich bei Dem ga 
zen Handel! Das Pieudonym Heinrid) von der Kyrburg follte ihn deden, 
fo lange er noch im Militärverhältniß ftand; ber appetitliche Titel, Auseinet 
Keinen Garnifon‘ würde Schon feine Schuldigkeit thun. Der Wunſch, da? 
Ding nicht in Lothringen verkaufen zu Laffen, natürlich Sonntagnachmit—⸗ 


nd 


» 


Lieutenant Bilfe. 311 


tagslomoedte. Und vor dem Kriegsgericht ſchlankweg geleugnet. Die Fi⸗ 
guren find der Wirklichkeit fo tren nachgebildet, daß jeder Hausknecht in For⸗ 
bach die Originale erkennt. Ritter Bilſe aber hat keinen Lebendigen gemeint. 
Nur um das ‚Milieu‘ wars ihm zu thun. Trotzdem nachgewieſen wird, daß 
im Manuſtkript zuerft Namen ftanden, die faft wie die wirklichen Hangen, 
ftreitet er Stein und Bein: Es find feine Portraits. Als ob die Nichter ihre 
erften Hoſen trügen und nicht müßten, worin der Wit eines roman & clef 
befteht! Bon grozer kuonheit zeugt das ganze Berhalten nicht.“ 

„Aber, ſieh mal, Ontel, die Namen find doch nicht genannt und das 
Meifte, was den Leuten im Roman nachgefagt, hat fich als wahr heraus» 
geftelit. Ich weiß nicht, wie da eine Berurtheilung möglich war.” 

„Haft Deine Zeitung brav gelefen. Nur vergefien, daß zwei Delikte 
vorlagen: erſtens heimliche Herausgabe einer Drudichrift, ohne der Militärs 
behörde Meldung zu machen, und zweitens Beleidigung Vorgeſetzter und im 
Dienftrang Höherer; fünf Fälle. Der Beweis der Wahrheit (den Bilje nicht 
antrat und für wichtige Bunlte gar nicht führen konnte) ſchließt Strafbar⸗ 
keit nicht aus, wenn nad) den Umftändenanzunehmen, daß Beleidigung vor: 
handen. Stimmt hier. Sechs Donate nicht übermäßig. Die Richter konnten 
bis zu fünf Jahren gehen. Und ein leichter Fall wars doch nicht. Gröbfter 
Vertrauensbruch. Ein Halbdugend Eriftenzen vernichtet. Eine fterbende 
Frau als Ehebrecherin angenagelt. Pfui Deibel! Namen find allerdings 
nicht genannt, aus Vorſicht, und Kleinigkeiten mit Abficht unähnlich gemacht. 
Das ändert nichtS, verfchlimmert den Kram höchftens. Ich will Dich, mein 


"unge, ablonterfeien, daß Dein Bambuſe Dir, wenn er morgens den Slaffee 


bringt, in die Zähne feirt: und kein Buchitabe Deines uralten Namens ſoll 
genannt, jogar die Farbe Deines Kommißkragens, Deiner Nachthemdchen 
und die Adreffe Deiner Steinen falfch angegeben fein. Um fo bequemer : dann 
kann ich weglaſſen und zufegen, was mir paßt, und Du dürfteft, nach Deiner 
Theorie, nurgebuldig dieHände falten. Mal, Hamlet‘ gelefen? Schön. Glaubſt 
Du, daß Ihre Majeſtäten von Dänemarkfich nicht getroffen und beleidigt füh- 
len, weil der Kronprinz fie in feiner Komoedie nicht Klaudius und Gertrud 
nennt? Oder weilder Mörder bemp. t. Galapublilum nicht ausdrücklich jagt, 
daß erSaftverfluchten Bilfenfrants im Fläfchchen hat, fondern Hekates Fluch 
aufmarjchiren läßt? Gehüpft wie gefprungen. Und Gift bleibt Gift, 068 nun 
aus ſchmierigen Bilfenblättern oder aus Helates ſechs Hunden ftammt.” 

„Na... Ich habe für den Trainpaffagier wirklich nichts übrig. Nur, 
ſcheint mir, muß man ihm mildernde Umfiände zubilligen. Frachtkutſcher. 

2° 


812 Die Zuhmft. 


Ruppige Garnifon. Keinen rechten Sinn fürs Milttärifche. Schlecht ber 
handelt. Urlaub verweigert. Und was er um fich hatte, Herren und Damen, 
von einem Kaliber, wies Unferetner denn doch nicht kennen lernt.“ 

„Das ift ein anderes Dianfchettenpaar. Bimmlegefälligft. Kaffeeund, 
weil wir fo jung nicht wieder zufammenlommen, anderthalb Tropfen Srand 
Marnier; den fechziger, cordon rouge. ©o... Ganz einverftanden. Im 
Großen und Ganzen wenigftens. Trogdem Forbach noch nicht das Schlimm- 
fteift. Sch Du mal nach Gumbinnen, Inſterburg, Lyck: da lernt man Lo: 
thringen ſchätzen. Wald, gothifche Kirche, Schloßruine und zwei Bataillone 
Infanterie;: läßt fich aushalten. Freilich duftets in ſolchen Grenzgarniſonen 
immer ein Bischen nad) Straflolonie. Wer was Ekliges im der Konduite 
bat, fliegt hin. Der franzöfifche Zroupierjargon nennt ein Neft diefer Sorte 
Biribi; der Ueberfeter Hat die Wahl zwischen Mörchingen und Forbach. Ich 
wäre für Zweite; denn Alles, was recht ift: die blaue Gejellichaft konnte 
nicht viel gemifchter fein. Die diverjen Ehebrühe... Du bift jung, mein 
Knabe. Aberglaubeeinem alten Mann und Stabskrüppel, daß, fo lange man 
Kriege führt, noch fein Heer erfunden wurde, deffen Lieutenants im Ehebruch 
nicht eine Entlaftung ihres Budgets für Erotifa fahen. Der Alte Fritz zahlte 
ihnen noch was Geruchlofesdrauf, wen fie zur Verbeſſerung der Raſſe beitru⸗ 
gen. Nichts zu wollen. Ihr feinen Gardehunde ahnt nicht, wie fon Wurm vege- 
tirt. Abends fürn Groſchen Wurft oder Hering aus der großen Tonne, weil 
man im Kafıno nicht in die Puppen borgen kann und nächſtens wieder ein 
Mahl der Liebe Opfer fordert. Für Galanteriewaaren bleibt nichts, wen 
man nicht mit feinem Burfchen abwechſeln will. Was dann die Erinnerung 
an.die Schwägerſchaft einigermaßen in die Ränge zieht, die Dienftfähigkeit 
nicht fteigert und eine nütliche Ehe hindern Tann, wenn der aufs Korn ge- 
nommene Schwiegerpapa mit dem Stabsarzt gut fteht. Lieber birjcht man 
in fremdem Privatrevier. Im Allgemeinen allerdings nicht im Bereich der 
Kameradfchaft. Kommt aber auch vor. Das unddie Frauenzimmergejchich- 
ten.. Kinder, wir jteden Alle nadt in unferen Hemden und die Serualheuchelei 
war mir von je her die widerwärtigfte vonallen. Selbft wenn dem forbacher 
Habenicht fein Stundenmädcdhen mal als Nabatt zu der bezahlten Fleiſch 
waare Schinken und Käjemitgebradht hat: ift ein Oberlieutenant nicht nur zu 
bedauern, deſſen Orgien fo ausſehen? Und ifts anftändig, ſolche Dingean die 
große Glocke zu hängen ? Anſtändig von einem Offizier, dem Sn: und Aus: 
land die Frauen zu zeigen, die feinen Kameraden die Ehe gebrochen haben? 
Da hört der Spaß auf, Kein Wunder, daß Herr Bilfe in franzöfifchen Bet- 


Lieutenant Bilfe. 813 


tungen portraitirt und als Märtyrer verherrlicht wird. Aber auchindentichen ? 
Geht über meinen Horizont. Mißftände enthüllen: wunderjchön. Fehlen nir- 
gends; und in Forbach wimmeln fie. Daß ein Bataillonsfommandenr einem 
Apotheler, der gut fchießt, eine Beleidigung abbittet, vom Civil gejchnitten 
wird, unter der Fuchteleiner Hittmeifterin fteht, die ihm das gefährliche Duell 
eripart hat und feit diejer Leiftung Dienftpferde reiten, Unteroffiziere an- 
pfeifen und das ganze Bataillon tyrannifiren darf, ift ein Skandal. Ein noch 
größerer, daß zwei Offiziere einander Wechjel unterfchreiben, die fie'nie be- 
zahlen koͤnnen. Und dergrößte, daß der Gedanke, die Schwadronskaſſe zu Gun⸗ 
ften Einzelner anzugreifen, überhaupt auftauchen kann. In Gottliebs Corps! 
(Unfinn ihn drum zu ſchelten; ſelbſt ein Haeſeler lonnte nicht jedem Trainbuben 
in die Nieren gucken und mußte zufrieden fein, wenn im Dienft Alles klappte 
und der Brigadier ihm nicht mit Meldungen in den Ohren lag.) Oswald 
Bilfe konnte alfo zum Helden lobebaeren werden. Offen hintreten und fagen 
— oder fehreiben —: So gehts hier zu. Der Dienftweg, der nicht über den 
Markt führt, Hätte genügt. Jedenfalls mit feiner Perfon eintreten. Nicht 
fo fehlimm, da er die Jacke ja doch ausziehen wollte. Hätten ihm fein Härchen 
gerümmt. Die Bowlen aber, den Dämmerfchoppen, Die Öardinenpredigten, 
Eheirrungen und Broftituirtengefchichten masklirt an alle vier Eden des 
Neftes Ichlagen, unterm Franzoſenauge, und dafür drei braune Lappen ein⸗ 
ftedden: nee; kann nicht mit. Ich war nie beſonders wüſt und bin längft fo 
weit wie der olfe gute Kaifer Ferdinand, der, als er im Gebüfch was gepaart 
ſah, den Adjutanten fragte, ob Das denn noch immer gemacht werde. Aljo 
nicht pro domo. Wenn man aber die Dächer von den Häufern hebt, werden wir 
nette Enthüllungen erleben. Im Offiziercorps ſicher noch nicht die ärgften.“ 

„Sicher. Das ifts eben. Auf uns hadt Alles. Man hat, weiß Gott, 
als Offizier heute nicht zu lachen. Und weil irgendwo beim Zeufel der ver- 
ehrte Train fi) unanbändig aufführt, regnets ung in die Bude und man 
muß feinen Burfchen wie ein rohes Ei behandeln, damit er nicht petzt, daß 
mal ein paar Heine Mädchen bei Einem zum Kaffee waren!” 

„Keine Konfidenzen, Sranzistus! Noch bin ich Dein Oheim. Mach 
Dich übrigens nicht8 draus, Sohnten, würde Wrangel jagen. Auch in der 
Armee regiren ftrenge Herren nicht lange. Da namentlich nicht. Auch diefer 
Standal geht vorüber. Daß junge Leute von ftarker Vitalität, die den ganzen 
Tag in Bewegung find, leicht ins Saufen, Spielen und — na, Du weißt . 
ſchon — kommen: alte, ewig neue Geſchichte. Daß jet Alles öffentlich“ jein 
muß, Loſung: Geſchwüre ausdrüden, Feldgefchrei: Hier wird nicht$ ver- 


812 Die Zuhmft. 


Auppige Sarnifon. Keinen rechten Sinn fürs Milttärifche. Schlecht bes 
handelt. Urlaub verweigert. Und was er um fich hatte, Herren und Damen, 
von einem Kaliber, wies Unſereiner denn doch nicht kennen lernt.” 

„Das ift ein anderes Manfchettenpaar. Bimmle gefälligft. Kaffeeund, 
weil wir fo jung nicht wieder zuſammenkommen, anderthalb Tropfen Grand 
Marnier; den fechziger, cordon rouge. So... Ganz einverftanden. Im 
Großen und Ganzen wenigftens. Trogdem Forbach noch nicht das Schlimm- 
fteift. Sch Du mal nach Gumbinnen, Inſterburg, Lyck: da lernt man Lo: 
thringen fchäten. Wald, gothifche Kirche, Schloßruine und zwei Bataillone 
Infanterie: läßt ſich aushalten. Freilich duftets infolchen Grenzgarniſonen 
immer ein Bischen nad) Straflolonie. Wer was Ekliges in der Konduite 
bat, fliegt hin. Der franzöfifche Troupierjargon nennt ein Neft diefer Sorte 
Biribi; derUeberfeßer hat die Wahl zwiſchen Mörchingen und Forbach. Ich 
wäre fürs Zweite; denn Alles, was recht ift: die blaue Geſellſchaft Tonnte 
nicht viel gemifchter fein. Die diverfen Ehebrüde... Du bift jung, mein 
Knabe. Aber glaubeeinem alten Mann und Stabskrüppel, dag, fo lange man 
Kriege führt, noch Fein Heer erfunden wurde, deſſen Lieutenants im Ehebrud) 
nicht eine Entlaftung ihres Budgets für Erotifa fahen. Der Alte Frig zahlte 
ihnen noch was Geruchlofesdrauf, wenn fie zur Verbeſſerung der Raffe beitru⸗ 
gen. Nichts zu wollen. Ihr feinen Gardehunde ahnt nicht, wiefon Wurm vege 
tirt. Abends fürn Grofchen Wurft oder Hering aus der großen Tonne, weil 
man im Kaſino nicht in die Puppen borgen kann und nädjftens wieder ein 
Mahl der Liebe Opfer fordert. Für Galanteriewaaren bleibt nichts, wenn 
man nicht mit feinem Burſchen abwechfeln will. Was dann die Erinnerung 
an die Schwägerſchaft einigermaßen in die Länge zieht, die Dienftfähigfeit 
nicht fteigert und eine nügliche Ehe hindern kann, wenn der aufs Korn ge⸗ 
nommene Schwiegerpapa mit dem Stabsarzt gut fteht. Lieber birfcht man 
in fremden Privatrevier. Im Allgemeinen allerdings nicht im Bereich der 
Kameradfchaft. Kommt aber aud) vor. Das unddie Frauenzimmergeihid 
ten... Rinder, wir fteden Alle nadt in unferen Hemden und die Sexualheuchelei | 
war mir von je her die widerwärtigfte vonallen. Selbft wenn dem forbadjet 
Habenicht fein Stundenmädchen mal als Rabatt zu der bezahlten Fleiſch 
waare Schinken und Käſe mitgebracht hat: iftein Oberlieutenant nicht nur zu 
bedauern, dejfen Orgien fo ausfehen? Und iſts anftändig, folche Dingean die 
große Glocde zu hängen ? Anjtändig von einem Offizier, dem In: umd Aus 
land die Frauen zu zeigen, die feinen Kameraden bie Ehe gebrochen haben? 
Da hört der Spaß auf. Kein Wunder, daß Herr Bilfe in franzöfiichen Bei 


Lieutenant Bilfe. 313 


tungen portraitirt und als Märtyrer verherrlicht wird. Aber auch in deutſchen? 
Seht über meinen Horizont. Mißftände enthüllen: wunderfchön. Fehlen nir- 
gends; und m Forbach wimmeln fie. Daß ein Bataillonskommandeur einem 
Apotheler, der gut ſchießt, eine Beleidigung abbittet, vom Civil geſchnitten 
wird, unter ber Fuchtel einer Rittmeifterin fteht, die ihm das gefährliche Duell 
erfpart bat und feit diejer Leiftung Dienftpferde reiten, Unteroffiziere an- 
pfeifen und das ganze Batatlion tyrannifiren darf, ift einStandal. Ein noch 
größerer, daß zwei Offiziere einander Wechſel unterjchreiben, die fie nie bes 
zahlen können. Und bergrößte, daßder Gedanke, die Schwadronglafjezu &un- 
sten Einzelner anzugreifen, überhaupt auftauchen kann. In Gottliebs Corps! 
(Unſinn ihn drum zu ſchelten; ſelbſt ein Haeſeler konnte nicht jedem Trainbuben 
in die Nieren gucken und mußte zufrieden fein, wenn im Dienft Alles klappte 
und der Brigadier ihm nicht mit Meldungen in ben Ohren lag.) Oswald 
Bilfe konnte alfo zum Helden lobebaeren werben. Offen hintreten und jagen 
— oder ſchreiben —: So gehts hier zu. Der Dienftweg, der nicht über den 
Markt führt, hätte genügt. Jedenfalls mit feiner Perfon eintreten. Nicht 
fo ſchlimm, da er die Jacke ja doch ausziehen wollte. Hätten ihm kein Härchen 
gefrümmt. DieBowlen aber, den Dämmerjchoppen, bie Garbinenprebigten, 
Eheirrungen und Proftituirtengejchichten maskirt an alle vier Ecken des 
Neftes fchlagen, unterm Franzoſenauge, und dafür drei braune Lappen ein- 
ſtecken: nee; kann nicht mit. Ich war nie befonders wüft und bin längjt fo 
weit wie der olfe gute Kaiferyerdinand, der, als er im Gebüſch was gepaart 
ſah, den Adjutanten fragte, ob Das denn noch immer gemacht werde. Alfo 
nicht pro domo. Wenn man aber die Dächer von den Häufern hebt, werden wir 
nette Enthüllungen erleben. Im Offiziercorps ficher noch nicht die ärgften.“ 

„Sicher. Das ifts eben. Auf uns hadt Alles. Dan hat, weiß Gott, 
als Offizier heute nicht zu lachen. Und weil irgendwo beim Teufel der ver- 
ehrte Train fi) unanbändig aufführt, regnet3 uns in die Bude und man 
muß feinen Burfchen wie ein rohes Ei behandeln, bamit er nicht petzt, daß 
mal ein paar Heine Mädchen bei Einem zum Kaffee waren!“ 

„Keine Konfidenzen, Franziskus! Noch bin ich Dein Oheim. Mach 
Die) übrigens nichts draus, Sohnken, würde Wrangel fagen. Auch in der 
Armee regiren ftrenge Herren nicht lange. Da namentlich nicht. Auch diejer 
Standal geht vorüber. Daß junge Leute von ftarfer Bitalität, dieden ganzen 
Zag in Bewegung find, leicht ins Saufen, Spielen und — na, Du weißt .. 
ſchon — kommen: alte, ewig neue Gejchichte. Daß jetzt Alles „öffentlich“ jein 
muß, Loſung: Geſchwüre ausdräden, Feldgeſchrei: Hier wird nichts ver- 


816 Die Zutunft. 


fennen lehren. Daneben werden die Erörterungen über die Handelspolitik und 
die internationale Stellung des Heiches fortgeführt werden, die ja nach keiner 
Seite zu bindenden Entfchlüjfen drängen. Der Hinweis, daß wir zu allen 
Großmächten freundfchaftliche Beziehungen unterhalten und im Dreibund⸗ 
vertrag auch fernerhin dieunerschütterliche Bafis des Weltfriedensjehen, wird 
nicht zu entbehren fein. Auch glauben wir, ein vorjichtiges Wort über den 
gedeihlichen Fortgang der handelspolitiichen Aktion empfehlen zu dürfen. 
Günftige Momente erbliden wir in der erfreulicheren Geftaltung des 
deutihen Wirthichaftlebens,deren Rückwirkung auf die Reichsfinanzen bereits 
fühlbar iſt, vor Allem aber in der Thatſache, daß wir, wenn ein foͤrderliches 
Zuſammenarbeiten ſich nicht ermöglichen ließe, tn der bequemen Lage wären, 
den Reichstag aushungern zu können. Da die großen gejeggeberiichen Ar- 
beiten des abgelaufenen Jahrzehntes erledigt jind und zuletzt aud) noch der 
Bolltarif angenommen worden ift, zwingt ums nichts, um den Preis werth- 
voller Opfer oder innerer Krifen eine Verftändigung mit Mlajoritäten zu 
fuchen, die, unmittelbar nach den Wahlen, gefonnen’jein dürften, fich in dem 
Schein ftolzer Selbjtändigkeit ihren Wählermajjen zu empfehlen. Was das 
Reich als Lebensbedarf braucht, wird unter allen Umftänden bewilligt werden ; 
unddarüber hinausgehende Wünſche können wir beim Eintritt ſchlechten Wer- 
ters in das angenehmere Klima der bundesftaatlichen Yandtage tragen. Auch 
diefe Erwägung rieth zuder Diät, mit derjegtein erjter Berjuch gemacht wer⸗ 
den ſoll und auf die derVolkskörper ſchon während der parlamentarifchen Ruhe⸗ 
pauſe ſorgſam vorbereitet worden iſt. Nicht ohne Erfolg. Die Leidenſchaften, 
die vor und in der Wahlbewegung den Patrioten erſchrecken konnten, jind 
ipurlos verſchwunden und dem erfahrenen Auge kann nicht entgangen fein, 
daß die politifchen Debatten niemals mit ruhigerer. Nüchternheit geführt 
wurden alsindiejem Herbit, für den ung kritijche Tage angejagt worden waren. 
Diefer für Regirung undVolfgleich behagliche Zuſtand wäre nicht erreicht wor- 
den, wenn wir nicht mit äußerfter Gewiſſenhaftigkeit vermieden hätten, dem 
Intereſſenſtreit einen großen Gegenſtand zu liefern. Seit Monaten hat die 
öffentliche Meinung fich faum miteinem politiichen Thema beichäjtigt, beidem 
das Anjehen der Regirung irgendwie engagirt war. Diejen Erfolg kann auch 
das Bedenken nicht verkleinern, daß die rednerifchen Bedürfniffe, die feine 
Ausſicht auf andere Befriedigung haben, jic während der Berathung des 
Neihshaushaltes geltend machen werden. Hier wird doch nur wiederholt 
werden, was vorher in den Zeitungen ftand und ſchnell und wirfjam zurück⸗ 
zuweiſen ift. So haben wir denn die Zuverjicht, daß unjer Programm... 
3 


Thomas und Jane Earlyle. 317 


Thomas und Jane Earlyle. 


Br darf vorausgeſetzt werben, daß Carlyle in Deutſchland unvergefien iſt. 
In vielen Beziehungen fteht er zu und. Zu Schiller und Goethe, 
zu Fichte, Hegel und Kant hat er fich, in verehrender, ſtürmiſcher Liebe, wie 
es in feiner Art lag, bekannt. Ihnen verbanle er ja, dem Abgrımd der Ber: 
neinung und des Zweifels entriffen worden zu fein, in dem, Sabre hindurch, 
feine Seele fich zermarterte. Auf Jean Paul, wenn nicht auf Novalis, führen 
manche Eigenthümlichkeiten des Stiles zurüd, in dem Carlyle, die Geißel 
feines unnachahmlichen Wortes fchwingend, fein Gefchlecht zu züchtigen kam. 
Denn zum Propheten glaubte fich dieſer Sohn fchottifcher Bauern berufen. 
Nicht im Sinn ber Verkündung zukünftiger Dinge, fondern als Richter der 
Zeit und des Gefchlechtes, denen die utilitarifche Botſchaft materiellen Wohl- 
ergehens wie angenehme Mufil in den Ohren Hang. Nichts war Carlyle 
verhafter als eine folche Melodie. Sein ganzes Werk, ob philofophifch 
und kritiſch, ob Hiftorifch, das fih im Ernft, der ihn nie verließ, in Zom 
und Unmutb, in bitterer Satire, in grimmen Humor, in beredfamer Schwer- 
muth und leidenfchaftlicher Rhetorik Luft machte, ift gegen die Utopie irdi⸗ 
her Glückfäligkeit gerichtet. „Das Wort des Weifeften unferer Tage“, 
daß Leben im eigentlichen Sinn nur mit Entfagen beginne, ift ihm aus der 
Seele geſprochen. Er fragt, was es benn eigentlich fei, woritber auch er 
feit feinen früheften Jahren fich aufgeregt und erhigt, beflagt und in Dual 
verzehrt habe. „Sage es mit einem Wort: ift es nicht etwa, weil Du nicht 
gladiih bift? Weil Dein Du (o füßer Gentleman) nicht genügend geehrt, 
genährt, fanft gebettet und liebend beforgt iſt? Chörichte Seele! Welche 
geſetzgeberiſche Maßregel verbürgte denn, daß Du glücklich fein folltet? Eine 
Heine Weile: und Du batteft gar fein Recht, überhaupt zu fein. Und was 
hätteft Du dagegen zu jagen, wenn Du geboren und dazu vorbeftimmt wäreft, 
nicht glädlich, fondern unglüdtich zu fein! Biſt Du wirklich nichts Anderes 
als ein Raubvogel, der das Weltall durchfliegt, um Etwas zum Freſſen zu 
finden, und ein Klagegeſchrei erhebt, weil nicht genug Aas vorhanden ift? 
Schlage Deinen Byron zu und Deinen Goethe auf. E38 leuchtet mir ein. 
Sch ſehe einen Kichtftrahl davon. Es ift im Menſchen etwas Höheres als 
die Liebe zum Glück: er kann ohne Glück durchkommen und flatt befien 
Segen finden! War e8 nicht, um diefes Höhere zu verländen, daß Weife 
und Märtyrer, der Dichter und der Priefter zu allen Zeiten geſprochen und 
gelitten haben, um im Leben wie im Tode Zeugniß für das Gottähnliche 
im Menfchen und auch dafür abzulegen, wie eben in diefer Gottähnlichkeit 
allein er Kraft nnd Freiheit finde? Und bift nicht auch Du dazu auser- 
wählt, diefe gottgegebene Lehre zu empfangen und unter barmberzigen 


25° 





318 . Die Zutunft. 


Prüfungen zufammenzubrechen, bis Du fie reumüthig verftanden haft? Beim 
Himmel: danke Deinem Schidfal dafür und trage dankbar, was zu tragen 
bleibt. Es thut Dir noth, das Selbft im Dir auszurotten. Durch wohl: 
thätige Fieberparorysmen wird das Leben über das tief figende chronifche Uebel 
Herr und befiegt den Tod. Die braufenden Wogen der Zeit verfchlingen 
Dich nit, fondern heben Dich in ewige Klarheit. Das ift daß immer: 
währende Fa, in dem aller Widerſpruch fi auflöfl: wer darin wandelt 
und arbeitet, Dem wird e8 wohl ergehen.“ 

Diefer fefte Glaube an die Offenbarung Gottes in der Menſchenſeele, 
der ihn zum Ausspruch veranlaft, Dem, der Gott nicht in feinem Inneren 
finde, werde er in der Welt der Erfcheinung niemals zum Bewußtſein kommen, 
ift der Grundton und Inhalt der Botſchaft Carlyles. Darauf ift fein Heroen⸗ 
kultus begründet, feine Verehrung des Helden al3 des Mannes, bem eim 
göttliche Sendung anvertraut ift und der fie, allen Gefahren trotzend, fig: 
reich zu Ende führt. Nicht die unweiſen Vielen, fondern bie einzelnen 
Weifen find die geborenen Führer, gleichviel, ob auf dem Schlachtfeld oder 
fonft im grellen Licht irdiſcher Machtftellung oder in ber Vergeſſenheit und 
Weltabgefchiedenheit der Zelle; denn was den Heros Tennzeichnet, ift mid 
die intellektuelle, fondern die moralifche Ueberlegenheit. Der Herrſchaft der 
Majoritäten fest Carlyle den Kultus der Superioritäten entgegen, Derer, 
die im innerften Wefen der Dinge, im Wahren, Göttlichen, Ewigen leben 
das, immer vorhanden, den Meiften, die nur das Zeitliche, dad Triviale z 
entdeden vermögen, unfichtbar bleibt. Seine ganze Lebensarbeit ift eine Heraus 
forberung, eine Sriegserflärung an bie ihn umgebende Zeit und Welt, „deren 
Sott der Mammon, deren Herr der Gewinn ift.“ arlyle, der fi im 
frühem Mannesalter den von frommen Eltern ihm auferlegten Feſſeln ber 
ftrengften kalviniſchen Selte entwunden und nie einem Kirchenweſen ange: 
fchloffen hat, ift dennoch 6i8 zum Ende Puritaner geblieben. Sein Meifter: 
werk, der „Cromwell“, ift die Verherrlihung der puritanifchen Seele; fit 
beſchränkt fih darauf, den Tert zu fommentiren, den der größte ihrer Söhne 
dem Biographen hinterließ. Dem achtzehnten Jahrhundert blieb es eben fo un 
verjtändlich wie befremdend, daß Heerführer, die in Thränen den Herrn fuchten, 
in der Bibel Verwaltung: und Kriegskunſt entdedt haben Sollten. Die Auf: 
Härung hielt Cromwell, wo nicht für einen Gaufler, fo doch für einen ehrgeizigen, 
zanffüchtigen Fanatiker und feine puritanifchen Anhänger für traurige Narre 
Die Zeitgenoffen Bolingbrofes begriffen nicht, wie diefe von Gewiſſensängſt 
gefolterten, bornirten Köpfe dazu gefommen waren, Triegerifche Erfolge | 
erringen, den König zu richten, da8 Parlament zu reinigen, Europa Sta 
zu halten, die Freiheit zu erkämpfen, die Meere zu beherrfchen, neue Rei 
und Kolonien ind Dafein zu rufen. Das Räthſel Löfte Carlyle. Er i 











Thomas und Kane Carlyle. 319 


kannte ſich zu Männern, bie dem Ruf des Gewiſſens gefolgt waren und 
nach Gerechtigkeit verlangten; er erflärte die Größe ihrer Thaten durch daB 
Weſen ihres Pflichtideals umd begriff den Geift, der dem feinen verwandt 
wor. Zaine, als er diefen „Erommell“ las, wünfchte, es möchte künftig alle 
Geſchichte fo wie dieſe gefchrieben werden, und wollte alle regelgerechten Abs 
bandlungen, alle ſchönen, farblojen Schilderungen der Robertfon und Hume 
dafür bingeben. Denn bier fei der Menſch felbft auferweckt. Kein Bericht: 
erftatter trete zwifchen ihn und die Thatfachen und verfuche, flatt feiner zu 
benfen. Die Wahrheit ſpreche. | 

Mehr als dreißig Jahre lang, von der Veröffentlichung des Sartor 
Resartus bis zur Vollendung ber Gefchichte Friedrichs des Großen, gehorchte 
Carlyle dem Ruf in der eigenen Bruft, Wahrheit zu verlünden. Damit 
war fein Schidfal befiegelt. Im viltorianifchen England wurde der Prophet 
nicht gefteinigt und auch nicht verbrannt. Er ärgerte nur und wurde wieder 
geärgert; und Das war das Schlimmfte, was einem Mann, der zeitlebens 
an Dyspepfie litt, widerfahren konnte. War es billig, etwas Anderes zu er 
warten? Während Carlyle feinen widerfpenftigen Magen mit Hafergrütze 
berubigte, bereitete er den Beitgenoffen mit zumehmend erregter Galle und 
bitterftem Humor die unverdauliche Koft feiner Paradoren und Invektiven. 
n Den fiebenundzwanzig Millionen Dienfchen, meift Narren“, die das England 
von 1830 bis 1840 bevöfferten, erzählte er mit nicht mißzuverftehender “Deut: 
fichkeit die Gefchichte von den Schweinen, „den vierfüßigen“, wie er, jedes 
Mißverſtändniß ausfchliegend, Hinzufügte: | 

1. „Borausgefeßt, es ſei denkenden Schweinen möglich, von ihrem Be- 
griff des Univerfums, ihren Intereſſen und Pflichten darin Rechenſchaft zu geben. 
Wäre Das nicht wiſſenswerth, vielleicht auch überraſchend für ein zur Unter 
ſcheidung fähiges Publikum und anregend für den etwas darnieberliegenden Bücher- 
markt? Die Stimmen aller Gejchöpfe, jo heißt es ja, follen abgegeben werben, 
damit e3 dadurch möglich werde, mit beilerer Einficht für fie Gefege zu Ichaffen. 
‚Wie ließe fi ein Ding regiren, ohne daß man vorher jein Botum einholte‘? 
fragen jeßt Viele... Schweinevorichläge lauteten in Kürze ungefähr: So welt 
nach gejunder Schäßung zu erkennen, ift das Univerfum ein riefiger Schweine- 
trog, gefüllt mit Flüſſigem und Feſtem, auch anderem Zeug und jonftigen Gegen- 
lägen, ganz belonderd aber mit Erreihbarem und Unerreihbarem, — das Un: 
erreichbare in für die meilten Schweine überwiegender Menge. 

2. Das moraliid Schlechte befteht in der Unmöglichkeit, das moraliſch 
Gute in der Möglichkeit des Wälzens für die Schweine. 

3. Was ift dad Paradies oder der Zuſtand der Unihuld? Nad der 
Meinung geiftig ſchwacher Schweine beitand das Parabied, auch Zuſtand ber 
Unſchuld, Goldenes Zeitalter und noch anders genannt, in der unbegrenzten Fähig— 
feit des Genuſſes von Spälicdht, in der Erfüllung jedes Wunſches, fo daß bie 
Einbildungäfraft des Schweines die Wirklichkeit nicht mehr überbieten konnte: 
eine Fabel, eine Unmöglichkeit, wie jebt alle vernünftigen Schweine einjehen. 





320 Die Zukunft. 


4. Beitimmen Sie die Gefammtpflicdten der Schweine? Es ift die Miſſion 
bes gefammten Schweinegeſchlechtes und die Pflicht aller Schweine, zu alle 
Beiten die Maſſe des Unerreihbaren zu vermindern, die des Erreichbaren zu 
vermehren. Alle Wifienichaft, Findigkeit und Kraftaufbietung muß darauf und 
darauf allein gerichtet bleiben. Schweinewiflen, Schweinebegeifterung und Auf—⸗ 
opferung kennen kein anderes Biel. Es begreift alle Pflichten ber Schweine in fid. 

5. Die Dichtkunſt der Schweine fol allgemeine Anerkennung und Lob 
preifung ber Bortrefflickeit von Spülicht und gebrochener Gerſte, die Glückſäligkeit 
ber Schweine, bie gefättigt find und beren Trog in Ordnung ift, zum Ausdınd 
bringen. rung! 

6. Das Schwein kennt das Wetter; es fol Ausſchau halten umb fehen, 
woher der Wind bläft. 

7. Wer erichuf das Schwein? Unbekannt; vielleicht der Schweinefchlädter? 

8. ‚Giebt es Geſetz und Ordnung im Schweinereih?‘ Mit Beobachtung 
gabe verfehene Schweine haben herausgefunden, daß ein Ding, das man Ge— 
rechtigkeit nennt, exiftirt oder doch einmal als vorhanden vorausgeſetzt wurke. 
Wenigftens giebt e3 unleugbar in der Schweinenatur ein Gefühl, das, Entrüftung, 
Made u. f. w. genannt, in mehr ober weniger zerfiörender Urt und Weile los 
bricht, wenn ein Schwein das andere Herausfordert: in Folge Deſſen find Gelepe, 
ja, ift eine überwältigende Anzahl von Geſetzen nothwendig. Denn Streitig 
feiten ziehen Blutverluft, Einbuße des Lebens, vor Allem eine erjchredend 
Ausgieung des Spülihts und damit den Ruin (dem zeitweiligen Ruin) ganze 
Abtheilungen bes allgemeinen Schweinetrogs nad fi: deshalb müſſen Ned 
und Geredtigfeit walten, damit ſolche Neibereien möglichjt vermieden werden 

9. ‚Was ift Gerechtigkeit?" Dein eigener Antheil am allgemeinen Schweine 
trog, nicht ein Theil meines Anſpruches an ihn. 

10. ‚Aber worin befteht mein Anfpruch?‘ Ach ja, barin liegt thatfählid 
die größte Schwierigfeit, über die dad Schweinewiflen, nach fo langem Simen, 
noch durchaus gar nichts beichloffen hat. Mein Antheil ... Grunz! ... mein 
Antheil ift im Ganzen Alles, was ich zu erwijchen vermag, ohne gehenkt ode 
auf bie Galeere geſchickt zu werben“. 


Dur ſolche Spannungen fatirifeher Laune mußte der Humorift Gar 
Iyle dem Eittenprediger und Neformer Carlyle Gehör erzwingen. Das ging 
nicht ohne harte Schläge und nur un den Preis ab, die Opfer feiner Zorn: 
ausbrüche durch gewollte Webertreibungen des Stils, durch ein unausgeſetztes 
Feuerwerk, oft’ chnifcher und brutaler, oft gänzlich phantaftifcher, aber et} 
origineller, überrafchender Gedanken in Athem zu halten. Nur wenn er bie 
Menschen durch den Anblid ihrer Verfehrtheiten gedemüthigt, des Irrthumes 
überführt und zum Lachen gebracht hatte, Konnte es gelingen, fie mit ſich 
fortzureißen und für Ideale zu begeiftern, die, feiner peſſimiſtiſchen Welt 
ſchauung nad, der Kirche und den Staat, der Schulmeisheit der Thilo: 
fophen und der Routine der Gefeggeber, vor Allem den fiegeöfrohen Ber 
fündern ber utilitarifhen Moral verloren gegangen waren. 


Thomas und Jane Cariple. | 391 


Nach den felben Weeihoden wie feine Kritik und feine ethifche Lehre 
baute Carlyle Gefchichte auf. Es ift bezweifelt worden, ob er überhaupt ein 
Recht darauf bejige, unter den Hijtorilern im eigentlichen Sinn feine Stelle 
einzunehmen. Nicht etwa, meil er unterlaffen babe, Dokumente zu prüfen, 
Terte und Daten zu vergleichen, Duellen auszunügen. Die Maſſe des 
hiftorifchen Details hat vielmehr die Wirkung feiner vielbändigen Gefchichte 
des großen Friedrich, diefe „lebende Bildfäule*, wie Bismard fie nennt, be- 
einträchtigt, weil endlich die Kraft verjagte, fo viele einzelne Zügejzu einem 
einheitlichen Bild zu geftalten. Aber um. offizielle, diplomatifche, politijche 
oder ölonomifche Gefchichte allerdings ift es diefem Seher nicht zu thun. ‚Die 
Thatfachen find der Aufbau für das Berftändnig des Menſchen; „ber;große 
Mann verkörpert die Zeit. Die Seele Luthers erjchlieht das Geheimniß ber 
Reformation ; den Salvinismus verlörpert nor; die Revolution ift Fleiſch ge- 
worden und verurtheilt in Mirabeau, in Robespierre. Nichts von Allem, was 
dazu beitragen kann, folde Menfchen zu erklären, ift gleichgiltig; um fie zu 
verftehen, iſt es nothwendig, ihr Benoffe zu werden, in ihre Empfindungwelt 
fich zu verfegen, mit ihrem Herzen zu fühlen, zu leiden, zu wollen, ihren 
Schatten aufzumeden und niemals zu vergeflen, daß diefe Dienfchen ewig 
leben und wie er felbft, ihr Biograph, Nechenfchaft geben mäfjen von den 
Thaten, die fie hienieden vollbrachten. In diefem Licht gefchaut, wird die 
Geſchichte lebendig. Sie ift für Carlyle die Chronik Deſſen, was der große 
Menſch auf Erden gearbeitet, gethan und geleiftet hat im ‘Dienfte ber ge= 
heimnißvollen Macht, die ihn vorwärts trieb nach unbelannten Zielen und im 
ihm fich offenbarte: „Sie waren die Führer der Menfchheit, diefe Großen“, 
ruft er begeiftert aus, „die Bildner, die Muſter, im weiteften Sinn die Schöpfer 
Deſſen, was die Mafle der Menfchen zu thun und zu erreichen vermochte; 
alle Dinge, die wir in der Welt vollzogen fehen, find nichts Anderes als 
das äußere materielle Ergebnig, die praftifche Verwirklichung und Verkoörpe⸗ 
tung der Gedanken, die in großen Menſchen lebten... . Verſucht immerhin 
das Werk eines ſolchen Mannes unter Guanohügeln und Erkrementen von 
Eulen zu begraben: es wird nicht, kann nicht untergehen. Was von Heldens 
muth, was vom Kicht der Emigkeit im Menfchen und in feinem Leben war, 
Das wird mit genauefter Meſſung den Emigfeiten hinzugefügt, bleibt für immer 
ein neuer göttlicher Theil der Summe aller Dinge... . Deshalb iſt der 
Heroenkultus zu diefer Stunde, zu allen Stunden bie belebende Kraft des 
menfchlichen Dafeins ; die Religion beruht auf ihm, die Geſellſchaft ſtutzt fich 
auf ign. Denn was bedeutete fonft Loyalität, die der Lebenshauch aller Gefell: 
ſchaft iſt, wenn nicht den Ausdruck dieſes Kultes, die unterwürfige Bewunde⸗ 
rung für Solche, die wahrhaft groß ſind?“ 

Nichts war unpopulärer als eine folche Theorie. Sie verurtheilte die 


323 Die Aufnft. 


franzöfifche Revolution — Das mochte hingehen —, aber fie brach aud im || 
Stab über da8 moderne England; und Carlyle wußte, was er zu gewärtigen 
hatte, als er mit unbändigen Zorn fi anfchidte, alle vaterländifchen Göken 
zu zerfchlagen: die moderne PBhilanthropie, die parlamentarifche Uebermacht, 
das Self:Sovernment, das ölonomifhe Evangelium, das Stimmrecht, das 
den „Quashee Nigger Sokrates oder Shalefpeare gleichſetzt“, die Jagd 
nach dem Golde, die Weberihägung bes Komforts, die Unerfättlichkeit im 
Genießen, Horsehood, Doghood, wie er fagt. Die Leute hielten ihn für 
wahnfinnig. Es beftärkte fie nur im dieſer Abficht, als er nach dem Krim⸗ 
trieg die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht empfahl und in „Past 
and Present“ nicht das geringfte Hehl aus feiner Ueberzeugung machte, daB, 
wer nicht arbeite, auch nicht befigen folle. „Ein richtiger Tageslohn für eine 
richtige TageSarbeit gehört zu den gerehtfertigften Forderungen, bie Regirte 
jemals an ihre Regirer geftellt Haben“, fchrieb er, aber er fügte Hinzu, ber 
gerechte Anfpruch bes Arbeiters fei damit nicht erledigt, Geldentlohnung nicht 
das einzige Bindeglied zwifchen Menſchen. „Um Gerechtigkeit ringt der 
arme Arbeiter, um einen gerechten Kohn, nicht nur in Muünze. Obwohl er 
es jelbft noch nicht weiß, möchte ber an die Arbeit gebunbene Unterthan 
einen weifen und liebenden Vorgefegten finden. ft nicht etwa auch De 
billiger Kohn für geleifteten Dientt? Eine männlich würbige Stellung und 
Beziehung zur Welt, in ber er fi als Mann fühlt: dafür kämpft er. Deu 
Liebe kann nicht durch Duittungen erlauft werben und ohne Xiebe Fönna 
Menſchen das Zufammenfein nicht ertragen“. 

Widerſpruch konnte einen Dann, der fo dachte wie Carlyle, nur iz 
Bewußtſein, daß ihm eine Sendung geworden fei, beftärfen. Die legte feine 
Schriften, deren Titel den Inhalt verräth, war heftiger und zürnender aß 
alle vorhergegangenen. „Shooting Niagara and After“ nannte er felht 
„höchſt grimmig, übertrieben, rauh, ungelämmt und mangelhaft.“ Aber et 
freute fich, „den heulenden Hundepad“, das ihn herausforderte, fein legte? 
Wort über Das, was er von ihm dachte, zu fagen, und blieb dabei, daB 
England ſich dem Teufel verfchrieben habe. Was er wollte, waren offent, 
ehrliche Ueberzeugungen, eine ſtarke Regirung der Fähigften und Beſten im 
Dienfte göttlicher Gefege, eine reinliche Scheidung zwifchen Recht und Unredt, 
die Herftellung eines &emeinwefens, dem die ethiihen Aufgaben als die 
höchften galten. Was er fah oder zu fehen glaubte, war eine ſteptiſche, 
utilitarifche Welt, die zum Evangelium des Goldes und zu einer Fonventionellen 
Sittlichfeit ſich befannte, der korrekte Manieren mehr als gute Thaten galten, 
die fich unterhalten und genießen wollte und deren praftifche Weisheit er die 
Verneinung Gottes nannte. Man fchrieb 1867. D’Ffraeli, bald daran) 
Gladſtone regirten; oder vielmehr: nach Anficht Carlyles regirte Niemand. 





Thomas ımd Kane Carlyle. 993 


Whigs und Tories überboten einander im Werben um Majoritäten unb 
wiegten fi in der angenehmen Selbittäufchung, es genüge „einige Deillionen 
Stimmen unwifjender Tölpel“ zu gewinnen, um die Räthjel der Staatskunft 
mit Hilfe eines Parlamentes zu löfen, da8 Carlyle mit einer fprachlichen 
Windmühle verglich, in der Intriganten fi die Lungen ausfchrien, um 
Lärm zu machen. Er aber wollte einen Herricher, deſſen Wille über jeinem 
Willen ftand, den Charakter, Fähigkeit und Beruf zum Führer vorbeftimmten. 
Ohne Unterwerfung unter einen folden Auserwählten de8 Himmels fei 
Freiheit nicht denkbar. 

Es hieße, Sarlyle verfennen, wollte man ooraußfegen, es jet etiva perfön= 
liche Bitterkeit oder die Enttäufchung des Alters gewefen, die ihn veranlakten, 
fo zu reden. In der Jugend ſprach er nicht anderd. Auf der Höhe feiner 
ſchriftſtelleriſchen Laufbahn wintte ihm N Eine kleine, aber be: 
geifterte Gemeinde fchaarte ih um ihn. Em großes Publikum, das der 
Prophet nicht überzeugte, ließ fih durch den Künftler gewinnen. Carlyles 
„Branzöfifche Revolution“ errang einen ungeheuren Erfolg. So plaftifch, fo 
lebendig hatte, bei allen Erzentrizitäten, noch Keiner zu erzählen gewußt. 
Man verglich Carlyle mit Michelet und das Wort des franzöfifchen Meiſters: 
„sch nenne Gefchichte Auferftehung“ galt auch vom englifchen Genius. So 
hingeriffen wurden die Menſchen von dieſer Darftellungsfunft, die längft 
Bergangenes wie ein Gegenmwärtiges, Selbfterlebtes, Selbfterfahrenes fchauen 
ließ, daß nicht Wenige, unter ihnen. hervorragende Männer der Zeit, die Mühe 
nicht [deuten und, den Band der „Nevolution”, der „Varennes“ enthielt, wie 
einen Murray oder Bädeler gebrauchend, den Weg von Paris über Chalons, 
Saint-Menehould bis zum Städtchen einfchlugen, an defien Brüdentopf der 
Boftmeifter Drouet mit der Nationalgarde am zweiundzwanzigften Juni 1791 
im Hinterhalt gelegen und die Kutfche abgefangen hatte, worin der arglofe 
Ludwig XVI mit den Seinen zum Heer Bouillés zu fahren glaubte und, 
ftatt dorthin, in die Falle feiner Feinde geriet. Nicht Enttäuſchung alfo 
wars, die den 1795 geborenen, 1865, nach zweiundbreißig Schaffensjahren, 
noch leiftungfähigen Mann bewog, die ihm zugewiefenen fechzehn letzten Jahre 
in Schweigen zu verbringen. Vielmehr ftand über den wahren Grund diejes 
Schweigens eine Enthällung bevor, die nur wenige nähere Belanunte geahnt 
batten. Carlyle ftarb am fünften Februar 1881. Bereits zwei Jahre Tpäter, 
1883, veröffentlichte fein jüngerer Freund und Biograph, der Hiftorifer 
J. A. Froude, auf Carlyles Wunſch, wie er fagte, die „Briefe und Erinne- 
rungen von Jane Welſh Carlyle“. Die Welt wurde von der Funde über: 
rafcht, daß Carlyle nicht nur feit dem 1865 erfolgten Tode feiner Gattin 
ih in Gram um fie verzehrte, fondern auch, daß ber tieffie Grund diefes 
Grams Reue geweien ſei. Man fland vor einem Roman, richtiger gefagt: 


26 





324 Die Zutunft. 


vor einem Drama, das zwiſchen der Gattin, einer Märtyrerin, und dem 
Gatten, ihrem Quäler, ſich abſpielte. Der unerbittliche Sittenprediger, der 
das Mene Tekel bevorftehenden Zufammenbruches einem verderbten Geſchlecht 
an die Wand gefchrieben hatte, flüchtete zur Beichte und that öffentlich Ab: 
bitte. Der Standal war eben fo groß wie das Erftaunen. 

Thomas Garlyle, der Sohn des ftrengen, in dürftigen Verbältniften, 
nicht in Armuth lebenden Maurers von Ecclefechan, hatte eine ungewöhnliche 
Frau zur Mutter gehabt. Der Junge, der, wie die Seinen, von Hafermehl, 
Kartoffeln und gefalzener Butter lebte, erhielt eine vortreffliche Bildung, die 
ihn befähigte, die Univerfität Edinburg, faum fünfzehnjährig, zu beziehen. 
Der Wunfch der Mutter, er möge Talvinifcher Prediger werden, ging nicht 
in Erfüllung. Gegen Theologie empfand Garlyle einen eben fo grofen 
MWiderwillen wie eine niemals ganz erfchütterte, begeiftert wieder aufflam- 
menbe Liebe für aufrichtig gephte Religion. Nur in Mathematif leitete der 
Student Ungewöhnliches. ALS Lehrer in diefem Bach erwarb er fich zuerit 
Unabhängigkeit und verwandte fie zur Unterftügung der Familie, der er mit 
rührender Liebe und Aufopferung zugethan blieb. Aber felbft dem Lehrberuf 
empfand er wie eine unerträgliche Feſſel.“ Nach Jahren jchmerzlichen geiftigen 
Ningens, nad Serankheit und materieller Noth, durch die ein vorwurfsfreies, 
ftrengeö Leben zur inneren Befreiung und Wiedergeburt hindurchhalf, ent: 
ſchloß er fich, den unabhängigen Beruf des Scriftfteller8 zu wählen. Un 
diefe Zeit, 1821, führte ihn fein Freund Irving, ein Theologe, in das Haw 
der Wittwe eines angefehenen Arztes, Mrs. Welfh, ein. Seit dem km 
vorher erfolgten Tod ihres Gatten lebte fie auf dem ihrer Tochter Jane Baillie 
Welſh gehörigen Beſitz Eraigenputtod, in Haddington nahe bei Edinburg. 
Mrs. Welſh, eine noch ſchöne Frau, galt als erregbar und eigenfinnig; dieſe 
Eigenfchaften hatte die Tochter geerbt, war aber dabei außerordentlich begabt, 
fehr unterrichtet, vom Ehrgeiz, ih in der Kiteratur einen Namen zu machen, 
befeelt und von großem Selbſtbewußtſein getragen. Sie nannte ſich „drei 
Viertel Nömerin, ein Viertel Fee“. Im ber Gegend hieß fie „die Blume 
von Haddington* und wurde wegen ihrer Schönheit, ihres Geifted und ihrer 
Mitgift viel gefeiert und ummorben. Irving war ihr Xehrer geweſen und 
hatte für fie eine leidenjchaftliche Neigung, die eben fo erwidert wurde, ge: 
faßt. Aber Irving hatte fich bereit3 vor Jahren mit einem anderen Mädchen 
verlobt, das ihm feine Freiheit nicht zurüdgab und das er fpäter heirathete. 
Mit Welfh wußte e8; Irving ging und an feiner Stelle verfah jest Carlyle 
die junge Dame mit Nathichlägen und Büchern, erhielt die Erlaubniß, fie 
öfter aufzufuchen, und korrefpondirte mit ihr. ES währte nicht Lange, fo trat 
er auch mit dem Herzen die Ueberlieferungen feines Vorgängers an. „Ich 
habe geträumt und gehofft, aber welches Recht hatte ich, zu träumen umd zu 


Thomas und Jane Cartyle. 325 


Hoffen?“ fchrieb er fchon im erften Jahr 1821. Miß Welfh verwies 
ihn, wie vor ihm Irving, auf Freundfchaft und erflärte, fie wolle feine 
Freundin fein, feine Yrau niemals. Und wäre er fo reich wie Kröſus, fo 
geehrt und berühmt, wie er e8 noch werden ſollte. Er mußte nicht, daß fie 
nicht Lange nachher ihr Vermögen der Mutter und nad deren Tode ihm 
ſelbſt teftamentarifch vermachte. Den Mißgriff, ihre eigenmwillige, ſtolze Natur zu 
verkennen, beging er nicht. Er befchräntte fich nach ihrem Wunſch vorläufig auf 
Breundfchaft, lobte ihre Verſe und ermuthigte fie zu fchriftftellerifcher Thätig⸗ 
keit. Einen Roman, fo meinte er, follten fie zufammen fehreiben. „Literatur“, 
ſchrieb “er ihr in Bezug auf folhe Zufunftpläne, „vermehrt unfere Em- 
pfindungfähigkeit, aber Glüd ift nicht unfer legter Zwed auf diefer Welt... 
. Ich wollte, ich dürfte Ihnen die Mittel angeben, alles Vortheiles, der in der 
Arbeit zu finden ift, fich zu verficdern und alle dabei drohenden Uebel zu 
vermeiden. Aber es foll nicht fein. Das Geſetz des Lebens verbindet Gutes 
und Schlimmes unzertrennlih. Das Herz, da8 Taumel des Glückes Tennt, 
muß auch Dualen koſten. Harren Sie aus. Jeder Lichtſtrahl des Genius, 
und fei er noch fo ſchwach, ift ein Geſchenk Gottes. Die Milton, die Staöl 
find das Salz der Erde". Zur Weihnacht 1822 überfandte ihm feine „dear 
and honoured Jane“ einen Heinen Schmudgegenftand. So lange er Lebe, 
verficherte er, werde er den Edelftein, der glänze wie fie, auch wenn fie 
getrennt jein follten, zur Erinnerung an begrabene Hoffnungen behalten. 
Bald darauf mußte er Irving gegen „graufame Spottreden“ der jungen 
Dame fehügen, bis fie ihm 1824 fchrieb, welche Idiotin fie gewefen fei, den 
Mann jemals fo hochgefchägt zu haben. Carlyles künftige Größe erfannte fie 
früh; es machte fie nicht irr, daß feine erſten Leiftungen, Schillers Leben, 
die Ueberfegung von Goethes „Meiſter“, ihm zwar etwas Geld, aber feinen 
Ruhm eintrugen. In ihren Adern floß das milde Blut ihres Ahnherrn 
John Knox; zum Opferlamm war fie nicht geboren. Sie quälte ihren 
Riebhaber, zankte fi mit ihm, entriß ihm das Geftändniß, der „Meifter“ 
jei al3 Roman fo gut wie nichts werth, verföhnte jich wieder und verſprach, 
wenn Sarlyle einmal fein Glüd gemacht habe, e8 mit ihm zu theilen. „Ich 
habe feinen Funken von Genie, ich habe a tibbit (einen Teufel) von Laune“, 
jammerte Carlyle, dem Dyspepſie „wie eine Watte in der Höhle feines 
Magens nagte.“ Allein er liebte Jane und erfparte ihr gute Kehren nicht: 
„sch beſchwöre Dich“, fagt er, der feine Mutter anbetete, dem jungen Mädchen, 
„ich beſchwöre Dich, fahre fort, Deine Mutter zu ehren und zu lieben und 
ihre Gefeljchaft jeder anderen vorzuziehen. Die Uebung bdiefer ruhigen 
Neigungen ift das ficherfte auf Erden erreichbare Glück, die befte Nahrung 
für das Ebelfte in der Seele... Zwei Wege ftehen Dir offen: Du fannft 
eine fafhionable Dame werden, die Zierde der Salons, die Gattin eines 


26° 


326 Die Zukunft. 


erfolgreihen Mannes, oder Du fannft das Streben nah Wahrheit und tit- 
licher Schönheit als das höchſte Gut wählen und in Bezug auf Anderes dem 
ESchickſal vertrauen.“ 

MiE Jane Welfh war vorläufig ein Heiner Freigeift; „eigenitung 
wie ein Maulthier*, nannte fie fich, aber Carlyles Stimme drang zu ihr 
„wie das Gebot eines zweiten Gewiſſens, nicht weniger furchtbar als das⸗ 
jenige, welches die Natur meiner Bruft eingepflanzt hat. In meinen ernjteren 
Stimmungen glaube ich manchmal, es fei der Zauber, womit ein guter Engel 
mein Herz wider das Böſe ftärkt.“ 

Carlyle Hatte in der Nähe feiner Familie einen Heinen Pachthof ge 
miethet. Dort erhielt er einen Brief von Jane, worin jie ihre einflige Liebe 
zu Irving befannte. Als er darauf entgegnete, daß feine geiftigen und Förper: 
lichen Schwächen ihn nicht befähigten, ihr Gatte zu werden, und fie ſich ihm 
nicht opfern dürfe, erfchien fie felbft, „fah das rauge Bauernelement“, in dem 
Carlyle und die Seinen lebten, gewann für immer die Zuneigung der Fanlie 
und ließ fich felbft nicht abfchreden, eine8 armen, niedrig geborenen Mannes 
Frau zu werden. Am fiebenzehnten Dftober 1826 hielten die Beiden file 
Hochzeit. Vierzig Jahre hindurch währte ihr Zufammenleben. Gegen des 
Ende fiel das Wort der Frau: „Ich heirathete aus Ehrgeiz. Carlyle ai 
meine wildeften Hoffnungen weit übertroffen und ich ... bin elend*. 

Durch einen eigenthümlichen Zufall follten diefe und viele ähnlich 
Aeußerungen au pied de la lettre vom fünftigen Biographen Carlyld 
und dem ihrigen genommen und fo der Welt ein durchaus falfches Dil 
diefer Beiden geboten werden. Der Urheber der Wirrfal war J. A. Froude, 
der begabte und bekannte englifche Hiftoriter. Er war ein glänzender Schritt 
fteller und zugleih ein Menſch, in dem die Einbildungsfraft alle anderes 
Fähigkeiten überwog. E3 war ihm unmöglich, ein Dokument fo zu lafler 
wie er es fand. Gelehrte Fachgenoffen, die jeine Quellen und Eitate nad 
prüften, fanden fie an den wichtigften Stellen verändert und nach Bebarf 
dramatijirt. Königinnen, deren Schickſale er zu fchildern hatte, ſchickte er in 
Scharlachgewändern aufs Schaffot, obwohl er wußte, daß ihre legte Kleidung 
ſchwarz gemwefen war; Helden und Böfewichter ließ er mit Worten auf ben 
Rippen fterben, die fie nie gefprocden hatten. Der Geſchichtſchreiber Fronde 
war zum Romandichter geboren; Ehrfurcht vor den Thatſachen blieb ih 
ftet8 unbelannt. Diefe Eigenthümlichkeit, die feine Kritiker mit einem härteren 
Ausdrud bezeichnen, war das Gegentheil Defien, was Carlyfe, dem Wahr: 
heit über Alles ging, im Leben, im Wiſſen und im der Literatur wollte 
Froude befaß jedoch eine hinreißende Darftellungsgabe; er war ein gewinnendet, 
fiebenswürdiger Menfch; er bewunberte Earlyle und feine Frau. Auch lag 
es in feiner beweglichen, aneignungfähigen Künftlernatur, in ben farben 


Thomas und „Jane Eartyfe. 327 


Derer, die er bemunderte, zu fchillern. Was ja nicht ausſchloß, daß er viele 
Anſichten Carlyles aufrichtig theilte. Anfangs ein bloßer Belannter, wurde 
er von 1860 an Hausfreund des Ehepaars, das jeit 1834 und bis zum 
Ende in einem altmodifchen, Heinen abgelegenen Haufe in Eheyne Row, 
Chelfen, nah bei der Themfe, lebte. Carlyle war danals fünfundfechzig, feine 
um fünf Sahre jüngere Frau bereits jchwer leidend und immer kränkelnd. Im 
Jahr 1865 ernannten die edinburger Studenten fat einmüthig Thomas Carlyle 
zum Neltor der Univerjität. Im April 1866 trennte er fi, wie immer 
mit zärtlihem Abfchied, von feiner Frau, die ihn nie auf feinen Reiſen zu 
begleiten pflegte und auch diesmal, ſchon ihrer Gefundheit wegen, zurüdblieb. 
In Edinburg erwarteten ihm begeiiterte Huldigungen. Er ſprach zur ala: 
demifchen Jugend mit der gereiften Weisheit des Alters. Wie einſt die 
Covenanters, fo follten au fie das Evangelium Chriſti zur Regel ihres 
täglichen Lebens machen, das Rechte thun, ohne jih darım zu kümmern, 
ob fie im Leben Erfolg davon hätten, dem Studium, vor Allem der Gefchichte 
jich zumenden, aber die Ausbreitung der Kenntniſſe nicht überfchägen. Frönmig- 
feit und Furcht vor den Göttern habe das alte Gemeinweſen groß gemacht, 
Demofratien feien der Natur der Sache nad nie von langer Dauer gemwefen. 
Weſentlich fei, dag in einer Welt wie der unferen die Edelften und Weifeften 
Teiten, die Uebrigen gehorchen follten. 

Der Erfolg diefer Rede Carlyles war ungeheuer. Vom „Sartor 
Resartus“, der 1833 al8 „das Werk eines literarifchen Tollhäuslers“ feinen 
Berleger hatte finden lönnen, wurden jest zwanzigtaufend Exemplare ver: 
tauft. „Ein vollitändiger Triumph”, fo lautete das Telegramm von Freunden 
an Mies. Carlyle, die mit Didend und Willie Collins u. U. bei einem 
fröhlichen Mahle auf die Gefundheit ihres Mannes trant. In einem Brief 
an fie Hagte er am neunzehnten April darüber, nichts von „feinem liebften 
Herz" gehört zu Haben. In einigen Tagen fei er wieder bei ihr. Er fchidtte ihr 
feinen Segen und fein Lebewohl. Am Morgen des einundzwanzigften April 
ſchrieb fie ihm noch, wie fait jeden Morgen, „den heiterften, fröhlichiten Brief 
von allen“. Seit zwei Jahren hatte Carlyle feiner von fchwerer Krankheit 
genejenen Frau eine Equipage gefchentt. Sie ließ an jenem Nachmittag an- 
fpannen und fuhr, ihr Händchen auf dem Schoß, in den Hyde-Park. Dort 
fegte Nie den Hund heraus und ließ ihn laufen. Ein vorüberfahrender Wagen 
ging ihm über den Zuß und er lag, mehr erjchredt als verlegt, heulend auf 
dem Rüden. Cie ließ halten, fprang heraus, nahm das Thier in ihre Arme 
und lieg weiterfahren. Der Kutfcher fuhr zweimal um den Serpentinfee. 
Bei der Achillesftatue drehte er jich, verwundert, daß er noch immer feine 
Weiſung, nad Haufe zurüdzufchren, erhielt, nad feiner Herrin um. Die 
Sache ſchien ihm fonderbar,; er bat einen in der Nähe befindlichen Herrn, 


- U _- 





328 Die Zukunft. 


einen Blid in den Wagen zu werfen. Da faß Mrs. Carlyle mit gefalteten . 
Händen, — eine Leiche. 

Man brachte fie in daB nahe Georgsfpital. Die erften Freunde, bie. 
gerufen wurden, Froude und Miß Jewsbury, vergaßen den Anblid nie wieder: . 
„Die Stimm, bie bei ihren Lebzeiten von immerwährenden Schmerzen zu: . 
fammengezogen war, hatte ſich geebnet und jett zum erften Mal ſah ich, wie 
wundervoll fie war. Der geiftreiche Epott wie die traurige Weichheit, womit 
er abmwechfelte, waren verfchwunden, ihre Züge in ernfter, majeflätifcger Ruhe 
geglättet. Manches fchöne Antlig Habe ich im Tode gefehen, aber feins war 
fo großartig wie das ihre.“ 

Mit aller Schonung wurde Carlgle in Kenntniß geſetzt. Er bittete 
feine Heine Seannie in der Abteifirhe zu Haddington in die heimathliche 
Erde und tröftete fih nie wieder. Wenn er an bie Stelle kam, wo Mis. 
Carlyle zum legten Dial lebend gefehen worden war, entblößte er jtet3 ta8 Haupt. 
Mit feiner ES chriftftellerei ging e8 nad) ihrem Tode zu Ende. Craigenputtcd 
vermachte er in ihrem Namen der Univerjität Edinburg. Des Lebens blieb 
er überdrüflig. „Der unbeilbare Kummer, die in Thränen getränkte Liebe 
um ſie“ befchäftigten ihn ganz und nahmen die Wendung zu bitterer, ſelbſt⸗ 
quälerifcher Reue: „Ach, ich war blind, ftodblind*, Hagte er unaufhörlich; 
„ich hätte willen follen, wie nah meine helle Sonne dem Untergang war!" 


Münden. Lady Blennerbaffet. 


I‘! 
Das Buch eines Arbeiters. 


EREs iſt ſchon längft gejagt, daß die geſellſchaftlichen Klaffen einander heute 
END gegenüberftchen wie zwei ganz fremde Nationen; denn troßdem Heute, 
wo nur gejellichaftliche, nicht auch rechtliche Schranken die Bevölkerung trennen, 
der Uebergang von einer unteren Sicht in eine Höhere und umgefehrt viel 
leichter ijt als früher und daher in jeder Klaſſe mehr Mitglieder als früher 
ftehen, die in einer anderen geboren und erzogen wurden, jo war dod die Un—⸗ 
wijjenheit der einen Klafje über Denken und Yühlen der anderen nie jo groß 
wie jet; der Grund iſt, daß unjer gefeljchaftliches Teben in immer ſteigendem 
Drake aufhört, eine Beziehung von Perſonen zu fein, und zu einer Beziehu | 
von Funktionen diejer Perfonen wird. Wo aljo Dlitglieder zweier verjieden« ı 
Stlafjen einander berühren, lernen fie fid nicht mehr menfdlich kennen, fonde ı 
fie betrachten und, da faft immer ein Taufchverhältniß zu Grunde liegt, bewertl  ı 
nur gewilje Aeußerungen des Anderen. Aus ihnen fonftruiren fie fi ba. : 
einen typiſchen Charakter: des Arteiters, des Unternehmers, des Hausbefigen 

des Krämers u. ſ. w.; in diefen Typus gehen aber nur die Züge ein, die fi » 
aus den genannten Meußerungen ergeben und mit der ihr entipreddenden Get 
nung des anderen Theils beobaditet werden, fo daß naturgemäß-Zerrbilder | 





Das Bud) eines Arbeiters. 329 


Hafles und Mißverftändnifies entftehen. Unter ſolchen Umftänden ijt es mit 
großer Freude zu begrüßen, wenn wir charalteriftiiche Selbftbefenntniffe der 
einen oder anderen Klafſſe befommen. Uns Gebildeten ift befonders fremd die 
Arbeiterklaſſe, in welcher der Einzelne zugleich, da der Arbeiter am Unfreieften 
den Lebensbedingungen feiner Klaſſe gegenüberfteht und fomit jtärker und direkter 
von ihr beeinflußt werden muß als der einzelne Beamte, Bürger, Ariſtokrat 
oder Gelehrte, uns fozial viel Lehrreicheres erzählen fann als Andere. Das 
im Verlag von Eugen Diederichs erſchienene Buch „Denktwürbigkeiten und Erinne- 
rungen eines Arbeiter“ hat hierdurch einen fehr großen Werth und verdiente 
wohl, von Bielen gelejen zu werden. 

Aber es hat auch eine große äfthetifche Bedeutung. 

Wir, die Gebildeten von heute, haben eine große Freude an einfacher und 
naider Erzählung, bei der der Erzähler, um einen Ausdrud Goethes zu gebrauchen, 
nur ganz treuberzig in die Natur verliebt ift; und fo fuchen wir jchöne alte 
Bäder zufammen, verfegen ung in fremde Zeiten und Sitten und haben vicle 
Schwierigkeiten der Sprade; denn unfere heutigen Echriftiteller befigen nicht 
mehr die Einfalt und treuberzige Liebe zum MWirklicden, jondern fönnen ihre 
Gedanken, Deutungen und Folgerungen nicht zurüdhalten, wollen jeeliihe 
Schwierigkeiten aufdeden und Unerhörtes und Neues bringen, möchten durd) 
Beichreibungen glänzen und fuchen, indem fie bald nachahmen, bald tem Schein 
der Nahahmung ausweichen, fich für ihre eigene Perſon bervorzuthun, ftatt nur 
Das, was fie jagen wollen, in das rechte Licht zu jeßen. So wenden jie ſehr viel 
Begabung und noch mehr Fleiß an eine doch zuleßt undankbare Aufgabe, — 
was ja wohl überhaupt ein Merkmal unferer gegenwärtigen Kultur fein mag. 

Die Urbeiterklaffe, die in raſchem Aufiteigen begriffen ift und vermuth- 
(id) zwar durchaus nicht all ihre Erwartungen befriedigt jehen kann, aber doch 
ſicher manche Thätigfeiten auf fih nehmen wird, die heute den höheren Klaſſen 
eigen find, befißt, al8 ein jugendliches Weſen, noch rechte Einfalt und Treu- 
herzigfeit und fönnte an fich unſere Literatur verjüngen, nicht nur durch eine 
neue Begeilterung für Ideale der fittlicen Freiheit, die ja fie recht eigentlich 
bewegt, jondern auch durch neue Kraft und Friſche der Anſchauung und Dar- 
ftelung; aber die Kampfmittel, die fie nach den heutigen Umftänden anwenden 
muß, find leider von einer Art, daß gerade den Begabten und PVorfämpfenden 
dieſe Yähigkeit verloren gehen muß, ta fie die Kampfmittel erwerben müſſen 
aus dem üblen Abhub der Bildung, den man popularifitte Wiſſenſchaft nennt, 
und aus den Beitungen: hierdurch aber geht ihnen die Friſche und Kraft, zwar 
nicht des Gefühle, aber des Gedankens, der Anſchauung und des Ausdrudes 
verloren, jo daß, was man von ceigentlider Arbeiterliteratur in die Hände bes 
fommt, in dieſer Hinficht viel ſchlechter ift als alle andere. 

Das Bud, auf das diefe Zeilen aufmerkſam maden wollen, ift nun zum 
großen Glück von einem Mann geichrieben, der zwar die Wandlungen unjeres 
Wirthichaftlebeng aus kleinbürgerlichem Wefen zum Induſtrialismus gerade 
mit erlebt hat, aber doch nech nicht in den Bannkreis der Sozialdemofratie und 
damit in das Lejen von Echriften und Leitungen hincinfam, fentern feine 
Sprade und Anſchauung an der Bibel gebildet Kat, die neben den griediichen 
Klaffifern das befte Mufter ift. - Co hat ihn zwar die Unruhe fo weit erfaßt 


330 Die Zukunft, 


baß er fein Leben niederjchrieb, was einem gleichen Dann aus der Generation 
unjerer Eltern nod nit tn den Sinn gelommen wäre, aber er hat ſich den- 
noch wahrhafte Einfachheit und Größe des Stild erhalten. Freilid: was er in 
dieſem Stil jagt, Das hat nur foziologifches Intereſſe und kein wahrhaft fünft- 
lerijche8, denn es find nur gemeine und werthloje Dinge, die höchſtens einmal 
gelegentlich durch einen dünnen Strahl bürftigen Gemüthes verſchönt werben; 
und dazu fehlt jeder Aufbau, Unterordnung, Vorbereitung oder Zuſpitzung; bod 
genügt die bloße Einfachheit und Reinheit des Stils, in dem der Dann nur 
erzählt, nie ſchildert und nie refleftirt, um fein Buch fo feflelnd zu machen, wie 
jelten Bücher find. ch wenigftens babe es in einem Zuge mit dem größten Ber: 
gnügen und ohne einige Unluft durchgeleſen. 

Wie ein ſolches Vergnügen entftehen mag, ift wohl recht ſchwer zu erklären; 
denn wenn wir die Dinge, die in dem Buch ftehen, vor uns in ber Wirklichkeit 
jähen, fo würden wir uns ganz gleichgiltig von ihnen abwenden; und fo wenig 
Neues, was nicht ſchon in der MWirklichleit gewejen wäre, fondern aus feinem 
Inneren hätte fommen müſſen, hat ber Erzähler hinzugethan, daß er felbft oft 
nicht die feelifchen Urſachen der erzählten Gejchehniffe verfteht und der Leier 
fie fi aus feiner fpiegelllaren Objektivität ſelbſt ſuchen muß. 

Aber nicht nur der Stil der Erzählung, fondern auch der Stil des Aus 
drudes ift vorzüglich, in der Einfachheit umd Sicherheit der Worte, in dem aus 
gezeichneten Bau der einzelnen Säße und der Sapverbindungen. Auch bier 
bat es dem Mann genügt, daß er von Gedrudtem nur die Sprache Luthers 
kannte und fonft nur gefprochene Sprache geübt hat. Immerhin muß er aud 
bier, wie in dem ſtarken Stilgefühl feiner Erzählungmweife, eine befonders große 
Begabung haben, denn er überwindet Aufgaben, die ſich Luther noch nicht ftellte, 
und zwar immer aus dem Geiſt unjerer Sprache heraus. 

Mer unfere deutfche Sprache liebt, weiß, in welcher Berwilderung fie fi 
beute befindet, gegen die gar feine Hilfe möglich ſcheint. Vielleicht licgt deren 
legter Grund in der Behandlung, die unjere Klaſſiker ihr zu Theil werben ließen; 
eine Beilerung, wenn fie überhaupt möglich wäre, müßte wieder an Quther an- 
Inüpfen; vornehmlich würde Das für den Periodenbau gelten, denn unfere heutigen 
Schriftiteller, weil fie jehr oft ihre geichriebenen Säge ſich nicht mehr laut vor« 
lejen, vergeflen nicht jelten, daß das Deutſche unter ganz anderen Bedingungen 
Perioden bauen muß al® jede andere Sprade; ſchon, daß wir fehr langſam 
ſprechen und eine jchwerfällige Auffaflung haben, ſchafft eine eigene Borausjegung; 
zum Beiſpiel erklärt fich wohl unjere Freiheit der Wortftellung aus dieſer Mühe 
des Berftehens. Leicht aufjaflende Völker haben eine grammatifalifch geregelte 
Stellung; jehen wir doch ſchon unfere deutſchen Juden, gegen den eilt der 
deutihen Sprade, injtinktiv das Objekt Hinter das Prädikat fegen; und diejer 
Inſtinkt iſt durch Nachwirkung des Hebräifchen jedenfalls nicht zu erklären. 

Was mit Alledem gemeint wird, zeigt fi wohl am Beſten durch den 
Abdrud einiger Sätze aus dem Bud: 

„Das tit nichts Seltenes geweſen, daß die Gutsherren und Amtsleute, wenn 
fie meinen Vater ndıhig hatten, daß fie ihm das Reitpferd ſchickten, und mandmal 
haben fie ihn aud in der Kutſche holen lajlen. Uber mein Vater ift doch ein 
jonderbarer Dann gemefen. Wenns eilig geweſen ift, wie an diefem Morgen, 





Das Buch eines Arbeiters. 331 


dann hat er ſich freilich aufs Pferd geſetzt und iſt in ſchlankem Trabe rausge—⸗ 
ritten; aber wenn er merkte, daß ſie ihm das Pferd blos deswegen geſchickt hatten, 
daß er nicht ſollte ſo weit zu Fuß gehen, dann ließ er den Reitknecht wieder 
aufſitzen und ging ſelbſt nebenher. Aber die Knechte wollten Das auch immer 
nicht thun; dann find fie Beide den ganzen Weg neben dem Pferd hergegangen 
und haben fi was erzählt. Aber wenn er hat müſſen in der Kutiche fahren, 
dann iſt er allemal ärgerlich geworden, und wenn er binausging zum Einjteigen, 
da hat er die Hausthür Hinter fih zugeworfen und hat fein Sind dürfen mit 
zaustommen. Aber wenn fie Haben einen Zeiterwagen gejchict, der gar feinen 
Sit gehabt Hat, weder für ihn noch für den Knecht, dann iſt er freundlich ge 
wejen, dann haben die Kinder dürfen mit rauslommen und hat ihnen die Hand 
gereicht und hat Adje gejagt, und wenn er bat auf dem Wagen geftanden und 
die Pferde find Iosgegangen, dann hat er ihnen noch zugelacht.” 

Nicht fo ganz erfreulich und rein wie diejes Aeſthetiſche ift der eigentliche 
Inhalt des Buches, injofern man aus ihm unverfälichte Arbeitergefinnung kennen 
lernt. Zwar ift eg im Ullgemeinen fein geradezu übles Bild, das man befommt. 
Der Sinn für Ehrbarkeit und Tüchtigkeit, der fih in unferem Volk entwidelt 
bat, leuchtet auch bei diefem Mann immer wieder hervor, der doch auf die fer 
niedrige Stufe des Erdarbeiters gejunfen ift und eine faſt majchinenmäßige 
Thätigkeit ausüben muß zwilchen Leuten, die aus allen Gegenden zuſammen— 
geftrömt find und ohne Anhalt ar Verwandtſchaft wie ohne Weib und Kind 
blos für ihre rohe Arbeit leben; auch feine Genoſſen ſcheinen nicht böfe zu fein, 
und wenn auch die bejchriebenen Lebensumſtände ſicher nicht dazu angethan find, 
brave und tüchtige Menſchen zu ſchaffen, jo Haben fie doch auch Bravheit und 
Tüchtigkeit wenigſtens nicht vernichtet, die einmal vorhanden waren. Was be- 
fonder8 hoch zu ſchätzen iſt: unter den Biegeletarbeitern, zwiſchen benen er ſpäter 
beihäftigt iit und die bier auch aus zujammengewandertem Volk beftanden, gab 
e3 doch eine Menge, die troß drüdenden Alkordfägen aus Ehrgefühl ihre Arbeit 
fo gut machten, wie fie konnten, und lieber mit unzureihendem Lohn zufricben 
waren, als daß fie ſchlechte Arbeit geliefert hätten. Solche Sefinnung bei folden 
auf der tiefſten gejellfchaftlichen Staffel ftehenden Leuten, die eine Achtung Anderer 
faum zu verlieren haben, verdient doch die höchſte Anerkennung. 

Immerhin muß man fi klar machen, daß, wie jede Klaſſe, fo auch bie 
Urbeiter ihre befondere Sittlicjleit haben; Manches, was uns unerhört vor- 
kommt und deshalb von ben Gejegen hart geahndet wird — benn die Geſetze 
entiprechen heute ja im Wejentliden den Anfchauungen der mittleren Klaſſen —, 
erſcheint biefen Leuten als gar nichts Schlimmes. Einmal befommt der Erzähler 
bei einem Bahnbau Quartier bei einem fleinen Bauern, wo er mit einem an⸗ 
deren Arbeiter zufammen jchlafen muß, der die Krätze Hat und ihn damit anjtedt. 
Hierüber ärgert er fich jo, daß er fortgehen will; und wie er Das dem frägigen 
Genofjen jagt, erklärt Der, er wolle aud fort, und ſchlägt ihm zugleich vor, fie 
follten ihren Wirth nicht bezahlen, bei einem Kaufmann fchnell noch tüchtig 
borgen und dann heimlich durchbrennen. Das thun bie Beiden au und unſer 
Mann jagt: „Im Quartier fam mir die Sache freilich ſchändlich vor, wegen 
den Übrigen Kameraden ſowohl wie wegen den Unternehmern. Aber die Krätze 
triegen war eben fo ſchändlich; und ging nun Wurft wider Wurft“. Wir werden 





332 Die Zukunft. 


nie verftehen, wie ein ſolcher Gang ber Gebanten und fittliden Urtheile möglid 
ift; wer aber Gelegenheit gehabt hat, mit Arbeitern zuſammenzukommen, wir 
Aehnliches ſchon oft erlebt haben; vielleicht Itegt bier ein Reſt urthümlicher 
Empfinden? vor. Dabei ijt unfer Damm in anderen Fällen durchaus korrekt 
und fogar fittlich feinfühlend. &o erzählt er, daß fein Großvater von ber Manni 
felder Gewerkſchaft ausgebildet wurde, damit er bei ber Waflerhaltung verwende 
werden Eonnte; als er aber genug wußte, machte er fich jelbftändig al8 Brunnen 
mader. Darüber jagt der Erzähler: „Diejes Stüd, das bat mir in meine 
Jugendzeit und auch viele Jahre naher gar nicht gefallen und ich wünldte 
oft, da ich ohnehin fo wenig davon wußte, ich hätte Das aud nicht gehört; 
benn mir kams nicht anders vor als unredt und undankbar. Erſt jpäter, als 
ich felbit jchon viele Jahre gearbeitet hatte, da machte ich mir andere Gedanker 
davon und da fah ich ein, daß ich meinem Großvater fein Richter nicht bin”. 

Wahrſcheinlich würde viel Ungeredtigleit und Erbitterung aus ber Bel: 
verichwinden, wenn man bie Geſchworenen Immer aus der Slajle der mgeflagten 
nehmen würbe; unfere heutige Art iſt Jedenfalls ganz finnlos; und es ift gems 
nicht zu fürchten, daß folche Gerichte im Ganzen laxer urteilten; in vielm 
Fällen würden fie ſogar fchärfer fein. 7777 

“En Üllgemeinen herrfcht bei unferem Erzähler eine gewiſſe Kinbdlichfer 
vor, die fehr oft auch übler Natur ift. Recht bezeichnend ijt da der Schluß des 
Budes. Seinen unmittelbaren Vorgeſetzten mißtraut der Mann faſt immer. 
Das fcheinen die anderen Arbeiter auch zu thun. Am Ende geräth er iiber des 
einen Meiſter, wie e8 fcheint mit Recht, in eine bejondere Einpdrung, weil ba 
ihn gegen die Anderen benadhtheiligt, aber er weiß nicht, wie er fich helfen fei: 
da betet er in feiner Noth zu Gott und hat einen Traum, in dem ibm Gr 
ericheint und jagt: „Wenn Du heute nad Deiner Arbeit fommft und fiet 
den Meifter, jo fprehe feinen Kamen aus und nimm die Form und baue * 
auf den Tiſch und rufe laut aus: Hier Schwert bes Herrn und Gideon! Is 
will monatlich über hundert Mark verdienen! Hier ift feine Ordnung! Hier 
muß man ja bei der Arbeit verreden!" Nach diefem Traum handelt er um 
daranf kündigt ihm der Meiſter. Hiermit ift er ganz zufrieden; dann aber erbäli 
er jeinen Kündigungichein, der bie Unterjchrift des Direktord trägt. Den fenzt 
er gar nicht; und daß der unbefannte Mann ihm, der viel länger auf dem Wert 
war als der Tireftor, kündigen will: Das bringt ihn in Aufregung; deshalb 
will er den Ingenieur vor dem Direktor anflagen, baß er nichts verjtände: „und 
wenn mir der Tireftor etwa dumm fäme, da wollte ich glei alle Beide an bie 
Luft fepen und felbjt Direktor fein.“ Den Ingenieur ftellt er denn auch glüd- 
lich, redet allerlei Thörid;tes zu ihm und fordert ihn auf, er folle mit ihm gehen; 
nad) einigen gewechjelten Worten fagt Der: „Nein, ich gehe nicht mit”, und vie 
unfer Mann nach dem Grund fragt, antwortet er wegwerfend, er habe feine ! ıft. 
„Aber Dieſes fand ich gar nicht ſchön und war jeßt in Berlegenheit, derm id 
Hatte nicht darauf gerechnet, daß er mitfäme; aber da machte er fi meine I cr 
legenheit fogleich zu Nugen und wandte ſich um und ging fchnell in der, Richt ng 
nah feinem Bureau hinweg. Ta friegte ich Mitleiden und lich ihn ruhig lauf n; 
denn mitkommen mollte er ja doch nicht.” Den Direktor ſucht er dann pr ter 
nicht zu einer gewollten Zeit auf, weil er mit einem Male ganz friedlich geftir mı 





Das Bud) eines Arbeiter, 333 


ift, und kommt erjt, al3 er wieder die richtige Berfaflung in fi ſpürt. „Ihn 
wegjagen ging nicht, dazu war ich allein no zu wenig und hatte mich brein 
ergeben. Das Hatte ich auch geitern an dem Inſchenjöhr ſchon erlebt, wie er 
feinen Sit behauptet hatte. Da wollte ih Herrn Boos thun, wie er mir ge 
than Hatte, und wollte ihm unbefannter Weife kündigen.“ Herr Boos hat aber 
Beſuch und unfer Mann muß drei Stunden lang warten, die er mit Betrachtungen 
über die Tagebieberei der Beſucher und mit Berfuden, die Thür einzutreten, 
und Aehnlichem ausfült. Endlich kommt er vor und der Direltor jagt ihm natür- 
li, daß er fi hätte beſchweren müflen, und entläßt ihn. „Da rief ich laut: 
„Nanu?“ Da warf er die Zeitung auf den Tiſch und fprang vom Stuhl auf 
und ftellte fih nahe der Thür an die Wand und zeigte mit beiden Armen nach 
der Thür umb fah mich babei durch bie goldene Brille ganz verflucht ernithaft 
an. Da blieb mir nichts Anderes übrig, als ihm den Willen zu thun und aus 
dem Bureau zu gehen." Draußen ftellt er fi) auf und fängt zu fchimpfen an; 
ber Direktor drinnen macht ſich an einem Telegraphen zu fchaffen, wohl um 
Polizei zu rufen; und zwar meint unfer Erzähler: „Du lieber Gott im Himmel, 
da wollte mich der Mann bang machen mit der Polizei! Der dachte wohl, ih 
fäme erſt von Muttern”; dann aber geht er doch fort, und zwar, wie er ans» 
giebt, aus Schonung für den Polizijten, Damit Der nicht etwa einen Mißgriff made. 
Diefer ganze Vorgang ift typifch; und Sozialpolitiker — wenn fie fi 
mit noch anderen Dingen bejchäftigen wollten als mit Statiftifen und Enqueten — 
würden ihn mit großem Nußen für ihre Xhätigfeit bedenken. Auch wer große 
Politik treibt, Fönnte hier lernen: fi vor einem Gefchrei der Arbeiter nicht gleich 
zu fürchten, den Arbeitern aber auch zu geben, was fie in Wahrheit verlangen, 
nämlich relative Sicherheit der Exiſtenz, Einfiht in die Dinge, die fie unmittel« 
bar angehen, damit fie ihre nicht verwendete geiftige Kraft an deren Bedenken 
und Berbeflern verbraudyen fünnen, und endlich das Bewußtſein einer ordent« 
lihen und ficheren Negirung, die nicht allzu jehr über fich ſchimpfen läßt. 
Schwere Anklagen enthält das Bud: es ift eine Schande, daß man 
Menſchen zufammentreibt wie das liebe Vieh, nur daran denkt, welche Urbeit 
fie liefern follen, und vergibt, daß fie unfere Brüder find, in Manchem zwar 
geringer, in Manchem aber auch beſſer als wir; und es ift ein Glüd, nicht nur 
für fie, fondern für unfer ganzes Volk, daß fie heute durch die Sozialdemofratie 
und durch die gewerkſchaftlichen Organiſationen fi die Möglichkeiten geichaffen 
haben, ihre Klagen anzubringen und Verbeſſerungen durchzuſetzen; nur follten 
Alle, denen die Leitung unjere® Volkes anvertraut ift, aus dieſen Beitreburgen 
der Arbeiter die rechte Lehre ziehen, daß jede Klaſſe nur fich felbft helfen kann 
und deshalb vom Staat erwarten muß, daß er ihr die Formen verſchafft, in 
denen Das möglich ift. Uber auch eine andere Lehre enthält diefes Buch für 
jeden, der fie noch nicht kannte: die ”ehre, daß die Arbeiterflafie an den großen 
Aufgaben unjeres Volles nicht felbftändig mitarbeiten kann, weil ihre Qebens- 
verhöltniffe fie nicht zu der nöthigen Einficht und Weite des Blickes kommen laffen, 
und daß deshalb die große Partei im Reichstag heute Jein Unglüd für une ift. 


Weimar. Dr. Baul Ernie. 


Er 





334 Die Zukunft. 


Boya. 


SE" feit langer Zeit von allen Kunftfreunden ſchmerzlich empfundene 
Rüde ift endlich ausgefüllt worben: wir haben eine Monographie über 
Goya. Das erfte Buch über den Spanier in deutfcher Sprache ift gefchrieben 
worden. Ueber Velatquez, den größten Maler der iberifhen Halbinſel und 
einen der größten Dealer aller Zeiten und Länder, haben wir das grund: 
legeude Werk von Juſti und anderes Vorzüglihe. Ueber Goya hatten mir 
bisher nichts. Nun Hat uns VBalerian von Loga, einer der jungen Kuftoben 
des königlichen Kupferſtichkabinets, das Langerfehnte Buch gefchenft. Es mil 
nicht mit Juſtis ungleich breiter angelegtem Werf verglichen werden. Aber 
wir freuen uns, daß der geniale Aragonier, den fo Viele lieben und ber 
für die Kunft unferer Tage und der jüngften Vergangenheit von fo weſent⸗ 
liher Bedeutung geworden ift, endlich auch feinen deutfchen Darfteller ge: 
funden hat. Logas ſchönes Bud zeugt von gutem PVerftehen und tft de 
Frucht grünblicher Forſchung. Es ift in erfter Linie gelehrt und den Ans 
forderungen der Wiffenfchaft genügend. Dabei nicht troden, fondern mit Ge: 
ſchmack, nicht gerade geiftreich, doch in einer vernünftigen Sprache gefchrieben. 

Loga hatte die wenig dankbare Aufgabe, einzelne von uns gelichte, 
aber falfche Gerüchte über die Perfon des Künitlers, die durch das ſprühende 
Buch des Franzofen Mriarte verbreitet waren, zu korrigiren. Diefe Korrekturen 
verdriegen und, denn die Vorftellung von dem Menfchen Goya, wie jie bisher 
in uns ruhte, bricht damit in fih zufammen. Wir trugen ein Bild von 
dem Spanier in uns, das wir im Grunde nicht weniger Tiebten als die 
grogen Aeußerungen feiner Kunft. 

So fahen wir ihn: fhön, elegant und ewig jung, mit dem Lächeln 
des Eroberers, an der Seite den fcharfen Degen, mit deſſen Spige er Alk 
tigte, die feinen Launen ſich nicht fügen mwollten. Hochmüthig, rückſichtlos, 
von den fchönften Frauen umringt, die ihn fürdhteten und fich ihm bengten, 
ftolz und felbfibewußt den Königen gegenüber, denen er diente. Wir fahen 
ihn auf heimlichen Lagern in den Boudoirs glühender Herzoginnen, fahen 
ihn in glüdlihen Duellen mit feinen Nebenbuhlern und dann wieder vor 
der Staffelei oder der Kupferplatte, mit einer Leichtigkeit fchaffend, wie fie 
die Gunft der Muſen nur ihren ertorenften Lieblingen verleiht. Eine Herren: 
natur, ladend über die Welt und ihr Treiben, kühn, ironifch und unmider 
ftehlich; fo fahen wir Goya, den Bildner der Caprichos. Es giebt ein 
feines Gedicht von Richard Schaufal, das diefer Vorftellung Ausdrud verleitt: 


Goya. 


Ich Habe die lange ſchwüle Nacht 
Bei einer jungen Dame verbradtt: 


Goya. 335 


Sie liegt und träumt mit offenen Lippen von meinem Naden.... 
Ich will jeßt malen, hr ſollt Euch paden! 

Steht nit herum und gafit jo ledern! 

Sonft zer’ ih Euch an Euren Agraffenfedern 
Oder kigle Eure dünnen Waben 

Mit meinem Degen. Ich bin von Gottes Gnaden, 
Ich bin ein Grande im offenen Hemd, 

Ich liebe das Licht, das die Welt überſchwemmt, 
Sch Liebe ein Pferd, 

Das bäumend fih gegen den Zügel wehrt, 

Sch Liebe den Juden, den Keiner befebrt. 

Dem König lafje ich jagen, er folle 

Klopfen, wenn er mich ftöre wolle. 


Ach, der wirkliche Francisco de Goya war ein Anderer. Einen Troft 
zwar "haben wir: für feine Jugend bleiben viele Züge des uns vertraut ges 
wordenen Bildes beftehen. Das Wort über den König freilich hat nie gegolien. 

Boyas langes Leben umfchließt die Zeit von 1746 biß 1828. Er 
wird als Sohn eines Bauern in dem aragonefiichen Neft Fuentetodos ges 
boren. Seine Lehrzeit abfolvirt er in Saragoſſa. Der lebensdurftige Jungling 
mit dem ftarfen Körper und fchönen Gelicht, der den Mädchen den Kopf 
verwirrt, bezeugt mehr Freude an der Süße des Weines und den Aben- 
teuern der Liebe als an der langweiligen Luft des Ateliers. In einer nächtigen 
Rauferei, an der er betheiligt ift, fommen drei Menſchen ums Leben. Er 
flieht mit Hilfe feiner Freunde nach Madrid, wo damals Naffael Mengs, 
der kühle Naffael aus Sachſen, am Hofe Karls des Dritten die erfte Rolle 
fpielte. Auch Tiepolo malte damals in der faftilifhen Hauptfladt, aber man 
beachtete ihn wenig. Mengs verbunfelte ihn. Es ift nicht Mar zu erweifen, 
ob Goya in perfünliche Beziehungen zu dem greifen Italiener getreten ift. 
Felt fteht, daß er ihm künſtleriſch Manches zu danken hat. 

Nach ein paar Jahren geht e8 gen Rom. Dan berichtet, auch biefe 
Abreiſe fei nicht freiem Willen entfprungen. Goya foll bei einem galanten 
Abenteuer zwei Mefferftiche in die Bruft befommen haben; und wie einft in 
Saragofja, fol ihm auch jest der Boden unter den Füßen zu heiß geworben 
fein. Und nun wird etwas Wunderſames erzählt, das zwar nicht mit Bes 
ftimmtheit verbürgt if, woran wir aber gern glauben möchten, weil es fo 
töftlich in diefe Jugend paßt: er foll jich, mittellos, als Stierlämpfer ver: 
dungen und auf diefe Weife langjam in das füdliche Spanien durchgefchlagen 
haben, von wo aus er zu Schiff nach Ytalien hinüberfuhr. 

Er lat in Rom über das blöde Treiben an der Akademie, ſlizzirt 
Iuftig im Getümmel des Volles, verübt allerlei tolle Streiche, darin ber 
Jugendliche Meiſter ift, und als er endlich wagt, von Liebe hingerifien, im ein 





836 Die Zukunft. 


Nonnenkloſter einzubrechen, ift e8 wiederum hohe Zeit, daß er fich den Füngen 
der Polizei durch eilige Flucht entzieht. Er kehrt in bie Heimath zurüd und 
erhält einen erften großen Auftrag in Saragoffa, wo er ein Tonnengewolbe 
der berühmten Kathedrale mit religiöfen Fresken ausmalt, die bezeugen, wie 
innig er Tiepolo bewundert. Dann zieht er fi, vermuthlich wieder durch 
eine Mefierangelegenheit gezwungen, zwei Jahre in ein Kloſter am Ehe 
zurüd, wo er feinen größten Cyklus religiöfer Bilder al fresco malt. 

Er geht nach Madrid, verheirathet fi und die bunten Tage feiner 
braufenden Jugend jind beendet. 

Die Vermählung ift der Punkt, an dem fein Leben ſich wendet, an 
dem ein neuer Goya zu werden beginnt. Ruhe und Stete fommen in fein 
Dafein und er füngt an, eine ungeheure Arbeitkcaft zu entfalten. Wir hören 
nicht3 mehr von Abenteuern, in die er verftridt ift, nichts mehr von eiligen 
Abreifen, zu denen er gezwungen wird. Das pilante Berhältniß, in dm 
er zur Herzogin von Alba, einer Freundin feiner Kunft, gejtanden haben 
fol, gehört ing Neich der Fabel. Auch die häflichen Dinge, die man übe 
fein ehelicheS Verhältniß erzählt hat, find offenbar erfunden. Die fchöne Frau 
mit dem rothgoldenen Haar fcheint nur den günftigften Einfluß auf die Thätig: 
keit Franciscos gewonnen zu haben: Bild auf Bild entfteht in emſiger Arbeit 
Nachdem die heißerſehnten Beziehungen zum königlichen Hof im einer alla 
unterthänigen Weife angebahnt find, verfchwendet er auf lange Jahre hinaus 
einen guten Theil feiner Kräfte an eine ftattliche Aeihe von Kartons, di 
im Auftrage des Hofes für die Teppihmanufaltur entworfen, dort für dit 
föniglichen Gemächer im Prado und Eskorial gewebt wurden. Da hängen 
nun diefe großen Gobelins an den Wänden der einfamen Schlöfler, und wen 
man vor fie hintritt, wird man das Bedauern nicht los, daß gerade Gohya ſeine 
Zeit an diefe koſtſpielige Liebhaberei eines Königs verzetteln mußte. Denn ſeien 
wir offen: diefe Gobelins machen ung nicht warm und nicht felten möchten 
wir und gegen den Gedanfen fträuben, daß fie von Goyas Hand flammen. Zwar 
zeigen fie eine gefunde und ficherlich derbere Realiftl, als fie dem Zeitgefcmod 
geläufig war; aber fie tragen nicht die Wefensfpur des Genies und der Ein 
flug Watteaus ift deutlich) bemerfbar. 

Goya lebt in Madrid recht behaglih. Er ift muſikaliſch begabt umd 
in den Salons feiner Gönner willtommen. Er liebt eine vornehme Leben? 
führung, ift pafftonirter Jäger und giebt viel Geld aus, wenn er e8 hit. 
Er ift ein treuer Freund, ein taftvoller Menfh und im Grunde bebärfnik 
108. Seines Nimbus als eines Degenhelden ift er längft entlleibet, — fit 
immer. Dem Hof zeigt er fi von einer Devotion, die wir verwünſchen, 
da fie wenig zu dem Bilde paßt, da8 wir früher von dem Helden hatten 
Mit den Jahren bildet fi eine Schwerhörigfeit heraus, die ihm oft mike 


Goya. 337 


trauiſch werben läßt, wie fo viele von ſolchem Leiden Geplagte: es iſt der 
Anfang völliger Taubheit, der ſich andere langwierige Krankheit gefellt. Goya 
ift fchnell gealtert. In den Jahren feines Lebens, wo wir ihn und nod) 
als Troubadour und ftolzen Kavalier vorftellten, ift-er ſchon müde Mit 
fünfundvierzig Jahren Hört er nichts mehr. Diefe Taubheit, die ihn auf fein 
Inneres, auf die Gebilde feiner Gedanken und Träume Tonzentrirte, fcheint 
mir beſonders wichtig zu fein, wenn man die ſpäter ins Ungeheure entwidelte 
Phantafiethätigkeit des Meiſters erklären will. Erſt feit den Tagen der Taub- 
heit treten die grandidfen Phantafiegebilde, die ihm dauernden Ruhm fichern 
follten, in feinem Werk auf. 

Goya malt in Madrid neben den Kartons zunächſt viele Portraits. 
Sie find von merkwürdiger Ungleichheit. Es find Tafeln darunter, flach 
und langweilig gemalt, die irgend ein Anderer feiner Zeit eben fo oder beſſer 
fertig gebracht hätte. Manche find recht flüchtig und offenbar in fchlechter 
Laune gemacht, wohl nur, um Geld zu verdienen. Diefe Bilder haben von 
Goyas Weſen nichts. Aber es giebt andere Portraits, die er in glüdlichen 
Stunden mit Luft und Liebe ſchuf und die ihn als einen bedeutenden Cha- 
rafterifliler und feinen Durchforfcher des Menfchengelichtes zeigen. Das ziem- 
Lich früh anzufegende Bildniß feiner Frau Joſefa mit den großen dunkeln 
Augen und dem freien Hals (jet im Prado) hat ſchon etwas Meifterliches. 
Er hat bie Herzogin von Alba gemalt, einmal in Weiß, mit loſem, üppig 
berabwallendem Haar, einmal in Schwarz, mit Föftlicher Mantilla; beide 
Bilder find mit einer Feinheit gemacht, die Goya nah bei Velasquez den 
Play anweiſt. Freilich darf man nicht vergefien: Velasquez war vor ihm. 
Goya hat ihn mit großer Liebe und Hingebung ftudirt, und was der Bauern: 
john aus Aragon dem Wriftofraten zu danken hat, ift nicht zu umterfchägen. 
Goya ſelbſt fagte, feine Lehrmeifter ferien neben der Natur Velasquez und 
Rembrandt geweſen. Der Ton ift auf den erften der beiden Namen zu legen. 
Rembrandt bat ihn wohl zum Radiren angeregt, aber in feinen Spuren ift 
er faum gewandelt und ein Bild von ihm hat er vielleicht nie gefehen. Don 
den Schöpfungen des Velasquez aber war er umgeben. Auf diefen Bildern 
ſah er die berühmten wundervollen Lufttöne, die duftige, graufilberige Atmo- 
iphäre (el ambiente, fagt ber Spanier) der Umgegend von Madrid, die Keiner 
nad) ihm jo wundervoll wiederzugeben vermocdt hat. Bon ihnen lernte der 
Kolorift: auch bei ihm zeigt fich gern ein feines Grau in Verbindung mit 
Roſa oder einem goldigen Gelb. Bon ihnen hat er gelernt, das Portrait 
mit der Zandfchaft zu verbinden. Manchmal, befonder8 in den Bildniflen 
Karl des Dritten und des Vierten und auf der großen, an Yiguren reichen 
und doch fo leeren Tafel, die die Familie Karls des Vierten darftellt und den 
Maler an der Staffelei im Hintergrund zeigt (wie Velasquez auf den Meninas), 


one J 


338 Die Zukunft. 












iſt die Kompoſition auch in auffälligen Einzelheiten auf Velasquez zumit: 
zuführen. Zwiſchen den Meninas und diefem repräfentativen Familien 
liegt freili eine Kluft, über die feine Brüde führt. Das Bildniß 
de3 Dritten mit der Guadaramalette und dem Eskorial im Hintergrund ı 
vorzüglich, trog der Erinnerung an Belasquez. | 

Ein wundervolles Bild ift die Romeria de San Isidro. Es if} 
Ueberblick über ein Vollsfeit vor den Thoren von Madrid; im Mittelgru 
der Manzanares, hinten auf der Anhöhe die Stadt. Bor diefem Verl h 
man ein ähnliches Gefühl wie vor den Meninas: man möchte hineinfchreiten. 
Man möchte ſich im diefes fröhlich plaudernde, tanzende, fcherzende Getüm 
mifchen und weiß fchwer zu jagen, was eigentlich das Bedeutendfte an 
Bilde ift: die Lodere, Taftilifche Luft, hier Löftlicher gelungen als je, bie gläd 
lichen perfpeltivifchen Wirkungen oder die famofe Kompofition des Border 
grundes. Zu meinen Lieblingen gehört die berühmte Maja (Schöne), di 
Goya zweimal in der gleichen Lage dargeſtellt hat: bekleidet und nadt. & 
wartend, fehnfüchtig, liegt fie auf weißen Spigentifien, bie Hände unter dem 
ihwarzlodigen Haupt. Wie fü verlodend ift das Geficht, zumal der Be 
Heideten; mit welcher freudigen und heherrichenden Kunſt ift der gragi 
Heine Körper der Nadten gebildet! Etwas unendlich Kiebliches blüht au 
den Bildern diefer fpanifhen Schönen auf. 

Die religiöfen Darftellungen, die er in einer Neihe von Kirchen u 
fresco gemalt hat, zeigen feine ftarke Seite nit. Amufant find die Eng 
an den Gewölben in San Anton de la Florida zu Madrid: fie fehen am 
wie hübfche moderne Cocottchen in Morgentoilette, mit geſchminkten Auge: 
brauen und Flügeln zmwifchen den Schultern. Man meiß nicht, woräbe 
man mehr flaunen fol: über die Keckheit, folhe Engel an bie Wänbe eine 
Kirche zu malen, oder über die Thatfache, daß fich der Klerus diefe Geſtalte 
als Vertreter der himmlischen Heerfchaaren gefallen ließ. Einige Tafelbilder 
mit religiöfen Themen aus der fpäteren Zeit erweifen ſich dagegen als Im- 
preffionen von genialem Vermögen, fo ein Chriſtus am Delberg, fo namen: 
lich eine Heilige Elifabeth, die Kranke pflegt. 

Den größten Theil feines Ruhmes dankt Goya feinen Rabirunge. 
Die erften Verfuche mit der Nadel fallen in eine ziemlich frühe Zeit. & 
reizt ihn, die geliebten ‘Dleifterwerke des Velasquez mit der Nabel wieder 
zugeben. Ein ganzer Cyklus folder Blätter entfteht, aber die Kane de⸗ 
Löwen ift hier faum zu verfpüren. Der große Radirer, den wir lieben, ent- 
wicelt fich exrft in den Jahren der Taubheit, in den fiebenziger Jahren de 
achtzehnten Jahrhundert3 alfo. Es find die Jahre, in denen daß innere Weſen 
Goyas ſich umgeftaltet. Er ift oft, in Folge von körperlichen Schmerzen, 
unglüdlih und verbittert und fein Gemüth verbunfelt fi mehr und met 





Goya. 339 


im ber dauernden Taubheit. Die Phantaſie beginnt, ihre Rieſenflügel zu 
regen, umd trägt ihm in Gebiete, wo ihm künftlerifche Offenbarungen von ben 
wahnmigigften Dingen werden, wie fie kaum eim Anderer vor ihm Hatte. Er 
fchwelgt in den tollfien Borftellungen, wirft fie aufs Papier und bringt fie 
dann auf die Kupferplatte; denn es ift bezeichnend für ihn, daß er faft Alles, 
was er radirt, vorher zu zeichnen pflegt; und zwar fchließt fich die Radirung 
meift in der minutiöfeften Weife an die Zeichnung an. 

Zuerft entfiehen die Caprichos, die technifch von kaum zu übertreffender 
Bollendung find. Goyas Griffel bildet Vögel mit Mienfchenköpfen, die 
grinfend durch die Luft Hinfchwirren; fie werden von Frauen gefangen, gerupft 
und die desplumados (man beachte die Haltung und die Bewegungen dieſer 
unendlich drolligen Geftalten!) werben mit Beſen bearbeitet. Fragen von 
nie gefehener und dabei überzeugend glaubwürdiger Scheufäligkeit grinfen 
uns an. Wir fehen Menſchen mit Schweinsköpfen und Thiere mit Menſchen⸗ 
töpfen. Eine Fran bricht bei Naht im Mondlicht einem Erhängten bie 
Zähne aus dem Mund, vermuthlich, um fie zu einem Zauber zu brauchen 
(a caza de dientes); Pfaffen Inufchen verzüdt der Predigt eines Kakadus; 
irgend ein Unthier fpielt Fangball mit Menfchen. Wir fehen elelhafte alte 
Kupplerinmen, mit Gefichtern, die das Lafter geformt Bat; zwei, von Fleder⸗ 
mäufen umflattert, nehmen eine Prife und neben ihnen fteht ein Korb, ber 
mit zu früh verendeten Kindern gefüllt if. Brei Kupplerinnen faufen wie 
Geier durch die Luft und über ihnen thront eine geſchmückte Schöne (vo- 
laverunt). Durch die Luft fliegende Heren zerfleifchen einander die Gefichter. 
Goya hat eine merkwürdige Vorliebe für Wefen, die die Luft durchſchwirren, 
zumal für reitende. Auf einer Eule reitet ein Teufel, auf dem Teufel ein fettes, 
viehifches Weib, an das wieder andere Scheufale fih Hammern. Hexen mit 
ſchwammigen Körpern reiten auf Befen; eine jugendliche Schöne wird von 
geilen fliegenden Ungethümen verfolgt, bie fie bedrohen; teuflifche Spuk⸗ 
geftalten mit riefigen Fledermausflügeln faufen umher, andere befchneiden 
fi die Fußnägel. Schredensgebilde, Ausgeburten einer vertradten Phantafie, 
Unheimlicyes und Grauenhaftes: Das find die Caprichos. | 

Dean hat viel an dem Inhalt diefer achtzig Blätter herumgedeutelt, 
befonderd zu Goyas Zeit. Allerlei Anfpielungen auf politifche Vorgänge 
und beftimmte Perfonen hat man erkennen wollen; ob und wie weit mit 
Recht, entzieht fich heute unferer Beurtheilung. Daß ſtarke Satiren darunter 
find — befonders gegen bie Frau und die Pfaffen richtet ſich manche Spige —, 
ift offenbar. Es find die erfchredenden Bifionen eines genialen, von graufigen 
Borftellungen verfolgten Geiftes, ber in Stunden des Bornes, da ihm die 


Welt fo ekel erfchien, fich berufen fühlte, der Menfchheit einen Zerrfpiegel vor 
dad Auge zu halten. 


27 





840 " Die Zukunft. 


Der berühmte zweite Mai des Jahres 1808 kommt. Das Bolt ve 
Madrid erhebt ſich rebellirend gegen Murat, der es in einem furdtbars 
Blutbad niedermetzeln läßt. Für den Künftler Goya ift diefer Tag vu 
böchfter Bedeutung: hier fieht der Sechzigjährige zum erfien Mal die Schreden 
bilder, die zunächft auf Tafeln, dann, zwei Jahre fpäter, in feinen radim 
Desastres de la guerra fo fürchterlid wieder erftehen. 

Die ahtzig Blätter des „Kriegsſchredens“ find im ihrer äufen 
Wirkung vielleicht noch gräßlicher als die Caprichos, weil Hinter ihnen de 
Wahrheit grinft, während die Caprichos doch meift nur Phantome zeig 
Hier dringt einer Geftalt ein Beil in den Kopf, dort ſpießt fich ein Bajome 
in ein Gefiht. Männer ringen mit Frauen, um fie zu überwältigen, un 
die Weiber wehren fih mit Meſſern. Wir erbliden wimmernde Sind, 
ducchbohrte Leiber, Wagen mit Leichenhaufen, die man auf den Kirchhei 
ſchafft. Eine befondere Vorliebe hat Goya für Exhängte: immer wiede 
fieht man Körper mit hängenden Köpfen an Galgen oder an Bänmu 
baumeln. Andere werden an den Pfahl gebunden und erſchoſſen. Leike 
werden beraubt und entkleidet. Und überall verzerrte Gefichter, Geberiet 
des Wahnſinns, — und immer wieder Erhängte. Hier wird Einer lehnt 
mit dem Schwert gezweitheilt, dort ein Anderer auf einen Baumaſt geipiert 


Eins der fürchterfichften Blätter: an einem entlaubten Baum hängen nadt | 


Körper und einzelne Gliedmaßen; ein paar Arme; ein Rumpf; ein Kopf. 

Die dritte Folge der Radirungen unterfcheidet fi) von den Caprido— 
und Defaftres in auffallender Weife. Es ift die Tauromaquia, die vie 
Blätter umfaßt. Ein Siebenzigjähriger hat fie gefchaffen, doch einer, is 


Händen eine ewige Jugend befhieden war. Stierfämpfer werden in al im 
Phaſen und Möglichkeiten dargeftellt. Goya muß den Stierfampf als GE 
haber ftudirt haben; denn mit allen Künften und Kniffen der Toreros zei 


er fich genau vertraut. Wie weiß er das machtvoll fehnige Wefen, den Tim 


des angreifenden Stieres herauszubringen! Die mannichfachen, oft jo m 


ziöfen Spiele mit der capa werden geſchildert; Banderilleros fegen I 


Fähnchen im Stehen und Sigen; hier wird ein Torero von dem toro m 


gefpießt; dort fpringt ein Anderer, Tollkühner, mit gefeflelten Füßen aber 
den Rüden des Stieres; und ein Eſpada tötet von feinem Stuhl ans der 
Stier. Einmal bricht der Stier aus und ſpießt eine Perſon aus den 
Publikum auf die Hörner. Und in al diefen Szenen herrſcht eine Jater 
fität der Bewegung, eine Sicherheit in der Kompofition, die doppelt bemuf 
dernswerth find, da fie der Hand eines Greiſes entflammen. Bis er Dr 
legten Tage feines Lebens hinein ift Goyas Kunft noch gewachſen. Re 

haben feine Kräfte nachgelaſſen, nie hat ber vielfach Leidende ein Bedürhaij 
nah Ruhe empfunden, nie bat der Alte das Intereſſe an der Gegenwan 





_ a 


Goya. 341 


verloren und nicht in einem einzigen ſeiner Werke läßt ſich die Spur des 
Greiſenthumes nachweiſen. 

Was die Radirungen Goyas ſo groß macht, iſt die wunderſame Ein⸗ 
fachheit ber Technik, die nichts verſchweigt, ohne das Geringſte zu ſagen, was 
überflüffig wäre; die abfolnte Beherrſchung von Licht und Luft; die immer 
malerifhe Art, in der fie gejehen find, und die eine großarlige Abftraktion 
der zerftreuenden Einzelheiten zur Folge Hat (was wir bei Hogarth fo fchmerz- 
ich entbehren); und endlich, aber nicht dem Werth nach zulegt, die fabel- 
hafte Intenfität der Bewegung. Alle diefe Momente fchaffen vereint den Stil 
dieſer Werke. 

. Seit der Meifter das Gehör verloren hat, befchräntt fich fein finn- 
icher Verkehr mit der Außenwelt auf das Auge, das, da es da8 Auge eines 
Malers ift, die Fähigkeit erhält, die flüchtigften Bewegungen in all ihren 
Nuancen mit faft unglaublicher Schnelligkeit aufzufaugen und die Werthe 
des Lichtes zu erkennen. Nur mas fich bewegt, ift von Intereſſe für Goya. 
Deshalb pflegt er die Umgebung feiner Seftalten nur leife anzudeuten; häufig 
it & ein gänzlich uferlofer Raum, in den fie verfegt find. Er liebt die 
Unendlichkeit im Raum, er ift ein Freund grofier, beſonders dunkler Flächen, 
die er durch einen breiten, ruhigen Auftrag der Aquatinta erzielt. Diefe 
war, gerabe als er zu radiren anfing, von Xeprince erfunden worden und 
noch fein Spanier hatte fi ihrer bedient. Sie wird ihm zu einem wichtigen 
und geliebten Mittel, große, von mächtiger Schlichtheit getragene Wirkungen 
zu erzielen. Immer mehr wird der Ton auf die Behandlung der Fläche 
gelegt. Er läßt auch gern große weiße Stellen ftehen, auf denen er das 
Licht einfängt. Man erkennt, wie feine ganze Art, ohne das Moment der 
Impreſſion zu verleugnen, nach der deforativen Seite hin neigt. Je älter 
er wird, defto ftärker entwidelt fich diefer Sinn für die großen Umriffe. Die 
Ausdrudsweife wird immer ruhiger und gewinnt dabei an Größe. In feinem 
festen, unvollendeten Cyklus, den herrlichen „Proverbios“, ift fein Stil auf 
die ruhigfte und ficherfte Formel gebradt. 

Der alte Goya hatte ſich ein Landhaus vor den Thoren von Madrid 
‚erworben, das von dem Volle bald die quinta del sordo (das Haus des 
Tauben) genannt wurde und von deſſen Yenftern er eine Ausficht hatte, wie 
die Romeria de San Isidro fie zeigt. Diefes Hans fchmüdte ſich Goya 
mit Bildern, die zu dem Wüfteften und dabei Werthuollfien gehören, was 
feine ımfeligen Träume geboren haben. Die legten fchaurigen Tiefen feiner 
Phantafie thun fh auf. Wenn Du zum erften Mal vor bdiefe Allegorien 
trittft, die jegt im Prado hängen, wird Dir fein, als ließe fi auf Deinen 
Schädel ein kagenartiges Unthier nieder, da8 langſam feine Pranfen in Deine 
Stirn gräbt. Du fiehft zwei Burfchen auf einem Aderfeld: fie fchlagen, 


27° 





342 Die Zukunft. 


wie die Befeffenen, einander mit Knuppeln ins Gefiht, all ihre Sehnen find 
‚gefpannt von brutaler Wuth und Kraft und ihre Körper find bei der An- 
firengung bis zu den Knien in den Boden gefunfen. Saturnus, ein um« 
gefüger Riefe mit Glotzaugen, frißt einen Menſchen: er beißt ihm gerabe 
einen Arm ab. So find die Gefichte und Träume diefes Alten, die er num 
malerifch unübertrefflich zu bändigen weiß. Die Farben find auffallend faftig, 
ungemifcht und mit einer Sicherheit hingefegt, die niemals irrte. 

Das Alter wird immer trüber; die Gicht ift eine arge Plage. Im 
Fahre 1824 verläßt ber Kranke Madrid, um in ein franzöfifdyes Bad zu 
reifen. Doc diefer Grund wirb nicht der einzige gewefen fein, der ihn trieb, 
bie Heimath zu verlaffen. Mean fchägte ihn offenbar am Hofe Ferdinauds 
nicht nach Gebühr; es heißt auch, ex habe wegen feiner radirten Satiren Ber- 
folgungen zu fürchten gehabt. Ex kommt auf kurze Zeit nach Paris und gründet ſich 
ein neues Heim in Bordeaur, wo der befreundete Dichter Moratin in Ver 
bannung lebte. Und nun entfaltet der Nimmermüde auch in der Fremde 
eine Thätigleit von fo intenfiver Kraft, als ftünde er auf der Höhe bes 
Lebens. Er zögert nicht, die neue Kunſt der Kithographie zu erlernen, unb 
ſchafft fo eine Reihe von Stierlämpfen, die zu den beften feiner graphifchen 
Ürbeiten gehören und nicht ahnen laſſen, daß ihr Schöpfer- ein armer, ber 
Heimath beraubter Greis ift, ein Tauber, halb Blinder, der fih gezwungen 
fieht, zwei Brillen und häufig noch ein Vergrößerungsglas zu benugen. 

Der Neunundfiebenzigjährige fieht noch einmal auf Kurze Zeit die Lafti- 
liſche Hauptftabt wieder. Dann, 1828, flirbt er in Borbeaur, aus Freude 
über einen Brief feines Sohnes, der ihm feine beborftehende Ankunft meldet. 

Goya war Spanier vom Scheitel bis zur Sohle Das nationalfte 
Vergnügen feines Volkes, den Stierlampf, hat er mit dem Pinfel, dem Stift 
und der Nadel feitzuhalten gewußt wie kaum ein Anderer. Er verlörpert 
ein wichtiges Stüd der maleriſchen Kultur feines Baterlandes, bie in Velasquez 
ihren König verehrt. An die Tradition diefes Größten Enüpft er fein Wert, 
ſchwingt fi von dort aber auf neue Gipfel. Er ift einer der erſten Radirer 
aller Zeiten. In dem Abftrufeften und Perfönlichften, da8 er gefchaffen Hat, 
erweift er ſich als ein Mitglied der tollen Familie, zu der die Breughel, 
Bofch und Hogarth gehören. Von ihnen fteht er unferem Gefühl am Nächſten; 
Hogarth empfinden wir ja fchon als veraltet. Die Einflüffe des Spaniers 
auf lebende Künftler find unverkennbar: die Anfänge des Radirers Klinger 
führen auf ihn zurüd, der ſchwediſche Radirer Zorn hat in technifcher Hinficht 
einen Theil feines Erbes angetreten, Rops hat ihm Manches zu banfen und 
ber Baske Ignazio Zuloaga ift ihm in malerifchen Dingen fehr verpflichtet. 
Der große Tote Dianet gar, der fo auffallend nah Spanien bin tendirte, 
bat viele Bilder geichaffen, die aus der Verliebtheit in ganz beſtimmte Werte 
des Spanier herausgewachſen find. 


5 — — 


Auf zur Sonne, | | 843 


Goyas Kunft ift ein Born, aus dem noch Mancher mit beglüdtem 
Schauder fchöpfen wird. Diefer herbe Born quillt nicht für Jeden; aber 
Vielen bedeutet er eine Welt. 

Man hat gerade jetzt Gelegenheit, in Berlin eine Reihe von fehr ver⸗ 
Schiedenen Werken Goyas zu betrachten. Die Nationalgalerie hat foeben zwei 
außerordentliche Malereien des Spanier erworben: einen wundervoll bewegten 
Stierfampf und die köſtliche Cucaña, eine in fatten Farben hingefirichene Land⸗ 
fchaft. von befonderer Schönheit. Unter den Bilbniffen, die Eaffirer in feinem 
Salon zufammengebracht hat, ift manches Schwache; zugleich freilich ein Lecker⸗ 
biffen erfter Ordnung: das aus dem Jahr 1819 ftammende Portrait des 
Architekten Antonio Cuervo, mit einer Delilatefle gemalt, von ber die jungen 
Ampreffioniften unferer Tage lernen mögen. Man beachte das Haar. Weber 
Belasquez noch Frans Hals noh Manet haben Haar befjer gemalt. 


Steglik. Hans Bethge 


1! 
Auf zur Sonne.*) 


9 Sonne hat drei lange Wochen in dem kleinen Dorfe Gerſau am Vier⸗ 
waldſtätterſee nicht geſchienen, nicht mehr geſchienen ſeit Anfang Oktober, 
als der Föhn kam. Nah Sonnenuntergang wurde es ganz windſtill und ich 
ſchlief die halbe Nacht, bis ich von dem Läuten der Kirchenglocke und von einem 
Geräuſch geweckt wurde, das ſich in das eigenthümliche Brauſen des Sturmes 
auflöſte, wie er ſich über die Alpen auf ben ſüdlichen Seeſtrand warf, im Keſſel 
bes Sees zufammengepreßt, in bie Gaſſen unferes Dorfes hineingebrängt wurde, 
an Schildern riß, Fenſterladen fchüttelte, an Dachpfannen rüttelte, in Baum⸗ 
fronen und Gebüſchen rafte. Die Wogen des Sees fchlugen gegen die Hafen- 
defeftigungen, jchäumten über die Einfafjungen und platjchten gegen Boote. Der 
Sand peitſchte gegen Tyenjtericheiben, das Laub tanzte in Wirbeln, das Ofen- 
blech riß und das Haus zitterte. Als ich hinausgudte, war es Hell in der Kirche 
und die Glocke läutete in Einem fort, um Die zu weden, bie nicht bereit3 er- 
wacht waren; denn der Föhn wird für fo gefährlich angejehen wie ein Erdbeben, 
weil er ſelbſt Häufer niederreißen und, was fchlimmer ift, Felsblocke von den 
Bergen berabftürzen Tann, und wir wohnen gerade an ber Wurzel eines, ber 
allerdings nur fünfzehndundert Dieter hoch tit, deilen Gipfel und Grate aber 
einen lockeren Ballaft von Felsblöcken tragen, die zu einem Steinwerfen in 
größerem Stil befonders geeignet find. Nach dreiftündigem Toſen iſt die &e- 
fahr vorüber. Und am folgenden Morgen tBeilt die Dorfchronik mit, daß in Schwyz 


*) Die legte der „Schweizer Novellen”, die in Scherings Ueberfegung 
bei Hermann Seemann Nachfolger erjcheinen. Strindberg hat auf diefe Arbeit 
ftetö beionderen Werth gelegt und joll einmal gefagt haben: „Das kleine Stüd 
giebt die ganze Gleichung, nach der mein Leben gelöft werben kann.“ 


7 Die Zuhmft. 


ein Steinblod mitten durch ein Bauernhaus gefahren fei unb ben rechten Flügel 
fortgenommen babe, ohne gefährliche Folgen für die Menſchen, die im Linken wohnten 

Dod nad biefem warmen und heftigen Winde bat fich ein Nebel übe 
das Dorf und den PVierwalbjtätterfee gelegt. Der Himmel fieht bemölft aus, 
doch es fällt fein Regen und es kommt auch fein Sonnenidein. So geht & 
drei Wochen fort; und hat man begonnen, Alles in Grau zu fehen, Hört man 
damit auf, es in Schwarz zu ſehen. Die Alpenlandichaft, die vorher. aufrichtete, 
bat ihren Charakter verloren, feit mar nicht mehr weiter als hundert Meter die 
Wände hinauffieht; und das Herz wird fchwer, beflommen. Alle Reiſende haben 
fi heimgewandt, die Hotels ftehen leer und der November ift da, finfter an 
hoffnunglos. Die Tage jchleppen fi Hin und man jehnt fig, Licht anzünde 
zu dürfen; der Himmel ift troſtlos grau, der See iſt grau, die Landſchaft gran. 

Kein Wind, fein Regen, kein Donner. Die fonft an Wbwechfelung jo reich 
Natur ift unerträglich einförmig, ruhig, ftill, jo friedlich, daß man fich nad einen 
Erdbeben fehnt. Wo die Lichtquelle zu wirken aufhört, hört alle Farbe auf 
das Auge wird ſtumpf und die Seele hüllt fih in eine Schläfrigfeit, die der 
Faulheit nah kommt. 

Als ich mid) eines Abends im Geſpräch mit dem Amtmann über be 
langen Abſchied beklagte, den die Sonne genommen, antwortete er mit der Rule, 
die einem Deutſch⸗Schweizer eigen ift: „Die Sonne! Die kann man Ku auf 
der Hochfluh den ganzen Tag jehen.” 

Die Hochfluh ift einer der kleineren Alpenitöde, die den <halteffet bilden, 
in dem wir wohnen, und nur zweihundert Meter niedriger als der Sulitelm 
weshalb er auch von jungen Engländern zum Promenadenplatz benutzt win 
Ich beichloß daher als Sonnenverehrer, die Wallfahrt auf zur Sonne zu unie 
nehmen. Eines frühen Morgens im November ſetzte ich mi in Bewegung. 

Am Fuß eines Alpenftodes lebend, der, wie erwäßnt, als Vulkan mi 
Steinregen aufwarten kann, bereiten fi) die Leute von Gerſau ſtets barauf vor, 
in die Ewigkeit einzugehen, und bejuchen daher die Kirche ale Tage morgens, 
mittags unb abends. Darum begegne ich jetzt um acht Uhr morgens den Kirch 
gängern mit ihren Büchern in den Händen. Zwei alte Weiber, die eine halbe 
Meile bis zum Morgengebet wandern, beten einen Rofenfranz auf der Land 
ftraße. Die Eine fpricht den Engelgruß Ave Maria vor und die Andere lebt 
mit dem Refrain ein: In saecula saeculorum, Amen! Und fo dem ganzen 
Weg fort! Thut diefes Rojenfranzbeten weiter fein Gutes, jo jcheint es Die 
Bunge von Mißbrauch abzuhalten, wie das bekannte Pfeifen im Weinkeller, das 
in der Anekdote dem Bedienten des Grafen auferlegt wurde. 

Wie ic) die Alten und die Landſtraße verlaffe, um ben Wufftieg zu be 
ginnen, ftoße ich fofort auf einige ftarfe Eindrücke, die grell und daher dauerhaft find. 
Bei der eriten Biegung fteht ein Walnußbaum mit angenagelter Chriſtusfigut 
und einer Botivtafel, die den Wanderer darliber aufklärt, daB von dieſem Wal⸗ 
nußbaum während der Ernte der Bauer Seppi (ober jo ähnlich) herabſtürzte 
und fi totihlug. Gott fei feiner Seele gnädig! Bete für ihn! Amen! 

Bei der nächſten Biegung fteht eine Eleine, wunderliche Niſche aus weiß⸗ 
geleimten Ziegeln, fo klein wie eine für Kinder gezimmerte Spielftube. Und 
durch die Stacketſproſſen ſieht man Bilder der Heiligen Familie, vielleicht im 





Auf zur Sonne. 345 


Techzehnten Jahrhundert gemalt, und daneben den Aufiluß, daß die zum Tode 
Berurtheilten auf dem Wege zum Nichtplag bei diefer Kapelle ftehen bleiben 
und ihre legte Andacht halten durften. Es ift aljo der Galgenbergweg, den ich 
wandere; und nad einigen Minuten bin ich auf dem Nichtplage felbit. Es ift- 
ein offener Plan auf einer gegen den See vorfpringenden Spige mit der herr 
lichſten Ausficht, jo daß man es ſich als einen wirklichen Genuß vorftellt, vom 
Leben mit einem Anblic zu fcheiden, wie man ihn bier auf Pilatus, Axenftod, 
Buochſerhorn, Bürgenftod dat; und jelbft Voltaire würde hier nit Unbehagen 
empfunden haben, im Berborgenen (obscur&ment) gehängt zu werden. Das 
verabſcheute er am Allermeiften, weshalb er auch jehr folgerichtig Rouffeau be- 
fchuldigte, fo eitel zu fein, daß er fih gern hängen ließe, wenn nur fein Name 
an den Galgen angeſchlagen würde. Bon bier fieht man unten am Strande 
ein Stüd weiterhin einen Schimmer der unheimliden Kapelle Kindlimord, wo 
ein befümmerter Bater fein bungriges Find getötet haben joll. Das find zu- 
fammen vier düftere Gemälde in der grauen Morgenbeleudgtung. Und von den 
blutigen Bildern fteige ich mit größerer Geſchwindigkeit aufwärts, lichteren Ge 
genden zu, wo die Sonne wartet. 

Die Negion der echten Kaftanie ift Bald durchichritten, eben jo die der 
Walnußbäume; der Buchenwald beginnt. Nachdem ich bei einer Sennbütte 
mit ſchönen Kühen und einem garftigen Hunde ausgeruht habe, trete ich ins 
Gewölk ein, das fih ald Das, was man einen Nebel nennt, erweift, der immer 
dichter wird und die Landichaft unerträglich macht. Die Schwierigkeit, zu jehen, 
verurfadht ein Brennen ber Augen; Bäume und Büfche find wie in Rauch ge 
hüllt und die Millionen Spinnengewebe zwiſchen den Zweigen find mit Wajler- 
tropfen beſetzt, jo Dicht, das es ausfieht, als hätte die Waldfrau, wenn e3 wirklich 
eine giebt, Taujende von Spitzentaſchentüchern zum Trodnen aufgehängt. 

Der Nebel madt Einem das Athmen jchwer, jchlägt ſich auf die Wolle 
des Nodes, auf Bart, Haar und Augenbrauen nieder, verbreitet einen eflen, 
ſchalen Geruch, macht bie Steine flebrig und glatt, daß man nicht darauf gehen 
fann, und verdunfelt Alles im Innern des Waldes, wo die Stämme ſchnell 
wegtönen und in einem Grau-in-Grau verſchwinden, da8 den Geſichtskreis auf 
ein paar Klafter zufammendrängt. Dieſe Nebelihidt von etwa taufend Metern 
muß ich durchklettern, ein nafjes und faltes Fegfeuer, ehe ih zum Himmel 
fomme, und ich thue es mit vollem Vertrauen zu dem Ehrenwort des Amt- 
mannes, daß fie ein Ende nehmen wird, ehe die Alpe aufhört und das graue 
Nichts anfängt. 

Ich Habe kein Barometer bei mir, fühle aber, daß ich geitiegen bin, daß 
die Nebelichicht fi vermindert hat und ich mic) reiner Quft nähere. Ein &e- 
fühl wie von einem edeln Weinraufch fängt mich zu paden an; und jebt... 
Im Hohlweg, von oben, leuchtet es ſchwach wie das erfte Grauen des Tages 
auf der Zandichaft eines Rouleaus ; die Baumjtämme jtehen klarer da, das Auge 
fieht weiter und das Ohr Hört Kuhſchellen, von oben her. Und jebt: ganz hoch 
oben fteht eine goldene Wolle; ein paar raſche Schritte und das niedrige Buchens 
unterholz leuchtet in Gold, Kupfer, Bronze, Silber, wenn ein Strom gebrochenen 
Sonnenlichtes auf das vergilbte Laub fällt, das bis heute erhalten blieb. Ich 
ftehe noch im Herbittag, in Feuchtigkeit und Kälte, ſehe die von der Sonne be. 


346 Die Zukunft. 


leuchtete Sommerlandſchaft und erinnere mich in einem Ru an eine Segeljaht 
auf dem Mälar, wo ih im Sonnenidein faß und den ſchwarzen Hagelicene | 
eine Sabellänge ſeitwärts in Zee vorbeiziehen ſah. Und jet ftehe ich mitten m 
der Sonne, fehe oben eine nordifche Landſchaft, mit Fichten und Birken, ick 
grüne Matten mit rothen Kühen, Eleine braune Hütten mit alten rauen, be 
auf den Schwellen Strümpfe für Batern ftriden, der unten im Kanton Zeifm 
auf Arbeit tft; jehe Kartoffelgärten und Zavendelbüfche, Dahlien und Ringelblumen 

Und ich lafje die Sonne mein Haar und meinen Ueberrock trodinen, meine 
noch froftigen Körper erwärmen; Lüfte meinen Hut vor dem glühenden Urheber 
und Grhalter des Weltalles, er mag nun aus ewig brennenden Waflerftof- 
flammen oder aus dem nod nicht anerfannten Urftoff Heltum beftehen. De 
Alvater, der ohne Weib die Weltkorper gebar, der Allmächtige, der Leben un 
Tod jchenkt, über Eis und Wärme, Sommer und Winter, Mißwachs und Gm: 
jahr beſtimmt! 

Als mein Auge an Sommerftimmung und grünem Gras gelabt if, 
ſehe ich unter mir in das Dunkle, Tiefe hinab, das ich durchſtreift Habe. Dort 
über dem See, der nicht zu fehen ift, Liegt das Dunkel und die Kälte, aber nid: 
mehr dunkel und kalt, fondern wie eine Lichtglänzende, weiß gefämmte Wolk, 
auch fie von ber Sonne beleuchtet und die Dämmerung und die ſchmutzige Erde 
drunten verbergend, und Über der weißen Dede erheben ſich glitzernd einik 
Schnecalpen, gleichſam aus verbichtetem Silbernebel gebildet, aus einer Löjun 
von Luft und Sonnenlicht Friftallifirt, Treibeis auf einem Meer von friider | 
fallenem Schnee umberfhwimmend. Es iſt buchſtäblich eine überirdiſche Lar! 
haft; die Kuhſchellenidylle droben unter den Birken wird dagegen banal. 

Doch jet hört man von unten, nachdem es Bier oben totenftill geworde 
ift, von unten, wo trifte Menſchen zitternd im Grauwetter gehen, einen plätjcher 
den Laut, der ſich nähert und den das Auge unter der Wolkendecke verfolgen # 
fönnen glaubt. Es Elingt wie ein Mühlfall, ein Regenbach, eine Fluthwogt. 
Seßt fteigt ein Schrei von unten herauf, ein Schrei, wie wenn alle Cinwohne 
der vier Kantone um Hilfe gegen Uri-Rothftod riefen. Doch es ift nur das Kar 
boot, das pfeift, und die Hochfluh, die das Echo wervielfacht, daß im ber reine 
Luft anſchwillt, nachdem es durch den Wolkenboden gedrungen tft. 

Und da ift es Mittag. 

Sch muß wieder binunterfrieden, hinunter durch den Nebel, zum Grau 
wetter, zum Dunkel, zur SFeuchtigfeit und zum Schmug, — und vielleicht wieder 
drei Wochen warten, ehe ich die Sonne zu jehen befomme. 

Stodholm. Auguft Strindberg- 


$ 
Selbitanzeigen. 


Ueber Maltechnik. Ein Beitrag zur Beförderung tationeller Malverfahren 
A. Foerfterd Verlag, Leipzig, 8 Marl. 


Ich Habe in meiner Schrift zunächſt die auf bem Gebiete der künftleriſchen 
und gewerblichen Maltechnik herrſchenden Mißſtände, die Verfälſchungen der 
Farben und Malmittel, den gänzlichen Mangel an ficherem theoretiſchen und 





Selbſtanzeigen. 347 


praktiſchen Unterricht, das Fehlen aller nützlichen Traditionen und die vielfach 
ablehnende Stellung der Akademien und der Künſtler gegenüber den dieſe 
Mißſtände bekämpfenden Beſtrebungen eingehend erörtert. Insbeſondere habe 
ich die Wege gezeigt, auf denen dieſe Mißſtände beſeitigt werden können und 
die von der „Deutſchen Geſellſchaft zur Beförderung rationeller Malverfahren 
in München“ betreten worden ſind. Auf die Exiſtenz, die Beſtrebungen und 
die Kämpfe dieſer Geſellſchaft, deren Erſter Vorſitzender Franz von Lenbach iſt, 
und auf ihr Organ, „Techniſche Mittheilungen“, will ich hinweiſen; eben ſo auf 
Sie von der bayeriſchen Regirung proviſoriſch übernommene und an der Ted). 
niſchen Hochſchule in München untergebrachte „VBerfuchdanftalt und Auskunft 
stelle für Maltechnik“. Die Gejellihaft und die Verjuchsanftalt prüfen alle Pro- 
bleme der Maltechnik, alle Konjervirungmethoden; alle Auskünfte werden unent- 
geltlich ertheilt. Die Verſuchsſtation beſchäftigt fich auch mit der Ausarbeitung 
von Vorſchlägen für den Unterricht in ber Farben- und Maltechnik und joll 
fünftig auch die Ausbildung von Lehrkräften für den Unterridt in der Mal- 
technik übernehmen. In der Beitfchrift „Technische Mitteilungen für Malerei“ 
iſt ein Organ geſchaffen, das alle Fachfragen gründlich erörtert und die wiſſen⸗ 
Tchaftlihen und praftiichen Ergebniffe der Forſchung und ber Erfahrung ſammelt. 
Auch hier wird von der Redaktion auf Anfragen unentgeltlid — mündlich und 
ſchriftlich — Auskunft ertheil. Damit find denn Central- und Sontrolftellen 
für das ganze Gebiet der Maltechnik, des Malmittelbandeld, der Hilfswiffen- 
haften und techniſchen Methoden geſchaffen. Mein Buch fol dazu beitragen, 
daB der „VBerfuchsanftalt für Maltechnik“, die ſchon feit zwei Jahrzehnten arbeitet 
und um ihre Eriftenz kämpft, endlich von den maßgebenden Stellen und Perſonen, 
bon den Künſtlern, Runftfreunden und Gewerbetreibenden u. ſ. w. endlich bie 
Beachtung, die materielle und moralifche Unterftügung zu Theil wird, deren fie, 
ihrer Bedeutung und Nüblichleit gemäß, würdig ift und zu einem erfolgreich 
burchgreifenden Wirken unbebingt bedarf. Mein Werk wird jedem Tinterefjenten 
voljtändige Drientirung über den heutigen Stand der modernen Maltechnik 
bieten und zu einem zwedmäßigen Studium und zur richtigen Bearbeitung 
maltechnijcher Fragen anregen. 


Grünwald bei Münden. Adolf Wilhelm Keim. 
3 


Streiflicter. Dito Meißners Berlag, Hamburg. 


Ganz naiv ift man im Leben nur einmal. Große Enttäufchungen find 
ed ganz befonders, die aus dem naiven Menſchen den anderen — wie joll id) 
ihn nennen: Schaufpieler oder Diplomaten? — maden. Am Wejen der Liebe, 
weil fie Jeder kennt, will ich dartdım, wie ich Das meine. Nur die erjte Liebe 
eines Menfchen ift reine, unverfälfchte Liebe. Hat nun ein Menſch dad Pech, in 
feiner erften Liebe unglüdlich zu fein, fo verfällt er gar bald in die eifrigite Ber 
trachtung jeiner ſelbſt. Er konſtatirt: Hier warft Du ungeſchickt, dort albern. 
Könnteſt Du den ganzen Rummel noch einmal von vorn anfangen: Du wüßteft 
nun, wie man fi) aufzufpielen bat, um Erfolg zu haben. Bleibt nun ein Menſch 
vor bem eigenen Herzen ehrlich, fo Hat er in ſolchen Zeiten allerlei Luftige Launen. 
€3 liegt nah, daß das Vergnügen an der Selbftironifirung fein Erftes ift. Liegt 








848 Die Zukunft. 


e3 nicht aber eben fo nah, daß er in folden Stunden mit Vorliebe der Luft fröhnt 


auch Denen, denen er die Enttäuſchungen dankt, ihr Fett zu geben? 
* Paul Schröder. 


Jüdiſche Künftler. Herausgegeben von Martin Buber, Joſef Iſraels von 
Fritz Stahl; Leſſer Urn von Martin Buber; E. M. Lilien von Alfred 
Gold; Mar Liebermann von Georg Hermann; Solomon %. Solomer 
von ©. 2. Benfufan; Jehudo Epftein von Franz Servaes. Mit 139 Ab: 
bildungen. Jübifcher Verlag. Berlin 1903. 

Richard Wagner konnte noch der finnliden Anſchauungsgabe der Juden 
das Bermögen abiprechen, bildende Känftler hervorgehen zu laſſen. Seiner Be 
bauptung ftand damals als Thatſache faft ausfchlieglic eine Schaar bedeutung 
loſer Nachahmer gegenüber. Heute kann auf einige jädifche Künſtler hinge 
wiefen werden. Dieje Künftler find ein Anfang. Das Beſte ift, fie ohne lange 
Theorien in ihren Schöpfungen vorzuführen und auf ihre Art aufmerkjan zu 
maden. Das iſt die Abficht des Sammelwerkes, deſſen erjte Folge in dieſem 
Bande vorliegt. Es fol zeigen, was an bildneriichen Fähigkeiten im heutigen 
Judenthum lebt. Hier und da wird auch das Nadjwirken von Volkseigenſchaften 


in dem Weſen der SKünftler und ihrer Werke aufgedeckt werden können. 
3 Martin Buber. 


Univerfität und Volksſchullehrer. C. Marrowsky in Minden. 60 Pfennig. 

Als das nothwendige Endziel ber Bildungbeftrebungen des deutſchen Bolt# 
ſchullehrerſtandes wird „die vollftändige und vollgiltige akademiſche Bildung für 
jeden Volksſchullehrer“ nachgewiejen. Da dies Ziel für abfehbare Zeit unerreichbat 
ſcheint, muß den ſtrebſamen und befähigten Lehrern die Fortbildung durch ale 
demiſches Studium ermöglicht fein. Nicht erftrebenswerth erjcheint eine ver 
minderte alademifche Bildung, eine von fürzerer Dauer und mit verminderten 
Rechten. Deshalb wird durch Vergleich der heutigen Seminarbildung mit dei 
Oberrealfchulbildung nachgewieſen, daß auf Grund des Seminarabgangszrug 
niffes und einer Ergängungprüfung in einer fremden Sprade und in Mathe 
matik dem Lehrer ein Reifezeugniß ertheilt werden könnte, das die felben Studiew 
berechtigungen in fich fchlöffe wie das Neifezeugniß einer Oberrealſchule. 

3 Dr. Otto Gramzow. 


Dad Notenbantweien in den Vereinigten Staaten von Amerila. 
Karl Ernſt Poeſchel, Leipzig. 1903. 

Nach langer, wegen bes Fehlens von Material nicht immer leichter Arbeit 
ift die Schrift zu einer Zeit beendet worden, wo die Bankfrage in Folge dei 
geplanten Notenbankreform in den Vereinigten Staaten bejonderes Intereſſe 
findet. Im erjten Theil habe ih in knappen Umriffen die gefchichtliche Enb 
wickelung des amerifanifchen Bankweſens geſchildert. Im zweiten Theil wird 
die Technif des Noten, Depofiten-, Disfont- und Vorſchußgeſchäftes geſchildert 
und die einzelnen Zweige des Bankgefchäftes werben mit unferen und engliſchen 
Verhältniſſen verglichen. Der dritte Theil giebt eine Kritik des Vielbankſyſtem⸗ 
im Allgemeinen und des nordamerikaniſchen Bankſyſtems im Befonderen. Im 


Selbſtanzeigen. 349 


Schlußkapitel war ich bemüht, zu zeigen, welches Intereſſe wir Deutſche daran 
haben, daß bie Vereinigten Staaten ein gutes, elaſtiſches Bankſyftem beſitzen. 
Mit einem praktiſch wohl durchführbaren Reformvorſchlag ſchließt die Arbeit, 
die, wie ich glaube, auch für den Laien klar genug geſchrieben iſt. 

8 Dr. Georg Obſt. 


Glück und Unglück der berühmten Mol Flanders, die, im newgater Zucht⸗ 
haus geboren, während eines unruhvollen Lebens von jechzig Jahren fünfs 
mal verheirathet gewefen, darunter einmal mit ihrem leiblichen Bruder, 
dann zwölf Fahre lang Dirne in London war, fpäter eine Diebin, die 
dann auch acht Jahre lang nad Virginia zur Strafarbeit verfchidt wurde, 
und endlich dennoch reich, fromm und ehrbar flarb. Eine Gefchichte, auf: 
gezeichnet nach ihren eigenhändig niedergefchriebenen Memoiren von Daniel 
de Foe und jest zum erſten Male in die deutſche Sprache übertragen und 
dann herausgegeben von Hedda und Arthur Moeller-Bruck, verlegt von 
Albert Langen in München im Jahre 1908. 

Daniel de Foe, geboren 1661, geftorben 1731," hat neben den Verbieniten, 
daß er der eigentliche Begründer der englifchen Preife war und damit der Preſſe 
überhaupt, daß er ferner ben fchönen „Cruſoe“ verfaßt bat, auch noch andere. 
Bor Allem bat er außer feinen Ylugblättern, jeiner Zeitung und feinen Ro— 
binjonaden noch Romane geichrieben. Hier ift jein bedeutendfter. Er iſt aud 
eine Robinjonade; aber eine aus ber Großſtadt. Man darf in ihm fogar eigent- 
lich den erjten aller Großftadtromane ſehen. Das allein würde dem Bud; einen 
gewiſſen literarijch-turiofen Werth von vorn herein fihern. Es bat aber aud 
noch einen weiteren Werth, der in dem Buch jeldit ruht, einen rein menfclichen, 
rein dichterifchen Werth. Diefer Hocdftaplerinnenroman gehört nämlich zu den 
ehrlichiten, herzhafteften Bekenntnißbüchern, die wir bejigen, und fteht ganz in 
der Nähe unjeres lieben „Simplizius Simpliziffimus’’: jo lebendig wahr und 
ſchön ift er und dabei fo gradlinig im Bau, jo fchlicht, aber tief in der Er- 
zählung. Ein dur und durch gefundes Bud, fein perverjes Inzeſtbuch, wie 
vielleicht vermuthen fünnte, wer de Foe nicht kennt. Es handelt ausfchließlich 
von ftarfen Lebensgefühlen und iſt jo ein ebenbürtiges Erzeugniß engliſcher 
Nenaiflance, aus ihrem raufchenden Geiſt Eräftig geboren. Mit feiner erft- 
maligen deutfchen Ausgabe befommen wir, was nicht verwundern darf, zugleich 
einen jehr modernen Roman, deſſen Stoff auch aus dem Treiben unjerer Tage 
gefunden jein könnte. Nur ift eben alles Menjchliche, und gerade Das, was 
wir das Unmoralifche nennen, vollftändig unnervds genommen, ganz unraffinirt 
und naiv, jo, als ob es etwas ganz Selbftverjtändliches wäre. Dieſen Vorzug 
der Friſche, der unbedingten Natürlichkeit in gorm und Inhalt Hat der Roman 
dor unſerer pſychologiſch verzwidten zeitgendffifhen Epif voraus. Sie kann 
von ihm wieder lernen, wie ji im Roman gerade die Einfachheit zur Monu- 
mentalität zu erheben vermag. Und im Uebrigen mögen fi} die Menſchen an 
dem Buch herzlich des Menfchlichen freuen. 


Paris. Arthur Moeller-Brud. 


850 Die Zukunft. 


Race für Leipzig. 


Stan ift um einen Markſtein reicher. Bisher hatten wir die Negirumg 
Karls des Großen, Luthers wittenberger Thefenthat, die Kaiferfrönnung im 
Spiegelfaal von Verfailles und die Premiere von Subermanns „Ehre“. jetzt aber 
ift, 1903, Etwas geichehen, das all diefe ewig denfwärdigen Wendepunfte ber deutjchen 
Kultur und Geſchichte noch übertrumpft. Die Dresdener Bank und der Schaaff- 
baufeniche Bankverein haben fich zum Bunde fürs Leben vereint. Vorläufig menigfiens 
für dreißig Jahre; fo lange, ein ganzes Menſchenalter lang, foll die „ntereffengemein- 
haft”, von der ich vor acht Tagen nur kurz ſprach, minbeftens dauern, Diefe neue 
Wendung der Weltgefehichte kam fo plößlich, daß vom Rhein bis zur Weſer, von 
der Elbe zum Belt, weiter noch, bis über Deutfchlands weltpolitiſche Grenzen bin 
aus, Jedermann verblüfft war und erft eine Weile tief Athem fchöpfen mußte. Schon 
um dann rufen zu können: Videas consulem! Bon allen Konfuln, Caefar und 
Bonaparte nicht etwa ausgenoinmen, it Gutmann der größte. Heil Dir, Eugen! 
Der Eheichließung war feine Berlohunganzeige, Tein Aufgebot vorangegangen. Nichts 
wußte man von zarten oder unleufchen Annäherungen, von Verträgen und liebergabe. 
Nichts. Hat es fehon vorher heißer als Kohle (aus Rheinland natürlich) gebrannt, 
fo wars heimliche Liebe, von der Niemand nichts weiß. Und das ſüße Geheimmnif 
blieb fo fireng gewahrt, daß auch die dem jungen Paar Nächſten, die Sippen, bie 
doch jede Bewegung, jeden Athemzug der Verwandtſchaft eiferfüchtig überwachen, 
nichts von den Dingen ahnten, die fommen follten und kamen. Selbſt die Deutfche 
Bantk, die fonft befanntlich Alles weiß, Alles nahen fieht, das Gras wachfen Hör 
und das Wetter von übermorgen vorausjagt, felbft fie wurde diesmal überrumpelt; 
fie gerade am Allermeiften. Im Kreis gewöhnlicher Sterblichen find heimliche Ber- 
lobungen, fogar heimliche Trauungen nicht ganz felten. Ward aber erhört, daß 
zwei Liebende aus den höchſten Sphären die Welt erft ins Bertrauen ziehen, wenn 
Alles Thon fir und fertig ift? Eines Sonnabends, ganz fpät: — die Somntag- 
bormittagsprebigten der Handelsredakteure waren längft im Sat —, flog den Blättern 
die Botſchaft zu: Dresdener Bank und Schaafihaufen empfehlen fi) als Vermählte. 
Statt jeder beſonderen Anzeige... Wie eine Bombe fiel diefe Neuigfeit auf den 
Schreibtifch der Herren, die fchon den Paletot anhatten und dahin heimkehren wollten, 
wo Jeder die häusliche Sorge wwiederfindet, auch wenn er eben ber leidenden 
Dienichheit auf wenigftend einer Spalte den unfehlbaren Weg gewiefen bat, auf 
den fie fich des Lebens freuen, an der Börfe das eigene Geld vor Schaden bewahren 
und da$ der minder gut Berathenen dazu erwerben kann. Ihre Ruh war hin. 
Jetzt hieß es, den Ueberrod und die fabbathliche Familienfiimmug raſch wieder an 
ben Kagel hängen und in das Falten- und Spaltengewand der Begeifterung jchlüpfen ; 
zum Glück ift diefes beliebtefte Kleidungftid in den Preßgarderoben immer para.. 
Auch diesmal hüllte es die Verftörten mohlthätig ein. Heutzutage läßt ſich auch 
Begeifterung einpöfeln ; glaube mir, lieber Leſer, nicht dem veralteten Dichter. Sonntag 
früh hatte Klio in eine nagelneue Tafel gegraben: „Died war der Tag des Herr 
Gutmann. Großes Heil ift durch ihn der Welt widerfahren; die Dresdener Banl 
und der Schaaffhaufeniche Bankverein find feit geftern im Ehebunde vereint. Mit« 
gift 120 Millionen, Widerlage 164 Millionen, macht zufammen ein Vermögen von 


Rache für Leipzig. 351 


284 Millionen Marl.” Und in ber Ranglifte, die diefe fleißige Göttin führt, wurde 
unter dem felben Datum vermerkt: „Die Deutfche Bank, bisher die mächtigfte der 
deutichen Banken, die deutiche Bank xar’ EEoynv, iſt vom erften Pla verdrängt 
und rückt auf Nummer Zwei; an ihre Stelle tritt die Dresdener Bank“. 

Macht und Anfehen find im Wefentlichen auf Ueberlieferung gegründet. Ein 
Geſchlecht nad) dem anderen wirft fi) in den Staub vor einem Götenbild, we 
die Sage geht, daß es allmädtig ſei. Dann kommt plöglich ein Wanderburſch da> 
ber, ftößt den Götzen übermütbig um: und zum Staunen der Menge bleibt die 
Welt auf dem alten led. Nichts gefchieht, kein Blitzſtrahl fährt aus heiterem 
Himmel nieder, um den revler binzuftreden, die Sonne wendet ihr Antlig nicht 
von folcher Frechheit, die Blüthe verdorrt nicht am abfterbenden Aft, aus dem Duell 
fprudelt reines Waſſer, — Alles ganz wie vorher. Ein Böke weniger; fonft hat 
nichts fich verändert. Wichtiger wäre, zu fagen: flatt des alten ein neuer Götze. 
„Ber alte fiel, Der bat verthan; ein neuer Narr zu neuer Pein.” Geſtern noch 
war die Deutiche Bank ‚der Inbegriff aller wirtbfchaftlichen Größe des Deutfchen 
Nleiches. Ein Kind des Krieges, das den via Berfailles und Frankfurt ins Ger- 
manenland gebrachten Milliardenfchats beffer auszunutzen verftand als Alle, die vor 
ihm waren und nad ihm famen. Ihr Schöpfer, Ludwig Bamberger, der jo beforgt 
flehte, „das Reich der Hohenzollern möge vor dem zweibeutigen Segen fpanifcher 
Gallionen bewahrt bleiben” und nicht, wie die ſpaniſche Monardie nad) dem Zu- 
tritt des peruanifchen Golbftromes, bald nach dem Sieg über Frankreich und der 
Abzahlung der fünf Milliarden Niedergangsiymptome zeigen, biefer Getreue brauchte 
fih im Grabe nicht umzubrehen, wenn ihm der lette Kurs ins letzte Bette tele- 
phonirt wurde. Die Deutſche Bank wuchs, blühte, gedieh. Riefige Bilanzziffern, 
immer neue Rapitalsherhöhungen, immer höhere Dividenden. Ahr Palaſt behnte 
fih. Mauer⸗, Behren,, Kanonierftraße. Zwing-Uri. Und während an fritifchen Tagen 
ringsum Blätter, Zweige, Aeſte fielen und durch die Stämme jelbft ein Beben ging, 
fand fie, eine ehrmwitrbige Eiche, unerfchüttert im Sturm, — unerſchütterlich ſelbſt 
Orkanen trogend. Doch Ziffern fprechen bier deutlicher ala Bilder. 160 Millionen 
Mark Kapital, 55 Millionen Darf an Referven: Das konnte Keiner nachmadjen; 
felbft die ehrmürdige Distontogefellfchaft nicht, einft Preußens Stolz und Wonne. Die 
franzöfiigen Muftern angepaßte Organifation, die — damals ganz neuen — Depofiten- 
kaſſen, die die Deutfche Bank überall aufthat: der Erfolg war nod) fchneller gelommen, 
als die Väter des Gedankens zu hoffen gewagt hatten. So ſchnell und mit jo nad)- 
baltiger Wirkung, daß fehließlich fogar Herr von Hanfeınann feine lange, junferhaft zähe 
Dppofition gegen die „Neuerung“ aufgeben und fich entichließen mußte, Depofiten- 
faflen zu eröffnen. Er war freilich der Letzte. Denn Fürftenberg arbeitet mit 
anderem Werkzeug und Material. In den Neichsgrenzen wurde der Deutichen Bant 
der Borrang längft nicht mehr beftritten. Der Ehrgeiz ihrer Leiter fand aber aud) 
jenfeit3 der Srenzpfähle des lieben Vaterlandes volle Befriedigung. Kein Land war 
ihnen zu weit, feine Sprache zu unausſprechlich, kein Geſchäft zu fremd: Alles wollten 
fie an fih reißen; und an Eifer, Fleiß, Klugheit ließen fies nicht fehlen. An den 
entlegenften Küften kannte jeder Geſchäftsmann die Deutfche Bank, fah jeder in ihr 
die Berförperung deutfcher Geldmadt, deutfchen Unternehmungsgeiſtes, deutfcher 
Ubiquität. Daß diefer Glorienfchein ihr jemals entriffen werden könne, ſchien ganz 
undenkbar. Wer follte den MWettlampf wagen? Wer ſich folcher Kühnheit vermefjen?... 


⁊ . 


852 Die Zukuuft. 


Da kam das „Wunderbare“. Dresdener Bank und Schanffhaufen empfehlen fi als 
Bermählte. Eine Minute banger Beſtürzung, ftarrer Verwunderung. Dann treibt 
man die Augen, blict um ſich und fragt, wo denn der alte Gotze geblieben fei. Nicht 
lange. Der neue ift fon da. Das ift am Ende die Hauptfadde. „Sogleich mit wunder: 
barer Schnelle drängt fi ein andrer an die Stelle; gar !öftlich ift er aufgeputt.” 
Nur die Beforgniß, der Lefer könne Hinter dem Pfeudonym, dag am Schluß 
diefer Zeilen ftebt, den Grafen Bülow vermuthen, hält mich ab, nod ein anderes 
Sitat berzufegen; eins von der Vergänglichkeit alles Ruhmes. Doch das Schau⸗ 
ſpiel, wie fchnell die Dienge dem Idol von geftern den Nüden fehrt, hat Jeder ja 
ſchon einmal erlebt. Antereffant ift eine andere Seite der Sache. Ich hoffe, Herr 
Konful Gutmann, der Bielerfahrene, der göttliche Dulder und meltlihe Bändiger, 
fehreibt jeine Memoiren. Und, bitte, nicht nur für die Nachwelt, Auch wir Mit: 
lebenden möchten aus dieſem reichen Born fhöpfen. Ich für mein armes Theil 
möchte nebenbei noch beſonders gern willen, wie und wann ihm zuerfi der Gedanke 
an eine Verbindung mit Schaaffhaufen fam. Auf pofthume Enthüllungen lann ich 
nicht warten. Wenn den Lobgefängen der Preffe zu glauben wäre, müßte dte 
Frucht an dem Truſtbaum gereift fein, den die Amerikaner zum größten Wunder 
der botanischen Wirthichaft entwickelt haben und den der gelehrige Michel mit wach⸗ 
ſendem Erfolg in Deutfchland afffimatifirt bat. Für diefe Annahme fpricht Mancherlei. 
Aber nicht ausnahmelos alles Gebrudte braucht wahr zu fein; und in mir lebt 
ein anderer Glaube. Ich denke mir nämlich, daß die Ehe der Dresdener Banf mit 
dem Schaaffhaufenfchen Bankverein vom Zorn einer tief Gekränkten gefhloffen wurde. 
Mer ein halbwegs treues Gedächtniß Hat, mußte ſich bei dem Streih, den die 
Dresdener Bank gegen das Inſtitut der Herren Gmwinner und Steinthal führte, 
ohne langes Beſinnen des Schlages erinnern, den Herr Kommerzienrath Steinthal 
dem Konful Gutmann verfegte, als die Leipziger Bank in die Brüche ging. Das 
mals fprang die Deutfche — ihre Bewunderer fagten: wie ein Löwe, ihre Neiber: 
wie ein Tiger — hervor und etablirte fi) an der Stelle des eingeflürzten Karten- 
baufes der Erner und Gent, mitten in der ureigenften Domäne der Dresdener 
Ban, die man obendrein noch allerlei fhlimmem Auf überließ. Die Dresdenerin 
fitt, ohne zu Magen, unter den recht Ablen Gerüchten und unter der leoninifhen Kon- 
furrenz; fie ſchwieg, weil fie, machtlos, jchweigen mußte. Gutmann fonnte nur 
knirſchen und die Fauft in der Taſche ballen. Selbſt die Loyalität, die ihm der 
Neihsbankpräfident in diefer fchweren Zeit zeigte, vermochte ihn nicht Aber den Tort 
hinmwegzutröften, , den ihm die „mächtigfte aller Banken“ in dunkler Stunde ange 
than hatte. Und die Bitterfeit wurde wilder Haß, als er erfuhr, daß die Deutjche 
Bank ihre Dividende aufrechterhielt, während die Dresdener Riefenfummen ab. 
fchreiben und von 8 auf 5'/, Prozent heruntergehen mußte. Mit verbaltenem In⸗ 
grimm ſah Eugen das Publikum von feinen Schaltern weg zu benen des Gwinners 
laufen. Seitdem fann er auf Rache. Setzt hat er fie. Und um fie zu haben, ift 
ex, glaube id), aus feinem ftrogenden Parvenupalais an der Hedwigsfirdhe als Freier 
in daS befcheidene Haus der Franzöſiſchen Straße geſchritten. Es mar fein Neinfall 
bei Schaaffhauſen. Wehe Jedem, den Eugen Gutmann haßt!... Nun ift die Reihe 
an Gminner und Steinthal. Sie werden fehnell zurädzufchlagen verfuchen. Warten 
wir ab, wie der nächſte Markftein deutfcher Wirthichaftgefchichte ausfehen wird. 
Dis, 


Redatteur: DE Barden in Berlin. — Verlag der Zukunft in Berlir 
Drud von Albert Tamde in Berlin- Schöneberg. 








Berlin, den 5. Dezember 1905. 
— — —— — — 


Prozeß Rwilecka. 


Re Momente haben fid) während der Hauptverhandlung wider Kwi⸗ 
ledis und Genoſſen in mein Gedachtniß gedr u ckt. Aus der im vorletzten 
Heft erzaͤhlten Prozeßgeſchichte weiß der geduldige Leſer, daß derfiebenjährige 
Streit von der Frage ausging, ob der am dreißigften Januar 1897 auf dem 
berliner Standesamt als Joſeph Stanislaus Adolf Graf Kwilecki ange- 
meldete und jpäter von dem Päpftlichen Hausprälaten und Stiftspropft Lud⸗ 
wig von Jazdzewski getaufte Knabe das eheliche Kind des Grafen und der 
Gräfin Wefierski-Kwiledi ift oder von Caecilie Parcza in außerehelichem 
Geſchlechtsverlehr ihrem Liebften, einem öfterreichifchen Hauptmann, geboren 
wurde. Der Hauptmann war aus Krakau als Zeuge geladen worden; er 
folfte ausfagen, ob er in dem Kinde fein Fleiſch und Blut erkenne. Zwiſchen 
den zwei Knaben ftand er vor dem Schwurgericht; rechts ber Meine Graf, 
linls der rachitiſche Junge, den der edle Bahnwärter Meyer, als er Caecilie 
Parcza geheirathet hatte, an Kindesftatt annahm. Prufend haftet das Auge 
des Zeugen auf dem Kümmerling und ſchweift dann, ein Bischen ſcheu, nach 
derrechten Seite hinüber. Spannungim Saal. Wirddie Stimmedes Herzens 
jest Iprechen ? Kurze Pauſe. Leis hebt der Zeuge die Achjeln, fchüttelt facht 
den Ropf: unmöglich; er kann nichts jagen. Caecilie war fein Liebchen und hat 
zwei Knabengeboren; für den erften hat er Alimente geliefert, für ben zweiten 
nicht. Den hat das Mädchen bald nad; der Geburt an vornehme Leute weg« 
gegeben und der Vater hatte feinen Grund, breinzureden. Niemals hat der 
Herr Compagniechef die Kinder gefehen; woher foll er alſo wiſſen, ob der 
hübfche Knirps zur Rechten fein Sohn ift? Die Spannung löft fi. Ein 
Schaudern huſcht durch die Reihen; „der Menfchheit befter Theil“. Ein Ges 
3 


354 Die Zulunft. 


tnfchel. Das Baupdlerwv, in dem Plato den Anfang aller Weisheit ſah. Ohne 
Täünche, ohne den Iſochromfirniß, ben die foziale Heuchelei als Glanzdecke 
über alle menschlichen Beziehungen des Europäerkulturkreiſes breitet, zeigt 
fich, in graufamfter Natürlichkeit, dem Blick hier das Leben. So ifts. Jahre 
lang hat diefer Mann biefe Frau in heißen Stunden an ſich gepreßt, mit 
bränftigem Geftöhn fie umfchlungen, mit gieriger Xippe ihren Athem ge- 
ſchlürft: die Frucht fo zärtlicher Bereinung ſah er nie. Das älteſte Bübchen 
leidet an ber Englifchen Krankgeit? Da find zehn Gulden, mein Schäfchen ; 
für Doktor und Apotheker. Der Zweite — hatteſts ihn ja wohl Leo genanut? — 
tft von einer feinen ‘Dameaboptirt? Recht haft Dusgemacht; ihm wird nichts 
abgehen und Du Haft die Arme frei. Ein Haupttreffer. Servus, Zichaperl!... 
Nach öfterreichiichem Geſetz Hat dag außereheliche Kind Anſpruch auf eine 
bem Vermögen des Vaters angemejjene Erziehung und Berjorgung. Wenn 
Caecilie aud) einartiges, bequemes Mädel war: für alle Fälle iſts angenehm, 
wenigftens den einen Jungen loszuſein. Doppelt angenehm, daß die jüße 
Kleine auch noch unters Ehedach fommt. Die Folgen folches Verhältnifies 
mag man doch nicht fein Leben lang mitichleppen. Wahrſcheinlich hat das 
ſchoͤne Stüd Geld, das Cilchen für den fauberen Kleinen erhielt, den Freier 
berangelodt. Ein Weichenfteller! Die Leute kennens nicht anders, find am 
Ende noch ftolz darauf, daß ihre Frau einem Kavalier genügte. Nun ift 
Alten geholfen. Und weſſen Verbienft iftS denn, daß der Leo fo fauber wurde 
und Blaublütigen keine Schande macht? Von wem hat er das Adelige? He? 
Seh, ſei nicht fad! Aus is; und aus mußte e8 ja einmal fein. Kriegft einen 
feihen Dann und wirft mich vergefien. Servus, Katzerl; ich muß zum Ta⸗ 
tod... Der Vater, der feine „natürlichen“ Kinder nicht kennt, nicht kennen 
will, im Gerichtsfaal zum erften Mal fieht: ein Stoff für Tolftoi. Doch 
Nechljudow war aus anderem Holz als der krakauer Compagnicchef. Der 
reift forgenlos nad) Galizien heimund ſchreibt, als er nocheinmal vorgeladen 
wird, an das Gericht, er ſei bei der erſten Fahrt nichtauf die Koftengelommen, 
habe aus ſeiner Taſche zugelegt und verzichte, da mit der Zeugengebühr fo ge- 
knauſert werde, auf die Wiederholung des theuren Spaßes. Ein paar Tage in 
Berlinfindganz nett; eine Hauptmannsgage reichtaber nicht ſehr weit. Der 
BriefiftderMann. Auf der Bühne würdeer nicht nur dieFrauen ein arger Böſe⸗ 
wicht dünken. Im Schwurgerichtsſaal, wo Akuſtik und Optik ſtets an Schau 
ſpielhäuſer erinnern, gehts ihm wie Gretchen im Dom: „Die Hände Dir zu 
reichen, fehauertS den Reinen.” Und doch ift der Offizier gewiß ein guter 
Dann und ein frommer Chriſt; und wie ers mit aecilie hielt, haltens aber- 





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Prozeß Kwilecka. 865 


taufend Kavaliere (und Bürgerliche aller Stände und Proletarter fogar) mit 
ihren Mädchen. Der Menſchheit befter Theil ift nichts für ftrupellofe Gemü⸗ 
ther. Schnell wieder die Glanzdecke her! Gott ſei Dank: die hauptmännliche 
Epijode ift abgethan. Schon wird am Tiſch der Ankläger und Richter wieder 


von der „zerrütteten” Ehe der ®räfin Iſabella geſprochen. Berrüttet ift fie, 


weil die Grau manchmal fchalt, der Mann fi) manchmal an fremden Reiz 
wärmte. Andere Männer bleiben ftandbaft auf dem ſchmalen Tugendpfabe 
der Monogamie; anderersrauen lafjen nie ein zänkiſches Wort über die Lippe: 
alfo ift dieſe Ehe zerrüttet und diefem Ehepaar ein Kind, die Frucht zeugen⸗ 
der und empfangender Liebe, nicht zugutrauen. Iudex ergo cum sedebit, 
quidquid latet,adparebit. Das Schanderniftder Andacht gewichen. Ganz 
hinten nur höhnt Einer: Woher, Ihr Herren, nähme ber König feine Rekru⸗ 
ten, wenn alle à la Kwilecki zerrütteten Ehen Einderlosblieben? Und weil er 
ſchon einmalbeim Nörgeln ift, fragter weiter: Warumriefet Ihr den Haupt» 
mann weither, da Ihr doc) wußtet, daß fein Knabe in der fünften vebens- 
woche von der Mutter verlauft ward, vom Vater alfo, felbft wenn er ihn je 
gefehen hätte, nicht wiedererfannt werden konnte? Beitverluft und Koften 
feien Euch verziehen. Aber muptet Ihr nicht die Folgen fo zwedlofen Thuns 
bedenken? Der armen Frau Meyer wird künftig feine Gevatterin den Rück⸗ 
biid auf das Militärverbältniß erfparen; und der Hauptmann kann froh 
fein, wenn er fich im dunkelften bosnifchen Winkel vor der Klatjchfucht ver- 
fteden darf, froh, wenn der Widerhall der Gerichtsverhandlung ihm nicht eine 
Braut, eine Mitgift, eine&rbhoffnung raubt. Das habt Ihr erreicht. Iſts nicht 
ſchon ſchlimm genug, daß die Angellagten während des Prozeſſes oft Rechts» 
güter verlieren, die der Freiſpruch ihnen nicht zurüdbringen kann? Müſſen 
auch noch Zeugen, diezur Aufhellung des Thatbeftandesgar nichts beizutragen 
vermochten, mit ihrem guten Auf, ihrer Exiſtenz die Gerichtszeche zahlen? 

Zweite Impreſſion. Siebenzehnter Tag der Hauptverhandlung. Noch 
immer tft nichts bewiefen, noch nicht da8 Allergeringfte, und im Saal, in der 
Stadt wächſt die Gewißheit, daß die Jury nad) all dem Wortaufwand ſämmt⸗ 
liche Schuldfragen verneinen wind. Da tritt Graf Heltor Kwiledi an den 
Zeugentiih. Das Geſumm hört auf, die Zufchauer drängen an die Holz 
ſchranke, die den Gerichtsraum abſchließt, von der Vertheidigerbant richten 
ſechs Augenpaare ſich auf den Kämmerer Seiner Heiligleit. Der ift nerpöfer 
als vor drei Wochen; von Weitem fchien der Sieg leichter als nun auf der 
Walftatt. Die Stachta verzeiht nicht, daß die ſchmutzige Wäfche aus Wro- 
blewo vor ein Preußentribunal gejchleppt worden ift, und wird dem Guts⸗ 

28° 


856 Die Zukunft. 


herrn von Kwilcz die fchädliche Ausftellung eintränfen. Die Stimme bes 
alten Garde⸗Ulanen klingt heute nicht hell. Er will Etwas „erflären“. Die 
Hälfe vecten fich Höher. Wenn Einer hier Etwas erflären kann, ifts biefer harte 
Agnat mit den geſchmeidigen Verkehrsformen. Vielleicht will er fagen, die 
Hauptverhandlung habe ihn überzeugt, daß feine Anfchuldigung nicht zu 
beweijen fei; folche Chamade lönnte ihm die Gunft ber Standesgen oſſen zu- 
rüdgewinnen. Nein. Er will ſich gegen Berdächtigung wehren. Nicht unfere 
Schuldifts, meines Vaters und meine, baß die Sachevor den Richter kam; wir 
wären ftill geblieben, wenn Graf Zbigniew die Kindesunterfchiebung einge» 
ftanden hätte. Staunend bliden die Nachbarn einander an. Was erzählt 
benn ber Mann da? Was foll jest die Nednerei von einem Geſtändniß, da 
faft ein Jahr doch Schon das Verfahren ſchwebt und nicht einen einzigen Halt- 
baren Beweis ans Licht zu bringen vermocht hat? Wennerfte Drohung fchon 
die Beichuldigten ins Mausloch triebe, fäme e8 freilich nie zu langwierigen 
Serichtsverhandlungen. Gerade in diefem Fall aber tragen die Grafen Mie⸗ 
cislaw und Heltor die Hauptſchuld; ftatt einenneuen Civilprozeß anzufangen, 
haben fie die Staatsanwaltichaft aufgefordert, „energifch und ohne Anſehen 
ber Perſon einzuſchreiten“... Pit! Die Erklärung geht weiter. Wird jet fogar 
„Teterlich” ; Graf Heltor jagt es jelbft. Er verzichtet „für feinePerfon“ anf 
bie Herrichaft Wroblewo. Die er noch nicht hat. ‘Die ihm erft zufiele, wenn 
Zbigniew geftorben und dem Heinen Joſeph das Erbfolgerecht abgeiprochen 
wäre. Möglich, daß die Fideikommißbeſtimmung joldhen Verzicht geftattet. 
Dann füme das Dlajorat an Herrn Heltors Sohn, bis zu deifen Mündigfeit 
ber Bater e8 zu verwalten hätte. Ein ungeheures Opfer alfo und der „Elarfte 
Beweis, daß nicht das Streben nach pekuniärem Vortheil mein Handeln geleitet 
bat.” Saure Trauben, brummt ein Pole in den Aſſyrerbart. Das müde 
Auge Zbiginews ſucht unter den Entlaftungzeugen, bei Herren und Diägden, 
Leidensgefährten; das Schauerdrama,dem erbeiwohnen muß, hat ja manche 
ftarfe Szene gebradjt: diefe legte aber war ſchwach, überfläffig, ohne jeden 
Effelt. Um Iſas Mundwinkel zudt es mehr jchelmifch als boshaft ; dürfte 
fie reden, fie riefe wohl in den Saal: Da habt Ihr Euren Heltor, votre 
garcon tres fort! Und ganz hinten fragt der Nörgler: Was hat die Feier⸗ 
lichfeit denn mit dem Gegenftande diefer Verhandlung zu thun? Liegt eim 
Verbrechen vor, dann braucht der Kwilczer ſich der Anzeige nicht zu ſchaämen. 
Ob er, ob fein Sohn oder Neffe ins Schloß von Wroblemwo einziebt, ift für 
den Wahrfpruch ber Gejchworenen gleichgiltig. Welche Rolle jpielt der Herr 
eigentlich hier ? Den Privatbetheiligten, derin Defterreich dem Unterfuchung- 


Prozeß Kwilecka. 357 


richter und dem Staatsanwalt das Material liefert, kennt unſer Strafprozeß 
nicht. Ein Nebenkläger hat ſich nicht gemeldet. Warum alſo muß Hektor 
fi ewig zu und wenden? Warum fteht fein Stuhl fo nah beider gury? Mit 
welchem Recht ergreift diefer Graf das Wortzu Erflärungen, diegar nicht zur 
Sache gehören? Täglich) hat der VBorfigende gefagt, die Verhandlung baure 
zu lange und müſſe in jchnellerem Tempo vorwärtsgeführt werben. Jetzt 
aber läßt er den kwilczer Zeugen belangloje Privatgefchichten erzählen. 
Nummer Drei. Herr Dr. Rofingfi aus Wronte als Zeuge und Sad)» 
verftändiger. Ein finfteres, barjches Geficht. Der gelbgraue Schnurrbart 
Tantig wie ein Balkın. Unter ftarrem Buſch das Auge; hat es je lächeln ges 
lernt? Aus diefen dien Thränenſäcken kam wohl nie eine Mitleidszähre. 
Straffe Haltung. Fließendes, um feine Ausdrucksnuance verlegenes Deutſch. 
Ein Dann, der zu Kaifergeburtstagsfeiern geht. Einer von Denen, die Bis: 
mard ralliirtePolen nannte. Und der befte Redner imSaal. Jede Wirkung 
ift vorgewogen, jedes Wort fteht, ohne Phrafenbehang, an der richtigen Stelle. 
ALS formale Leiſtung ift die Ausſage mufterhaft. Dererfte Theil ift der Anklage 
nicht günftig. Die Gräfin, deren Hausarzt Roſinski Jahre lang war, hatte 
immer, nicht nur bei zFrauenleiden, eine unüberwindliche Scheu vor jeder 
Betaitung der ſchmer enden Körpertheile; daß fie ficd während der Schwans 
gerichaft nicht unterfuchen ließ, fonnte alfo dem Doltornidht auffallen. In der 
Wochenftube wihihmderlegte Zweifel. Der Knabe ſah aus wiecinneugebore- 
nes Kind, die Mutter wie jede Wöchnerin; fein Grund zum Verdacht. Auch die 
Angaben, dieder Zeuge über dieehelichen und wirthichaftlichen Verhältniſſe des 
Grafenpaares macht, bieten der StaatSanmaltichaft feine Stüge. In der Ehe 
gabs Regen und Sonnenjchein ; ſchlimmem Gezänt folgten Tage inniger Ein 
tracht. Die Gräfin hat feinen ungebührlichen Luxus getrieben, fondern ihre 
Mitgift für die Gutswirthſchaft verbraucht ; und die Geburt des Majorats⸗ 
erben hat auf Wroblewo die Geldfnappheit nicht vermindert. Sehr günftig: 
denn die Anklage behauptet ja, der Mangel an Geld und Kredit habe Iſa in den 
Blan der Kindesunterfchiebung gedrängt. Das Alles war ruhig, knapp, 
konzinn vorgetragen worden. Nur ein Zug verrieth die Nervofitätdes Zeugen: 
während er mit kurzen Schritten vor den Geſchworenen auf und ab fpazirte, 
ließ er einen Haus- oder Stubenfchlüffel um den rechten Beigfinger kreiſen; 
vom erften bis zum legten Wort. Wie bei einem Alltagsgefpräd) über Wetter- 
prognojeund Sfatverluft. Vielleicht glaubt der Sanitätrath fo feit andie Un⸗ 
schuld feiner Batientin, dag dieBerhandlungihnnichterregt ? Nein:ertrautder 
Gräfin Weſierska⸗Kwilecka die That zu, trogdem aucher fein einziges ſicheres 


358 Die Zunft. 


Thatbeftandsmerimalanzuführen vermag: nur nad) der Kenntniß ihres Cha⸗ 
ralterd. Der Sachverſtändige Roſinski hat mehr zu jagen als der Zeuge; und 
der Schlüſſel kreift jet jchneller. Eine fehr leidenjchaftliche Frau. Künſtler⸗ 
temperament. Als Sängerin hoch über dem Dileitantendurcdhfchnitt. Schön, 
verwöhnt, ftolz. Ueberwuchernde Phantafie. Keinen Sinn für Ordnung, für 
Korrektheitim Reden. Den beiten Willen zwar, doch nicht Die geringfte Fähig⸗ 
feit zu fparfamer Wirthichaft. Im fteten Kampf ums ftandesgemäße Dafein 
ift ihr ethifches Empfinden nad) und nad) morjch geworden. Was zum Erfolg 
führt, fcheintihr erlaubt. Dir Gedanke, Wroblemo verlaffen und von fremder 
Gnade abhängen zu follen, mußte ihr unerträglich jein. Was fie jagt, ift nicht 
gelogen, aber objeftiv unglaubwürdig, denn ihre Gedächtnißbilder find oft im 
Wefentlichen falich. Keine Verbrecherin aus Gewinnfucht — diefe Wendung 
ſoll, ftatt der Zuchthausſchmach, wohl die mildere Strafart oder Dalldorf em- 
pfehlen —, jondern „eine pſychiſche Abnormität”. Yeichte Verbeugung. Schluß 
... Das Hang nicht jehr wiſſenſchaftlich; in Traftätchen fürs gläubige Herze 
mag jo von Geiſteskrankheit geredet werden. Woran fol Frau Iſabella denz 
leiden? Paranoia? Folie circulaire ? Und was follder Laienrichter mit dieſer 
Ausfageanfangen ? ALS Leumundszeugniß bietet ſie wenig Wägbares; und als 
piychiatrifches Gutachten ift fie erſt recht nicht zu brauchen. Wenn alle rauen, 
die Schlecht wirthichaften, deren Gedächtniß trügt, deren Phantafie ohne Hem- 
mungenarbeitet und deren Zunge im Affelt nicht zu zügeln ift, in den dunkla 
Bezirk der Anomalien verwiejen würden, ftünden bald viele Normalhäuje 
leer. Lieber Pſychoſen weiß man heute doch ſchon ein Bischen mehr, als Herr 
Dr. Roſinski zu ahnen jcheint. Merfwürdig: fchon ſpotten verftändige Aerzte 
jelbjt über den modischen Aberglauben anSpezialiftenweisheit, überden Wahn, 
der Naſendoktor habe die Finger von Diundund Ohren zulaffen; und in dieſem 
Rieſenprozeß, zudem, ohne Furcht vor den Kloften, aus drei Reichen die Zeugen 
herbeigefchleppt erden, tritt als pſychiatriſch Sachverftändiger ein Praftifcher 
Arzt aus Wronke auf. Ein offenbar kluger Herr, der aber, als Iſabella noch 
unbehelligt im Scjloß befahl, feine Diagnofe tief in des Bufens Tiefe ver- 
barg. Am erjten Verhandlungtag hatte die Gräfin gerufen: „Dr. Roſinski 
war immer von meine beiten Freunde!“ Diele Frau hat wirklich mehr Bha » 
tafie als Sinn für die Realitäten des Lebens. Der Freund fand fie fittlich ır. > 
ſeeliſch morbid und eines gemeinen Verbrechens fähig. Oder find auch fen ı 
Gedächtnißbilder nicht ganz zuverläffig? Sah er die Hochgeborene erft, fe t 
fie angeflagt ward, in der Schredienstammer ber Abnormitäten? Ehe. : 
wieder Spazirgänge als Sadjverftändiger unternimmt, ſollte er. ben Mäthje 


Prozeß Kwilecka. 359 


fragen der retroaltiven Suggeftion nachdenken. In Mußeftunden daneben 
einfältiglic) erwägen, was dem Hausarzt erlaubt, was verboten ift. 

Die vierte Erinnerung führt zu dem trüben Tag zurüd, deſſen furzer 
Lichtſchein Hektors perjönliches Majoratsrecht im Lethe verfinken ſah. Donars 
Tag, des Gewittergottes. Der Himmel pechſchwarz bewölkt. Die Geſchwo⸗ 
renen fehen ſchon gar nichts mehr. Plötzlich wirds hell. Coup de foudre. 
Herr Steinbredit, derden Titel (nicht das Amt) eines Erſten Staateanwaltes 
mit niederfächfiicher Würde trägt, hat die Schlußfenfation, dielängfterharrte, 
ausden Falten der Robe geſchüttelt. Das Licht kam, natürlich, von Diten. Aus 
Warſchau. Dort — dentit Du auch noch dran, lieber Leſer? — Icbte und ftarb 
die Hebamme Ewell, die dem Schoß der Gräfin den ftreitigen Knaben entband. 
Wirklichentband? Bisheutemufßtemansglauben. Runaber... Der Staat3s 
anwalı hat Herrn von Tresckow, den eleganteften, weltmännijchiten der ber⸗ 
liner Kriminallommiljare, heimlich nad) Warſchau geſchickt, auf daR er den 
Cohn der Madame well vernehme, und diefer Sohn hat Wunderdinge ent- 
hüllt. Seine Mutter ſei im Januar 1897 in Berlin geweſen, bald aber krank 
und oynedaserhofftehohe Honorar heimgefehrt ;jic habe der Gräfin das Kind 
nicht entbunden, auch nicht gewußt, ob und welcher Erſatz in die Kaiſerin 
Auguita-Straße74geholt ward, und auf dem Sterbebett noch, leider zu ſpät, 
den Wunſchausgeſprochen, ihre Seelevon einem Geheimniß zuentlaften. Alles 
horcht auf. Der&laubeandıe Finalüberraſchung, dBielommen werde, kommen 
müſſe, hat alſo nicht getrogen. Iſt die warſchauer Botſchaft erweislich wahr, 
dann iſt die Angeklagte im wichtigſten Punkt auf einer Yüge ertappt; dann 
gabs, ohne Entbinderin und ohne Arzt, keine Entbindung. Iſabella blickt zur 
Saaldede empor; mıt dem Augdrud jpöttiicher Nejignation, mie in einem 
Pflichtkonzert, während Stümper ihr Wefen treiben. Wieder was N:uesalfo; 
vor den Jüngſten Tag wird die Sadje wohl nicht mehr enden. Herr Zbigniew 
hat in feinen Schalltrichtern offenbar nur einen Theil der neuen Mär aufges 
fangen; blinzelnd jchaut er nach rechtS, nach links und fcheint fragen zu mollen, 
ob in dieſem merkwürdig altmodifchen Dielodrama denn zwei Sterbebetten auf 
die Bühnegebracht werden. Rechts und linfSaber, vorn und Hinten iſt Alles in 
froher, in bangerBewegung. Die Cwell wars alſo nicht ! Jetzt geht die Geſchichte 
ſchief. Habt Ihr auch gehört, wie der feine Tresckow erzählte, dem Sohn der Heb⸗ 
amme ſei für ſeine Ausſage Geld angeboten worden, dreitauſend Rubeh und noch 
mehr? Die Vertheidiger fordern in unſicherem Ton eine Pauſe, um über die neue 
Wendung zu berathen. Ein Geſchworener verlangt die Feſtſtellung der Perſon, 
die das Geld geboten habe; wenn ſie den Angeklagten befreundet war, müſſe 


860 Die Zuhmft. 


Etwas zu vertufchen geweſen fein. Nach der Anficht des Herrn Steinbredht ifi 
ber Berjucher nicht fern: Herr von Koczorowsfi wars, ein Syntimer von Wro⸗ 
blewo ; ruhigen Blutes fpricht der Staatsanwalt den Berdacht aus, deſſen Be⸗ 
ftätigung einen unbefcholtenen Edelmann ins Zuchthaus bringen lönnte. Auf 
jeden Fall muß der Sohn der Hebamme schnell nach Berlin. Der Gerichtshof 
befchließt, ven Mechaniker Thomas Cwell und defien Ehefrau Magdalena für 
Montag vorzuladen und bis dahin die Verhandlung auszufegen. Montag alfo 
wirds endlichtagen. Aufder Treppe, die, anden Schöffenniederungen vorüber, 
ins Freie führt, funmt der unbelehrbare Nörgler: „In einem Omnibus ſaß 
ein Mechanitus... Der Mann will entweder aus einer der beiden &rafen- 
familien raſch noch ein Bischen was Blankes herausfigeln oder nur gratis 
mal die Reichshauptſtadt deuticher Intelligenz beſehen; vielleicht auch das An⸗ 
benten der lieben Dlamavon Schmugfprigern ſäubern und fi vor Ver wandt⸗ 
haft und Kundichaft wichtig machen; bequeme Reklame: auf preußijche 
Staatstoften. Ganz ausgefchlojjen,baß er jet noch Enticheidendes zu jagen 
bat. Aber auf drei Retourbillets Warſchau-Berlin nebft Gebühr für zwei 
neue ausländische Zeugen kommts nun aud) ſchon nicht mehr an. Und welche 
Wendung durch Tresckows Fügung! Bis heute früh gehörte die Cwell zum 
Abſchaum der Menfchheit. Ein wüſtes Weib; berüchtigte Bordellwirthin; 
für ein paar Rubel zum Schändlichiten, zu jedem verbrecherifchen Schwindel 
bereit. Das war Monate lang ein Eckſtein der Anklage. Dieſe beſcholtene Ber: 
fon, diefes allerliebfte Schmutzpflänzchen importirt die Gräfin aus Ruſſiſch⸗ 
Polen, um eine zuverläffige Hehlerin ihres Truges zu haben. Der Edftein 
Ioderte fich auch nicht, al von der warfchauer Polizei gemeldet wurde, die 
Cwell fei eine ordentliche Frau geweſen, gegen die nichts vorgelegen babe. 
Polakenflauſen. Das kennt man fon. Fünf Rubel: und ſolcher Tſhinownik 
giebt jedes gewünſchte Atteſt. Und nun Ver wandlung bei offener Szene. Die 
jelbe& well wird zur Ehrenfrau, deren Ausſage lauteres Gold iſt. Wahrſcheinlich 
hat ſie die Krankheitdamals nurfimulirt, um nicht an einem Verbrechen mit⸗ 
wirken zu müſſen. Dieein Borbeil halten? Lächerlich. Siebefommtein Sterbe= 
bett undein ganz befonders zartes Gewiſſen und die Königliche Staatsanwalt⸗ 
Schaftiftentichloffen,igr den Himmelzuöffnen. Montag kanns Iuftigiwerden!*.. 
Es wurde n.cht luftig. Das Ehepaar Cwell war pünttlich zur Stelle, hatte 
aber nichts Beträchtliches zu erzählen. Mama hat den Kindern aus Berlin 
nichts mitgebracht und, um nicht knickerig zu jcheinen, behauptet, fie ſei vor 
der Entbindung erkrankt und mit Inapper Entſchädigung heimgeſchickt wor» 
den. Sohn und Schwiegertochter hieltens gleich für eine Ausrede. Much mit 


Prozeß Kıvileda. 361 


dem Sterbebett ift nichts anzufangen. Die Frau wollte ihren Thomas noch 
einmal fehen; doch von einem Geheimniß und von Gewiffensbiffen war nie» 
mals die Nede. Die dreitaufend Aubel hat Herr Hechelski, Hektors Vers 
trauensmann, dem Mechaniker angeboten; er wollte jogar bis zu zehntaufend 
gehen. Herr von Koczorowsti hat alle Annäherungverjuche abgelehnt. Nies 
mand giebt diefem grundlos Verdächtigten eine Ehrenerllärung. Niemand 
fragt Ban Hechelsti, wer ihm geftattet habe, über ſolche Summen zu ver: 
fügen. Niemand fcheint für möglich zu halten, daß ein Privatipigel, der für 
eine Ausſage zehntaujend Rubel anbietet, den Zeugen zum Meineid verleiten 
will und, als eines im 8159 StGB mit Zuchthaus bedrohten Verbrechens 
dringend verdächtig, in Haft genommen werden könnte. Niemand. Der Fall 
Ewellifterledigt. Die ſcham loſe Kupplerin verfchwindet ; nur die „der Gräfin 
gänzlich unbefannte Hebamme” bleibt und genügt am Ende auch für die 
Plaidoyerbedürfnijfe. Das Licht aus Often Hatnicht langegeleuchtet. Immer⸗ 
hin fieht jeßt auch ein myopifches Auge, auf welchen Zragbalfın die Anklage 
ruht. So unerſchütterlich waren die, Feſtſtellungen“ der StaatSanwaltichaft, 
daß jchon das wirre Echo eines Kleinleuteklatſches ausreichte, um die Yeft- 
ſteller ſelbſt ins Wanken zu bringen. Zwei Brofurotoren waren bereit, die ver- 
blicheneftabelentbinderinauffeurigen Armen inden®lorienhimmelzu heben. 
* * 
æ* 

Die vier Szenen aus der langwierigen Kriminallkomoedie wurden hier 
ausführlich erzählt, weil fie paradigmatijch beweifen, wie viel überflürfige Ars 
beit in dieſem Prozeß geleiftet ward; nur paradigmatifch: leicht wären zwei 
Dugend ähnlicher Vorgänge anzuführen. Drei Viertel aller Zeugen, aller 
Koſten, allen Zeitaufwand Ss waren zwecklos, fonntın unterfeinen Umftänden 
die Entſcheidung der Richter determiniren. Tage lang wurde verhört und vers 
Bantelt, um feitzuftellen, ob eine Frau von fünfzig Jahren noch gebären fönne 
undobim vierten, fünften Monat der angeblihenSchwangerfchaftin den Hem⸗ 
ben der Gräfin Menftrualblutflede gefunden worden jeien. Jedes Handbuch 
der Gynäfologie konnte ſchon im Vorverfahren die nöthige Auskunft geben. 
Und wer das furiftifche Staatseramen beftanden hat, ſollte, ehe er fic an den 
Richtertiſch jet, eigentlich auch jo viel Medizin gelernt Haben, daß er weiß: bis 
zum Eintritt derDienopaufe kann, während der ganzen Zeitdauer der Men⸗ 
ſtrualfunktion, imbefruchteten Schoß einer fonftgebärtüchtigen Frau ein Kind 
wachen. Die Katamenialblutungen ſprächen alfonıchtgegen, jondern jehrlaut 
fürdie Möglichkeit der Schwangerſchaft; laut ſogar noch, wenn jie wirklich bis 





362 Die Zukunft. 


in den fünften Monatgebauert hätten. Spiegelberg rechnet in feinem Lehrbuch 
der Geburthilfe dag Aufhören der Menſes nicht zu dem ficheren Zeichen der 
Schwangerſchaft; dieſes Zeichen, jagt er, ift zwar werthvoll, kann aber fehlen 
oder fo undeutlich fein, Daß es nicht zur Diagnoſe zu benugen ift. „In ſeltenen 
Trällen erfcheint eine Blutung noch nach der Konzeption einmaloder mehrere 
Male; gewöhnlich in fh wachen Grade und unregelmäßig; doch liegen: auch 
Berichte von Weibern vor, die nur während der Schwangerſchaft menftruirt 
geweſen fein ſollen ... Die Mehrzahl ſolcher Abgänge ift nur pathologiicher 
Natur und häufig ſtammt das Blut nicht aus dem cavum uteri, jondern 
aus Erofionen und Gefäßeltaften des collum.” vaienirrthum aljo leicht mög: 
lich. Haben die am Prozeß Kwilecka beiheiligten Herren nie von den Yaımen 
der regles surnumeraires gehört, von den Hämorrhagien, die als Folge von 
Uteruemyom auftreten, von all den Genitalblutungen, die mitder Menftrua 
tion nicht3 zu thun haben? In ihrer eigenen Familie nie von Frauen, deren 
Menfes noch famen, als der Leibesumfang ſchon unzweideutigdie Schwangere 
verrieth ? Daß eine Frau über Fünfzig Mutter wird, tft nidit alltäglich; doch 
auch nicht unerhört. „rauen von fünfzig, ja, von ſechzig Jahren haben noch 
Kinder geboren“, ſagt der berliner Gynäkologe Profeſſor Gebhard in Veits 
Handbuch. Barker hat von einer Achtundfünfzigjährigen berichtet, der ein Kind 
entbunden wurde. Depaſſe hat 1891 den Fall einer grossesseäcinquante- 
neuf ans beſchrieben. In Eulenburgs Realencyklopädie der Heilkunde giebt der 
prager Profeſſor Kiſch das Reſultat der Unterſuchungen, die er an fünfhundert 
Frauen verſchiedener Nationalität vorgenommen hat; davon kamen hundert⸗ 
undſechs erſt nach Vollendung des funfzigſten vLebensjahres ins klimakteriſche 
Alter; in neunundachtzig Fällen trat die Menopauſe zwiſchen dem fünfzig- 
ſten und dem fünfundfünfzigſten Lebensjahr ein; „in den nördlichen Ländern 
im Allgemeinen päteralsinden ſüdlichen.“ Als wichtig gilt: Raffe, Berebung, 
Klima, Beginn der Pubertät, äußere Yebensverhältniffe; mit ſchwerer Arbeit 
bepackte Frauen pflegen früher ing Rlimafteriumzufommen als reiche müßige 
Damen. Graf Weſierski-Kwilecki war 1896 zweifellos zeugungfähig, ift3 (er 
könnte feinetheuer bezahlteKeputation gefährdet glauben!) vielleicht heute noch. 
Die Gräfin hatte die Menſtrua, fonntealiogebären. Dagegen war mit Waſch— 
weibergeſchwätz nichts auszurichten. Freilich: „ Die Angeflagte hat feinen Arzt 
zugezogen". Höchft verdächtig. Warum dennverdächtig? Braucht eine yrau, 
deren Schwangerjchaftnormalverläuft,durchauseinen Arztundiftdie Unter» 
ſuchung des Uterus ein ſolches Vergnügen, giebt fieauch nurfolcheBeruhigung, 
daß die nach dem goethiſchen Wort doppelt Schöne, in der zwei Leben wohnen, 


a 





Prozeß Kroileda. 363 


ſich danach fehnen follte? Die Anllage fand einen ohne die Annahme böfen 
Trachtens unerklärlichen Widerſpruch darin, daß Iſa gejagt Hatte, fie reife 
nach Berlin, weildortgute Frauenärztezuhaben feien, und dann doch den Pro⸗ 
feffor Renvers, den ihr Herr von Jazdzewski empfahl, nicht rufen ließ. Der 
Schwurgerichtspräfident fam über diefen ungeheuerlichen Widerfpruch (ohne 
dasimmerparate Wort Widerſpruch“ gäbe es für unfere Alltagsfriminaliiten 
überhaupt feine Beweigaufnahme) gar nicht hinweg. Merlwürdig. Eine Frau 
kann wünfchen, in ihrer fchweren Stunde für den Nothfall berühnte Spes 
zialiften in der Nähe zu haben, und braucht jie, wenn in der Wochenftube 
Alles glatt geht, dennoch nicht rufen zu lafien. Vom Nollendorfplat, wo Pro⸗ 
ſeſſor Renvers wohnt, dauert der Weg in die Kaiſerin Augufta-Straße fnapp 
fünf Minuten. Gynäkologen jeglichen Ranges find durchs Telephon rafch 
herbeizuflingeln. Ganz jo bequem hat mans in Wroblewo nicht. Darbende 
T oftorenerjehnen vielleicht eine Beftimmung, die jede Schwangere verpflichtet, 
beim Beginn der Wehen einen Arzt „zuzuzichen” (auch ein hübſches Wort; 
Sprachgebrauch: Er bat fid) eine Krankheit und dann einen Arzt zugexogen). 
Noch aber ift ſolche Pflicht von feinem Geſetz vorgejchrieben ; noch gebären 
jelbft in civilifirten Yändern gewiß neun Zehntel aller Frauen ohneärztlichen 
Beiſtand; noch hält man das Reifen und die Erpulfion des Kındes für einen 
natürlichen Prozeß, der den gelehrten Helfer erft fordert, wenn die Puerperal. 
borgänge vonder Normabmeichen. In Wroblewo warenerwachjene Töchter, 
vor deren neugierigem Auge eine fünfzigjährige Mutter ſich nicht gern ing 
Wochenbett legt; war ein franfes Faltotum, eine Hausfranzöfin, deren Ges 
breiten die Gräfin nie recht zur Auhe kommen ließen; war, wenn Kompli⸗ 
fationen eintraten, ein namhafter Spezialarzt nicht ohne gefährlichen Zeit: 
verluft herbeizuichaffen; und eine nervöſe Dame, deren higiger Phantafie 
während der Schwangerichaft alle Hemmungen fehlen, konnte wohl zu der 
Siwangsvorftellunggelangen, die feindliche Ewilczer Linie werde die Möglic)- 
feit finden, in Wroblewo dem Kind oder der Mutter ein Reid anzuthun. Srüns 
de genug, nicht zu Haufezu bleiben; zumal für die launıfche,ercentrifche, reife 
Iuftige Jſabella. Ein Wochenſchwindel war, unter Affiftenz der in folchem 
Geſchäft erfahrenen Hebamme Oſſowska, auf einem entlegenen polnijchen 
Gut leichter durchzuführen als im berliner Weſten. Die Gräfin nahm eine 
andere, al8tüchtigempfohlene Hebamme und bot ihren Hausarzt telegraphiſch, 
zu kommen; nur ihren Hausarzt: denn die „Zuzichung einer Autorität” war 
eben nicht nöthig. Das Alles konnte in der Borunterfuchung feftgeftellt wer» 
den und bot, als volllommen normal, nicht das geringite Verdachtsmoment. 


364 Die Zufunft. 


In der Borunterfuchung hat auch die Amme, gegen deren Beugniß fein Bes 
denken ſprach, ausgefagt, das Kind, das ihrer Bruft anvertraut war, ſei ohne 
Zweifel ein neugeborenes gewefen; fie jelbft Habe das Würmchen von dem 
meconium, dem Kindspech der erften Lebensſtunden, gefäubert und es habe 
erft ordentlich getrunfen, als ihm von Roſinski das Zungenband gelöft war. 
Der Abgeordnete Propft von Jazdzemwsti, der Hunderte von Kindern getauft 
hat, erklärte mit äußerfter Beftimmthelt, der Knabe, deſſen Leib er als Täufer 
betaftete, fönnenurein paar Tage vorher geboren worden fein. Während des 
Geburtaltes war Iſas Tochter neben, Iſas Freundin auf der Schwelle der 
Wochenſtube geweſen. Wenn diefe Ausfagen nicht durch neue Gravantien er» 
ſchüttert ſchienen, konnte der ganze Fragentompfex für die Hauptverhandlung 
nicht mehr erheblich fein. Und, nur nebenbei: ift Humanität, Ritterlichfeit, 
Germanenkeuſchheit — und mie die [hönen Zierwörter noch heißen mögen — 
in Gerichtsfälen denn zum leeren Wahn geworden? Iſts nöthig, vor den 
Kindern, den Feinden, der Iungernden Senfationiucht das Geſchlechtsleben 
einer Angeklagten, Gräfin oder Taglöhnerin, zu entjchleiern, wenn diefe Er 
hibition für die rechtliche Beurtheilung des Thatbeftandes doch werthlos 
bleiben muß, dem Erfenntniß juchenden Richter nicht den Weg weifen kann? 
Eben fo unerheblid) war der aus Paris eingeſchleppte Plunder. Eine 
Dame hat 1896 bei einer Iutctifchen Hebamme ein Kind zu kaufen gefucht; 
fein irgendwie ernft zu nehmendes Indizium fpriht dafür, daß Iſabella 
Kwilecka dieieDame war; höchſt unwahrſcheinlich, daß eine Polin einen Gallier⸗ 
baſtard in ihre Sippe ſchmug zeln will. Thut nichts: die Hebamme wird auf 
Staatstoften nad) Berlin fpedirt. Sieht die Gräfin und fagt: Die wars nicht. 
Wird der Quark nun wenigftend weggeräumt? Nein: er wird in der Haupt» 
verhandlung noch einmal aufgetiſcht, würde vielfeicht als ein beſonders feiner 
Leckerbiſſen empfohlen, wenn die sage-femme nicht fo weiſe geweſen wäre, 
für die zweite Fahrt nad) Berlineine Entf hädigung zu fordern, deren Höhe ein 
preußiiher Staatsanwalt nicht zu verantworten wagt. Natürlich wird nicht 
das winzigfte Butterfügeldhen gefunden. In der felben guten Stadt Paris 
hat im felben Jahr eine Ausländerin einen Gummibauch gefauft. Auch hier 
iſt jede Moͤglichkeit, die Jdentrtätfeitzuftellen, von vorn herein ausgefchloffen, 
trogdem ein Freund Hektors, des Allumfaſſers, Maler von Metier,anderSeine 
als Amateurdeteltive in der Sache eifriggearbeitet hat. ZurHauptverhandlung 
aber wird auch für diefes Beweisthema aus Paris ein nicht klaſſiſcher, doch ro⸗ 
mantifcher Zeuge geholt, das Gerede ſpinnt ſich über Stunden Hin, halbe Tage, 
unddas Ergebniß ift, wıc zuerwartenmwar: Null. Was bleibt noch? Eine De 


Prozeß Kwileda. 365 


pejche, deren Rortlautneben der harmlofeften auch eineüblere Deutung zuliehe. 
Aber die Angeklagte kann nicht Hipp und klar angeben, warum fie 1896 über- 
haupt nach Paris gereift ift. Ungemein verdächtig. Einer polniſchen Gräfin, 
die den Werth des Geldes nie wägen lernte und von der rage du chiffon 
beſeſſen ift, darf man gewiß nidjt zutrauen, fie jei jo weit gereift, nur um bie 
Boulevards und die Läden der Aue be la Paix wiederzufehen, ſich zu amus 
firen und die neuften Errungenſchaften der Kosmetiler heimzubringen. Noch 
verbächtiger: fie weiß 1903 nicht mehr, wo fie 1896 in Paris gewohnt Hat. 
„Aber, Frau Gräfin, wollen Sie ung im Ernſt...?“ Bald danach erzählt 
der Zeuge Rofinsti, er habe Namen und Straße des berliner Hotels ver» 
geſſen, in dem er 1897 abgeftiegen jei. Niemand horcht erftaunt auf; ein 
Zeuge, fein Angellagter! Und wenn die Gräfin nım wirklich in Paris Etwas 
zu verbergen gehabt, fich unter faljchem Namen einquartirt hätte und jet 
Gedächtnißfchwäche heuchelte, weil ſie ihrer Familie gern verfchweigen möchte, 
was damals geihah? Wäre damit das Geringfte für eine Kindesunter; 
ſchiebung bewiefen? Kann jelbft der Sauberfte jedem Schritt, den er einmal 
that, von Millionen Augen nachjpären lafjen? Und willen unfere Krimi- 
naliften nicht, nach Pitaval, Richer, Feuerbach noch immer nicht, wie oft dag 
einzelne Verdachtsmoment den Betrachter narıt? So lange nad) Jean Paul 
nicht, daß feltfamere Zufälle, als die reichfte Phantafie der Romanſchreiber 
auszufinnen vermag, das paufenlos dichtende Leben erfindet? 

Sie wiffen, wenn fie im ſchwarzen Talar auf dem Richterftuhl figen, 
von diefem Peben nicht viel. Im Prozeß Sternberg hielt der Vorſitzende für 
ganz unglaublich, daß eine Proftituirte den Namen eines Kunden nicht kenne, 
der mehr als einmal zu ihr gelommen ſei; der alte Herr glaubte wohl, auch 
ſolchen Damen jchide man vorher die Bifitenkarte ing Zimmer. Im Prozeß 
Kwileda erlebten wir noch höhere Wunder. Das Unzulängliche ward Er: 
eigniß ; Unmögliches fand schnell willigen Glauben. Die Gräfin hat Tücher um 
den Leib gewidelt, Schrotbeutel, einen Gummibauch — Alles zufammen oder 
der Reihe nach? — und neun Monate lang durch geheuchelte Schwanger: 
ſchaft die Erfahrenften, Mütter und Großmütter, getäufcht. Sie hat aus 
Wroblewo in Bordeaurflajchen Schweineblut, aus Krakau eineNabelfchnur 
nebft Nachgeburt nach Berlin gefchafft, mit ſchrillem Gekreiſch fünfftändige 
Wehen marlirt, vor zwei verheiratheten Srauen, vor Amme und Hausarzt 
mit vollem Erfolg die müde Wöchnerin gemimt. Am Kneiptiſch, beim Balls 
flat würde der Richter jolche Erzählung ins Fabelreich weifen. „Seit fieben 
Fahren jchleicht daS Geraun über ein Hintertreppendelift durch die Leute⸗ 


866 | Die Zukunft. 


fammern zweier polnischen Rittergüter: fein Wunder, wenn der Klatſch ind 
Rieſenmaß wuchs. Laßt mid) in Frieden! Einer Frau, die man genau kennt, 
fieht man, auch ohne den Bauchumfang zu mefjen und ben Foetalpuls zu 
fühlen, an, ob fie in anderen Umftänden ift; meift ein ganz verändertes Ge⸗ 
fiht. Die Ausftopfung allein thut es alfo nicht. Wer diefe Bantomimil ſo 
lange, ohne fich je zu vergejien, vor mißtrauifchen Blicken durchführt, könnte 
ſich für Geld jehen laſſen. Und nun gar die Buerperallomoedtenor Amme und 
Arzt, das Schweineblut, der krakauer Import, — nein: lieber noch her mit 
dem Blumenmedium. Die nächſte Wunde!” In foroiftsanders. Da ſchweigt 
der ſchlichte Menichenverjtand, das Unterfcheidungvermögen ſchwindet und 
aus dem Dunkel taucht, nur von irren Flämmchen uralten Aberglaubens 
noch umzuckt, die Kolportagewelt mit all ihren Wonnen und Schredeen, ihren 
roftgen Engelchen und pechichwarzen Teufeln. Alles Menſchliche wird fremd. 
Kann ein Engel das Kind eines Teufels fein? Sicher; Hugo, Sr, 
D’Ennery haben mit ſolchen Rontraften gern die Nerven gerüttelt und in den 
Groſchenheften wachen auf Mifthaufen immer die weißeften Lilien. Auch 
dieſes Schaufpielesdurften wir und in Moabit freuen. Aniela Andrufzemste: 
eine Beitie; Jadwiga, ihr Töchterlein: die Bier jeder Menſchengemeinſchaft 
Aniela hat das Kind nebſt Zubehör in Krakau eingehandelt, nach Berlin gebracht 
und auf dem Sterbebette die Tochter verpflichtet, dem Grafen Hektor das Furcht⸗ 
bare zu melden. Trotz dem Gelöbniß hat Jadwiga zwei Jahre gewartet und, nach 
erfüllter Kindespflicht, viel von dem großen Stück Geld geredet, das fie be 
kommen werde, befommen müffe. Sie ift mit Hechelsft, Heftors Spürhund, 
verivandt, hat mit feiner Hilfe ihr Beihtiprüchlein zu Papier gebracht; und 
brauchte, mitihrem halb eingedriliten, halb wirren Geſchwätz, ernften Maͤn⸗ 
nern nicht dieBeit zu ftchlen. Im Schwurgerichtsfaal hat fie die Hauptrolle. 
Ungefähr Johannes vor Herodias und dem Tetrarchen. Was fie jagt, iſt un 
zweifelhaft wahr, wer ihr frevelnd widerspricht, des Meineides dringend ver 
Dächtig. Kann gar nod) feftgeftellt werden, daß Mutter Aniela im Januar 
1897 vier, fünf Tage lang nit in Wroblewo war, dann find Kwileckis und 
Genofien verloren. EinSchod Zeugen zu diefer hochnothpeinlichen Frage., Die 
Alte war da." „Die Alte kann weggeweſen fein.” „ch erinnere mich nicht." 
Und wenn fie num verreiftgemejen wäre? Das hätte, Hoher Gerichtshof, au 
noch nichts bewiefen. Das gab nicht einmal hinreichenden Grund zur Eroͤ 
nung des Hauptoerfahrens. Zu bemeifen mar, daß die Gräfin Wefierdt ' 
Kwilecka nicht geboren, in gewinnfüchtiger Abficht ein Kind unterſchob 
hatte. Wenn andere haltbare Indizien fehlten, bewies eine Reife der Wir ' 





Prozeß Kwileca. 367 


ſchafterin gar nichts. Und doch hätten die Geſchworenen die Schuldfragen 
wahrſcheinlich bejaht, wenn dieſe Reiſe ihnen glaubhaft gemacht worden wäre. 
„Gott, Gott, auf welchen Fundamenten ruht die menſchliche Gerechtigkeit⸗ 
pflege!” Hebbels Wehruf ſoll nie verhallen... In der aluſtiſchen und op⸗ 
tiſchen Wolle, die in heißen, von keuchender, ſchwitzender Menſchheit über⸗ 
füllten Schwurgerichtsſälen entfteht, wird jede Schallirrung, jede Luftſpie⸗ 
gelung möglich. Wie Altoholdunft legt ſichs um das Hirn. Als ich, ſchon in 
ber erften Woche, über den Inbegriff dieſer Verhandlung leiſe zu lachen wagte, 
ftarrten die Nachbarn mich beinaheentfegtan. Sie warenim Raufch. Später 
haben fte auch gelacht. Zu Ipät. Hätten die Zuhörer, die Preßgloffatoren — 
und namentlich die Vertheidiger — bie Hechelskiade früher lomifch genommen: 
die Schauermär wäre nicht vierzehn Tage lang lebensfähig geblieben. 

Drei Biertel der Beweisaufnahme waren zwedlos, mindeitens drei 
Bierteldes Koftenaufwandesnutlos verthan. ALS Iſa ich fürs legte Wochen- 
bett vorbereitete, ließen die Verbündeten Regirungeneine Strafprozeßnovelle 
fcheitern, weil der Reichstag die Berufunginftang mit fünf, nicht, wie fie vor» 
fchlugen, mit drei Richtern befegen wollte. Fünf: Das würde zu theuer. Ich 
glaube, daß die ergebnißloſen Prozeſſe gegen die Direltoren der Bommern» 

bank und gegen Kwileckis den preußischen Fiskus größere Summen geloftet 
haben, als der 1896 verweigerte Mehraufwand im ganzen Reich für zwei 
Etatsjahreverjchlungen hätte. Und der Servilfte felbft wird nicht jagen, dieſes 
Geld habe ven Ruhmesglanz deuticher Rechtspflege gemehrt. 


% * 
* 


Die öffentlich Meinenden haben den Staatsanwalt Dr. Müller zum 
Sündenbod erwählt. Einen ſehr jungen Herrn, der im Pommernprozeß 
noch als Affeffor dem Staatsanwalt Bee half und dem die Vorgejetten 
wohl befondere Fähigkeit zutrauen müſſen, da fie ihn jet fchon zum Haupt- 
vertreter einer jo weithin interejfirenden Anklage beftellten. Das Vertrauen 
ſcheint mir beffer begründrt als die Anklage. Herr Dr. Müller ift nicht fo, 
wie er in den Zeitungen ftcht. Gar nicht fchneidig, fein Profuratoreniypus; 
nicht einmal eigentlich preußiich. Er macht den Eindrud eines für Strafges 
richtSverhältniffe ungewöhnlich foignirten, der fröhlichen Wiffenfchaft nicht 
fremden Herrn, der in reichen Häusern verkehrt und großfaufmännifch fühle 
Höflichkeit Schäten gelernt hat. Vielleicht hörte er als Neferendar noch Herrn 
Fritz Friedmann plaidiren und merkte, welche erfriichende Wirkung diejer 
unerſetzte Stimmungmadjer aus einer jalopp fcheinenden und doch ſchlau be- 


368 Die Zu kunft. 


rechneten Redeweiſe zog, die ſich nach der ſteifen Kriminalſprache ausnahm 
wie im Mumienkabinet ein lebendiger Menſch. Auch Herr Dr. Mäller liebt 
Wendungen, die man in Bankbureaux und Kaffeehäuſern öfter Hört als in Alt⸗ 
moabit. Er ift nicht grob, nicht hochfahrend, nicht unnahbar und hat nicht dem 
Ehrgeiz, die Angeklagten zu beleidigen. Das iftleider fchon viel. Dabei offenber 
intelligent und von dem Streben geleitet, piychologiidye Zufammenhänge zu 
ertaften. Während der Beweisaufnahme war er ruhig und höflich ; Faft jede 
Trage Hug vorbedacht. Ins Plaidoyer glitten freilich faljche Metaphern umb 
ſchlimme Behauptungen; die jchlimmfte war wohl, daß jedes Civilgericht nach 
ſolcher Verhandlung gegen die Gräfin enticheiden würde (fein einziges; bie 
„Civiliſten“, die ja noch Syuriften find, hätten fich auf dieſe Bemeisanträge gar 
nicht erft eingelaffen). Das bliebe verzeiblich, felbft wenn es für ben Verlauf 
der Sache nicht belanglos geweſen wäre. Ein blutjunger Beamter, der feinen 
zweiten Rieſenprozeß entgleifen ſieht und fürchten muß, daß liebe Kollegen 
morgen fein Kindspech beiwigeln... Trotz mandyemblunder hat er in beiden 
Fallen wirkfamer plaidirt als die älteren Herren, neben denen er faß. Lind 
Herr Steinbredit, der fi) von Altona aus wohl durd) unerichante Talente 
für Moabit empfahl, hat jeden Fehler des Sfüngeren redlich mitgemacht. 
Unfaßbar, unbegreiflich wie ein Räthſelbild aus weltenfernen Kultn⸗ 
ren war mir nur der Eifer, den beide Herren aufboten, um vier Menſchen 
ins Zuchthaus zu bringen. Zwei Männer, die al8 Privatperjonen gewij 
eines Spätchens Flügellähmung mitleiden, ihrem Dienftmädchen nicht ohm 
zwingenden Grund einen Sonntagsausgang verbieten würden. Ich muß 
annehmen, daß fie von der Schuld der Angeklagten überzeugt waren. Doch 
fonntefich, mußte nicht in diefe Heberzeugung manchmal wenigftens ein Zwei⸗ 
fel drängen? Berryer, nur ein Advolat, deifen Hilfe aber von Louis Napo⸗ 
leon und Ney, von Lamennais und Chateaubriand geſucht ward, und, Alles 
in Allem, ein Dann, hat gefagt: Il vaut mieux laisser dix coupubles 
en libert& que de frapper un innocent. Schien den Staatsanwälten 
nicht einen Augenblic möglich, daß die Gräfin, der Graf, die Dienerinnen 
unfchuldig fein? Niemals, beim Kaliber diefer Zeugenfchaar? Welche Prau⸗ 
gerftrafe hätte fie jchimpflich genug gedünkt, wenn, etwa in einem Meineids⸗ 
progeß, diefe Bölfer zur Entlaftung Beichuldigter vorgeſchickt worden wären? 
CaecilieBarcza. fahre lang dieLuſtdirne (jo reden Staatsanwälte ſonſt oft von 
jolhen Dlädchen) einesOffiziers,derihre Zärtlichleiten bezahlt. Ein entmenſch⸗ 
te8 Gejchöpf, das jein Kind (hier macht fich ber Hinweisaufbie Lowin und ihr 
Junges gut) für ſchnödes Geld verfchachert, fich nie mehr drum lümmert und 





Prozeß Kmileda. 369 


das Muttergefühl erft entdeckt, als wieder Geld zu verdienen fcheint. Würde 
eine redhte Mutter, meine Herren Geſchworenen, nicht Hundertmal lieber auf 
alles&lüdverzichten,als ihrigleiich und Blutaus dem Glanz einer Grafen herr⸗ 
Ichaft in die dumpfe Bahnwärterhütte holen? (DieBarbara in Hebbels „De- 


metrius“ ift wirklich aus cdlerem Stoff als diefe unbeilige Taecilie). Frau _ 


Oſſowska. Eine Berjon, die, weil die Sache verjährt ift, ſchamlos gefteht, daß 
fie an einer Kindesunterjchiebung mitgewirkt hat, die auf Kaffibern von den 
Summen ſpricht, die ihre Ausſage ihr eintragen wird, und der Gottes Finger 
das Schandimal auf die Stirn gebrannt hat. Jadwiga Andruſzewska. Eine 
Hyfterifche, die nicht weiterfann, wenn ihre Textwalze abgeleiert ift; die von 
der eigenen Schweiter des Meincides bezichtigt wurde; eine Kreatur Hech 
elsfis, die auf das zu erwartende Sündengeld ſchon Schulden gemacht hat. 
Hechelskiſelbſt, der als gewerbmäßiger Verleiter zum Meineid längft ing Zucht⸗ 
haus gehört. Und dieſer Graf Hektor, der, ſtatt die Ermittlungen der zu⸗ 
ftändigen Stelle zu überlaſſen, feine Agenten mit voller Börfe durch Europa 
best und mit den feinen und groben Mitteln ber Korruption für einen Ver- 
mögenevortheil ficht! Solche Zeugriffe, nebft Waſchfraubaſereien und Heb- 
ammenklatfch, follen den blanken Ehrenſchild einer uralten Adelsfamilie, für die 
Standesgenofjen, Prälaten und treue Diener die Hand zum Schwur heben, 
auch nur mit dem Eleinfter Fleck beſchmutzen? Nein, meine Hirten, od)... 
Ungefähr fo wäre es gefommen. Und nun kein Zweifel, nicht das Teijefte Bes 
denken, wo vier Menſchenleben auf dem Spiel ftehen und das Schickſal eines Ge⸗ 
ſchlechtes entſchieden werden ſoll? Unſere Staatsanwälte find nicht mehr im al⸗ 
ten Wortſinn procureurs, deren Hauptſorge fein mußte, der Staatskaſſe moͤg⸗ 
lichſt viele Vermögenskonfiskationen und hohe Geldſtrafen zu beſcheren. Auch 
Kläger in der Bedeutung, wie noch die Karolina und der ganze Parteiprozeß fie 
kannte, find ſie heutzutage nicht mehr, ſondern auf dem Strafrechtsgebiet Ver⸗ 
treter der Staatshoheit und verpflichtet, die entlaftenden Thatbeſtandsmerk⸗ 
male mit nicht geringerem Eifer als die belaſtenden ansLicht zufördern Warum 
ſehen wirs jo ſelten und müfjen doch glauben, daß jeder Staatsanwalt ſeine 
Pflicht zu erfüllen ſucht? Suggeftion der Gewohnhett,die nurnoch Nummern, 
nicht Menſchen kennt und den Verdacht zur Gewißheit aufbläft? Berufskrank⸗ 
heit, wiedteBäderbeine und die Phosphornekroſe? In der, Rothen Robe“ fagt 
der Schwurgerichtspräfident zum Staatsanwalt: „Sie find aufgeregt; vers 
ftehe; vor dem erften Todesurtheil! Das giebt ſich mit der Zeit." Mag jein. 
Aber im Fall Kwileda, nach diefer Beweisaufnahme, nicht ein Blick auf die 
Fülle de8 Entlaftungmaterials, nicht ein armes Wörtchen, das die Unschuld 
29 





370 Die Zuhnft. 


der Angeklagten immerhin möglich erfcheinen läßt? Stattrurhiger Abwägımg 
ber Ergebniffe in fchroffftem Ton die Behauptung, jedem Juriften, jedem ver- 
nänftigen Menfchenfogar müffe ſolcher Beweiszum Schuldfpruch vollaufge 
nügen? Den Vertheidigern wird oft vorgeworfen, ſie dienten ber Honorirenden 
Partei, nicht derWahrheit, deren Bettlerblöße zur Honorantenrolle nichttaugt. 
Die Gefchmähten ſollten in einer SSahresftatiftik feftftellen Laffen, wie oft 
StaatSanmwälteinder Hauptverhandlung die Anklage zur ückgezogen oder min- 
deftens im Schlußvortrag die entlaftenden Umftände nachdrücklich betont 
haben. Der höchfte preußifche Orden trägt das Motto: Suum cuique; und 
patriotiſche Schreiber betheuern, dieſes Wort ſei ſtets Preußens Wahlſpruch 
geblieben. Bei Cicero, der es wirllich noch vor Friedrich dem Erften ſprach, hieß 
es: Justitia in suo cuique tribuendo cernitur. Der Urſprung ſcheint ver: 
geſſen. Markus Tullius und Ulpian werden nicht mehr geleſen. Noch heute aber 
iſt das ſichtbarfte Weſenszeichen der Gerechtigkeit, daß ſie Jedem das Seine giebt. 
Doch um nicht ſelbſt in den eben gerügten Fehler zu fallen, muß id 
auch hier die mildernden Umftände anführen. Als Inſtigator, als treibende 
Kraft, war Graf Hektor Kwiledi thätig. Ein ungemein gewandter Herr, da 
ohne Verlegung der Eidespflicht jagen fonnte, er glaube, daß die Ermittlungen 
— bie nad) Frankreich, Rußland, Defterreich führtenund gierige Gelchäfts- 
leute Monate lang in Athem hielten — ihn nicht mehr als fieben- bis adıt- 
taujend Mark gefoftet hätten. Ein Mann, der mit Anjehen und Bruftten 
jelbft Staatsanmälten zu imponiren vermochte. Am fiebenzehnten Berhand- 
lungtag war er, nad) fiebenjähriger Spürarbeit, feiner Sache noch ficher; am 
neunzehnten bat er der Gräfin die Verdächtigung ab, forgte aber dafür, dab 
den Geſchworenen die Abbitteerft nach bem Wahrfpruch befannt werde. Herzig 
nicht wahr? Er Hatte fich, recht plöglich, vonder Unſchuld feiner Verwandten 
überzeugt und wußte, daß an eine Berurtheilung nicht zu denfen war, went 
er die neue Ueberzeugung ſo offenmwie vorher diealte ausſprach. Das märe ja 
aberein Verſuch zur Beeinfluffungder Richter geweſen; und ſo was thut man 
doch nicht. Wurde die Schuldfrage von der Jury bejaht: dann konnte Hektor zu 
Iſaſprechen:, TheuresWeib, gebiete Deinen Thränenl Ich bat Dir geftern ſchon 
Alles ab“. Undzu den zürnenden Landsleuten: „An mir liegts nicht; ich habe 
Sehnen und Groll in des Lethe ſtillen Strom verſenkt; aber ſo ſind dieſe Preu⸗ 
Ben.” Glissez, poète, n'appuyez pas... Noch wichtiger mar, daß nach den 
Ergebniſſen der Vorunterſuchung gelehrte Richter den Verdacht, hinreichend 
gefunden und die Eröffnung des Hauptverfahrens beſchloſſen hatten.(Hoffent- 
lic) ändert die Strafprozeßreform die Beſtimmung, wonach die „Nichteröff: 





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Prozeß Kwilecka. | 371 


nung” mit thatfächlichen und rechtlichen Gründen, die Eröffnung nur mit 
der Feftftellung binreichenden Verdachtes zu motiviren ift. Denn biefe Be- 
ftimmungkann felbft gewiſſenhafte Richter auf ben Gedanken bringen: „Ganz 
klar ift die Sache nicht; lehnen wir, mit ausführlichen, alfo leichter anfecht- 
baren Motiven, die Eröffnung ab, dann geht der Staatsanwalt ans Be- 
fchwerdegericht und unfer Beichluß wird am Ende noch aufgehoben ; mag fich 
die Spruchkammer felbft Klarheit ſuchen.“ Auf die erkennenden Richter drückt 
dann aber ſchon wieder die Thatſache des Eröffnungbeſchluſſes, gegen den es 
übrigens nicht, wiegegen die Ablehnung, ein Beſchwer derechtsmittel giebt.) Und 
nun kamen nochdie Sachverftändigen. Herr Dr. Roſinski Hältdie Gräfin der 
Thatfürfähig. Herr Dr. Störmerglaubt nicht an die Entbindung. Der Titu⸗ 
Larprofeffor Dr. Dührffen, der, inder Stadt Olshauſens und Guſſerows, von 
Staatsanmwälten undhöheren Reportern als „gunäfologifche Autorität erften 
Ranges" angeftrahltwerden kann, ift beinahe ſicher, daß Iſa, die er 1903 kennen 
Ternte, 1896 nicht ſchwanger war. (Wer mag wohl der Staatsanwaltſchaft als 
Gutachter gerade diefen Herrn empfohlen haben, den fie vor wenigen Monaten 
noch eines groben Kunftfehlers dringend verdächtig fand und öffentlich an- 
Hagte?) Nur der greife Brofefjor Freund, der ſeit Jahrzehnten im Elſaß der 
beliebtefte?frauenarzt ift, fagt: Hier fehlt jede Grundlage für ein Gutachten, 
denn wir haben nurgehört, nicht gefehen, was vor fieben Jahren geſchah; das 
Behörte aber liefert jedenfalls nicht den geringften pofitiven Beweis gegen Die 
Schwangerſchaft und Geburt; ;undden Bereich derBermuthungenüberlajjeich 
neidlos dem Kollegen Dührfjen. Doch der alte Praftilus Freund iſt ja vonder 
Verteidigung geladen. „Merkwürdig, daß die vom Vertheidiger geladenen 
Sadperftändigen während der Hauptverhandlung nie anderen Sinnes wer» 
den.“ (Merkwürdig: dievonder Staatsanwaltichaftgeladenen auchnicht ;troß- 
dem Aktenkenntniß das mündliche Berfahren niemals erjegen kann.) Die Ver- 
treter der Anklage hatten aljoftarfeStügen. Die ftärkfteindem Schwurgerichts- 
präfidenten, Herrn Landgerichtsdireftor Leufchner. Der hätte auf Iſas Schuld 
geſchworen; fand deshalb jeden Entlaftungzeugen des Mleineides und der Bes 
günftigung verdächtig; ganz unglaublich, daß Gutsinfaffen, fürdieein Orts: 
wechfel ein Ereigniß, die Eifenbahnfahrt eine Lebenserinnerung ift und die 
in engen Raum zufammengepferdht find, heute noch wiſſen wollen, die Wirth 
ſchafterin Andruſzewska jei im Januar 1897 vier, fünf Tage weggewefen; 
durchaus glaublich dagegen, daß ein berliner Droſchkenkutſcher heute be: 
ſchwören kann, mit weldyer Geberde ihm vor fieben Jahren eine Frau das 
Sahrgeld gegeben habe. Die aufmarfchirende Edelmannfchaft, der Propft, 
29* Ä 





372 Die Zutmift. 


bie Amme, rauen, denen die Schwangere fich im Hemd gezeigt hatte: Alles 
unglaubwürdig oder bethört. „Wenn Sie nun aber hörten, unter dem Hemd 
fei ein Summileib geweien? Sie werben nachher einen Eid zu Teiften haben!“ 
Ueber allen Zweifel erhaben fcheint aber, was Herr Hechelsli und die Damen 
Andrufzewsta undOſſowska ausſagen. Der Vorfigende fragt nach der Schnur 
die Anklage ab, fieht in jeder von dieſem ehrwürdigen Schriftftüdl abweichen 
den Darftellung die Mbficht, zu „leugnen“, verbirgt feine Auffaſſung der 
Sache keinen Augenblidund beanftandetjchließlich fogar noch in den Schluf- 
porträgen der Vertheidiger Sätze, die ihm nicht gefallen. „Das können Sr 
in biefer Allgemeinheit doch nicht behaupten.” „Ich muß bitten, die Sache 
nicht fatirifch zubehandeln.“ Undfo weiter. Das Plaidoyer wenigftens pflegte 
bisher, jo lange der Redner nicht den Anftand gröbtich verlegte, vor Unter 
brechung geſchützt zu fein. Herr Direktor Leuſchner ift vielleicht ein vortriff⸗ 
licher Juriſt. Sicher kein Pſychologe; und zur Leitung folchen Prozeſſes ganz 
ungeeignet. Die Aufgabe, bie der Borfigende nachder Strafprozeßordnung 
in der Hauptverhandlung zu bewältigen hat, geht ja faft über Menſchen. 
kraft. Kein europäifcher Monarch hat Ähnliche Macht. Der Bräfident ift im 
Saal der Herrgott. Das läßt ſich nicht aus Altenbündeln lernen. Götter 
werden geboren... Leiſe, — nein, lieber ganz laut muß es geſagt werden: 
Wir haben feine Nichtertalente mehr; nicht Die Männer, die mit moderner 
Bildungundeiner aus freier Anſchauung erworbenen Kenntniß des Dieu ichen 
und feines Erlebens das ſtolze Bewußtſein ihres majeftätifchen Berufes ver: 
einen. Die nur Richter fein wollen und ſich cher tothetzen ließen, als da 
fie dem Nächften, dem Belaftetfien auch nur um Haares breite fein Hecht ver, 
fürzten. Wir haben arbeitjame ®erichtsbeamte, die „mitder Sache vorwärtd 
fommen möchten”. Darum fennt das Volk auch keinen von ihnen, ift ihr 
Name ihm Schall und Rauch. Einft zog man auf der Straße den Hut vor 
Einem, ber üb:r Neben und Ehre des gefährdeten Bürgers verfügt. 

... Als der Freiſpruch verfündet war, jauchzte im Saal, jubelte vor dem 
Gerichtshaus die Menge. Begeifterung für die — nicht allzu faubere — Sadıt 
der polnischen Gräfin? Nein. Triebhaft ſprach in Hunderttaufenden das Ge: 
fühl: Hier war, in diefem Prozeß, Alles betfammen, was in unferem Rechta 
weſen greifenhaft ift, völlig unbrauchbar für die formen modernen Europä 
lebens ; und diefen Prozeß hat der Staat verloren. Hurra! „Der Staal. 
Wenn im rothen moabiter Palaft ein Fenſter geöffnet war, muß dod mi 
deſtens ein Nobenträger vernommen haben, daß des ſeltſamen Jubelrun 
Sinn nicht war, den Sieg der Gräfin Iſabella Kwileda zu feiern. 


— — 


all 


Thomas und Jane Carlyle. 378 


Thomas und Jane Carlyle*). 


Sn Beriraute von Carlyles Witweriahren war Froude. Carlyle und feine 
Gattin führten Tagebücher und wechjelten, wenn fie von einander gem 
trennt waren, faft täglich Briefe. Die Duchfiht und Ordnung diefer Pa⸗ 
piere befchäftigte Carlyle. Belenntniffe, die er jetzt zum erften Male las, bes 
ftärkten ihn in der Ueberzeugung, er habe durch Selbftfucht und Nachläfiig: 
feit gegen feine Frau gefehlt. Einmal las er in ihrem Tagebuch, er habe fie bein 
Arme gepadt und Spuren feiner Heftigkeit Hinterlafien. Bon Neue gepeinigt, 
fchrieb er feine Selbitbelenntnifje nieder und beauftragte Froude, ſowohl dieſe 
als die Briefe und Aufzeichnungen von Mrs. Carlyle, die er ihm einhän- 
digte, einige Zeit — drei oder fieben Jahre, wie er es für gut fände — 
nad feinem Tode zu veröffentlichen. Dadurch wollte er Buße thun. 

| Er war immer ein mufterhafter Sohn, ein aufopfernder Bruder ge 
weſen. Um die Briefe an feine Mutter beneidete fie feine Frau. “Mitleid 
mit Anderen, Theilnahme an fremden Leid, befonders an ſolchen Formen bes 
© chmerzes, die weder Gaben noch Worte lindern konnten, war ihm eigen- 
thamlich und folterte ihn fein ganzes Leben hindurch. Die ihn am Beften 
tannten, bezeugen übereinftimmend, niemal3 habe er über Einzelne hart ge- 
urtheilt. Die Schale ſeines Zornes goß er über allgemeine Berkehriheiten 
und Öffentliches Unrecht aus. Gegen die Individuen blieb er mild und nad- 
fihtig. Die Neigung zur Uebertreibung, die in allen feinen Schriften durch⸗ 
dringt, verfpottete er oft felbfl. Seine eigenen Fehler und Schwächen ver: 
urtheilte er jedoch mit der felben Maflofigfeit. AU diefen Charakterzügen 
trug Froude im „Leben Carlyles“, das bald nach defien Tode erfchien, im 
Ganzen billig Rechnung. Mit geringen Ausnahmen zeichnete ex ein wahres, 
liebevolle8 Bild des merfwürdigen Mannes. Er vergaß es um fo vollftän- 
diger bei der gleichzeitigen Veröffentlichung der „Letters and Memorials of 
Jane Welsh Carlyle“. 1871 hatte ihm der Witwer 262 Briefe und 
die Tagebücher übergeben. Froude gab aus dem übrigen Nachlaß noch 71 
andere Hinzu, im Ganzen 333 Briefe, aber gekürzt und fo abſichtlich aus⸗ 
gewählt, daß der Eindrud blieb, alle Schuld an dem. Schidjal, über deflen 
Härte Mrs. Carlyle klagte, trage Carlyle. Seines Teſtamentsvollſtreckers 
Phantaſie Hatte ſich fo völlig in die von ihr konſtruirte Seele von Mrs. Carlyle 
verſenkt, daß er die Gefchichte, die er erfand, am Ende felbit glaubte. Carlyle, 
ein Galeerenfträfling der Feder, arbeitete mit Außerftem Sraftaufwand. Er 
mußte allein fein, -wenn er fchrieb, wenn er betrachtete. Weder bei Tag noch 


*) &. „Zukunft“ vom 28. November 1903. 


374 Die Zukunft. 


bei Nacht ertrug er, ohne außer fich zu gerathen, das leiſeſte Geräuſch. Ein 
Hahnenfchrei brachte ihn zur Verzweiflung, ein &lodenton zur Raferei. Man 
baute ihm fpäter eine Zelle mit doppelten Wänden und Oberliht, um ihn 
vor jedem Lärm und allen ungebetenen Befuchern zu fchügen. Seine Mit⸗ 
arbeiterin konnte und durfte feine Frau nie werden. Über eben fo wenig 
erniedrigte er fie zur Magd. Niemals hörte er auf, fie zu lieben, und fagte 
es ihr mit Kofenamen und in jedem feiner Briefe in ben zärtlichften, innigften 
Worten, die davon Zeugniß geben, wie er ſtets für ihr Wohl, ihre Zer⸗ 
ſtreuung und ihre Gefundheit beforgt war. Sie erwiderte im gleichen Ton, 
ertrug jede Trennung von ihm fchwer und freute fi auf das Wieberfehen. 
Carlyle blieb, was er immer gewejen war, „ber echtichaffenfie, befte der 
Menſchen, ein Mann in des Wortes voller Bedeutung”, wie Emerfon ihn nannte, 
beroifch im Großen, märrifch, oft verfiimmt und am fich verzweifelnd, fchwierig 
in Heinen Dingen, ein Hypochonder, aber von rührender Herzensgäte und 
mafellofer Lebensführung. Der Eindrud, den zahlreiche Fremde Carlyles 
und feiner Fran vom Zuſammenleben diefer Beiden behielten, ſtimmte im 
feiner Weife zu der Wirkung, die Froudes dreibändige Brieffammlung auf das 
große Publikum übte. Schon 1886 und wieber 1889 fuchten die Pro: 
fefloren Norton und Ritchie dem angerichteten Unheil zu fteuern, indem fie 
weitere Briefe Carlyles veröffentlichten. Er hinterließ eine Nichte, die ihn bis 
zu feinem Tode pflegte und nach Froudes Ableben die alleinige Befigerin von 
Carlyles Titerarifchem Nachlaß blieb. Obwohl fie Froudes Vorgehen Heftig 
tabelte und ihm mehr als einmal Vorwürfe machte, glaubte fie ſich durch ihres 
Onkels Aeußerungen gebunden, vor zwanzig Jahren nichts mehr zu publiziren. 
Sie ftarb vor Ablauf der Frift und erft ihre Gatte, Dir. Alerander Carlyle, 
unternahm 1903 die Herausgabe aller noch vorhandenen, von Carlyle felbft ge 
ordneten und mit Noten verjehenen Briefe von Mrs. Carlyle. 

Obwohl auch jegt noch, nach eines klugen Kritikers Aeußerung, die 
durch Froude bewirkte Scheidung der Anhänger des Gatten und der Anhänger 
der Gattin nachwirkt und in Streit fi äußert, liegen nun doch die Dinge 
für alle Unparteiifchen Har genug. Mrs. Carlyles Charakter, ihren früh zer- 
rütteten Nerven, nicht Carlyle ift e8 zuzufchreiben, wenn fie fich unglüdlich fühlte. 
Seine Selbftanflagen beſchränken fich darauf, ihrem phyfifchen Zuftand nicht ge= 
nügend Rechnung getragen zu haben. ‘Der Schleier, der gewöhnlich die Intimität 
des Zufammenlebens zweier Menfchen dedt und den er felbft mit ſchonungloſer 
Hand Lüftete, zeigt durchaus nicht das Bild ehelichen Zerwürfnifies. Der 
Mann und die Frau, die einander vierzig Jahre lang faſt täglich, wenn fie 
getrennt waren, Briefe fchrieben, fpielten weder eine Komoedie noch hörten 
fie jemals auf, einander zu achten und zu lieben. Aber Beide hatten harte 
Köpfe und manchmal gab es Stürme Den Grundton ſchlägt ein 1825 
datirter Brief Carlyles an feine Jane, damals noch feine Braut, an: 





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Thomas und Jane Carlyle. 875 


„O Du, meine fchöne Schußbeilige, mein freundlicher, heißblütiger (hot- 
tempered) Engel, mein geliebtes, zanfendes Weib, Du ſollſt mir zu Erfolg ver 
helfen und in Enttäufchungen mich tröften. Liebe mich mit Deiner ganzen Seele! 
Und wern Ruhm. uns geichenkt wird, jo wollen wir ihn willkommen heißen, 
wenn nicht, uns nicht darum lümmern, weil wir unendlich Werthvolleres als 
Alles befigen, was er uns geben oder nehmen fönnte. Seien wir wahr und gut.” 

Weber in Edinburg, wo das eıfte Jahr der Verheirathung verlief, noch 
tn Eraigenputtod, wo das Ehepaar, mit längeren und kürzeren Unterbrechungen, 
auf dem Befig von Mrs. Carlyle die nächften ſechs Jahre zubrachte, fühlte 
Jane fih unglüdlih. Aus eigener Wahl hatte fie, durch Ueberlaſſung ihres 
übrigens Meinen Vermögens an die Mutter, fich mittellos gemacht. Care 
lyles ſpärliche Einnahmen aus literarifhen Arbeiten und die Farm, bie fein 
Bruder ungefchidt führte — er ging darauf zu Grunde — lieferten ihr ganzes 
Einfommen. Durd den eigenen Geldmangel ließ fich jedoch Carlyle nie 
abhalten, feine Mutter und die Gefchwifter, diefe mit verhältnißmäßig großen 
Summen, zu unterftügen. Das Märchen aber, das Froude in Umlauf fepte, 
Mrs. Carlyle habe in Eraigenputtod Fein Dienftmädchen zur Verfügung ge- 
habt, beruht auf Erfindung. Ihre Korrefpondenz aus diefen erſten Zeiten 
der Ehe beftätigt ſchon das Urtheil einer Freundin ihrer Jugend, „es fei ihr 
Beruf, Briefe zu ſchreiben.“ Sie wußte Alles, was ihr begegnete, anmuthig 
und wigig zu ſchildern. Dennoch blieben, ihr ganzes Leben hindurch, auch, 
al8 feine Noth fie mehr bebrängte, Haushaltungforgen das bevorzugte Thema. 
Sie fam nie mit ihren Dienftmädchen aus, wechfelte fie wie die Wäfche, lag 
beftändig mit ihnen in Fehde und Carlyle war e8, der fie fpäter zwingen 
mußte, eine zweite Dienerin aufzunehmen. Er hatte fein Theil an diefen 
häuslichen Unannehmlichfeiten, mußte ihr Mädchen von Schottland nach Kondon 
mitbringen, die er in den Eilwagen fegte, während er außen faß und fror, 
und deren Heimweh er zu tröften hatte. Es half nicht. Stöbern und Ordnen, 
die Hausfrauenthätigkeit im weiteften Umfang blieb die Leidenfchaft feiner 
Frau. Richtig ift nur, daß er felbit, der Mutter und Schweftern immer 
bei harter Arbeit gefehen hatte, es als etwas zu felbfiverftändlich hinnahm, 
wenn auch Mrs. Carlyle fich plagte, während er für fie Beide verdiente. 
Craigenputtod wurde behaglich eingerichtet und hatte felbft Plag für Gäſte, 
die auch mitunter famen. Aber e8 lag in rauher Gegend und fehr verein⸗ 
famt. Der nächite Bäder war meilenweit entfernt und fein Brot fand Car⸗ 
lyle, der höchſt einfach lebte, aber biefes Einfache fehr gut haben wollte, un⸗ 
zuträglich für feinen empfindlichen Magen. So kam «8, daß Mrs. Carlyle 
fi in der Kunft des Broibadens- Üben mußte. Einft, erzählt fie, wachte jie 


nachts in peinlicher Ungewigheit Deffen, was im Badofen fi zutrug. „Ein 


Gefühl der Entwürdigung“ kam über fi. Es war drei Uhr morgens; fie 


376 ' Die Zukunft. 


legte den Kopf auf die Hände und ſchluchzte. „Da fill mir Benvenuto 
Cellini ein, der bie ganze Nacht wachte, während fein Perfeus fi im Ofen 
befand, und ich fragte mich plöglih: Was ift denn im Grunde in den Mugen 
ber höheren Mächte für ein ungeheurer Unterfchied zwijchen einer Perſeus⸗ 
flatue und einem Brot, fobalb nur bie Vollendung des einen oder des anderen 
fi als unfere fpezielle Aufgabe erweiſt?“ Diefer Gedanke gab ihr Troſt und 
fie bewies damit, daß fie eine ungewöhnliche Frau war. Auch follen bie 
Deühfäligkeiten ihres damaligen Lebens feineswegs verfchwiegen werden. Nur 
ziemt e3 fich, nicht zu vergeflen, daß fie auch Entfchädigungen Hatte. Sie 
liebte ihren Dann. Morgens ritten fie bei fchönem Wetter zufammen aus. 
Nachmittags trieben fie Italieniſch und Spanifch, Iafen den Arioft und ben 
Don Duirote. Es gab Stunden, wo Carlyles Beredfamleit fie hinriß und 
alles Andere vergeffen machte. Sie fritilirte feine Arbeiten, freute ſich der 
Briefe, die von Goethe cinliefen, fandte dem Dichter, ben fie glühend ver: 
ehrte,. eine Locke ihres ſchwarzes Haares und glaubte, mit dem Scharfblid, 
der fich lohnen follte, an Carlyles Stern und an feine fünftige Gräfe. Im 
Ihlimmften Jahr ihrer pefuniären Schwierigkeiten rief er fie liebevoll nad 
London, wohin er Geſchäfte halber vorausgegangen war; dort fand fie Ge— 
felligfeit, Unterhaltung und bie Bewunderung von Freunden, wie John Stuart 
MIN, Jeffrey und Anderen, die der „Rofe von Haddington“ niemal8 zugänglich 
gewejen wären. Ein Aufenthalt in Edinburg, der 1833 das Stilleben des Ehe- 
paares in Sraigenputtod abermals unterbrach, miffiel Beiden. Aus Rückſicht 
auf feine Frau jiedelte Carlyle 1834 für immer nad Kondon über: „Warum 
nicht aus diefen Torfmooren, aus all diefen rußigen Erbärmlichkeiten und 
Lügengeweben von Stallmädchen, aus allec Bereinfamung, Verzweiflung und 
Verwirrung weglaufen und fogleich nad) London gehen, fagten wir zu einander.” 

So fchreibt Carlyle. Es war nicht feine Schuld, wenn der Mangel 
da8 Paar auch dorthin begleitete. Ex wollte nicht gegen feine Ueberzeugung 
Ihreiben und mußte dennoch das tägliche Brot verdienen. „Eine Erbin“ 
wurde Mrs. Carlyle erft 1842, nach dem Tode der Mutter, mit einer Rente 
von faum mehr al3 zweihundert Pfund, die bei den fparfamen Gewohnheiten 
des Ehepaares Wohlftand bedeutete. „Sein armer Liebling“, „feine Heldin“, 
wie Sarlyle, in ben fchönen, innigen Briefen an feine alte Mutter, feine 
Frau zu nennen pflegte, war fchon damals leidend, befonder8 von Kopf 
ſchmerzen und Influenza gepeinigt und oft genöthigt, bei den Ihrigen oder 
bei Freunden Erholung zu fuchen, ohne, wie Carlyles zärtliche Briefe Hagten, 
„Ruhe für ihre müde Seele zu finden“. Da traf ihm ein ſſeltenes Miß⸗ 
geihid. Nach ungeheurer Anfpannung lag der erſte Band der" Franzöſiſchen 
Nevolution* in Manuffript vollendet. Er gab e8 feinem? Freunde Mill 
zur Durchſicht. Der ließ e8 ſorglos herumliegen und das Zimmermädchen 


- Thomas und Jane Carlhle. 877 


zundete das Kaminfeuer damit an. Carlyle mußte feinen verzweifelten Freund 
tröften. Er trug den Berluft mit wunderbarer Faffung: „DO hätte ich Glauben! 
Dann wäre mir nichts zu hart und fchwer“, fchrieb er in fein Tagebuch. 
Ohne Notizen, „wie ein Beſeſſener“, fing er in Gottes Namen von vorn 
an, während er Mrs. Carlyle durch einen Beſuch ihrer Mutter zu tröften 
fuchte. „Was er großartig geduldet, bleibt für ihn und für uns beftehen“, 
fchrieb fie. 1837 wurde das Werk vollendet. „Ich weiß nicht, ob es etwas 
werth if“, fagte er zu feiner Frau, als er ihr da8 Manufkript übergab. 
„Das aber könnnte ich der Welt fagen: Seit hundert Fahren habt Ihr fein 
Buch gehabt, da8 geraderen Weges und flammender aus dem Herzen eines 
lebenden Menfchen gelommen if. Thut damit, was hr wollt, Ihr ...!“ 

Bon jest an wurde Carlyle berühmt und, mie Goethe vorausgefagt 
ha:te, „eine neue moralifche Kraft in Europa*. Nach dem Heinen Haus in 
Cheyne Rom pilgerten die Berühmtheiten des Tages, einheimifche und fremde. 
Mrs. Carlyle gab eine ihrer beften Schilderungen, die des Beſuches des 
Grafen d'Orſay, des Fürften der Dandies: 

„Zum Glüd war es nicht einer meiner nervöfen Tage, jo daß ich bie 
ganze Sache von meinem Prie-Dieu aus betrachten Tonnte, ohne von feiner Auf 
regung ergriffen zu werden, und es war ein Anblid, als ob das Millennium 
angebroden fei und ber Löwe mit dem Lamm und alle unverträglicen Dinge 
zuſammen verkehrten. Carlyle in feinem gtauen Plaid Anzug und in feinem Arm⸗ 
ftuhl blickte mild auf den Yürften der Dandies. Der, blitzend wie ein Diamanten 
täfer, blidte mild auf ihn zurüd. D'Orſay ift wirklich ein Schöner Mann, wenn 
man ihn einmal gehört und herausgefunden hat, daß er Witz und gefunden 
Menihenverftand befigt. Im erften Augenblick aber tft feine Schönheit eher 
von der abjtogenden Sorte, die, wie ber Genius, geſchlechtslos fcheint. Und 
dieſen Eindruck verftärkt fein phantaftifcher Anzug: Himmelblaue Atlaskravatte, 
ellenlange goldene Ketten, weiße franzöfiiche Handſchuhe, rehfarbiger, mit Sammet 
von der felben Farbe gefütterter Ueberzieher, unfihtbare Unausſprechliche, haut—⸗ 
farbig und figend wie Handſchuhe u. |. w. Das Alles tft abfurb genug; aber 
die Manieren find männlich und einfach; mit einem Wort: man ift überzeugt, 
er jei, aller Wahrſcheinlichkeit nach, ein verteufelt gefcheiter Burſche ...“ 

Ein anderes Mat ſchreibt Mrs. Carlyle dem Gatten, der ältere Sterling 
babe zu ihr gefagt: „Cie wären unendlich liebenswürbiger, wenn Sie nicht 
fo verdammt gefcheit wären.“ Sie beutete die Bemerkung im Sinne des 
Lobes, nicht der Mritil. Man müßte, von 1840 ab befonders, faft jeden 
ihrer Briefe citiren. Banal oder langweilig ift feiner. Die meiften über- 
Arömen von Komik und farkaftifcher Laune, ſcharfen, treffenden Aeußerungen, 
freilich fehr oft auf Koften der Anderen. Sie ſchonte Keinen, weder die 
Freunde noch die Familie, felbit nicht die eigene Mutter, „die bereit ift, 
Alles herzugeben, nur nicht Das, was man braucht, und Alles zu thun, 
nur niht Das, um was man bittet.“ Bon Darwin berichtet fie |pottend 


378 Die Zukunft. 


einen Zug der Herzlofigfeit, von Miß Martineau einen folchen der Eitelfeit 
James Martineau veranlaft fie zur Auslaflung: „Einen tieferen Zug ber 
Schwermuth fah ich niemals auf einem menfhlihen Antliz. Sch Halte ihn 
für daS Opfer des Gewiſſens, was beinahe fo ſchlimm if, wie das Opfer 
des grünen Thees zu fein. Sein Herz und fein Berftand proteftiren gegen 
diefe Feſſel und fo iſt er ein mit fich entzweiter Menſch. Ich möchte ihn be- 
fehren, — moi! Könnte er ſechs Donate hindurch in einen gefunden Zuſtand 
plöglicher Schurkerei verfet werben, fo käme er, ‚ein ftarler Mann‘, aus dieſer 
Erfahrung. So aber fühlt er, es fei wenig verdienftlich, geiftig froh in feiner 
gegenwärtigen, unbefledten Berfaffung fi zu wiflen. Und in Folge Deffen 
ift er eben fo traurig wie irgend einer von uns Sündern!“ Das Alles nad 
einer Predigt, die ihr und James Martineau mißfallen und Beide zum Wider: 
ſpruch gegen „all den Unfinn von Tugend und Glüdfäligfeit“. gereizt Hatte. 
Dann wieder tanzt die Taglioni „auf ihrer großen Zehe, den anderen 
Fuß in der Luft, viel höher, als Anftand es jemals träumte, ... immer 
wieder, bis zur Langeweile. Aber Herzoginnen warfen Blumenfträuße umd 
nicht ein Dann (Carlyle ausgenommen), der nicht bereit gewefen wäre, ſich 
felbft zu werfen. Ich zählte fünfundzwanzig Sträuße. Aber mas bedeniet 
Das? Die Kaiferin von Rußland, in einem Anfall von Begeifterung, warf 
ein Diamantenarmband diefer felben Zaglioni zu Füßen: Tugend belohnt 
ſich felbft (in diefer Welt)?" Mrs. Carlyle war unerbittli in ihrer Satire, 
Nur Einer entging ihren Sarkasmen: ihr Mann. Mit taufend Küffen und 
Liebesworten, Dank für feine Liebe und Betheuerungen, nie werde fie ihm 
wifjentlich ein Leid verurfachen, beantwortete fie feine täglichen Briefe. Das 
änderte fich für einige Zeit in Folge der Belanntfchaft des Ehepaares mit 
einer fehr geiftreichen, vornehmen Frau, Lady Harriet Baring, fpäter Lady 
Aſhburton. Mrs. Carlyle war fi ihrer geiftigen Weberlegenheit fehr wohl 
bewußt. Nach einem Diner bei dem Dichter Monkton Milnes fchrieb fie: 
es jei ein fehr angenehmer Abend geweſen; womit fie jagen wollte, man Babe 
fie anerfannt und audgezeichnet. In Lady Afhburton trat ihr 1845 eime 
geiftig ebenbürtige Frau, nicht weniger felbitbewußt, als fie e8 war, enigegen. 
Obwohl fie es an ausgeſuchter Höflichkeit nicht fehlen ließ, Fchrieb Mrs. Carlyle 
nach dem erften Befuch in ihrem Haufe an den Gatten: „Wir werben, benfe 
ih, ganz gut zufammen ausfommen, aber ich fehe, die ‘Dame bejitt bas 
Genie, zu herrfchen, während ich das Genie, nicht beherricht zu werden, 
befige." Das Ende war, daß Mrs. Carlyle die Andere haßte und bem 
Gatten die Qualen der Eiferfucht nicht erfparte. Der Herausgeber ihrer 
Briefe, Der. Alerander Earlyle, ließ ich die Mühe nicht verdrießen, dieſen 
zwei Bänden eine endlofe Einleitung, das Gutachten eines Arztes, voraus⸗ 
zufchiden. Diefer, Sir James Crighton-Browne, vertritt die Anfiht, Mrs. 





Thomas. und Jane Carlhyle. 379. 


Carlyles Eiferfucht fei anf Geiftesftörung zurfdzuführen. In jenen Jahren, 
fo behauptet er, war fie durch übermäßigen Genuß von Thee und Cigareiten 
und in Folge neuralgifcher Schmerzen hochgradig neurafthenifch, eine Mor: 
phiniftin, mit einem Wort: unzurechnungfähig. Sie fagte ja felbft, „es fei 
ihre befländige, dringende Sorge, to Keep out of Bedlam. 

Der Urzt übertreibt ganz eben fo, wie Froude übertrieben hatte. Bon 
getrübten Bewußtfein verrathen die Briefe der Mies. Carlyle nicht das 
Geringſte. Wohl aber fam e8 1846 zu einem heftigen Auftritt zwifchen ihr 
und dem Batten: und fie reifte ab. Der Hausfreund, Ginfeppe Mazzini, wars, 
der fie in zwei merfwürbigen Briefen zur Vernunft und zu dem Bewußt⸗ 
fein zurüdrief, daß fie feinen Grund zur lage habe. Carlyles Verhalten 
gegen fie änderte fh nie: „OD meine liebe Heine Jeannie! Denn im Ganzen 
ift Keine von ihnen Allen werth, neben Dir genannt zu werden, wenn Dein 
befierer Genius Dich nicht verlaffen hat“, fchrieb er 1850; „verſuche, zu 
ſchlafen und Dein armes Meines Herz, Deine Nerven zu beruhigen und mid 
wie früher zu lieben, wenigftens nicht zu haflen! Mein Gerz ift ermüdet 
und von den dreiundfünfzig rauhen Jahren, die hinter mir liegen, erfchöpft; 
aber e3 ift jo mit Dir verbunden, arme Eoeele, wie e8 mit feiner anderen 
möglich ift; Hilf mir, Das, was mir vom Leben noch übrig bleibt, richtig 
verwenden, und ich will Dir auf ewig dankbar fein. Gott fegne Dich alle 
Zeit.” Auch Mis. Carlyle fand den alten Ton wieder; aber e8 bleibt der 
-Eindrud, daß das Verdienft dafür zum nicht geringen Theil Lady Aſhburton 
gebührt. Die vornehme, geiflreiche Weltdame ließ fi den Umgang mit 
Carlyle nicht durch die Launen feiner Frau verfümmern. Sie jagte nach wie 
vor in Janes Revier. Das heißt: fie ließ fich weder an eilt noch an Wit von 
ihr übertreffen und hielt ihr Etand. Aber fie gewann aud) ihre Achtung, wenn 
nicht ihre Freundfchaft, und empfing fie fehr liebenswürdig mit-Carlyle bei fich 
auf ihren Landfigen und Schlöſſern. „Id; war eine Woche hindurd mit 
Lady Harriet Baring, von der Ihnen Earlyle ohne Zweifel mit Begeifterung 
gejprechen haben wird*, fchrieb Mrs. Carlyle an die Echwiegermutter; „Sie 
ift eine fehr gefcheite und dazu eine fehr Tiebenswerthe Frau, mit der es fich 
höchſt angenehm lebt, wenn fie die Leute mag. Wenn fie fie aber nicht mag, 
fo würde fie fie lieber mit Schiekpulver in die Luft fprengen, als fi in 
ihrer Geſellſchaft langweilen“. Unter ber felben Bedingung kamen die beiden 
Damen fchließlich jehr gut zufammen aus, denn feine langweilte die andere, aber 
es war nicht Lady Afhburton, die das Kürzere zog. Eines Tages fragte fie 
Mrs. Carlyle über Darwind Meinung von den Dentwürbigfeiten Blanco 
Whites, eines Mannes, ber durch merkwürdige religiöfe Erfahrungen ge: 
gangen war. Mrs. Carlyle, die erft fehr fpät im Leben vom Ernſt der Ueber- 
zeugung ihre8 Mannes ergriffen wurde und ſich zu jener Zeit Heine Gottlofig- 


380 Die Zunft. 


keiten noch nicht verfagte, antwortete, Darwin fei der Anficht, es „beeinnträdhtige 
die Theilnahme an den religiöfen Skrupeln eines Menfchen, wenn man et: 
dede, daß diefe nur Symptome eines Leberleidens geweſen fein.“ „So lange 
fi) der Antheil der Leber nicht beſtimmt feftftellen läßt, dürfte e8 fich empfehlen, 
mit Ehrfurcht von folchen Dingen zu reden“, entgegnete Lady Alhburton. „Das 
iſt ſehr richtig“, fügt Mrs. Carlyle hinzu, die e8 gerathen fand, bis zum 
Tode der Dame, 1857, in Frieden und Eintraht mit ihr zu leben. 

Bon da an verfagte die Gefundheit Yanes mehr und mehr. Sie 
duldete ihre Schmerzen mit ftoifcher Ergebung, verbarg fie ihrem Gatten 
und nur felten, fehr felten entfchlüpfte ihr ein Wort der Klage. Im Llebrigen 
blieb fie biß zulegt, was fie immer gewefen war: fcharf, eigenwillig, far- 
Yaftifch, mit einer Zunge, deren fpige Ausfälle mit Moskitoftihen verglichen 
worden find und die eins ihrer Opfer, den Dichter Browning, zu dem 
Urtheil veranlafte, fie fei hart und lieblos. Das war fie nicht; eben fo 
wenig war fie bequem im Verkehr, aber unterhaltend, geiftreich, hoͤchſt witzig und 
eine Birtuofin des Briefſtils. Und von einem großen Manne geliebt, ter, 
Alles in Allem genommen, ihre in einer Stunde des Unmuthes gefprocheren 
Morte: „Meine Liebe, was Sie auch immer thun mögen: heiraten Sie 
nie einen Dann von Genie!“ durch die Treue feiner Neigung und den Schmerz 
um ihren Berluft in einer Weife widerlegte, die ihre fühnften Hoffnungen über: 
traf und die lange Kontroverfe zu Beider Ehre ſchließt. 


München. Lady Blennerhaffett. 


Fr 


Danama: Berlin. 





24 Panama, ber alten Spanierftadt voll Schnut und Romantik, wo der Boden 
I für Ränkeſchmiede und Daher fo günftig ift, fitt Philippe Bunau Barilla, 
ber jitngfte der Staatengründer, an feinem Schreibtiſch und überfliegt majeſtätiſchen 
Blickes den Einlauf. Bittfchriften, nichts als Bittichriften; wie einft in Guafalla. 
Jeder will haben, Niemand will geben. Panama aber hat die Fahne der Freiheit, 
die Philippe Bunau Barilla meint, auf einen Hügel von Dollars gepflanzt und 
lebt, um zu verdienen. Ueber Varillas Züge gleitet ein Lächeln. Er „hats“. Bald 
darauf vertraut in Berlin ein Bankdirektor feiner rau das jüße Geheimnıig an, 
daß er Konful geworden fei, Generaltonful — Das macht ſich befier — von Panama. 

Wer jolls merden? Hätte ich ein Borfehlagsredht, fo würde ih primo loco 
Herrn Direktor Rudolf Kod) von der Deutihen Bank vorſchlagen. Das if ein Mann, 
von dem man mindeftens feit den bayreuther Gerichtstagen weiß, daß er nur feinem 





Panama-Berlin. 381 


Beruf lebt. Doch niemals wird die Deutſche Bank zugeben, daß dieſer Direktor, 
deſſen unermüdliche Hingebung ihr in jeder Stunde Troſt und Stütze iſt, auch nur 
ein Theilchen feiner Arbeitfraft und feines Eifers anderen Dingen zuwenbe, und 
wären es jelbft die Konjulatsgefchäfte von Panama, - von deren tüchtiger Führung 
fo viel Glück in der Welt abhängt. Diefe Kandidatur kommt alfo nicht ernftlich 
in Betradt. An die Deutfche Bank ift wohl überhaupt nicht zu denken; welcher von 
ihren Leitern möchte denn auf einem Poften ftehen, wo er fi) Tag vor Tag durch 
den Gedanken an die fiberragenden Eigenſchaften des Kollegen Koch beihämt fühlen 
müßte? Und außerdem: noch iſt Bagdad nicht verloren; bis zur Bollendung der 
mefopotamifchen Bahn kann eine neubabylonifche Dynaftie erftehen, in deren Dienften 
Gwinner viel höherer Ruhm befchieden wäre al8 in denen von Panama. Secundo 
loco: BDireftor Dernburg. Ich hoffe, er wird die Beſcheidenheit, die er in wahr- 
haft rührender Weife bei der niedrigen Einſchätzung der Pommernbant- Aktiven 
zeigte, nicht etwa fo meit treiben, daß er die Konſulatswürde ausfchlägt, wenn fie 
ihm im Namen des ifthmifchen Volkes angeboten wird. Barilla müßte jedenfalls 
mit der mimofenhaften Scheu rechnen, die der treffliche Sanirer vor der Deffent- 
lichkeit nun einmal empfindet, und ihn bei einer anderen Seite zu paden fuchen.. 
Das Klügfte wäre vielleicht, Herrn Dernburg daran zu erinnern, daß das ncue 
StaatSwejen aus der Relonftruftion einer vormals berühmten Geſellſchaft entfland, 
deren Aktionäre bis auf die Haut fanirt worden find. Aber ich zerbreche mir den 
Kopf, um zu erfinnen, wie Herr Dernburg für Panama zu gewinnen wäre, und 
am Enbe ift er gar ſchon gewonnen. Als er im Spätherbfi wie auf Soden durch 
Amerıfa wanderte, feinen Laut von ſich gab, auch feinem Interviewer fein Herz 
enthällte, tauchten in der Heimath über den Zweck jeiner Reife Bermuthungen auf, 
von denen noch feine als richtig erwiefen ift. Er ift doch gewiß nicht als Trabant 
des Herrn Hans Winterfeldt Hinfibergegangen, um mit feiner Unterfchrift als formeller 
Ergänzung Abmachungen zu zeichnen, die der kommende Dann von Hallgarten & Co. 
vollzog. War er etwa von diefer Firma als ein Schätmeifter von Weltruf hinüber- 
gebeten worden, um bei der Sanirung ber unglüdlichen Realty Company mitzu- 
wirken, die von Hallgarten erft im Sommer des vorigen Jahres mit 60 Millionen 
Dollars gegründet wurde und ſchon im nächften Sommer argem Siechthum verfiel? 
Glaubwürdiger wäre immerhin noch die Annahme, Herr Dernburg fei übers Wafier 
gegangen, um insgeheim die Gründung der Republit Panama mit deutichem Ka⸗ 
pital zu unterfiüten. Das wäre fein übler Coup. Die als Darınflädterin bekannte 
Bank für Handel und Induſtrie, die durch ihre portugiefifchen Emiffionen ſchon feit 
Jahren in eben fo innigem wie ſchmerzhaftem Kontraft mit den iberifchen Völkern 
fieht, hätte damit wieder einmal den Beweis erbradt, daß in Darmftadt nicht nur 
die Zamilienbande der größten Herricherhäufer, fondern auch die Fäden der Welt- 
politit und der Weltfinanzen zufammenlaufen. Die Bereinigten Staaten von Nord» 
amerifa haben fi an der Gründung der iftgmifchen Republik mit 160 Millionen 
Markt betheiligt. Solches Partners braucht jelbft die Darmftädter Bank fi nicht 
zu f[hämen; und wenn Herr Dernburg nur halb fo tüchtig ifl, wie die Herren 
Schulz und Romeick von ihm behaupten, wird er wiſſen, wie er die befruchtende 
Kraft diefer Dollarfchäge für den eigenen Boden nutbar zu machen hat. Geld zieht 
Geld an. Und der Bankdireltor, ber ein paar Millionen wagt, um ins Panama- 
gefhäft hineinzufommen, würde als ein ordentlicher Kaufmann handeln, der die 


382 Die Zukunft. NG 


Größe des Nifilos an ber Eröße des zu erwartenden Geminnes mißt. Und dam 
noch der Glorienſchein des panamitifchen Generaltonfulates! Der Abglanz fiele au 
das ganze Inſtitut. Man müßte dann endlich, warum das Haus anı Schintelplak 
allen anderen Banken fo auffällig den Rücken lehrt. 

Das Alles ift ja nicht fehr ernſt gemeint, braucht darum aber nicht als gan 
unhaltbare Kombination verfpottet zu werden. In unferer Finanzwelt find heut. 
zutage noch viel mwunderlichere Einfälle denfbar und ich würde nit ohne Weiteres 
an eine Utopie glauben, wenn ich hörte, daß zunächſt die Erde mit dem Mars, bann 
die Sonne mit allen Planeten zu einer einzigen Attiengefellfchaft vereinigt und daß 
die Subifription auf jedem Stern mit einem Agio von eben fo vielen Prozenten 
eröffnet wird, wie die Strede zwiidhen Norb- und Südpol Meilen mit. Ba fireiten 
die wertfälifchen Stahlwerkbeſitzer mit den lothringifchen und fchlefiichen iber den Schläfiel, 
nach dem ihre Stahlproduftion und ihr Zufchuß zum Erportverluftaufgetheilt werden ſoll: 
und richtig finden fich Leute, denen diefes Gepläntel ben Glauben fugnerirt, der Plan bes 
Stahlwerkverbandes fchwebe in Lebensgefahr. Die felben Befürdtungen gingen ber 
Bildung des neuen Koblenfundifates voraus, das num mächtiger dafteht als je em 
anderes Syndikat, fo mächtig, daß es ſchon wenige Wochen nach feiner Gründung 
breien der angefehenften Mitglieder die eiferne Fauſt zeigen konnte, als fie in den 
Befigverbältniffen Berfchiebungen vorzunehmen wagten, die dem Geiſt des Syndi⸗ 


kates widerfprachen. Bald wird ein eben fo ftraff disziplinirter Deutſcher Stahlwerl 


verband uns befchert werden. Gegen die Gewalt, die im modernen Wirthfchaftleben 
die Individualitäten zufammenziwingt und zufammtenfchmiebet, giebt e8 feinen Wider: 
ftand. Deshalb follte man den Zweifel an dem Gelingen des Stahlfyndilates der 
Megirung überlaffen. Sie muß zweifeln oder wenigſtens „fo .thun”. Denn im 
Reichsamt des Innern if die berühmte Enquete über das Kartellmejen, die der Legis⸗ 
lative die nicht minder berühmten „neuen Geſichtspunkte“ liefern ſoll, noch nicht ab- 
gefchloffen. Iſts fies einft, dann wirb das Iehte der großen Syndikate, auf das es bie 
Einberufer abgefehen hatten, fertig fein; mahrfcheinlich ſchon früher. Und was herauf: 
gefommen ift, wird fo neue Wefenszüge tragen, daß die Enqueteberichte veraltet er: 
feheinen werden. Wer heute von Kartellen und Syndilaten fpricht, mäfelt höchſtens 
noch an ben Ziffern herum. Leber die Trage, ob foldye Organifationen erfaubt ot 
verboten fein follen, ift man längft zur Tagesordnung gefchritten. Längft; mir fieben 
ja bereit in der Wera der Fuſionen. Noch wird die Sache vielfad) als Sport betrieben, 
aber der Exrnft wird ſich fchon melden. Warte nur: balde höreft Du mohl von der 
Fuſion PBadetfahrt-Norddeutfcher Lloyd. Das dünkt Manchen das Nächſte. Und wenn 
der neufte Wertheim-Palaft erſt unter Dach if, forgt die Disfontogefellichaft, al? 
Obhiiterin der Wertheimgründung, vielleicht für eine rafche Fufion mit Tietz; und 
Jandorf. Dann könnte den fpefulativen Sinn unferer fonfufen Zufionfchnüffeler feine 
Schranke mehr hemmen. Und ſchließlich muß ja einmal der Tag kommen, wo Zörle 
und Bank fi wieder mit einer anderen Frage bejchäftigen als mit der, ob der 
Stahlwerfverband gefährdet oder gefichert iſt. Vielleicht aber merkt man dann, daß 
den Fragern die Sache nicht fo wichtig war wie die durch den ewigen Zweifel ge 
ſchaffene Möglichkeit, die Kurſe nedifch nad oben oder nad) unten zu treiben. 


Dis. 
Be 





Notizbuch. 388 
Notizbuch. 


er Reichstag iſt wieder ba; und endlich wird ber Bürger, in ber fünfzigſten 

Woche des Jahres, wieder die tröftende Runde vernehmen, daß auch in ben 
deutfchen Grenzen nod Politik getrieben wird. Faſt Hatte ers ſchon vergeffen, trotz⸗ 
dem eben erft im größten Bunbesftaat ein neues Parlament gewählt worden ift; daB 
freilich nicht anders ausſieht, als das alte ausſah. Auch der fteichdtag wird ſich nad) 
Menſchenermeſſen von dem achtundneunziger nicht weſentlich unterfcheiden. Rechts 
fehlen ein paar tüchtige Leute, links find ein paar belle Köpfe Hinzugelommen; und 
die bekannten Redner werben bie befannten Reden pünktlich nicht unterdrücken. Die 
Mehrheit kann fofort zeigen, ob fie klug handeln oder das Hochgefühl ihrer Macht 
zunächſt einmal auskoſten will. Iſt fie Tlug, dann trennt fie aus eigenem Xrieb 
flinf die Notbparagraphen ab, bie während der Tarifobftruftion der Geſchäftsordnung 
angeflicdt worden find. Sie kanns getroft wagen; denn einjtweilen wenigitens wird 
jebe Bartei ſich dreimal befinnen, ehe fie den Berfuch unternimmt, einer wehrhaften 
Majorität den Willenslanal zu verftopfen. Noch ein zweiter Beſchluß könnte die 
Weisheit des Hohen Haufes bewähren. Der Sozialdemofratie, die raſch noch die 
ärgften Symptome inneren Haders befeitigt und, wie ihr ja Hier auch gerathen warb, 
allen Sündern in Snaden verziehen bat, follte bie Nöthtgung nicht erfpart werden, 
ihren Bertrauensmann ins Präjidium zu hidden. In den erften Auguſttagen, fünf 
Wochen vor dem dresdener Parteitag, wurde bier darüber gefagt: 

Wird die Sozialdemofratie dem neuen Reichstag den Erften Dice 
präfidenten liefern? Soll fie für diefes Ehrenamt überhaupt einen Ranbi- 
daten aufitellen? Ernfthaft aufftellen und ihr verpflichten, auch die Bürben 
der Nepräfentation auf ſich zu nehmen? Herr Bebel fagt: Nein. Herr von 
Bollmar jagt: Fa. Herr Bebel, der greife Optimift, glaubt, feine Partei 
werde in abjehbarer Zeit die politiiche Dlacht erobern, Monarchie, Grund» 
herrſchaft, Induſtriefeudalismus, alle Formen Eapitaliftilcher Knechtung und 
Ausbeutung beſeitigen und die ſozialiſtiſche, frei über die Mittel zur Produktion 
verfügende Geſellſchaft entbinden. Deshalb will er den annoch, aber nicht lange 
mehr herrſchenden Gewalten keine Konzeſſion machen, hält es mit Kierkegaards 
und Ibſens Loſung „Alles oder nichts“ und findet die Rolle der gekränkten Un⸗ 
ſchuld, die aufdienaheStundederApotheofe harrt, für feine Partei dankbarer als 
diedes ſchmiegſamen Taktikers, der mitden Berbältniffengraufamer Wirklichkeit 

rechnet und fich jeder Sproffe freut, die er auf der höherführenden Leiter erklom⸗ 
men bat. Herr von Bollmar iſt von Sentimentalität und Sllufionen frei; fein 
Pathetiker, fondern ein Realift — meinetwegen: Poſſibiliſt —, ein ungemein 
tultivirter Mann, der fi) aber die urwüchfige Bauernfchlaubeit bewahrt hat und 
oft da lächeln, ſogar laut lachen kann, wo Sankt Auguſtus nur Flüche und graufe 
Metaphern findet. Er hat menſchliche und geſellſchaftliche Entwickelungen 
nicht nur, wie Bebel, von unten geſehen, ſteht der Natur näher als irgend 
einem Dogmenglauben und weiß, wie langſam hienieden Alles keimt, wächſt, 
reift und wie froh Einer ſein muß, wenn er im Lauf ſeines Lebens die Sache, 
ber er dient, nur um ein Wegſtrecklein vorwärts bringt. Deshab will er jede 
Pofition, die er zu nehmen vermag, flink auch befeßen ; iſts fein bie Qande beherr 
ſchendes Fort, ſo doch ein Vorwerk, indemmanraften, vondem aus der Stratege 


. 884 


Die Zukunft. 


weiteroperirentann. Ein Plag im Präfidium, meint er, iftimmerhin eine ſchone 
Sade; man ſitzt an den Quellen parlamentariiher Madt, Hört, was vorgeht, 
Tann drohende AUngriffeabwehren und beweift der Gemeinde undder Di Tpora, 
bis zu welcher Höhe die Fraktion es gebracht hat. Der Befud, den das Präfidium 
nad der Konftituirung des Reichstagesdemftaifermadt, follteuns Hindern, den | 
fihtbaren Breis langen Mügens einzuftreichen? Lächerlich. Der Beſuch gehört 
zu ben Formalitäten, an dinen eine ernfte Sade nie jcheitern darf. Iſts bez 
Kaiſer nicht unbequem, einen Sozial demokraten im Schloßzu empfangen: nus 
genirt der Empfang nicht. Und will der Kaiſer Wahrheit; von unferem Ber: 
trauensmann kann er fie haben. Herr Bebel, der ſich mit lleinen&rfolgen nicht ab⸗ 
ſpeiſen laſſen will, widerſpricht, leidenſchaftlich wie immer. Der Beſuch — for: 
gefähr iſt ſein Gedankengang — iſt und bleibt eine Huldigung; wir aber hul 
digen keinem Kaifer, fegen feinen Genoſſen der Gefahr aus, jchlecht behandelt 
oder über die Achjel angejehen zu werden; wir find entfchlofjene Gegner aler 
böfiichen Ingerenz und dürfen nicht dulden, daß die Vertreter des Barlaırentes 
in einer Hofgefindeftube auf den Wink des Monarchen warten. Beide Männer 
reden und handeln, wie fie müflen, und wählen den Weg, aufden die Summe 
ihres Wollen, ihr „Charafter”, fiedrängt. Wahrſcheinlich Hat Herr Bebel jegt 
noch die Mehrheit der Fraktion auf feiner Seite. Und der fühle Beobachter wir) 
finden, fo einfach, wie Herr von Vollmar fie darftellt, liege die Sache am Ente 
doch wohl nicht. Als Symbol der Macht wäre bie Würde des Erften Bice 
präfidenten nicht zu unterfchägen. Aber der Genoſſe fäme auf dem Präfibial- 
fig in jchwierige Tagen. Er müßte, nad) der Sitte des Haufed, Aeuße rungen 
rügen, die ernach feinerlleberzeugung nicht tadeln kann, und dürfte fich gewifſen 
Ceremonien nicht entziehen, die fein &laube empört ablehnt. Im Schloß... 
Daß ber Sailer höflich wäre, darf nicht bezmeifelt werden. Uber er bat die 
Sozialdemofraten yundertinal in ſchroffen Scheltreben gefräntt, fie ehrlos ge 
nannt, eine Rotte vaterlandlofer, des deutjchen Namens unwerther Sefellen, 
Bolfsbetrüger, tückiſche Mörder. Einem Mann, ber fogeiproden hat, pflegen bie 
Geſcholtenen feine Höflichkeitvifite zumachen. Und bie Hauptjache: ben größten 
Theil ihrer Wirkung auf die Maſſe verdankt die Sozialdemokratie ber That: 
ſache, daß fie, im Gegenſatze zu allen anderen Barteien, nie für Transaktionen 
und Konzeſſionen zu haben war. Sowas machen unfere Leute nicht, jagt der Ar- 
beiterumdift ftolz auf die ftarreRömertugend ſeiner Mandatare. Soll man dieſen 
Nimbus auf ein Spieljegen, deſſen Gewinn im günftigften Fall doch nicht all⸗ 
zu beträchtlich wäre?... Zwar iſt die Audienz von keinem Geſetz vorgeſchrieben; 
auch die Geſchäftsordnung des Deutſchen Reichstags beſtimmt im zwölften Pa⸗ 
ragraphen nur: „Die Konſtituirung des Reichſstages und das Ergebniß der 
Wahlen wird durch den Präſidenten dem Kaiſer angezeigt.“ Angezeigt: dieſer 
Beſtimmung würde auch eine ſchriftliche Meldung genügen. Durch den Präſi⸗ 
denten: er könnte ſeine Stellvertreter alſo ruhig zuHauſe laſſen. Doch die Mebr- 
heit wird unklug genug ſein, der Sozialdemokratie die Verlegenheit zu erſparen, 
die entſtünde, wenn ein rother Genoſſe gendthigt wäre, im Schloß einen Diener 
zu machen und im Wallotbräu „die Würde des Hauſes zu wahren“. Und bie 
Gruppe Bebel wird ſich freuen, wenn fie die von parlamentariſcher Macht un» 
trennbare Berantwortlichfeit nicht auf ji) zu nehmen braucht und, mit dem ebr- 


Notizbuch. 385 


lichen Pathos gekränkter Unschuld, wieder jagen und fchreiben kann, daß nicht 

einmal das winzigfte ber ihr gebührenden Rechte one ſchnöden Berrath Heili- 

ger Ueberzeugung von ber brutalen Kapitaliftengefellichaft zu erlangen ift. 

Nicht nur der Legende wegen, biebehauptet hat, inder „Zukunft“ werde die rothe 
Traktion oder doch deren radilalerer Flügel mit ganz befonders verruchter Tüde ge 
ſchmäht, iſts vielleicht nüglich, post varios casus daran zu erinnern. Seit Dres 
den wiffen wir zwar, daß fein Genoſſe ins Schloß gehen darf (was den Kaifer, ber 
damit geftraft werben fol, ficher nicht ärgern wirb). Für die Mehrheit aber, bie Ge: 
wiſſensbedenken nicht nachzufragen braucht, ift der Thatbeitand unverändert; fie ſollte 
ruhig jeden Sozialdemokraten wählen, der fürden Boften präfentixtwird, an die Wahl 
feine Bedingung knüpfen, thun, als merkte fie nichts, wenn der Erwählte ih am 
Tage der Schloßaudienz etwa krank meldet, undaufbieerfüllte Pflicht pochen, wenn die 
Würde abgelehnt wird. Warten wir ab... Die zum Bundesrath bevollmädhtigten 
Herren werden den röthlicher ſtrahlenden Kuppelſaal wohl mit ſchauderndem Gefühl 
betreten. Doc) fie haben jett einen Kriegsminiſter, der reden kann, und dürfen für 
Angſtſtunden auf Preußen hoffen. Denn in Preußen, Herrn Möllers Excellenz hat 
es jüngft allem Volke verkündet, waltet nun eine Regirung, wie fie, fo tüchtig, ge- 
willenbaft, thatkräftig und klug, auf borufjiihem Boden noch niemals geiehen ward. 
Und Herr Theobor Möller, der jchöpferijche Genius von Rupferhbammer, muß es wiſſen; 
denn er gehört felbft ja zu der Regirung, dieden Ruhmesglanz der Stein und Bismard 
nächſtens mit unerichautem Licht Überfunfeln wird. Nächſtens ... 


* v 
* 

Zwiſchen den Herren Bon Pflugk⸗Harttung und De Jonge ift über Napoleons 
Verhalten bei Jaffa ein Streit entitanden, in dem Beide ein Schlußwort zu ſprechen 
wünjchen. Der Hiltorifer jchreibt: 

Wo fängt das moraliih Erlaubte an und wo hört e8 auf? Eine ſchwie 
rige Trage. Wir haben Teinen Kanon der Moral. Wir kennen auch jelten 
alle Umftände und Motive genau, die zu einer That trieben. Und doch muß 
jelbft der Hiftorifer, der nicht im Staub der Urkunden erftiden will, moralifche 
Werthurtheile fällen. Dan hat die Weltgefchichte das Weltgericht genannt; an 
dieſer Rechtſprechung bat ber Gefchichtfchreiber mitzuwirken. Aber er ift in un« 
günftigerer Lage als ber Richter in der Amtsrobe. Der hat feine Geſetzbuch⸗ 
paragraphen, kann Zeugen vernehmen, Eide verlangen, hat mit lebenden Weſen, 
die leibhaftig vor ihm ftehen, und mit kontrolicbaren Zuftänden zu thun. Was 
aber bleibt dem Hiſtoriker? Vergilbte Blätter, deren Schriftzüge oft entftellt, 
oft jchwer zu enträthjeln, oft von Parteiwuth verzerrt find, und die Stimme 
feines Gewiſſens, die Sicherheit feines fittlichen Gefühles. Diefem Gefühl folgte 
ich, als id} vor ein paar Wochen bier verlangte, der Gefchichtichreiber folle Na- 
poleons Berhalten vor Jaffa, die Niedermegelung der gefangenen Türken, nicht 
zu entichuldigen verjuchen, jondern offen eine Schandthat nennen. Gegen meine 
Auffaſſung wandte ſich Herr Dr. De Jonge am fiebenten November in dem Artikel 
„Napoleon in Jaffa“. Das kann mir nur angenehm fein; denn erft im Kampf 
tlären ſich Anſchauungen und Dinge Sol der Kampf aber belehren, jo muß der 
Kämpfer hübſch bei der Sache bleiben. Das bat mein Gegner nicht gethan. Wer 
feinen Artifel las, mußte glauben, ich hätte Napoleon als Geſammterſcheinung ver- 


30 


386 Die Zuknuft. 


urtheilt und ſei einfanatifcher Feind diefes großen Mannes. Derbin ich richt; freilich 
auch fein fanatticher Bewunderer. Fanatismus führt nicht zur Wahrheit und Klarheit. 
Wenn Herr Dr. De Jonge meine Anficht kennen lernen will, mag er meine Schriften 
aus der Zeit Napoleons lejen. Hier hanbelte ichs mir nur um ben einzelnen Fall. An 
beute will ich mich an ihn halten und nur bie ſachlichen Gründe bes Gegners präfer. 

Er Sagt: „Bonaparte fandte an den Kommandanten von Jaffa einen 


Barlamentär, um ihn aufzufordern, fih zu ergeben. Der aber ließ dem Ge | 


fanbten ftatt aller Antwort den Kopf abſchlagen“. Nach dem Repreffalienredk 
verfuhr dann ber Franzoſe gegen bie Türken. Nun: jchön war bie That des tür 
kiſchen Generals nicht, aber verftänbli; denn bie Franzoſen waren ohne Kriegs 
ertlärung gekommen, wie Räuber und Morbbrenner. Noch auf dem Wege nach Jaffa 
hatten fie ganze Dlivenwälder zerftört und Dörfer eingeäſchert. Die Wuth bes 
Mufelmanen war alfo begreiflih; feine That bleibt darum doch unſittlich ımd 
unflug, und wenn er fie mit dem Leben bezahlt hätte, brauchten wir ihm Lei 
Thräne nachzumweinen. Sol aber ein ganzes Heer die perfönlide Berfehlung 
bes Führers büßen? Das wäre ein gar zu ſummariſches Verfahren. BDod 
hören wir weiter: „Napoleon vertheibigte fein Berfahren damit, daß die Ge 
fangenen, bie die Befagung der vorher eroberten Stadt El⸗Ariſch gebildet Hatten, 
auf ihr Wort, in dieſem Feldzuge nicht weiter zu dienen, freigelafien waren, 
fi aber fogleich wieder mit den Türfen vereinigt, die Belagung von Jaffa ver 
ftärkt und durch ihren thatkräftigen Widerftand viele Yyranzojen das Leben ge 
koftet hätten.“ Daß in foldem Fall mwortbrüchige Kriegsgefangene ihr Lebes 
verwirkt haben, ſei feftitehende Megel des Volkerrechtes. So meint mein Gegner 
But. Woher wet er denn aber, daß Napoleons Behauptung richtig if? Bon 
einer Unterfuchung der. Sache ift mir nichts bekannt. Auc handelte es ſich in 
El⸗Ariſch doch nur um 700, höchſtens um 800 Mann (Sybel V. 588; Fournier J 
139), bei Alta find aber mindeftens 2000, wahrfdeinlic mehr als 3000 umge 
bracht worden. Wie die Sache wirklih ftand, erzählt ein Stabsoffizier ber 
franzöfiihen Urmee: „Die Gefangenen von El⸗Ariſch waren gegen die Rapitule 
tionbedingungen mitgejchleppt worden. Bonaparte fürdhtete, fie mödten, ſtatt ned 
Bagdad, nad Jaffa oder Alla gehen und feine Yeinde verftärten. Als Jaffa er- 
ftürmt war, begannen die Milizen, unruhig zu werden und zumurren. Sie meinten, 
jegt habe Bonaparte nicht mehr zu befürchten, daß fie fih nad) Jaffa wenbeten: er 
möge fie, der Kapitulation gemäß, nach Bagdad marfdiren lafſen.“ Die Truppen 
verlangten aljo nur, daß er Wort halte. „Bonaparte konnte ſich nicht dazu ent- 
ſchließen, und da er ohnehin ſchon vorhatte, fich der bei Jaffa gemachten Gefangenen 
zu entledigen, ließ er heimlich die Gefangenen von El⸗Ariſch unter fie mengen und Alle 
zufammen am zehnten März ermorben.“ (Jahrbücher für die beutiche Armee 
und Marine XXXVI, 141). Er ließ aljo nicht nur die bei Jaffa Gefangenen, 
ſondern auch die von El-Ariſch umbringen, denen er ausdrüdlich freien Wbzug ı 
ſprochen hatte. Auch Bonapartes Behauptung, er jei nicht im Stande geweſ 

bie Gefangenen zu ernähren, ift unhaltbar. Nach feinem eigenen Bericht hatte 

in Jaffa 400000 Nationen Zwieback und 200000 Gentner Reis vorgefunde 
wozu fi) noch bie Beute von Gaza gefellte: neben Anderem 800000 Natiom 
Zwieback. Damit konnte man die 12000 Franzoſen und 3000 @efangene 
Monate lang ernähren. Daß die Befangenen unbeguem waren, unterliegt feine: 





Notizbuch. 387 


Zweifel. Das gab aber dem Feldherrn noch lange nicht das Recht, fie ab⸗ 
ſchlachten zu laſſen. Abgeſchlachtet wurden fie: mit dem Bajonnett nieberges 
ftoßen, nicht, wie der von De Jonge citirte Laurent fagt, erjchoflen. Auf diefe Weije 
tonnte man Batronen jparen. Statt übrigens den unzuverläffigen Schönfärber 
Zaurent gegen mid ins Feld zu führen, Bätte mein Gegner nachlejen follen, 
was Sybel über ben Gedankengang und bie That Napoleons fagt. Nach dem 
Untergang ber franzöfilden Flotte und bei der feindlichen Haltung der Pforte 
fühlte der General fi in Egypten höchſt unſicher. Aus dieſer Zeit berichtet 
Sybel: „Er erklärte deshalb, daß im Ortent der Gehorfam nur durch Furcht 
zu erzwingen fei, und unaufhörlich folgten fi} die Befehle an feine Offiziere, 
ein Exempel zu ftatutren. Das bie: eine Anzahl Köpfe abzufchlagen... Er 
ließ verfünden: Die Zeit wird kommen, wo Jedem klar wird, daß ich höheren 
- Befehlen folge und daß feine menſchliche Anftrengung Etwas gegen mid) ver- 
mag.“ Gegen folden Wahn kam Feine menſchliche Regung auf. Leber die hier 
umftrittene That urtbeilt Sybel: „Man wird jagen müſſen, daß die fogenannten 
Gründe nur VBorwände waren. Bonaparte hielt es für gut, den Gehorſam durch 
Furcht zu erzwingen und hier an ber Schwelle Syriens ben Schreden in großem 
Stil zu verbreiten.” Der größte deutſche Geſchichtſchreiber der Revolutionzeit 
tft meinem Standpunkt alfo um viele Meilen näher ald dem meines Gegners. 
Und dieſe Gewißheit läßt mic unbegründete Angriffe leicht verſchmerzen. 
Profefior Dr. Julius von Pflugk⸗Harttung. 

Die Untwort lautet: 

Wenn Napoleon und die Franzoſen, weil fie „ohne Striegserflärung ge 
kommen‘ waren, als ‚Räuber und Mordbrenner“ zu qualifizicen wären, jo würde 
diefe kriminalrechtliche Dualififatton auch auf den Grafen Walberjee und das 
beutich-oftafiatifche Corps im China-Srieg zutreffen; in beiden Fällen ift fie gleich 
unzutreffend. Die Berftörung von „Wäldern und „Dörfern“ ſoll ſchon dfter 
tm Kriege mit Zug und Recht geübt worben fein. Das nad Anficht des Herrn 
Profeſſors ‚‚verftändliche‘‘ volkerrechtliche Verbrechen des türlifchen Generals habe 
ic keineswegs al3 allein ausreichenden Grund der Repreſſalie bingeftellt, jondern 
nur als weſentlich „adminikulivenden Grund in Verbindung mit bem zweiten. 
Dat „Napoleons Behauptung richtig iſt“, hat fo lange als feitftehenb zu gelten, 
wie nit das Gegentheil bewiejen ift, da auch der „Maflenmörder‘' Napoleon 
vor bem Tribunal der Geſchichte bie jelben Rechte hat mie jeder Angeklagte, 
ber ja nicht ben Unfchulbbeweis zu führen, fondern vom Staatsanwalt den 
Schufdbewei3 zu erwarten hat. Der Behauptung von Fournier und GSybel, 
daß die Beſatzung von El⸗Ariſch nur 700, höchftens 800 Mann betragen babe, 
fteht gegenüber die von mir bereits citirte Ungabe des Napoleon-TFeindes Wachs⸗ 
muth (al8 Ordentlicher Profefior der Sefchichte in Leipzig 18366 geftorben), daß 
es 1600 gewefen jeien. Spätere hiſtoriſche „Zeugen“ haben aber vor früheren 
durchaus nicht immer den Borzug größerer Klaffizitätz eher iſts umgekehrt. 

Die Brovtantnorräthe waren wahrjcheinlich kaum halb fo groß, da Napoleon 
in ben „Bulletins“ und „‚Beuteberichten”' an jeine Pariſer regelmäßig ein blagueur 
und Renommift war und, zumal als junger Held von kaum dreißig Jahren, etwa 
im Maßſtab von 2 (618 8) :1 aufzufchneiben pflegte. Nicht nur die Schwierigkeiten 


80* 


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388 Die Zuhmft. 





der Ernährung, fondern diefe in Verbindung mit benen der Bewachung bildeten 
den dritten Triegsrechtlichen Grund. Bon ben 12000 Mann, mit denen Rap 
leon am jechsten Februar aufgebrochen war, war vier Wochen jpäter durch Kämpfe, 
Krankheit, die Strapazen des mörderiſchen Klimas vielleicht die Hälfte Kriege 
unfähig geworden. Ueber die „Abſchlachtung“ jagt Walter Scott (Il, 227), ber 
doch gewiß kein fanatiicher Bewunderer Bonapartes war: They were put to 
death to musketry.... and the wounded were despatched with the bajonnei 
Uebrigens wiegt auf der Militänvage die Differenz zwiſchen Stich und Schuß 
fehr wenig. Daß ich bei Sybel nicht Belehrung fuchte, hat feinen guten Grund 
Bei aller wiſſenſchaftlichen Hochſchätzung des hervorragenden &efchichtichreibers 
der deutſchen Neichsgründung, bei aller menjchlichen Liebe und politiſchen Be 
wunderung, die ich für feine beiden Helden bege, den edlen alten Saifer und 
den Kanzler mit der eifernen Fauſt und dem eijernen Kopf, kann ich den Herold 
diefer beutfchen Nationalhelden in Napoleon: Fragen eben fo wenig al3 geredten 
Richter anerkennen, wie etwa Herr Profeſſor von Pflugk Harttung den franzöfijcen 
Nationalhiftorifer Henri Martin ald maßgebende Inſtanz erachten würde, von 
ber er Über den „Gedankengang“ Bismards in den Tagen belehrt werden jollr, 
ba der eiſerne Kanzler forderte, man folle den Wrtillerieangriff auf den Mont 
Avron und bie Forts zu einem allgemeinen Bombarbement auf die mit Menſchen 
gefüllte Innere Stadt Paris erweitern. 
Gerechte Gefchichtkritil ift nur angewandte Jurisprudenz. 
Dr. jur. Moriß de Jonge. 
Ich will mich nicht in den Streit mifchen. Nur an ein paar Ausſprüche Bo 
napartes erinnern, bie für das Urtheil in Betracht fommen fönnten; Graf Chaptal 
der, als Berwalterwictiger Staatsämter, zulegt als Minifter, bem Konjul und Katie 
ſechzehn Sabre lang nah ftand, hat fie in feinen Souvenirs aufbewahrt. Il sufi 
d’ötre juste avec des Frangais. Il faut ötre sövöre avec des ötrangers. „Ar 
lington ift ein Kerl! Er muß vor einem überlegenen Heer fliehen (in Portugal), abe 
er verwüftet noch auf der Flucht ein Gebiet von achtzig Meilen und ruinirto den Feind 
ohne ihn zu bekämpfen. In Europa find nur Wellington umd ich zu ſolchen Maß⸗ 
regeln fähig; der Unterſchied ift, daß diefes Frankreich, das man eine Nation nennt, 
mich tadeln würde, während England feinem Feldheren zuftimmt. Ganz frei war 
ich nur in Egypten; und ba habe ich Aehnliches gethan. Dan hat viel fiber bieder: 
wüftung ber Pfalz geredet und unfere elenden Geſchichtſchreiber benutzen die Sache 
noch immer zu Berleumdungen Ludwigs des Vierzehnten. Der Ruhm, biejen Ent 
ſchluß gefaßt und ausgeführt zu haben, gebührt aber nicht bem König, jondern dem 
Miniſter Louvois; in meinen Augen bleibts die ſchönſte That feines Lebens.“ Meder 
die eguptifchen Vorgänge erzählt Chaptal: „Napoleon nahm in den Krieg die @efühb 
Lofigfeit des Weſens mit, die in allen Bhafen feines ftürmifchen Lebens der herrſchende 
Bug war. Bei Jaffa ließ er fiebentaufend Türken erfchießen, bie fich bei der Kap" | 
tulation ergeben hatten. Fünf oder ſechs Leute, die dergräßlichen Metzelei entronntn | 
waren, flohen nad) Akka und beftiinmten, durch die Meldung des Treubruches (aften- 
tat & la bonne foi), die Garniſon, auffeinerlei Borfchläge zu Hören und fich bis zum Tod 
zu vertheidigen. Das war die Haupturſache des Widerſtandes, den Bonaparte bei 
Alta fand. Ungefähr um die jelbe Zeit ließ er ſiebenundachtzig Soldaten, die an bet 
Peſt erfrankt waren, im Spital von Jaffa vergiften. Man verfuchte e8 zuerft mi 











Notizbuch. 389 


Dpium, das aber nicht die erwartete Wirkung Hatte, und nahm dann Queckſilber⸗ 
chlorid. Auf dem Rückzug von Alla ließ er in weitem Umfreis auf allen Feldern die 
Ernte verbrermen.” Das ift vor oder unmittelbarnac den Hundert Tagen geichrieben. 
Viele Züge, die zu diefer Darftellung paflen, findet man in den Lettres Insdites, 
die Blonplon deshalb Lange ſekretiren ließ; da heißt es immer gleich: Fusillez-mol' 
ces gens! Ich glaube, daß der große Korje den Vorwurf amoralifden Handelns 
Belächelt und ben Tadler gefragt hätte, ob er ihm einen Feldherrn, einen Politiker 
nur nennen tönne, dem je gelungen ſei, auf dem ſchmalen Saumpfad reinfter In⸗ 
dividualfittlichkeit fein Volk zur Mittagshöhe der Weltmacht zu führen. 


* %* 
* 


Noch zwei Briefe. I Ein Offizier ſchreibt mir: 

„Etwas verjpätet iſt mir die, Zukunft‘ mit dem Artikel Fünf Kaiferparaden‘ 
unter bie Augen gekommen. Dos Thema iſt, um mich im Jargon unferer Zeitungen 
auszudräden, nicht mehr aktuell. Die Zeitungmänner reiten gar fchnell, ſchneller 
al3 mande Toten; fie reden feitbem mit mehr oder weniger (meift weniger) Ver⸗ 
ftändniß furchtbar Hug über den Yall Bilfe, allant droit au coeur des honnätes 
gens, und haben ſchon die Federn getrocknet, die Über die Nefrutenvereidigungen des 
Gardecorps berichtet haben. Geſtatten Sie mir, auf die Gefahr hin, rüdjtändig zu 
ericheinen, einige Worte zu den Kaiferparaden. Wenn es mit fünfen geıhan wäre: 
meinetwegen. Sein Schade wärs auch, wenn fie filh in einer Woche zufammendrängten. 
Doch kommen im Lauf des Ausbildungjahres andere dazu. Yrüher mit, neuerdings 
ohne Ularmblafen; verftummt find die Kaſinowitze, die auf der Kombination eines 
bomonymen Wortes mit einer pathologiſchen Erfcheinung berubten. Mit Ausnahme 
Derer, bie ‚aus Anlaß der Truppenfchau‘ zur Dekoration ‚dran‘ find, empfinden 
Ulle, beſonders aber die für die Ausbildung in erfter Linie verantwortlichen Regi- 
mentöfommandeure und vielgeplagten Compagniechefs, die Schau minbeftens als 
eine unwillfommene Unterbrechung ihres Programmes, — mit der Gratis⸗Möglich⸗ 
feit im Hintergrunde, nach glüdlich übermundener Scylla normaler Befichtigungen 
der Eharybdi der außergewöhnlichen zum Opfer zu fallen. Das nach den vorläufig 
neusten Begriffen ſchon alte Verfahren des Alarmblafens hatte wenigftens das Gute, 
daß nicht Tage lang vorher zu dieſem befonderen Zweck gebrillt werben konnte und daß 
nur die in der Garniſon Anweſenden fich ber reinen Freude hinzugeben brauchten, bei 
der Truppenihau ‚eintreten‘ zu dürfen. Jetzt ifts anders. Wer das Glück Hatte, 
nach der Bataillonbefitigung, Schießübung oder Dergleichen feinem Vorgeſetzten 
einige Wochen mohlverdienten Urlaubes abgerungen zu haben, wird telegraphiich 
für die Stunde der Schau zurüdberufen. Er mag ſehen, wie er die Mittel zu dieſer 
Extratour auftreibt. Das Höhere Dienftintereffe will es fo haben. Qüdenhaft würde 
es ſcheinen und unfchön, wenn das Auge des Allerhöchſten Kriegsherrn bie Truppen- 
einheiten durch jüngere als ihre eigentlichen Führer, Züge gar durch Unteroffiziere 
befehligt fände. Man Hat zwar gehört, Das ſei im Krieg bie Regel und jede Charge 
mäfje im Stande fein, die näcdhfthöhere zu erfeßen. Thut nichts. Die Anſprüche der 
Truppenfhau find wichtiger, wenns auch fein Verſtand der Berftändigen einfieht. 
Mit welcher Dienftfreudigfeit mögen die Lieutenants dem Rufe Folge leiften, mit 
welcher jicheren Heberlegenbeit das neugeprägte Schlagwort ihrer franzöfiihen Be⸗ 
rufögenoflen belädeln: La discipline de la conviction! 


mn a rt 


390 u Die Zutunſt. 


I. Sehr geehrter Herr Harden, nachdem Theobor Mommfen eine Zeichenfeier 
in der Kaiſer Wilhelm ˖ Gedächtnißkirche bereitet und der Segen ber Religien ge 
fpendct worden ift, dürfte der folgende Brief vielleiht Manchen interefiiten. &s 
war Mommfens vom neunten April 1900 batirte Antwort auf eine an ihn gerichtete 
o Bitte, einer zur Propaganda der moniftiſchen Weltanfhauung zu begrünbenden 
Drganijation beizutreten: „Es ift ein gefährliches Beginnen, die Seelen, melde u 
folder Weltanſchauung fi innerlich zufammenfinden, zu einer äußerlidhen kirch | 
gleihen Organifation zufammenfcdließen gu wollen; vor Ullem darum, weil der 
gefeftigte Menſch Das, worüber er mit fih im Heinen tft, in fi) verichlieht und ver- 
fließen muß, er fein Bebürfniß fühlt, weder zu predigen noch Predigten anzuhören. 
Verzeihen Sie mir das offene Wort und laſſen den neuen Glauben ſich weiter im Stillen 
bauen unberbauen.“ Mit an ner degaqtna Ihr ergebener Bictor Fraenll 





Emmy, Blande, Schwefter Abba, City, Lotte Gern, Elfe, Martha, Lit, 
Ida, Annie, Schweiter Sidkus, Schwefter Kurzrock, Ella Chan, Helene, Serba, 
Foͤlicitoͤ, Minna, Schweiter Claire, Schweiter Ellen, Irma, Klara, Heriba, Grete, 
Liane d’Oro: all diefe Damen — und viele andere, die fi) Yräulein, Madame oder 
Witwe nennen — empfehlen ſich, mit genauer Adreſſe, in der Voſſiſchen Zeitung 
Alle in einem Blatt, bem vom neunundzwanzigſten November. Empfehlen fi als 
Mafleurin und Manicure. Was daten Sie denn? Auch Mafleure foll es, nad 
einem glaubhaft klingenden Gerücht, geben; nur einer empfiehlt fi in dieſem Blatt: 
ein Renommirmann unter fiebenzig Mafleufen und Manicuren. Für alle Stadt 
theile, alle Nationalitäten iftgeforgt ; und ganz reizend ift, daß all’ diefe Heilgebilfinnen, 
trotzdem jede Kleine Annoncenzeile vierzig Pfennige koftet, ihren Bornamen mit int 
Blatt jegen. Bejonders nett ift Liane d'Oro, Schweiter Kurzrod und Lotte Gern. 
Da verlernt jeder das Fürchten vor rauhem Handgriff. Die „trengfte Methode“, dr 
früher in Inſeraten beliebt war, barf nicht mehr annoncirt werden; dafür giebts je 
„vornehmfte Maflage”, bie aud nicht zu verachten fein mag. So iſts täglich, mid 
nur im Advent. Und die Behauptung, manche diefer Huldinnen fei [don wegen un- 
züchtigen Hanbelns beftraft, ijt ficher von lüderlicden Lieutenants erfunden. 

* * 


%* 

Herr Profeſſor Morig Schmidt, der die Stimmlippe des Katferd von einem 
winzigen Polupchen befreit hat, ift, zur Belohnung, zum Wirklicden Geheimen Rath 
mit dein Titel Excellenz ernannt worden und bat, mittheiliam, wie er ift, flugs ben 
Kollegen erzählt, daß Wilhelm der Zweite zu ihm gelagt babe, über dieſe Ernennung 
werbe ſich gewiß die ganze deutſche Laryngologie freuen. Gewiß iſts nicht. Die neue 
Ercellenz gilt nicht für einen der erften Laryngologen Deutſchlands; viele Fachleute 
ziehen ihr den Berliner Fränkel und manden Anderen vor. Und die Operation, bie 
Schmidt im Neuen Palais zu machen hatte, bot faum einem Anfänger Schwicrig- 
fett. Mommſen, Birhow, Treitſchke waren nicht Wirflicde Geheime Räthe, Robert 
Koch, der die Heillunde der Menjchheit in neue Bahnen gedrängt Hat, iſts Heute noch 
nit. Wer einem Monardien Dienfte leiftet, ift jedes Lohnes werth, den ber gut 
Bediente ald Perfon zu vergeben bat. Staatliche Ehrentitel aber jollten nur ben 
Gelehrten und Heilfünftlern verliehen werden, die durch wiſſenſchaftliche Urbeit oder 
ungemöhnliche Praltikerleiſtung den Anſpruch auf ſolche Würde erworben haben. 


Herausgeber und ı beraniwretliche Rdane MaHarden in Berlin. — Verlag der Zukmft in Berite. 
Trud von Albert Tamde in Berlin-Schöneberg. 


Berlin, den 12. Dezember 1905. 
— "1 


Die Rranfheit des Raifers. 


m neunten November laſen wir, zwei Tage vorher fei aus dem Kehl⸗ 

Topf des Kaiſers ein weiches, von Plattenepithel überzogenes Binde 
gewebe entfernt worden. Ein Stimmlippenpolyp, Hieß es im erften offiziellen 
Bericht. Der Ausdrud Hang dem Laien fremd; die Aerzte ſcheinen die liga- 
menta glottidis, die wahren Stimmbänder, um Berwechjelungen mit den 
Tafchenbändern zu meiden, jegt Stimmlippen nennen zu wollen. Profeſſor 
Orth, Virchows Schüler und Nachfolger, Hatte, unmittelbar nach der „ganz 
glatt verlaufenen” Operation, das Gewebe mikroſkopiſch unterfucht und 
das Ergebniß in den unzweideutigen Satz gefaßt: „Es hanbelt ſich um einen 
durchaus gutartigen bindegewebigen Bolypen“. Danach war nicht der ge- 
ringſte Grund zur Beforgniß. Seit — bald nach der Geburt des regirenden 
Kaiſers — Czermak zum erften Mal Kehlkopfpolypen ficher nachgewieſen 
hat, find unzählige Fälle behandelt worden, meift fogar ambulatoriſch. Die 
Operation ift weder fehwierig noch fehmerzhaft. Vor vierzig “fahren be— 
föprieb Paul Viltpr von Bruns „die erfte Ausrottung eines Polypen in der 
Kehllopfhöhle ohne blutige Eröffnungder Luftwege“; er mußte den Patienten, 
feinen Bruder, acht Wochen lang mit Verfuchen plagen, bis der erkrankte 
Kehlkopf den durch die Einführung des Meſſers bewirkten Reiz ertrug. Heute 
hat der Urzt feinere Inftrumente, Pincetten, galvanokauſtiſche Schlingen, 
und die Schleimhaut wird durch Cocain unempfindlich gemacht. Seitdem 
Hält man Stimmbandpolypen, fo läftig fie fein können, nicht mehr für ge- 
fahrlich; die Gefahr des Erſtickens entfteht in nicht vernadhläffigten Fällen 
felten und die Befeitigung der Heinen Gefchwülfte wird kaum noch zu den 

31 


892 Die Zukumft. 


ernfthaften Operationen gerechnet. Diesmal aber glaubten nur Wenigean 


bie Unbeträchtlichkeit der Sache. Trotzdem von allen Seiten befchiwichtigenbe 
Bulletins kamen und der Operateur recht redfelig Beginn und Verlauf der 
Erkrankung jhilberte, blieb die Meinung: Da wird vertufcht. Für eine 
Kleinigkeit hätte man nicht den großen Apparat aufgeboten, der ſchlimme Ge⸗ 
rüchte begünftigen mußte. Bier offizielle Berichte am erften Tag; und vor: 
her Alles verheimlicht. Sin Merſeburg Hatte ed angefangen. Die Heiſerkei 
wollte nicht weichen. Der Leibarzt Dr. Ilberg wurde unruhig. Die Kaiſerin 
unterbradhihre Reife. Der Geheimrath Morig Schmidtwurde aus Frankfurt 
- gerufen und erklärte, man müſſe abwarten; werde eine Operation nötbig, fe 
fönnenatürlicherftdiemilroftopifchelinterfuchungden Befund feftftellen. Rie 
manderjuhr&twas auch als der frankfurter Laryngologe zum zweiten Mal be⸗ 
rufen und unerkannt im Neuen Palais angelangt war, ahnte ſelbſt die nächte 
Umgebung nodhnichts. Den Flügeladjutantenvom Dienft fiel nur auf, daß 
am nächſten Tage der von einem Spazirgang heimlehrende Kaiſer im Schlo 
einen anderen Weg nahm, als er gewöhnlich pflegte. Er ging in ein Sim 
mer, wo für die Operation Alles vorbereitet war, und noch am ſelben Tag 
tonnte Profefior Orth fein Gutachten einfenden. Die Abfidt war gut. Ti 
Thatfache der Erkrankung follte erjt befannt werden, wenn zugleich auf 
die Gefahrloiigfeit verbürgt werden konnte. Doch darf man den Bölkerr 
verdenfen, daß fie offiziellen Berichten aus der Krankenfiube eines König 
nachgerade den Glauben verfagen? Humanität und Politik zwingen zur Un: 
wahrhaftigfeit. Daß ein Monarch in Yebensgefahr jchwebt, wird meift erfi zu: 
gegeben, wenn das Roma begonnen hat. Und würde ein erfahrener Spe- 
zialift vor Nerzten ein Yanges und Breites über eine Operation erzählen, die 
jeder Fachmann als nicht der Nede werth kennt? Würden die Kollegen ihm 
huldigen, ihn für ſolche Dugendleiftung feierlic zum Ehrenmitglied er- 
nennen? Die Helden der reinen Riffenfchaft find doch nicht fervil. So wurde 
geflüftert. Immerhin konnte man den Zweiflern das von den Herren Leuthold, 
Schmidt ud Ilberg am neunten November unterzeichnete Bulletin ent- 
gegenhalten, dus fagte: Die entzündliche Reaktion läßt bereits nah; b > 
Allgemeinbefinden ijt gut; bi8 zur Heilung der Heinen Wunde lönnen al 
nod) acht Tage verftreichen. Gewiß hatten die drei Aerzte eine über ihr € 
warten hinausreichende Friſt gewählt; mit ſolcher Sicherheit würden fienid, 
reden, wenn aud) nur die Möglichkeit einer Enttäufchung vorhanden wärı 
Die Prognoftif Hat jid) nidjt bewährt. Vier Wochen nad) dem neı 
ten November war die Wunde noch nicht völlig geheilt, Tonnte der Pr 


Die Krankheit des Kaifers. 393 


feine Stimme noch nicht wieder gebrauchen. Dan hatte verfündet, er werde 
in den erften Degembertagen ſchon Heine Reifen unternehmen und felbft den 
Reichstag eröffnen: er blieb im Neuen Palais und ber Kanzler verlas die 
Thronrede. Aus Potsdam fam die Dieldung, der Kranke fehe jchlecht aus 
und fei auffällig gealtert; der Zuftand müſſe fich verfchlimmert haben, denn 
die Sprechverfuche feien wieder aufgegeben worden und der Kaifer ſchreibe 
Alles, was er mitzutheilen wünfche, auf Zettel. Daß in der Thronrede von 
der „Deilung” des erften Bundesfürften gefprochen wurde, wirkte eher un- 
günftig als günftig; ein Stimmlofer ift ja noch nicht als geheilt zu betrachten. 
Ein paar Tage danach mußte denn auch zugegeben werben, „daßbie Heilung 
normalverläuft”,aljovorfchreitet, nicht vollendet ift. Alles offiziöfe Bemühen 
half nun nicht mehr; wer mag aus ſolcher Duelle fchöpfen? Das Ausland hielt 
Wilhelm den Zweiten für einen verlorenen Mann und die Zeitungpſychologen 
durchforſchten ſchon die Perfönlichkeit des Kronprinzen. Auch in Deutfchland 
wuchs ringsum der Glaube, e8 könne fich nicht um eine leichte Erkrankung 
handeln. Diplomaten fledten die Köpfe zufammen und berichteten ihrer Re⸗ 
girung, public opinion zweifle an der Wahrheit der offiziellen Angaben. 
Großinduftrielle fragten unrubvoll, was aus ihren Plänen werden folle, 
wenn dem Leben ihres höchten Protektors ein nahes Ziel gejett fei. Nüdh- 
terne Bolitiler meinten, nur wer den Deutjchen für unmündig und findijch 

hilflos halte, könne fürchten, die ganze Herrlichkeit werbe verbleichen, wenn 
zwei Augen fich fchlöffen. Der Fehler der Prognofe rächte ſich. Ueberall was 
ren Zweifel erwacht, auch auf den Höhen derBeamtenjchaft und der Armee; 
und durch die erregte Volksphantaſie huſchten dunkle Sefpenfter. Sohatsbeim 
Kronprinzen Friedrich auch angefangen; faſt genau fo. Zuerſteine Heiſerkeit, 

dieallen Heilmitteln widerftand. Monate lang offizielle und offizidſe Beſchwich⸗ 

tigungen. Am neunten Juni 1887 Virchows Gutachten: das exſtirpirte Stück 
hat die Kennzeichen der Pachydermie, iſt ein durchaus gutartiges Gewebe. Eine 
Reiſe nach Italien; auch Wilhelm der Zweite ſoll, wie es heißt, nächſtens ja nach 
dem Süden gehen. Endlich — auch an einem neunten November — Mackenzies 
Erklärung, er ſtimme der Krebsdiagnoſe zu; die Tracheotomie und das veid 

der fetten vier Kebensmonate. Orths Wiſſenſchaft Hat noch nicht fo viel KRre- 
dit wie die Virchows; und der weltberühmte Cellularpathologe hat damals 

majeftätifch geirrt. Großmutter, Vater, Mutter des Kaiſers find am Kar» 

zinom geftorben. In allen drei yällen wurde die Bösartigfeitder Neubildung 

bis in die letzte Zeit beftritten. Wiffen Sie denn nicht, daß Krebs erblich ift? 

Wer weiß, ob nicht ſchon das Obrenleiden des Hohen Herrn... Man braucht 

31* 


394 Die Zuhmft. 


nicht zu den Bewunderen des Kaiſers zu gehören, braucht den Werth der Nen 
archenperfönlichkeit für die Entwidelung moderner Staaten nicht zu ir 
Ihäten, um ſolches Geraun jchädlich zu finden. Mag Einer ſich noch jo mt 
ichlofien zum ölonomifchen Determintsmus befennen: gerade ber Deuttk 
hat, nicht immer fröglichen Herzens, erfahren, was ein Einzelner verm 
Das Deutfche Reich würde auch den dritten Kaiferüberleben; fürunferg 
politifches Leben aber iſts wichtig, zu wilfen, ob man mit der Wahrſcheinlit 
feit eines nahen Thronwechſels rechnen muß. ‘Doch wo ift Sicheres zu 
den? Die zur Behandlung berufenen Aerzte dürften, felbft wenn fie wollten, 
nichts Ungünftiges jagen; und die anderen, die das Bild der Erfranlum 
nicht fahen, find auf Vermuthungen angewiejen. Ich habe Schweninger ge 
fragt. Er bat die Leidensgefchichte Friedrichs miterlebt, den Kronpritzu 
überredet, ſich mit dem Kehlkopfipiegelunterfuchen zu laſſen, und die Sektion 
der Reiche des Kaifers fo dringend empfohlen, daß Wilhelm der Zweite fi, 
gegen den Wunſch feiner Mutter, anordnete und dadurch den deut fchen Arzztra 
die Möglichkeit des nachprüfbaren Beweiſes gab, daß ihre Diagnoſe von Anfan; 
an, trotz Mackenzies Widerſpruch, richtig geweſen war. Schweninger famıt 
bie Eltern, kennt die Kinder ſeit manchem Jahr und konnte ſich nach offiziede 
und geheimen Berichten vielleicht ein Urtheil über den Fall gebildet habe 
„Ein Urtheil? Nein. Dazu müßte ich geſehen, nicht nur gehört habe 
Mehr als Bermuthungen kann ich Ihnen nicht bieten. Wer mit unfehlbam 
Miene über kranke Menfchen — daß ich den Begriff ‚Krankheit‘ ablehm, 
wiſſen Sie längjt —, deren Zuftand und Ausfichten urtheilt, ohne fie genat 
zu kennen, ift ein Schwindler. Die Herren, die, mit ober ohne Diplom, ui 
Wunſch auch brieflich“ behandeln, haben doch wenigftens die ſubjektive Dar- 
ftellung des Kranken vor fich. Alfo nichts Sicheres. Das hat übrigens jelif 
ber behandelnde Arzt viel feltener, als man gewöhnlich glaubt, in der Weſten 
tafche. Was ich aber Iefe und höre, giebt mir, nach der Erfahrung einer dreißig: 
jährigen Praxis, gar feinen Grund zur Bennruhigung. Heutzutage muß 
Alles gleich Krebs fein. Erinnern Sie ſich noch an die Erkrankung Eduards 
des Siebenten? Den hatte die öffentliche Meinung ſchon beinahe beerdigt und 
ich galt für einen Schönfärber, weil ich ſagte, mir fpreche fein ber befannt 
gewordenen Symptome für den Krebsverdacht; und vorläufig lebt der König 
ja nod) ganz vergnügt. Beim Kronprinzen Friedrich lag Die Sache anders. 
Der war jehsundfünfzig Jahre alt und belam plöglich eine Heiſerkeit, gegendit 
nichts half, die aud) in Ems nicht weniger läftig wurde. Da mußte wohl 
etwas Ernftes vorliegen; und ich fagte meinem Fürſten ſehr früh, der Ge⸗ 










Die Krankheit des Kaifers. 8095 


danke an Karzinom jet nicht abzumeifen. (‘Die blödfinnige Behauptung, ber 
Fürſt habe je die Übficht oder den Wunſch gehabt, den Sohn feines alten 


Herrn als unbeilbar Kranken von der Thronfolge auszujchließen, braucht jetzt 
nicht mehr widerlegt zu werden.) Als der Kronprinz dann auf einem Ball 


— * — 


.. 


— 


—X 


ungefähr drei Viertelftunden über ſeine Halsbeſchwerden mit mir geſprochen 
hatte, war die Vermuthung ziemliche Gewißheit geworden.“ 
„Und viel fpäter kam doch Virchows unrichtiges Gutachten.“ 
„Warum muß e3 denn unrichtig gewejen fein? Erſtens kann auch der 
gefchicktefte Operateur in ſolchem Fall daneben greifen und ein Stüc bers 
ausholen, das für die Art der Erkrankung nicht typifch ift. Und zweitens ift 
der Mitroffopifer nicht unfehlbar. Auf dem Gewebe fteht ja nicht: Dies ift 
frebfig! Der Befund muß gedeutet werden und läkt gar nicht jo felten mehr 
als eine Deutung zu. Virchow ſprach von Pachydermie. Derals Laryngologe 
äußerftgewandte Madenzte,dem man aber wohl nicht Unrecht tyut, wenn man 
ihm nachfagt, er habe die Sache von der politischen Seite genommen, könnte 
dem Bathologifchen Anatomen abfihtlich ein falfches Stück geliefert haben. 
Das braucht manabergarnicht vorauszufegen. Warum follen nicht auch bös⸗ 
artige Geſchwülſte Stellen haben, die nicht ſchlimmer ausfchen als dicke, ſchwie⸗ 
lige Haut? Virchows Diagnofe kann volllommen richtig gewefen fein. Sie 
bat mich damals nicht überzeugt; und eben jo wenig würde ich heute auf Orths 
Gutachten ſchwören, trotzdem ich ihn natürlich als ausgezeichneten Forſcher 
anerkenne. Meinetwegen als ‚Autorität‘. Nur ſoll man die Autoritäten nicht 
für allwifjende Götter halten und nicht außer fich vor VBerwunderung fein, 
wenn aud) fie mal von der Entwidelung widerlegt werden. Da hinten auf 
dem Feld ift ein weißer led. Das Auge, das Fernglas hält es für Schnee; 
wenn wir hinkommen, iſts vielleicht ein Blatt Papier. Wir Aerzte ſchaden 
ung ſelbſt, wenn wir thun, als fönnten wir ausSymptomen und anatomischen 
Befund unter allen Umftänden die Namen ſämmtlicher, ‚Krankheiten‘ ablefen. 
Und könnten wirs, fo wären wir auch nicht viel Flüger; denn Namen find 
Wörter und Wörter find zwar für Lehrbücher und Diufeen gut, nügen für die 
Braris aber verdammt wenig. Auch, Krebs ift ſchließlich nur ein Wort; der 
Begriff ift durchaus nicht fo unbeftreitbar feſt, wie der Laie ſich vorjtellt. 
Don Hippofrates big auf Heiſter, von Galen bis auf Bichat und weiter, das 
ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch, hat die Definition geſchwankt; und 
wir ſtehen noch nichtam Ende. Dasmwäreaudhtraurig. Waldeyers Erklärung: 
„Krebs iſt eine atypiſche Wucherimgderepithelialen Zellgebilde‘ wir d vermuth⸗ 
lich nicht das letzte Wort der Wiſſenſchaft bleiben; eher ſchon Billroths klarer 









396 Die Zukunft. 


und beicheidener Sat: Krebs beruht auf einer Diatheſe.‘ Selbſt das in ur 
Zeit jo beliebte Wort, Neubildung ſollte man miteiniger Vorſicht anwenda 
die Häufungentarteter Theilewäre nicht als Neubildung zu bezeichnen. Koh 
bunter als in der Aetiologie iſts in der Therapie hergegangen; bald ii 
es bippofratifch: Noli metangere, bald wurde galenifch geratben, daß. 
zinom auszufchneiden, ut nulla supersit radix. Seit die Chirurgen ® 
Herrichaft gelangt find, wird das Schneiden bevorzugt und im Radiliit 
mus fo weit gegangen, daß auf einem der legten Synälologentongrefieiäe 
wieder Keberftimmen laut wurden. Man operirt radikal, noch radilaler ım 
möglichft im Frübftadium. Ueber die Nüglichkeit kann man ftreiten; m“ 
aber darüber, daß der Krebs nicht eine urfprünglich Iofale, erft ſpäter burd 
Metaftafeweitergefchleppte Erkrankung iſt, fondern eine Allgemeinerkrantun 
des Organismus, die nicht einfach durch die Befeitigung eines Sympteus 
zur ‚heilen‘ ift. Nach meiner Ueberzeugung leiden nicht Alle an Karzinom, 
als krebſig etikettirt werben ; zu ficherer Diagnofegenügen hier, wie die Erie} 
rung lehrt, anatomische und hiftologifche Momente nicht: Verlauf und 
der Erfranfung erft liefern die wichtigften Kriterien. Deshalb iſt kein dm, 
fofort zu verzweifeln oder nach dem Meffer zu greifen, wenn wir diefe Di 
gnofe hören. Nicht nach dem Namen der Krankheit follen wir fragen # 
dern prüfen, was das erfranfte Individuum noch zu leiften vermag, plc 
Reflourcen 8 bat und wie wir fie ſammeln, vermehren und nüglid) verm@ 
den fönnen. PBrognofe und Diagnofe: Wörter; der Kranke hat nicht De 
gnofe und Prognofe von ung zu verlangen, fondern Hilfe, Rath, Pflege d 
ihn zum Widerftand fähiger macht. Wo es fich um hohe Herrfchaften handeh 
will die öffentliche Meinung freilid) immer ſchnell ein Troftfprüchleimhabt 
Doch wir fehen ja jegt wieder, welche Unannehmlichfeiten daraus entfiche 
können. Die Heine Stimmbandwunde des Kaiſers heilte, wie es fcheint,etwed 
langſamer, al3 man gehofft hatte... Das kann verſchiedene Urſachen habe, 
beweiſt aber nichts für die Gefährlichkeit Des Falles. Vielleicht fonımen die Ve 
ſchwerden auch nur noch von der Narbe. Wäre ber leifefte Krebe verdacht aufge 
taucht, dann Hätten die behandelnden Aerzte nicht ein Stückchen erftirpirt. El 
wederradifalfchneiden oderin Ruhe laffen, Heißt heute dieLoſung; Liſters! 20 | 
nung, erkrankte Gewebe nicht durd) mechaniſche Eingriffezuinfultiren, il il 
vergeffen. Warum auchKrebs? Das Vebensalter desKaiſers spricht nichto Wr 
Mitdem Modepopan der Erblichkeit ift nicht8 anzufangen. Erftenswill mit 
ganz und gar nichts Beſtimmtes über die Erblichleit des Krebfeg (dev IM 
auch Schon für ſicher anſteckend gehalten hat, bi8 man eines Beſſeren“ in 


vu 


— — — 





Die Krankheit des Kaiſers. 397 


mrde). Vererbt kann wohl ein Buftand werden, ein Minus an Kraft; aber 
in Prozeß? Ich würde einen Krebs jelbft dann für genuin halten, wenn ich 
oũßte, daß Vater oder Mutter des Erkrankten am Karzinoma geftorben ift; 
er Sohn kann ihn eben fo, unter ähnlichen Lebensverhältniſſen, erworben 
jaben wie der Vater: durch parafitäre Erreger, durch Ueberernährung, allzır 
‚eichlichen Fleifchgenuß oder fonftwie, ohne daß Sperma und Ei der Eltern 
sur Erkrankung der zelligen Gebilde beigetragen haben. Zweitens find ficht- 
bar mwenigftens die Krebsiymptome der Eltern erft Jahrzehnte nach der Ge⸗ 
burt des jetigen Kaiſers geworden; 1858 hielt Xeder den Kronprinzen und 
die Kronprinzeſſin von Preußen für kerngefund und fie jelbft hielten fic auch 
dafür. An keinem igrer Kinder hatirgend ein Arzt bisher etwasKrebsverdäch⸗ 
tiges entdedt. Der Verdacht ift wohl aufgetaucht, aber, jo weit Wiſſenſchaft 
und Kunſt dazu im Stande find, von Chirurgen und Interniſten widerlegt 
worden. Damit lönnte man ficdh eigentlich beruhigen. Die Aerzte, die den 
Kaiſer behandeln, haben ja auch einen Namen zu verlieren.” 
„Aber fie dürfen nicht immer aufrichtig fein.“ 
„Brauchen fle auch nicht. Nur feinem Gewiſſen ift der Arzt Rechen⸗ 
Schaft ſchuldig; die ‚Oeffentlichkeit‘ kann nicht verlangen, daß fie ftetS die 
Wahrheit erfährt. Nicht einmal der Kranlke jelbit; als ich in einem englifchen 
Spital neben den Betten auf einerZafel die Worte ‚unheilbare Krebstranfe‘ 
las, nannte ich dies Verfahren cine Barbarei. Nur ein Stümper wird fidh 
nicht vor jedem Schritt fragen, wie er aufdie Pfyche des erkrankten Menſchen 
wirken fönne. Wo nun gar nod) politiiche Erwägungen miting Spiellommen, 
kann auch der ſonſt Gläubigfte leicht Vertufchungen fürchten. Sn unferem 
Fall ſcheint man aber von vorn herein eher zu ſchwarz als zu rofig gemalt 
zu haben. Wenn wir das Angſtgeſpenſt der Erblichkeit wegjagen, bleibt nicht 
der allergeringfte Anlag zur Furcht. Ich weiß nicht, ob der Plan einer Reiſe 
nad) Italien oder ins Mittelmeer Wahrheit oder Dichtung ift; aber c8 wäre 
ganz natürlich, wenn ein hoher Herr nach jolcher Beläftigung ein milderes 
Klima auffuchte und procul negotiis feine Nerven ausruhte. Das könnte 
feinen vernünftigen Menſchen erichreden. Eben fo wenig kanns die Thatjache, 
daß der Kaiſer noch nicht ſpricht. Eolches Stimmlippchen ift wie eine win- 
zige Saite ; die kann Schon durch ein Stäubchen tonlos werden. Wenn Sie 
fich auf diefem Heinen und feinen Ding eine Narbe vorftellen, können Sie 
ahnen, wie läftig und langwierig Die Sache werben fan. Darum bleibt fie 
doch alltäglich und ungefährlich. Vleibts, auch wenn neue Rolypchen nach— 
wachſen, Das kann ſich unter Umftänden fehr oft wiederholen. Es wäre der 


398 Die Zukunft. 


größte infinn, dann jedesmal zu fchreien: Nezidiv, — alſo Krebs! Emlr 
recht gegen den Kranken; und eine Dummheit, an der nur bie Feinde dd 
Deutſchen Neiches ihre Freude hätten. Außer ihnen vielleicht mod) die dr: 
hänger des Wortaberglaubeng in der Medizin. Die find an dem ganzenkäre 
mitfhuldig. Hätten wir ung nicht von ihnen verleiten laſſen, dann wirk 
die Meldung genügen: Hier ift ein erkrankter Menſch, deffen Zuftand or. 
ungefährlich ſcheint. Jetzt fordert man Wörter. Und es giebt Aerzte, bie dieka 
Wünfchen weit entgegenfommen; fogar ſolche, die vor der fchlimmften Ds 
gnofe nicht zurückſchrecken: um fo größer ift dann der Ruhm, wenn bie ‚se 
lung‘ gelingt. ‚Das war ein Krebsfall, den unfer früher Eingriff gerettet het: 
So können Statiftifen entſtehen ... Aber ic) darf hier nicht mein Stecc 
pferd reiten, fondern nur fagen, wie ich den Fall anjehe. Sehr von Weiter. 
Nur VBermuthungen. Darüber find wir doch einig, nicht wahr?“ 
Ganz einig. Immerhin mag es Manchen beruhigen, zu hören, Wi 
ein unbefangener Braftıfer in dem öffentlich Tontrolitbaren Berlauf der ®® 
krankung nichts Auffälliges findet, nichts, was Grund gäbe, das Leben de 
Kaifers bedroht zu glauben. Eher beruhigen als die allerneuften Berichte go 
ſchaͤftiger Offiziöfen, die mit neidenswerther Zuverficht ſchon wieder melde, 
in vierzchn Tagen werde die Stimme des Monarchen in unverminderter &e! 
gebrauchsfähig fein, der Kaijer werde nächſtens zu Jagden fahren und da 
preußifchen Yandtag „ſicher“ felbft eröffnen; von einer Reife nach Italien je 
nicht mehr die Rede. Verzögert irgend ein nicht vorauszufehenter Umftan 
dennod) die Genefung, dann hat die Klatſchſucht wieder freiaf Raum. 
In einem ausländifchen Blatt wurde neulich mit ungemeinem Til: 
finn die Frage erörtert, was aus dem Deutichen Reich werden möge, mei 
Wilhelm der Zweite nicht mehr Icbe, Daßes fofort auseinanderfallen, burh 
katholische, teeifische, überhaupt antipreußifche Tendenzen gefprengt werde 
müſſe, ſchien noch nicht ganz ficher. Um fo fiherer, daß dernächfte Kaiferd® 
böſen Agrariern, deren dunkles Trachten jegteine eiferne Fauſt niedergming 
ins Garngıl,en würde. Dann wäre es mit der induftriellen Weltmacht, mitder 
imperial ſtiſchen Expanjion bald vorbei... DieHerren dürfen ſich beruhigen 
Nach Meunſchenermeſſen kann der Kaiſer noch Jahrzehnte lang regiren. Mr 
find unſere Meinungmacher nicht mitſchuldig an dem dummen Gerede? Mit 
ihrem Byzantinismus, ıhren teten Brunftchreien nad) ‚ftarten Drinnen“ 
und „feiter Zügelführung“ haben fie e8 dahin gebracht, daß man draußen al⸗ 
mählich vergaß, an das Wichtigſte zu denken: an das Volk, deſſen mündigt 
Kraft fich felber den Werth ſchuf, nur felbft fich fein Glück ſchmieden laun. 

















Formen der Weltgefchichtfchreibung. 399 


Sormen der Weltgefchichtfchreibung. 


—X frommen Väter, die unter den Seelenhirten der neuſpaniſchen Reiche 
im Weſten zuerſt ſich mühten, Ordnung und Ueberſicht in die Ver⸗ 
jangenheit von Tahuantinſuyun zu bringen, haben wunderliche Mittel ange- 
vandt, um die Zeitrechnung der ihnen anvertrauten Volksgeſchichte nach 
hrem Wunſch einzurenten. Sie haben Manchem der Inka erftaunlich lange 
Regirungzeiten zugemefjen und fchlieglich eine Herrfcherreihe von Jahrtaufenden 
ausgerechnet. Fragt man, warum dies wunberliche Kartenhaus aufgebaut 
wurde, das auch dem leifeften Hauch wirklichen Yorfcherdranges nicht Stand 
hält, fo findet man zulegt, daß die Urheber dieſes harmloſen Truges nur 
wünfchten, die Inka-Reihe fo lang auszureden, um fie mit dem vermeintlich 
fiheren Zeitpunkt der biblifchen Weberlieferung vom Thurmbau zu Babel 
in Uebereinſtimmung zu bringen. Wir lächeln wohl des nuglofen Spieles 
einer Tindhaften Forſchung. Und doch: wie fehr würden wir ihr Unrecht 
tbun, wollten wir den guten, tief berechtigten Trieb verfennen, der fie zu fo 
verfehrtem Beginnen führte! Bor eine neue, um Tauſende von Meilen ent- 
fernt gelegene, der alten Welt ganz unähnlide Staats: und Beiltesbildung 
geftellt, verzichteten bie priefterlichen &efchichtfchreiber doch nicht darauf, fos 
gleich eine geiftige Einheit für den altbefannten und den eben erworbenen 
Dei ihrer Wiſſenſchaft Herzuftellen. Und fo falſch das Mittel war, das 
fie wählten, ihr Zwed war im Sinn hoher Forfehung Heilig: es galt, eine be- 
täubende Fülle neuen Wiſſensſtoffes mit einem Schlage zu bemeiftern, geiftige 
Herrſchaft über fie zu gewinnen und fich nicht an das Getümmel von taufend 
neuen befremdlichen Einzelthatfachen zu verlieren. Die geiftlichen Herren be- 
währten eine Kraft, die nicht jedes der folgenden Zeitalter gefchichtlicher 
Wiſſenſchaft aufzuweifen gehabt hätte, am Wenigften etwa das der zweiten 
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Das hätte vielmehr ftaunend und voll 
frommer Scheu die köſtliche Menge neuer Königreihen, Schlachten, Kriege und 
Reihstheilungen, die da zu gewinnen war, zu Papier gebracht und zu vielen 
älteren Wirrfalen unüberfichtlicher Thatſachenmaſſen ein neues gefchaffen. 
Wer heute verfuchen will, fich über die Gefammtgefchichte der Menſch⸗ 
heit einen Weberblid zu verfchaffen, wird vor ähnliche Fragen gejtellt, wie 
fie den guten Prieftern aufgeftoßen fein mögen: nur ift die Zahl ber 
Schwierigkeiten heute unvergleichlich viel größer. Denn feit der Erweiterung 
des Blickfeldes über den Erdball ift bie Reihe der zu bewältigenden, räumlich, 
zeitlih unendlich weit auseinander ftrebenden Bollsentwidelungen um ein 
Vielfaches länger geworden; mit der Ausdehnung‘ des Arbeitgebietes ber Ge⸗ 
ſchichtſchreibung über alle Bezirke des gefellfchaftlihen und geiftigen Geſchehens 
ift innerhalb jeder einzelnen Volksgeſchichte die Stoffmaffe vielleicht verzehnfacht 
82 


400 Die Zunft. 


worden, gegenüber einer Zeit, der genügte, die äußere Geſchichte und eiszelme 
auffallende Wendungen ber inneren Gefchichte eines Volles zu bischen. 
Drei Möglichkeiten weltgefchichtlicher Zufammenfaflung bieten fich bezte 
dar. Die erfte ift die althergebrachte zeitlicher Ordnung: eine Darftellung 
weife, die von ber Zeitrechnung als grunbfäglicher Richtfcehnur ausgeht. Der 
einzige kecke, aber trog aller Vorläufigkeit feiner Forfchungmweife verdienſtliche 
Verſuch einer wirklichen Erdballgefhhichte, der meines Willens überhaupt ven 
einem Einzelnen gemadt if, Wirths Büchlein „VBollsthum und Weltmacht”, 
bat diefen Weg in der That eingefchlagen. Doch ift er, wie mir ſcheint. 
anf ihm nicht zu Zielen gelangt, die zur Nachfolge loden. Der Sruudias 
- zeitlicher Eintheilung ift fo äußerlich, daß ihn die Einzelgefchichte eines Bollkes, 
wenn auch nicht ohne ſchwere Schädigungen, aufrecht erhalten farın. Sobald 
aber mehrere Bollsentwidelungen zufammengefaßt werden follen, führt er 
zu einem äußerfien Maß von Unüberfichtlichfeit oder aber zu &ewaltiam: 
feiten. Die zweite Gefahr liegt eigentlich gar nicht auf dem Wege dieſer 
Darjtellungweife. Niemand vermag aber heute ihre folgerichtige Durch 
führung am eigenen Leibe auszuhalten, die zum Jahrbuh und auf die 
geiftigen Höhen der Plötzſchen Tafeln zur Weltgefchichte führt, — es ja 
denn, die Ewig-Geftrigen in unferer Zunft gingen auf ihrem Wege van 
Ranke zu Thukydides nächfteng über Herodot zu den Logographen zuräd 
und erklärten in ſchönem MWechfel einmal deren Forſchungweiſe für bie allein 
feligmachende und wahrhaft rechtgläubige. Und fo ift Wirth, der viel Zukunft: 
finn in fih hat, zur Zufammenfaffung von Zeitaltern vorgefchritten, bie, 
wie es nicht ander8 fein kann, fachliche Zufanmengehörigfeiten voransfegen. 
Er hat unerhörte Anftrengungen gemacht, um vorderajiatifche, griechiſch 
römische, chineſiſche, indifche Dinge unter die Bezeichnung. eines Zeitalter 
zufammenzufaffen. Aber wie wunderlic wechſeln da num die Begriffe: 
rihtungen, nad denen diefe Bezeichnungen gewählt find! Meſopotamiſche 
Beit, alfo erdbefchreibender Gefichtspunft; Maffifche Zeit, hergenommen doch 
wohl von der Geiftesgefchichte, Zeitalter der Doppelbildungen, der äußeren 
Staatsentwidelung entlehnt, ozeanifche Zeit, wiederum vom Standpunkte der 
Erdbefchreibung. Dazu find die Grenzen dieſer Zeitalter fo meit geftedt, 
daß fie eigentlich jeder zufammenfaffenden Kraft ermangeln. Die MHaflifche 
Beit, von 1300 vor bi8 224 nad) Beginn unferer Zeitrechnung reichend, 
umſpannt eine Reihe von Jahrhunderten, deren Inhalt an Thaten des Geiftes 
und de8 Handelns fo ungeheuer und zugleich fo mannichfach if, daß man 
den Eindrud hat, e8 handle fich bei der Wahl ihrer Bezeichnung um einen 
Ausweg der Verlegenheit. Schlagkräftig fcheint hier nur die Nebeneinander: 
ftellung de römifchen und des chinelifchen Weltreiche8 zum Schluß des 
Zeitraumes, — eine Aehnlichkeit, mit der doch, ſchaut man fie vom Geſichts- 


BR" 


Formen der Weltgefchichtfchreibung. 401 


punkte des finfenmäßigen Aufbaues der Weltgefchichte aus, wenig erreicht if. 
Handelt es ſich doch um ein ganz junges umb ein ganz alte Neid. Eine 
etwas ftraffere Bändigung des Stoffes gelingt Wirth im nächften Abfchnitt, 
Den er denn auch nad) dem Merkmal eines beftimmten Borganges der äußeren 
Staatenbildung zu bezeichnen weiß. Er nennt die Zeit zwifchen 224 und 
1350 das Zeitalter der Doppelbildungen. „Das Gemeinfame an ber Ents 
wicelung ift, daß im Centrum der alten Kulturzone fi Staaten der alten 
Raſſen behaupten“: jo römifches und römiſch deutſches Neich, fo chinefifches 
und chinefifch-mongolifches Neich, fo indifche und indifh«mongolifche Reiche, 
fo arabifche und arabiſch⸗türkiſche Staatenbildung. Diefe Borgänge ſtaat⸗ 
licher Kinematik und raffenmäßiger Chemie, wie Wirth fie glüdiich nennt, 
find gewiß ihrer Gleichzeitigkeit nach bemerfenswerth, obwohl das byzantiniſch⸗ 
ruſſiſche Seitenftüd, das Wirth zur Verftärkung des Eindrudes anfügt, 
einem ganz anderen Zeitraum angehört; aber man wird fie nicht im höchften, 
wohl aber in einem mittleren Sinn al8 Zufälligleiten anfehen dürfen. Denn 
folche Aufpfropfungen jüngerer, wilderer und kräftigerer Vollsthumer und 
Staatenbildungen auf ältere, reifere und ſchwächere finden fich in fehr vielen 
anderen Zeiten. Die altamerifanifche, die babylonifche, egyptifche, die frühere 
indifche wie hineftfche Geſchichte find voll davon. Man kann diefe Doppel- 
bildungen alfo nicht zu einem auszeichnenden Merkmal diefes Zeitalters 
ftempeln. Das aber ift doch Wirths Abſicht. 

Gewiß wird keine Weltgefchichte ohne eine genaue Kenntniß ber Gleich⸗ 
zeitigkeiten auslfommen lönnen. Aber fie wird für die Strede des Weges, 
die von der Menſchheit bisher zurücgelegt worden ift, fchwerlich zur Bildung 
von innerlichen Zufammengehörigkeiten, fachlichen Eintheilungen führen. Bon 
allen früheren Leiftungen ber Gefchichtfchreibung, die an ſich den felben 
Weg gingen, braucht in diefem Zufammenhang nicht gefprochen zu werben. 
Das Werk, das Ranke allzu anſpruchsvoll Weltgefchichte nannte, in defjen 
Dienft er aber noch einmal all ben wunderbar feinen Reiz der Darftellungs: 
fraft feiner fpäten Tage und viel von dem tief bohrenden Spürfinn feines 
die Forſchung ummälzenden Genies itellte, war eine an fich auch auf dem 
wenig zureichenden Drdnungsgrundfag der Beitfolge beruhende Darftellung 
der europäifch-vorderafiatifchen Geſchichte; und die Werke, die, nach dem 
felben Grundfag geordnet, alteuropäifche und weſtaſiatiſch nordafrikaniſche 
Vollksentwickelungen verfchiedenfter Stufen in ein Ganzes zufammengefchweißt 
haben, erreichten damit für ihren befonderen Bezirk vermuthlich fehr viel 
geringere Vortheile, als ihnen eine Stufentheilung gebracht Hätte. Die alte 
Gliederung der europäifchen Gefchichte nur nad der Zeitfolge und ihre 
Spaltung in Alterthum, Mittelalter und Neuzeit ift als unzureichend nach⸗ 
gewiefen. Ueberdies gehören beide Fälle als ausgefprochen gebietmäßig ab» 


32° 


402 Die Zukunft. 


gegrenzte Theildarftellungen ber Weltgefchichte nicht hierher. Ihrer mußte her 
nur gedacht werben, weil eine Gliederungweiſe, die ſchon am Theil ih m 
zulänglich zeigt, für das vielgefpaltene Ganze noch weniger pafien kann. 
Bielleiht vor Allem in dem Gefühl gefunder Abkehr gegen die ıcim 
Zeitordnung ift meuerdings der Gedanke rein räumlicher Theilung aufgetelt 
und auch fogleih ausgeführt worden. In Bollftredung der Borichläg 
Ratzels Hat Helmolt die Herausgabe einer Weltgefchichte unternommen, der 
man bie Ungleichwerthigfeit ihrer Beiträge nicht fo fehr wie die Kühnker 
und das Verbienft des ganz neuen Örundgedantens anrechnen muß. Zmerfellos 
bat dies Buch durch fein mwerkthätiges Eingreifen die Unmöglichkeit des De 
harrens auf dem räumlich fo übel beengten ranfifchen Gefchichtplan zuerf 
nahdrädlih vor Augen geführt. Bei aller Anerkennung dieſes Sadver 
balte8 wird man aber die Nichtigfeit des gewählten Ordrrung-Grundiages 
anfechten müfjen. Eine füdamerifanifche Gefchichte, die ſich zuſammenſch 
aus der Schilderung der Naturvöller im Süden und Dften des Welttheile, 
aus einer Öefchichte von Alt Peru, der der [panifch-portugielifchen Siedlungen 
und ber der heutigen Freiftaaten, deren Zuftand einen blaffen Abflatid 
europäifcher Verhältniſſe darftellt, ift der Folge ihrer VBeftandtheile na 
eine Unmöglichkeit. Der Grundfag rem erdlundlicher Eintheilung be 
Weltgefchichte ruht auf dem Gedanken, daf die Geſchichte eines Volles dei 
Erzeugniß de8 Bodens fei, auf dem es erwachſen if. Diefer Begräubung 
fhlägt ein Sachverhalt wie der füdamerifanifche ins Geſicht. Noch übler 
iſt, daß er eigentlich nirgends völlig und nicht allzu oft überwiegend buch 
die geichichtlihe Wirklichkeit beftätigt ift. Faſt alle großen Bildungen geiftige 
und ftaatlicher Eigenthümlichkeit, die da8 Erdenrund aufmeift, find durh 
eingewanderte Völker gefchaffen worden: fo die aller europäifchen Länder, ſo 
die meiſten Vorderaſiens, fo die Egyptens, Indiens, Japans, vielleicht anch 
Chinas. In jedem disfer Fälle — und was bleibt von der Befchichte des 
Erdballes ohne fie übrig? — müßte alfo zum Mindeſten die Einwirkung 
zweier Ränder auf die Gefchichte jede Volkes unterfucht werben: feine 
Siedlung: und feines Urfprungslandes. Wie ſchwer würde «8 fein, ſchon 
biefe beiden Formen der Einwirkung von Boden und Himmel auf Menſchen⸗ 
und Völker-Schickſal auseinander zu halten, und wie oft würde ſich biefer 
MWerdegang dadurch noch außerordentlich verwideln, daß auch die durchwo 
derten Linder von ihrem Einfluß an das fie durchziehende Volk abgegeb 
haben! Der nicht eben vorſichtige, aber geiftreiche fFranzofe Demolins woll 
in feinem Bud „Comment la route erée le type social‘ gar beweifen, & 
der Reiſeweg einem Volk oder einer Völkergruppe die entfcheidenden Mer 
male feiner Eigenart mitgebe. Dan bemerfe bei al diefen Einwänden wol 
baß der eigentlihe Grundgedanke der helmoltifchen Darftellung nicht an 





Formen der Weltgefchichtichreibung. 403 


taftet, ja, nicht in den Teifeften Zweifel gezogen ift: der Gedanke der Ein- 
wirkung des Landes auf die Gefchicte feiner Bewohner. Aber ich finde, 
die Gründe, die gegen eine wiflenfchaftliche VBehanptung vorgebradht werden, 
find dann immer befonders fchlagfräftig, wenn fie ihrem eigenen Borftellung- 
kreife entnommen find. 

Far den Gefchichtfchreiber ausfchlaggebend bleibt aber. ein anderer Ein 
ward gegen den Grunbfag räumlicher Theilung. Das Ziel all folder Glie⸗ 
derungen des überreichen Stoffes ift feine beffere Ueberſichtlichleit. Es handelt 
fih darum, bei welchem Ordnungsgedanken am Meiften innerlich Zuſammen⸗ 
gehöriges zu einander geftellt, am Meiſten fachlich Verfchiedenes deutlich von 
eimander getrennt wird. Sicherlich bat bie Ländertheilung der Gefchichte 
den Borzug, bie Einwirkungen von Boden und Himmel auf Art und Schickſal 
der Völker kennen zu lernen — wozu übrigens in biefem Sammelwerk oft 
nur die erſten VBorausfegungen gefchaffen find —, aber fogleich erhebt ſich bie 
Frage, ob für diefen einen Vortheil der Zufammenfaffung fonft getrennter 
Erkenntnißmaſſen alle die Nachtheile der Auseinanderreißung zufammenge 
böriger Dinge in Kauf zu geben find. Man hat mit Recht darauf hinge⸗ 
wiefen, daß, wenn man fchon fo bodentheilend verfahren wollte, es richtiger 
gemwejen wäre, ganze Länderkreiſe zufammenzufaflen. Das ift nicht felten 
gefchehen; an entjcheidenden Stellen aber hat man davon Abftand genommen. 
Ungleich wichtiger aber ift, daß die werfchiedenften Volksthümer und Raſſen, 
fobald fih nur ihr Dafein auf dem felben Schauplag abgefpielt hat, über: 
einandergepadt erfcheinen,; und den Ausſchlag giebt, daß ein noch bunterer 
Wirbel von Entwidelungftufen al8 Ganzes und Zufammengehöriges erfcheint. 
In beiden Hinfichten rächt fi, daß die örtliche Eintheilung gewiſſermaßen 
nur im erften Gefchoß des Aufbaues maßgebend ift, während in allen höheren 
Schichten des Gebäudes der alte Theilungsgrundfes der Zeitfolge, fogar 
meift in befonderer Schroffheit, durchgeführt erfcheint und alle ihm anhaftenden 
Nachtheile Hinter fich zieht. 

Nein: weder die Einheit des Ortes noch die der Zeit bietet als Nichts 
ſchnur der Gliederung die meiften Vortheile. Und drittens wird man and 
eine letzte Möglichkeit nicht annehmen dürfen, die wunderbarer Weile noch 
nicht gewählt worden, die zu erörtern aber heute trogdem geboten ift, da 
man ficherlich in kurzer Zeit auch fie verfuchen wird. Während nämlich heute 
in den Grenzbezirken der Gefchichtfchreibung, in denen Wiffenfchaft und Tages⸗ 
fohrififtellerei einander berühren, um nichts fo viel &eräufch gemacht wird 
wie von der Raſſe, ift, jo weit ich fehe, noch Niemand auf den nah liegen= 
den Gedanken gelommen, vom Gefichtspuntt der Raſſe eine Gliederung des 
weltgejchichtlichen Stoffes zu -verfuchen. Wirth bemerkt zwar fchon übel, 
wenn in einer europäifchen Kulturgefchichte, die e8 doch nur mit Splittern 





404 Die Zukunft. 


einer Raſſe, ja, nur eines Naffentheiles, nämlich des arifchen Gliedes ie 
Kanfafifchen Raſſe, zu thun hat, meines Erachtens alfo in Naffenfragen g: 
nicht zuftändig ift, von ihmen nicht die Rede ift, und er bat in feinem Ex 
wurf einer Weltgefchichte fehr nügliche Winke für Raffengefchichte gegebe; 
aber er bat e8 verfhmäht, fie zur Richtſchnur für feine Eintheilug y 
machen. Wenn heute aber ein Vertreter der Volkerkunde, ähnlich wie Rap 
als Erdkundiger, den Anftoß zur Entftehung einer Meltgefchichte gäbe, ſe 
würde ein Gebilde entftehen, das mindeftens eben fo viel, wenn nicht ned 
mehr Anregungen gäbe als Helmolts Unternehmen. Es wäre fehr vorthel: 
haft, eine Gefchichte der Mongolen im allen ihren Zweigen, von Salenl 
bis Tokio, mit einem Blick zu überfehen. Die Schidfale der rothen, de 
malanifch:polynefifchen, der ſchwarzen Naffe könnten eben fo wohl zur Eine 
gegliebert werden und in dem Untheil der dreigefpaltenen Kaukañer fümt 
das Werk gipfeln, die Geſchichte des Siegerd unter den Rafſentheilen, de 
Arier, müßte es Erönen. Der große Nachtheil der helmoltifchen Theilunz 
die grob äußerliche Zufammenzwingung an Blut und Schidfal fremde 
Volksthümer zu Ortseinheiten in Amerika, Auftralien und großen Theiler 
von Afrika und Aſien, wäre vermieden. Daneben könnte dem guten um 
baltbaren Kerngedanken erdkundlicher Gefchichtfchreibung fehr wohl Rednuss 
getragen werben: benn alle Lehre von den Raffen und ihren Unterjciees 
führt auf die Einwirkungen von Boden und Himmel zuräd. Kaffe heit über: 
haupt, wenn ich den Begriff recht verftehe, nichts Anderes als die Summt 
von Eigenfchaften Leibes und der Seele, bie eine Völfergruppe durch bie # 
umgebende Natur, duch Boden und Himmel in der entfcheidenben Zeit ihrs 
Werdeganges einmal, einftmals erhalten bat. Und da im den meiften Fuller 
biefe Einwirkung in einem anderen Rande al3 dem ihrer endgiltigen Siedelurg 
flattgefunden hat, fo handelt e8 fich hier im Grunde auch nur um jene Unter 
ſcheidung zmwifchen Urſprungs- und Wohnfigland, von der fon einmal die Reit 
war. Exbfundliche Begriffe liegen aber beiden Betrachtungskreiſen im ſelben 
Maße zu Grunde: der Raffengefchichte ganz eben fo wie der Ländergeſchichte 

Doch auch diefen Weg einzufchlagen, fcheint nicht räthlich. Dem 
thurmte man, auf der Grundlage der Raffentheilung, wie bei Helmolt, wieder 
nach dem Grundfag der reinen Beitfolge den Oberbau auf, fo würden im 
Rahmen fo umfaffender Raffen wie der mongolifchen wieder die größten Gegen⸗ 
füge zu einer Einheit zufammengezwungen, wie etwa die finderjungen Hirlen⸗ 
ſtämme Turkeſtans mit der hohen Reife des heutigen Japan. 

Tie Mängel aller drei Mlöglichleiten weifen nach einer Richlung— 
Nicht Zeit- noch Orts: noch Bluts-Gemeinſchaft leiftet die befte Gewaͤhr fit 
überfichtliche Zufanımenfaffung, fondern der Gedanke der fachlichen Zuſammen⸗ 
gehörigleit gewiſſer Völferzuftände, der nicht an Ort, an Zeit, an Verwandt: 





f 


Formen ber Weltgefhichtfchreibung 405 


ſchaft gebunden if. Auch er ift keineswegs losgelöft von der Borftellung 
bes zeitlichen Nacheinander, die ben innerſten Kern und das ausgleichende . 
Merkmal aller Geſchichtwiſſenſchaft ausmacht, aber er ift mit ihr eine eigen- 
thumliche Verbindung eingegangen, die ihn über die Abhängigkeit von der 
reinen Gleichgiltigkeit hoch hinaushebt: er gipfelt in der Behauptung, daf 
den Inhalt der Weltgeichichte eine Folge von Zuftänden ausmacht, die fich 
bei allen Völkern und Völlertheilen in gleichem Nacheinander aufweifen läßt, 
von ber nur die einzelnen &lieder der Menſchheit fehr ungleiche Bruchtheile 
durchlebt haben. Während die eimen noch heute in der Kindheit verharren, 
find andere zu blühender Jugend, noch andere zu ſtarker Manneskraft gelangt, 
während einige bis zu bedächtigem Greifenalter, bis zur Höhe des Lebens 
vorgedrungen find; wobei das Gleichniß ber Xebensalter nur einen leife an⸗ 
Hingenden, durchaus nicht einen buchftäblich genauen Vergleich andeuten joll. 

Es ift ein Stufendau der Weltgefchichte, den alle Völfer emporge: 
Hommen find; nur ließ der einen kindliche Kraft fie noch heute nicht über 
die erfte Staffel hinauskommen, während die höheren Stufen von ben befleren 
Steigern eingenommen werden. Daß die Vertheilung des weltgefchichtlichen 
Stoffes, die diefer Grundgedanke zur Folge hat, gewiſſe Nachtheile mit fich 
bringt, ift nicht wunderbar; und begreiflicher Weife find e8 die, denen die 
Vorzüge der anderen Gliederungarten entfprechen. Weite Zeiträume müfjen 
überfprungen werben: nimmt man an, daß das Tarolingifche Königthum der 
Germanen ber Alleinherrfchaft der eguptifchen Pharaonen des alten Reiches 
wahlverwandt ift, fo bedeutet eine folche Zuordnung einen Sprung über vier 
Sahrtaufende. Und ſchließt man, was nur folgerichtig ift, daß der Werde 
gang des egyptifchen Volkes die Urzeitftufe fpäteften® 3500 vor Beginn unferer 
Zeitrechnung verlafien haben muß, auf der örtlich nahe Neger: und nächſt 
benachbarte Araberftämme noch heute verharren, To handelt e8 ſich gar um eine 
Beitentfernung von etwa fünfeinhalb Jahrtaufenden. Und dennoch bedeutet jene 


s fachliche Zeitordnung. mehr als die Scheinordnung ber reinen Zeitfolge. 


Eben fo jäh wird auch der örtliche Zufammenhang von dieſer Stoff> 
gliederung durchbrochen. Das Reich der Inka ift um ein Drittel des Erb- 
umfanges von dem Zmwei-Ströme:Land der babylonifch:affgrifchen Geichichte 
geihieden und ift ihm doch an Entwidelungreife nah benachbart. Und mehr 
als fechstaufend Kilometer find e8 des Weges vom Hochſit der altperuanifchen 
Staats- und Geiftesbildung bis zum Bufen von Pe⸗Tſchili: und doch bes 
fteht zwifchen dem Reich von Zahuantinfuygu und dem von China eine 
Wahlverwandtfchaft nicht nur der flaatlihen, fondern auch der gefellfchaft: 
lihen Ordnung. 

Die felbe Durchbrechung auch der Raffengliederung ift die nothwendige 
Folge einer ſolchen Stufenordnung: die altamerifanifchen Völfer höherer Bil- 


406 Die Zuhmft. 


dung müſſen von ihren nächften Blutsverwandten, den Waldindionen vVn 
filiend oder den Jägerſtämmen von Norboftamerile, eben fo weit geinsz 
werden wie Araber des Kalifate von den ſchweifenden Hirtenſtämmen de 
arabifhen Mutterlandes. In beiden Fällen aber ift auch für den ein 
Augenschein Thon der Nachtheil durch nene Vorzüge aufgewogen. ‘em 3 
fammenftellung örtlich weit getrennter und doch gleich) hoch entwickelier Linie 
wird den Sinn für die Einwirkung von Boden und Himmel auf bie & 
ftaltung von Völferart und Völkerfchidfal kaum weniger fchärfen als die Te 
obachtung einer Zandesgefchichte durch die auf einander folgenden Schiht 
mehrerer Volksthumsherrſchaften hiudurch. Und vollends eine wiflenidet 
liche Raffenlehre, für die e8 heute freilich noch an den erften Bormusjegung: 
gefchichtlicher Kenntniß fehlt, iſt kaum möglich, wenn ihr nicht eine fur 
fältige Unterfuhung der Stufengefchichte der Dienfchheit vorausgegangen # 
Denn ich hoffe, zeigen zu können, daß unfäglic) Vieles, was heute als Ratte 
unterfchied gilt, nur Stufenunterfchied if. Und ehe man bie Beſonderheim 
die Vorzüge und Mängel der einzelnen Raſſen erkennen kann, wird nöd 
fein, fi ihrer Gemeinfamteiten bewußt zu werben. Das heute fo belice 
blinde Zufchlagen in Raffendingen mag ja fehr dienlich fein für die Zweit 
werkthätiger Weltftaatskunft, aber die Wiffenfchaft hemmt es und fördert d 
nicht. Wer da meint, es handle ſich nicht darum, Aehnlichkeiten aufzuftele, 
die zu entdeden wenig nüge — wie Wirth —, Der ift im Irrthum. Tem 
ich finde, die Befonderheit fängt bei Raſſen, wie in allen anderen gefdiät 
lichen Vergleichen, erft da an, wo die Gemeinfamkeit aufhört. Und felhit 5 
Hinſicht auf die Stimmung nur if, finde ich, durch willfürliche Eingrenzung 
de3 eigenen Blidfeldes wenig gewonnen. Ich bin froh und ftolz, ein Are 
froher und ftolzer noch, ein Germane zu fein. Aber darüber nicht den Be 
meinbefig mit anderen Raffentheilen und Völfergeuppen fehen zu wollen, # 
eher ein Zeichen von Schwäche als von Stärke. Der Reft von eigener Ad, 
der uns dann noch und num erft gefichert verbleibt, ift groß genug: er Bl 
ausgereicht, um unferen Völkern die Herrfchaft über die Welt zu verihafte 

Ein die Sache, nicht mehr nur die Form angehender Gedante ift Dr 
mit freilich fhon gefordert: die Einheit und Zufammengehörigfeit bes Menſchen⸗ 
gefchlechtes über alle BVerfchiedenheiten von Raum, Zeit und Blut ing. 
Doc er läßt fi nicht durch allgemeine Behauptungen, fondern nur durch 
einzelne Belege beweiſen. Daß Dies geſchehe, iſt eins der wichtigſten Ziele ber 
folgenden Darlegungen. 

Nur noch eine Vorfrage ift zu erledigen: woher ift der Maßſiab 1 
nehmen, an dem Weglänge und Wegleiftung al der Hunderte von Bilkm 
und VBölkerfplittern abzulefen find? Nur um grobe Scheidungen lann ed 
ſich handeln. Schon der Gleihnifbegriff Stufe lügt: er täufcht eine Grenf 





a 





Formen ber Weltgeſchichtſchreibung. 407 


ſchärfe zwifchen den einzelnen Streden des Werbeganges der Dinge vor, die 
die MWirklichkeit felbft nicht aufweiſt. Der Fluß der Weltgefchichte gleitet 
ftetig und eben dahin, und läßt man ſich nicht durch das unruhige, aber meift 
nur fcheinwichtige Gekräuſel der äußeren Staats⸗ und Kriegsgeſchichte trügen, 
fo ift fat immer ſelbſt an wirklich trennenden Stromfchnellen Mangel. Die 
unendliche Zufammengejegheit und Gebrochenheit menfchlichen Handelns ver= 
hindert eine Gradlinigfeit und Sauberkeit des Berlaufes, wie fie unferem ſcheide⸗ 
luſtigen Berftand erwünfcht, wie fie aber unferer eigenen Schauluft fehr un⸗ 
willtommen fein würde. So will denn jede Gliederung gefchichtlichen Stoffes 
nur unter Vorbehalt verjtanden werben. Aber fie ift nicht nur nothwendig, 
damit unfer Blid das umendlihe Wirrfal des Einzelgefchehens überfehen könne, 
fondern fie ift auch berechtigt, fobald man nur keinen Augenblid vergißt, ba 
die Zeiträume nicht durch fcharfe Linien, fondern durch breite, nach beiden 
Seiten: wiederum unficher verfchwimmende Uebergangsfireifen getrennt werden. 
Die vorherrfchenden Merkmale werden fi naturgemäß in der Mitte des 
Weges deutlicher finden als an den Grenzen. Aber damit ift auch allem 
billigen Erforderniß genügt. 

Für weithin brauchbare Stufenleitern von ſolchen Merkmalen wird 
man wohl thun, ſich an die greifbarften, gröblichften unter den Entwidelung- 
reiben der Gefchichte zu halten. So ift vor Allem richtiger, vom handelnden, 
nicht vom geiftigen Dichten und Trachten der Völker auszugehen: die ‚harten 
Wirklichkeiten des gefellichaftlichen, alfo des Staats- und Wirthichaft-, des 
Klaffen- und Familienlebens find gröber, find feſter umriffen und deshalb 
befier zu befchreiben; fie find aber auch dauerhafter, nicht fo raſchem unb 
leichten Wechfel unterworfen. Für meite Streden der europäifchen Gefchichte 
läßt ſich nachweiſen, daß auf ihnen gerade doppelt fo oft ein Richtungwechſel 
der geiftigen wie der gejellichaftlichen Entwidelung eingetreten if. Die Natur 
der Dinge führt felbft zu diefem Unterfchied: fo viel Mühe es auch koften 
mag, die Kunft eines Volles oder einer Völlergruppe aus einer der Wirk- 
fichleit fernen in eine der Wirklichkeit nahe umzuwandeln, viel härteren Wider: 
ftand bieten doch die Jahrhunderte alten und von der zähen Selbftfucht herr⸗ 
ſchender Gefchlechter oder Klaſſen vertheidigten Einrichtungen der Staaten. 

Unter ben einzelnen Gefchichtreihen, aus denen fich der Werdegang der 
Gefellihaft zufammenfegt, wird man wiederum die gröbfte und greifbarfte 
auswählen müflen: es ift die der ftaatlichen oder — in frühen, wie vielleicht 
wieder in fünftigen Zeiten — ftaatähnlichen Ordnung. Die Berfaffung zuerft 
der als Staat auftretenden engeren Blutsverbände, der Gefchlechter und Völlker⸗ 
fhaften, fpäter der zu Staaten geeinten Völker wird immer die ficheiften 
Kennzeichen und Merkmale der Zeitalter abgeben. Nur darf darunter nicht 
die Staatsform allein verftanden werden, denn fie kann fehr mannichfache 


408 Die Zukunft. 


Wirklichleiten deden: ein Königthum kann einen Gefchledhterfiaat, die Are 
herrſchaft eines unumſchränkten Herrn, ein ſchwaches Königthum an te 
Spige eines übermächtigen Abel, ein aufgeflärt felbfiherrliches Eönigthen 
ein fcheindemofratifches Caeſarenthum und ein verfaſſungmäßig eng eng 
ſchränktes Furſtenthum bedeuten. Nur im Zufammenhang mit der Jamilzr 
verfaflung, wo fie wichtig ift, mit der Klaſſenordnung, mo Diefe eintritt, Is 
die Stgatöform recht verftanden werben. 

Daß fie bier zur Richtſchnur gewählt wird, geichieht nicht ber kim 
herrſchenden einfeitig ſtaatlichen Gefchichtauffaffung zu Liebe. Denn da me 
Süd der Staat ein Mittel — eins unter mehreren — und nicht der Je 
des öffentlichen Lebens der Menſchheit ift, jo darf die Sefchichtfchreibum 
vorfichtiger Weife nicht diefe — zufällig unferen Erdtheil und unfer Ichr 
taufenb beherrfchende — Form gefellfchaftlicher Einung als alleiniges Ziel dirie 
Forſchens anfehen. Der Staat ift eine Möglichleit — eine unter mehren 
geweſenen und noch mehreren denfbaren Möglichkeiten — der Lebenseinrich 
tung bes Menfchengefchlechte® und er ift ferner nur eine unter mehrer 
Formen gefellichaftlicher Gemeinfchaft: wer ihn nicht als der Familie, ben 
Stand, der Klaſſe, dem Volk, der Raſſe gleich geordnet erlaunt hat, De 
hat noch nicht über die erften Vorausſetzungen geſchicht- und gefellfchak: 
wifienfchaftlicher Forſchung Klarheit erlangt. Aber freilich ift der Staat be 
feftefte, kräftigſte, widerftandsfähigfte diefer Genoflenfchaftformen ; und gliedern 
man ihm für die Sindheitzeiten der Mienfchheit die Vor- und Keimformer 
der ftaatartig auftretenden Blutsverbände an, trägt man auf höheren Stufe 
ber Einwirkung der lodereren Lebensverbände, insbeſondere der Stände us) 
Klafien, Rechnung, fo vermag diefe knochigſte Linie ber Gefellichaftentwide 
lung am Beten da8 NRüdgrat im Gliederbau der Weltgefchichte abzugeben. 

Man wird einwenden, es fei richtiger, von der Wirtbichaftgefchichte ams: 
zugehen. Ich kann mich dazu noch immer nicht belehren. Für den Zwed 
der Aufftellung einer Stufenfolge der MWeltgefchichte ift fie jedenfalls minder 
geeignet, weil ihre Stufen viel zu weit und umfaflend find, al dag man fie 
mit Nugen zur Beitenfcheidung verwenden könnte. Wie lange Entwidelung- 
ftreden mußte nicht der eigentlich gefellfchaftliche Werdegang, der von Fa⸗ 
milie, Staat und Stand, durchmachen, während die wirtbfchaftliche Entwides 
fung nocd immer in der Naturalwirthfchaft verharrte! Und auch die Formen 
ber Jäger, Hirten und Ackerbau-Wirthſchaft greifen viel zu eng verzahnt 
in einander über, al3 dag man fie zum Maßſtab machen bürfte. 

Tiefer und weiter zugleich reicht die gefellfchaftsfeelifhe Deutung 
der Zeiten, die, je nach ber Stellung, die das handelnde oder fehauende 
Ich zur Außenwelt einnimmt, die Räume fheidet. Doch fo unanfechtbar 
eine Gliederung wäre, die von biefem Standpunlt aus vorgenommen würde: 








Der freie Pſalm. 409 


Re möchte für ben augenblidlihen Zwed einer Zufammenfaflung nicht hin⸗ 
reichen. Sie würde leicht den Verdacht erweden, zu weitmafchig zu fein, zu 
ausgedehnie Begriffe anzuwenden. Sie ift wohl verwendbar als letzte Schluß⸗ 
formel, aber fie würde, angewandt auf die volle Mannichfaltigleit der kaum 
überfehbaren Menge der Bollsgefchichten des Erdballes, nicht tief genng im 
die Wirklichkeiten hineinfaſſen. Sie würde von einer legten allgemeinen Ge⸗ 
meinfamteit reden und die hundert einzelnes befonderen Gemeinfamleiten, 
deren Borhandenfein viel erftaunlicher ift, nur vermuthen laſſen, da fie fie 
nicht auffällig genug an den Tag legen Fönnte. 


Am Walchenſee, Auguft 1903. Profeffor Dr. Kurt Breyfig. 


Der freie Pſalm. | 


ge eine ragende Höhe, dem Himmel nah, 

Daß ich faft wie ein Gott die Erde da drunten fah, 
Riß mid ein klarer Traum, 'ein Schöpfer und Deuter, empor. 
Da braufte empor an mein Ohr der Menfchheit Ehor: 


„Dunkel find die Wege der Erde. 

Wir hungern und frieren. 

Wer forgt, daß es lichter werde, 

Daß wir uns nicht im Nebel verlieren ? 
Ihr Großen der Erde, die wir erfüren, 
Führt Eure Heerde!” 


Auf meiner ragenden Höhe, dem Bimmel nah, 
Saft wie ein Bott Maräugig ward ich da, 
Daß ih die Menfchen drunten fich rotten fah 
-Mit Iodernden Armen: „Ihr Starfen, Erbarmen, habt Erbarmen!” 
Und da fah mein Blick vor den Heerden Führer erftehn: 
„Ihr habt hierher, Jhr dorthin und dorthin zu gehn! 
Und daß Ihr die rechten Wege findet durchs Keben, 
Wollen wir Euch hier diefe Wanderſtäbe geben! 
Hier haft Du Deinen Stab und Du und Du! 
Und nun wandert an Euren Stäben dem Ziele zu. 
Wir Starfen haben die Stäbe für Eucd, bereitet. 
Unfer Wille ift Ener Gebot! Er ifts, der Euch leitet!“ 


AD ı Die Zutmtt. 


Und nun fah ich die Menfchen drunten an ihren Stäben Fendyen, 
Auf allen Wegen, dem Dunkel entgegen, ihr Siel zu erreichen .. 
Und wieder empor an mein Ohr hört’ ich der Menſchheit Chor: 


‚ „Aun gehn wir an unferen Stäben durchs Leben, 

Doch unfre Herzen beben. 

Wer kann unfern Seelen die Ruhe geben? 

Die Erde ift dunkel. 

Doch dort droben über den Wolken, was ift dort droben fu a 

Gefunfel? 

Wer wohnt dort oben? Sollen wir ihn fürdten oder loben? 

Wer wohnt dort oben in den ewigen fernen über den Sterne?” 
| 


Und wieder fah ich von meiner Höh’ vor den Menſchen Führer erürk, 
„Ihr habt hierher, Ihr dorthin und dorthin zu gehn! ' 
Und daß Ihr die rechten Wege findet durchs Leben, 

Sollt Ihr uns erft Eure feften Wanderftäbe geben!“ 


Und fie nahmen die Stäbe und fchnitten Zeichen und Runen binet: 
„Wir wollen Euch weihn, Ihr Stäbe, 
Ihr follt geweiht und geheiligt fein! 
An Euch, nur an Euch wandern die Guten ins Leben hinein‘ 
Dort drüben die Andern können nimmer ihre Stäbe fo göttlicdy weibn 


Und nun fah ich die Menfcen an thren geweihten Stäben durchs Ken 
feuchen, 
Auf allen Wegen, dem Dunfel entgegen, ihr Siel zu erreichen, 
Und dort als ärmliches Siegeszeihen, wie Kanzen, ihre Stäbe a: 
Gräber pflanzen. 
Und da, wie ich hoch oben, dem Himmel nah, 
Saft wie ein Bott, da drunten der Menſchen Gewimmel fab, 


Da dehnte unendliches Leid und doch, auf meiner freien Höhe, unendlich 
£ujt meine Bruft, 
Und ich nahm meinen Stab, 
Den mir einft vor dem Wandern ein Bruder gab, 
Und wie Chonar, der Bott, fchleudert’ ich ihn auf die Erde hinab, 
Dielleiht auf mein Grab... 


Ich aber will nie mehr hinab, nie mehr hinab ins dunkle Leben! 
Ic will ohne Stab, ohne geweihten Bettelftab mein Grab erftreben .... 


Prag. Bugo Salus. 


= 





Grenzgarniſonen und Train. 411 


Grenzgarniſonen und Train. 


DS)‘ forbacher Vorgänge haben allerlei Vorſchläge ans Licht gebracht, 
die eine Wieberkehr ähnlicher Dinge verhüten ſollen. Im Hinblid 
wmf die früheren Borlommniffe in Mörchingen, Infterburg und Gum- 
binnen find auch Vorſchläge zu beflerer Stellung und verbeflerter Juſammen⸗ 
ſetzung der Offiziercorps der Kleinen Grenzgarniſonen aufgetaudt. Nur 
in Theil diefer Vorſchläge fcheint mir brauchbar. Zu den unpraftifchen 
zehört ber, die Dffiziercorpß der Heinen Grenzgarniſonen nur aus Elite zu 
bilden, da die franzöfifchen Grenzarmeecorps eine Elite von Offizieren auf: 
wiefen. Wenn man bdiefem Borfchlag folgte und die Dffiziercorps der Heinen 
Brenzgarnifonen der Armeecorp8 XV und XVI in Elfaß: Lothringen und 
bie der Armeecorps I, V, VI und XVII m Oft: und Weftpreußen, Pofen 
und Schleſien nur ans Elite zufammenfegte, fo würde, da wir ohnehin mehr 
als ein Dugend Garderegimenter und eine ähnliche Anzahl der Garde gleich 
Rehend erachteter Regimenter haben, für die Abrige Armee nicht allzu viel Elite 
mehr übrig bleiben. Das deutfche Offiziercorps aber vermag ſich nur dann 
auf feiner Höhe zu halten, wenn e8 namentlich in feinen drei Hauptwaffen 
Döllig Homogen und überall Elite bleibt; fchon das Eliteprinzip der Gardes 
regimenter kann als bedenklich gelten. 

Die Zufammenfegung der Offiziercorps in den Meinen Grenzgarni⸗ 
jonen darf nicht anders fein als die des Durchſchnittes im übrigen Heer. 
Dazu ift aber nöthig, daß die Strafverfegungen in diefe Sarnifonen auf: 
hören; man behauptet ja, daß diefe Berfegungen vielfach Perſönlichkeiten 
treffen, die Etwas auf dem Kerbholz Haben. Der Vorſchlag, den Offizieren 
ber Örenzgarnifonen alljährlich längeren Urlaub und das zur Fahrt in die 
Heimath nöthige Reifegeld zu gewähren, ift gut gemeint, aber kojtfpielig; und bie 
Beamten der Grenzorte könnten fchlierlich mit faft dem felben Recht das Selbe 
verlangen. Schon deshalb würde auch eine befondere Gehaltszulage für die 
Dffiziere der Grenzgarnifonen zunächſt auf Widerfpruch ftoßen. 

Werthvoll fcheint mir nur der Vorſchlag, die unteren Chargen, zu: 
nächft den Lieutenant, in einem eiwa dreijährigen Turnus aus den Heinen 
Örenzgarnifonen ins Landesinnere zu verfegen. Die Hauptfache aber wird 
immer fein, daß zu Regimentskommandeuren und felbftändigen Bataillon- 
fommandeuren in den Heinen Grenzgarnifonen nur Perfönlichkeiten ernannt 
werben, die für die Leitung eines Difiziercorp8 ganz befonder8 befähigt find. 
Zwar fol jeder Kommandeur ein Offiziercorps leiten lönnen; body das Maß 
der Begabung dafür ift verjchieden und diefe Begabung ift unter den fchwierigen 
Verhältniffen der Grenzgarnifonen offenbar noch wichtiger als fonftl. Der 
Kommandeur muß da einen befonders fcharfen Blid für die Beurtheilung 





412 Die Zukunft. 


er Charaktere feiner Dffiziere und ihrer Beziehungen zu einander habe: 
er muß alles Bemerlendwerthe, was im Offiziercorps vorgeht, erfahren, za 
danach eingreifen zu fönnen, und er muß, ohne zu „repräfentiren” — bi 
Pflicht ift bekanntlich nur dem Kommandirenden General zugedacht —, u 
feinem Haus den Mittelpunkt der einfachen Gefelligkeit bilden, bie im da 
Heinen Garnifonen befonders gepflegt werben muß, damit der Offizier Ir 
regung findet und mit feiner Lage zufrieden ift. 

Der „eiferne Beſen“, der in Forbach gebraudt werden foll, Tisz 
naturgemäß ja nur auf die dortigen Verhältniffe und das Dffiziercorps di 
forbacher Trainbataillons wirken; wo ähnliche Berhältniffe noch nicht and & 
gelommen find, muß von ſolcher Härte Abftand genommen werden. Ganz verfiel 
wäre auch ber Gedanke, nun etwa gegen bie ganze Traintruppe und ihr Offtze 
corp8 vorgehen zu wollen. Auch für die Verbeflerung diefer Truppe find Ber 
fchläge gemacht worden, die mir nicht annehmbar fcheinen. So namentlich der, yet 
Difiziercorps des Train folle ein DurchgangBoffiziercorp8 werden; man folle be 
ſonders gut empfohlene Difiziere aller Waffen unter Borpatentirung im den Trez 
verfegen und diefen Difizieren den Eintritt in den Generalftab, die höke 
Adjutantur und die höchiten Heeresftellen ermöglichen. Soll das ganze Tram 
offiziercorp8 aus ſolchen Offizieren beftehen, fo würde dadurch, unter Her 
minderung bes Werthes der übrigen Offiziercorp8 und Truppen, eine Tee 
Elite geſchaffen; wird aber nur ein Theil folder „Springer“ in ben Trau 
verfeßt, fo würde dadurch bei ben übrigen Trainoffizieren Unzufriedenhe 
und Unluft am Dienft erregt, da fie jich gewilfermaßen ald Offiziere zmeikt 
Kaffe in ihrer Garnifon fühlen würden. Nicht minder unhaltbar ift der Bor 
Schlag, Offiziere, fogar Rittmeijter, zum Train abzufoımmandiren und ihm 
vielleicht ihre Uniform zu laſſen, fie alfo nicht in diefe Truppe zu verfegen 
Solde Maßregel würde das Gefühl dauernder Zufammengehörigleit mit diefer 
Truppe nicht aufkommen laffen; von wirklichem Corpsgeift, von einem Auf 
gehen in den Dienft gerade diefer Truppengattung könnte dann nicht meh 
die Rede fein, namentlich nicht, wenn die ablommandirten Offiziere bie Unt 
form ihrer früheren Negimenter behielten. Wenn früher Offiziere ber Feld— 
artillerie zeitweilig zum Train verfegt und dann, meift mit Beförderung, zu 
ihrer Truppengattung zurüdverfegt wurden, fo geſchah Das nicht etwa, mm 
den Zrainoffiziercorp8 beſonders tüchtige Offiziere zuzuführen, fondern, weil 
den Train überhaupt die Dffiziere fehlten. Zu diefem Mittel wird man, 
falls der heute bereit3 wieder beginnende Offigiermangel beim Train ſich feigert, 
boraußiichtlich wieder zu greifen gezwungen fein; und Offiziere der Feld: 
artillerie find für diefe Aushilfe um fo mehr geeignet, als fie mit Kriegs 
fahrzeugen, Geſchützen, Progen und Munitionwagen, ſchon umzugehen ver 
ftehen; diefe Kenntnig haben die Kavallerie: und Infanterie-Offiziere nicht. 


Srenggarnifonen und Train. 413 


Huch ift die TFeldartillerie fo überfüllt, daß nach dem neuften Erlaß bis 
uf Weiteres Fahnenjunker bei diefer Waffe nicht mehr angenommen werden. 
Der Offiziermangel, der nicht nur in der Infanterie (wo ungefähr 13 Pro: 
zent der etatmäßigen Lientenants fehlen), fondern auch don in der Kavallerie 
und im Train fühlbar ift, erfchwert natürlich überhaupt die Aufgabe, dem 
Train befonders tüchtige Offiziere zuauführen. Vielleicht Fönnte eine Gehalts- 
zulage, die den Eintritt der Fahnenjunker beim Train erleichtert, auf die An- 
zahl und Auswahl der Trainoffizierafpiranten günftig einwirken. Die bamit ver⸗ 
bundene geringe Belaftung des Militärbudgets könnte faum ind Gewicht fallen. 
Allerdings kommt eine Mehrforderung zur anderen und e8 ift fchwierig, in 
einem über 600000 Mann ftarten Heer alle Berbältnifle ideal auszugeftalten. 
Das gilt befonders für eine Truppe, bie, wie der Train, nicht „Waffe“ ift. 
So unerfeglich und wichtig diefe Truppe auch für den Krieg ift und 
fo ehrenwerth und tüchtig ſich auch ihr Dffiziercorpg, mit Ausnahme des 
jängften, vereinzelten Falles, gezeigt hat: bie Zufammenfegung diefes Offizier: 
corps wird doch fletS der Umftand erfchweren, daß der Train eben nicht zu 
den fechtenden Truppen gehört und daß er an höheren Stellungen nur bie 
ber Traindireltoren und des Inſpelteurs bietet. Deshalb wird die Zahl der 
Freimilligen, die fi als Offizierafpiranten zum Train melden, ftet3 fehr 
befchränkt bleiben und das Militärkabinet wird zur Ergänzung des Train: 
offiziercorp8 auf die Zöglinge des Kadettencorp8 und eine beträchtliche An⸗ 
zahl von Offizieren der übrigen, befonder8 der berittenen Truppen angewiejen 
fein. Das kann aber für dieſe Waffen nur vortheilhaft fein. Wenn gut: 
bewährte Difiziere, denen die Lebenshaltung, Pferde und Uniform bei der 
Kavallerie zu Eoftfpielig geworden find, oder tüchtige Aittmeifter und Batterie⸗ 
chefs, die nicht die Qualifikation zum Stab8offizier erhalten und ftarle Fa⸗ 
milien befigen, dem Train überwiefen werden, Liegt Das offenbar im Intereſſe 
aller drei ZIruppengattungen. Wehnliches aber gilt auch von der Verſetzung 
folcher jungen Kavallerie: und Artillerie: Offiziere in den Train, bie ſich für den 
Dienft und die Beförderung in ihrer Spezialwaffe nicht eignen ober bei denen 
andere Umftände zwar eine Verfegung, doch ihr Verbleiben im Dienft wünfchens- 
werth erfcheinen laſſen. Diefe Berfegungen würden und dürften aber nicht 
den Charakter von Strafverfegungen haben, wenn das Nivean des Trains 
offiziercorps nicht herabgedrüdt werden fol. Der Train wird freilich ſtets 
eine — höchſt wichtige und unerfeglihe — Hilfstruppe bleiben. Schon bes: 
halb wäre es grundfalich, fein Offiziercorps, ftatt es durch Gehaltszulagen 
materiell ſchlechter geftellten, aber tüchtigen Elementen zugänglich zu machen,‘ 
fünflih duch Maßregeln zu heben, die nur auf Koften der SKriegsfähigfeit 
wichtigerer Truppengattungen durchgeführt werben könnten. 


Breblan. Oberſtlieutenant Rogalla von Bieberſtein. 


ð* 





414 Die Zukunft. 


Börfenbefherung. 


SE note bat alfo der Schrei nad} einer Reform des Börfengejeges Erbium 
9 gefunden. Die Thronrebe, bie den neuen Reichstag begrüßte, veriieh 
Borlagen, die in ben widtigften Punkten Abhilfe jchaffen follen, — io me 
Abhilfe von einer der Börfe unfreundlich gefinnten Negirung und einer eben lo.de 
Reichstagsmehrheit Überhaupt zu erwarten war. Der Anhalt diefer Bora 
ift fein Geheimniß mehr. Die eine ermäßigt bie Befteuerung bes GEmühs- 
und bes Börfengefchäftes, die andere will die gröbiten der Mißbräuche binberr, 
zu denen der Differenzeinwand Anlaß gegeben hat. Der Differenzeinwand jeiF: 
aber bleibt beftehen; eben fo das Qerminregifter und, was das Wichtigfte ü. 
auch das Verbot bes Beithandeld in den Aktien induftrieller Unternehmung 
Die guten Menfchen, die ficben Jahre lang nicht müde wurden, bas Tem 
bon der Bö:jengefegreform in allen möglichen Tonarten zu behandeln und ki 
beutfche Publifum bet jeder pafjenden und unpafjenden Gelegenheit mit gelafrı 
Differtationen darüber zu beglüden, haben dennod Fein Hecht, ſich zu beklegen 
Der kindiſche Trog, womit der journaliftifde Landſturm de$ moneyed interes 
anfangs den Umfturz erzwingen und das fiegreiche Agrarierthum aus einer feine 
ftärkiten, mit dem größten Eifer behaupteten Pofitionen verdrängen wollte, w= 
längit einer Refignation gewichen, bie fi) mit ber Unabänberlichleit aller graz: 
fäglichen Beftimmungen des Börſengeſetzes zufrieden gab und ſchon die Ermäßigurz 
der Börfenftenern nebft der Befeitigung der ſchlimmſten Härften bes Differenr 
einwandes als des Kampfes würdige Trophäen Sägen lernte. Diejes nicht jeh 
hohe Bieliftjegt erreicht. Wiedie Regeln des parlamentarijchen Kriegsſpieles es muz 
einmal bedingen, wird die Neichetagsmehrheit fi die Zuftimmung zu der Novel: 
ſcheinbar recht mühſam abringen lafien, al$ würde ihr Uingeheures, Unerträg 
liches zugemuthet; natürlich weiß aber jeder Haruſpex ſchon heute, Daß ber Fleinr 
Snadenbroden, den die NRegirung mit diefer Novelle der Börſe binwirft, ven 
feinem Geier geraubt werden wird. Die Agrarier werden freilich danach ſchnappen. 
doch nur, um der Börfe deutlich zum Bewußtjein zu bringen, wie felig fie jeis 
muß, aud nur das Wenige zu befommen, 

Wo aber bleibt der Jubel? Alesftil. Gewiß: Berge haben gefreißt und nur 
eine Maus ward geboren. Die Berge aber wußten von vorn herein, daß fie nur 
eine Maus gebären könnten, und doch wurde der Tag der Entbindung als em 
Freudenfeſt für die ganze Nation angefündet, Vor bald vier Jahren empfahl 
Siemens die Reform des Börfengefeßes, deren Grenzen er, als ein Mann ohne 
Illuſionen, ſchon damals erkennen mußte, im Reichstag mit dem luſtig ſchmetternden 
Ruf: „Künftige Kriege werden nicht mit Säbel und Gewehren gewonnen werden; 
ſiegen wird die Nation, die auf die Dispoſition ihrer nationalen Mittel und bie 
Stärfung der Börje die größte Sorgfalt verwendet." Ein Jahr danach — die Yie- 
girung fah die Situation vieleicht als jo fürchterlich gefährbet an, daß eine raſche 
Defenfivaftion nöthig ſchien — wurde der Börfenausfhuß zu einer Tagung ins 
Reichsamt des Innern berufen, um die Beichwerden gegen das Börfengefeg zu 
prüfen. Wurden den Herren dort vertraulide Mittheilungen über einen neuen 
Schnaebelefall gemacht? Jedenfalls entichloffen ſich in patriotiſcher Aufwollung 
ſelbſt die der Börſe unholdeſten Mitglieder zu einigen Konzeſſionen an die Staaté⸗ 


_ 


Börfenbef cherung. 4 15 


einrichtung, die für Siemens die wichtigſte Wehr und Waffe des deutſchen Volkes 
bedeutete. Nach mehrjährigem heißen Bemühen ſchien der Erfolg ſchon aus ber 
Nähe zu winten; doc die unter dem Namen des langen Möller uniterbliche 
Ercellenz meinte wohl, die Börje lönne noch warten. Siſyphus mußte von vorn 
anfangen. Eine Börjen:Konferenz, die der neue Minifter einberief, follte erft 
überprüfen, was der Börfenausjchuß ergeben Hatte. Offenbar war inzwilchen die 
Außere Gefahr wieder gefhmwunden, eine Mobilmachung der Börfe nicht mehr nöthig 
und dem diplomatiſchen Genie des preußiichen Handeldminifters die Aufgabe übers 
tragen worden, mit feiner Kunſt die Spuren der Angft zu verwifchen, die in fritifcher 
Stunde die Gemuͤther ergriffen hatte. Auch die Konferenz itimmte, ohne Unterſchied der 
Bartei, darin überein, das an dem beftehenden Geſetz Einzelnes zu beflern jei. Am 
Ende hatte dad Mene Tekel, daß Siemens an die Prunfwand des Reichstags ſchrieb, 
fogar tapfere Junkerherzen geichredt? Doch der Weltjriede blieb erhalten, wurde 
mit immer größerem Eifer als unerſchütterlich gerühmt und die Verbündeten 
Regirungen ließen die Börfengejegreförm ruhefam weiterihlummern. Wieder 
verging ein Jahr. Eine neue That war fällig. Sie blieb nit aus. Die deutichen 
Bankiers veranftalteten einen „Tag“, der, auf die Stunde genau zwölf Monate nach 
Möllers Konferenz, in der ehrwürdigen Baterftabt der Herren Wolfgang Goethe und 
Amſchel Rothſchild eröffnet wurde. Das Leid der Börfe ward urbi et orbi in 
rührenden Lauten geklagt. Stein Echo war aber zu hören; und die Qamentationen 
tonnten doch Steine erweiden. Das lebte Aufgebot wurde nun ins Feld ges 
führt: ein „Tag“ aller deutſchen Börjen brah an. Das war im Februar. Noch 
immer blieb die Regirung hart. Ste hatte andere Sorgen. Erft neun Monate 
ſpäter fam ihr, post tot discrimina rerum, die Einficht. Lange hats gedauert; 
ein hartes Stüd Arbeit für die Börfe, die Banken und Alle, die faft ohne Pauſe 
die Luft mit Wehrufen erfhütterten, weil dte berühmte Neform noch immer nicht 
nahen wollte. Nun tft fie da, — und wird fanglos und klanglos empfangen. 
Denn der fauerfüße Gruß, der dem von der Börfe [prechenden Theil der Thron- 
rede in den Organen des Liberalismus entboten wurde, konnte feinen Menſchen 
darüber täuſchen, daß die Ankündung ber Börfennovelle nicht mehr als eine wills 
fommene Senjation gewirft hat. Ueberraſcht waren, ftatt der Empfänger, dies- 
mal wohl nur die Spender, die mehr frohe Dankbarkeit für ihre Gabe erwartet 
haben mochten. Die Börfe jelbit, das in ben Kurſen pulficende Leben des Werth- 
papiermarftes blieb von dem Reformverjprechen der Thronrede völlig unberührt. 
Iſt hier ein Räthſel zu Löjen? 

Sicher Fein unlösbares. Die Börfe Hat fi in bie Zucht des beftehenden 
Geſetzes jo eingelebt, al ihre Verrichtungen ſchon jo darauf zugelchnitten, daß 
fie der Ausficht auf eine Aenderung gar keinen Reiz mehr abgewinnen Tann. 
So mag es einem Berurtheilten gehen, der nach langer Gefangenſchaft die Rück⸗ 
fehr in die alte Freiheit fürchtet und fchließlich nod bittet, man möge ihn da 
behalten, wo er allmählich feine ganze Welt finden gelernt hat. Viele Federn, 
fogar einige Köpfe haben fidh bemüht, dem Efenden das höchſte Gut wieberzus 
gewinnen: und nun, da fi ihm ein neues Qeben aufthut, fehlt dem lange Ein- 
geiperrten die Spannkraft, fi) in die früheren Verhältniſſe zurüdzumagen. Die 
Börfe,. der an der Schwelle des Jahres 1904 die Begnadigung angeboten wird, 
ift eben nicht mehr die felbe, die vor acht Jahren in bie Feſſeln des Börfen- 

83 





416 Die Zuhunft. 


gefeßes gelegt ward. Sie Hat in ihrem Innerften Weſen eine Wandlung burd- 
gemacht und nad und nad alles Berftändniß für eine reformirte — — 
gebung verloren. Der Werth des Individuums iſt zuſammengeſchrumpft, das 
Streben nad Konzentration beherrſcht alle Gebiete ber Finanzwirthſchaft und 
bie raſch erwachſenen Großbanken haben Stülck vor Stüd von den Meinen Privat⸗ 
geſchäften an fich geriffen. Lächelnd denkt man jegt daran, daB in bem — 
für die Beſeitigung des Borſengeſetzes die Leiter der großen Bankinſtitute die 
Führung übernommen hatten. Oder lag Methode in dieſem Wahnfinn? Stellten 
fi die Großen an die Spige, um der Bewegung Pfad und Ziel zu weiſen, a 
daß fie ihnen nicht eines „Tages“ gefährlich werde? Einen befjeren Bundes» 
genofien als das noch beftehende Borſengeſetz konnten bie großen Banlen gar 
nicht finden. In hellen Haufen trieb es ihnen die Kunden zu, von denen bie 
Heinen Privatbankiers, damals noch das Nüdgrat der Börfe und jeglichen Effelten- 
handels, wegen ber ungeheuren Zumuthungen des Gefeßes Lafien mußten. Der 
Differenzeinwand, das Berbot des Terminhandels, bie Nothwenbigleit, bar gu 
bezahlen, was man Taufte: Tauter Keulenhiebe für die ſchwachen Individuen, höchſt 
nüßliche Errungenschaften aber für die Koloſſe. Erit jeit dem Erlaß des Börfen» 
geſetzes ifts den deutichen Großbanken fo recht wohl geworden. Ohne das Funda⸗ 
ment, das dieſes Geſetz ihnen ſchuf, hätten fie nicht die Stellung erreicht, bie fie 
heute haben, eine jo überragende Stellung, wie fie in feinem anderen Lande bem 
Banken befchleden iſt. Ste beherrſchen einfach fouverain unfer ganzes Yinany 
leben. Bon welchem Punkt aus man aud) eine finanzielle Transaltion planen mag: 
ale Wege führen nach biefem Nom, deſſen Forum bie Behrenftraße if. Und 
babet hieß es, das Boͤrſengeſetz hemme die „legitime Thätigkeit ber beutjchen 
Märkte” und treibe das deutſche Publikum mit feinen verfügbaren Kapitalien auf 
ben londoner Goldminenmarkt; es zeritöre den „Segen ber Eontremine‘ und 
ſchwäche Deutſchlands Wehrkraft in bebrohlichiter Weiſe. Das Alles Klingt jetzt 
wie Hohn. Die Leuchten bes Liberalismus, bie in den Banlkpaläften als Di⸗ 
rektoren ober Auffichträthe thronen, mögen jchön gelacht haben, wenn in ihren 
Barteiblättern jahraus, jahrein, morgens und abends dieſes Mijere gelungen 
wurde. Die durch das obligatoriſche Kaſſageſchäft begänftigten Großbanken 
Tonnten vorher ungeahnte Summen von Altien ihres Eigenbaues im Publikum 
feft unterbringen; und gerade fie haben in Deutihland den Abſatz von Gold⸗ 
minenfhares ins Riefige gejteigert. Das geſchah zu Nutzen und Frommen ihrer 
Bilanzen und unter bejtändigen Kapitalsvermehrungen, bie faft ſchon beängftigenb 
wurden. Noch hat fein Statiftiler feftzuftellen verfucht, wie viele minberwertbige, 
wie viele beinahe werthloje „Werth“⸗Papiere unter ber Herrichaft bes Börfen- 
gejebes von unferen großen Banken dem deutſchen Publikum verfauft worben 
find. Neun Stellen hat die Zahl gewiß, vielleicht gar zehn. „Den wirtbichaft- 
lich Schwachen‘: Das war die Widmung, die das Börfengefet trug, gleich mancher. 
anderen Geſetzen, die dem felben Geift entfprangen. Mindeftens fraglich if 
aber, ob nicht die Leute, die ber weiſe Geſetzgeber ſchützen wollte, in ihrer Ge 
fammtheit durch das Geſetz viel mehr eingebüßt haben, als fie ohne das Geſe 
jemals dem &iftbaum geopfert hätten. Heute tjt es zu fpät. Die Reform ben 
Böorſengeſetzes kann bie Toten, die im nublojen, ruhmlojen Konkurrenzlampf nit 
ben Rieſen gefallen find, nicht wieder lebendig machen. Die Autofratie bei 





Notizbuch. 417 


Großbanken iſt nicht mehr zu brechen. Was foll ber entmannten Börfe jetzt 
noch die Freiheit nützen? Und wäre es noch wirkliche Freiheit! Doch nur die 
Freiheit, die ſie meinen, gewähren die großen Herren des Behrenviertels. Die 
konzediren fie in Gnaden und rufen dabei: „Nehmt hin und ſeid hübſch dankbar, 
denn Schweiß genug hat e8 uns gekoſtet!“ Nun fehlt eigentlich nur noch, daß 
bie Börfianer fi Thränen der Rübrung aus dem Auge wiſchen und innigen Dank 
ftammeln, weil die Großen, als fie ihre Herrichaft wie einen rocher de bronze 
ftabilirt Hatten, jo gütig waren, den Kleinen eine Weihnachtbejcherung zu gönnen. 


| Dis. 
2 


Notizbuch. 


———— iſt erbffnet und wird, wenn dieſes Heft erſcheint, anch ſchon die 
erſten redneriſchen Leiſtungen hinter fich haben. Alles verlief secundum 
ordinem; und die Propheten dürfen nicht einmal ſtolz darauf fein, daß ihre Ver⸗ 
heißung erfüllet warb, Dem Präfidium wurbe fein Sozialdemokrat verliehen, Herr 
Singer befam nur die Stimmen feiner Parteigenofjen und die Mehrheit fcheint ent- 
ſchloſſen, die Geſchäftsordnung nicht zu ändern. Auch die Thronrede brachte Feine 
Ueberraſchung. Oder iſts eine, daß der neue Stantsfelretär bes Reichsſchatzamtes 
mit dem ungeftümen Feuereifer feiner ſiebenundſechzig Jahre eine Umgeftaltung des 
Finanzweſens plant? Yür jehr genügſame Seelen vielleicht. Nur ein Proviſorium, 
das die „größten Uebelſtände“ befeitigt; für „eine Burchgreifende organiſche Reform“ 
iſt die Zeit noch nicht reif. Der Freiherr von Stengel hat, als Bayer, erfahren, welches 
ärgerliche Unbehagen dadurd) entitanden tft, daß die Bundesftantsfinanzen von ber 
Reichswirthſchaft abhängig find. Die clausula Yrandenftein, die in Ehren, doch ohne 
bejonderen Ruhm ein Bierteljahrhundert alt geworden ift, foll nun ins Paragraphen» 
mujeum gebracht werden. Sie mag nüßlich geweſen fein: einen bequemen Zuſtand 
Battefienicht gefchaffen; und längft wurde fie nicht nur von Partikulariften verwünſcht. 
Sie jchreibt vor, daß von dem Gelde, das ans Zöllen, Stempelabgaben, Tabal- 
und Branntweinfteuer eingeht, das Reich nur 130 Millionen für fich behalten, den 
Reit — in einem den Matrikularbeiträgen angemeflenen Verhältniß — den einzel⸗ 
nen Bundesftaaten überweijen folle. Die Reichskaſſe gab alſo einen Theil des ihr 
äugeflofienen und gebührenden Geldes weg, forgte aber bafür, daß es ihr zurück⸗ 
erftattet werde; und die Einzelſtaaten mußten mit ihren Matrilularbeiträgen zunächſt 
für die Reichsbedürfniſſe auflommen, durften aber hoffen, durch die Ueberweifungen 
vom Reich entſchädigt, am Ende gar noch mit anfehnlichen Summen befchentt zu 
werden. Wenn das Reich nämlich genug eingenommen hatte. Das fam vor; und in 
den Jahren, wo bie Ueberweiſungen höher als die Matrifularbeiträge waren, hörte 
man feine Klage. Lang iſts ber. Im legten Quftrum haben bie Einzelftaaten unges 
fähr Hundert Millionen in die Reichskaſſe geliefert. Was Wohlthat fchien, wurde 
nun als Plage empfunden. Man ſchalt die umftändliden Schiebungen, die nur 
das Schreibwerk vermehrten, und die Finanzminiſter ber Bundesstaaten rangen bie 
Hände: Unmöglich, zur Ruhe zu kommen und fich, nad) einem feiten Plan, für län- 
gere Zeit einzurichten, weil man ja nichtwillen kann, was das auf [dwanfende Ein⸗ 


88° 


418 “ Die Zufumft. 


nahmen angewieſene Reich in diefem und im nächſten Jahr an Neberweifungen ge 
währen, an Matritularbeiträgen forbern werde. Diejed Gefühl doppelter Abhängig- 
feit konnte die Liebe zum Reich nicht ins Leidenfchaftliche fteigern. In Münden, 
Dresden, Stuttgart, in allen deutfchen Parlamenten wurde, laut oder leiſe, gejagt, 
tm Reihsihagamt ſcheine man fi um die Wünſche und Lebensbebürfniffe der 
Einzelftaaten überhaupt nicht mehr zu fümmern. Der Freiherr von Thielmann ging, 
der Freiherr von Stengel kam; und jegt will ber Bayer das unmoderne Werk feines 
Landsmannes Frandenftein zeitgemäß verbeflern. Die Matrikularbeiträge jollen 
künftig „in der Regel“ nicht höher fein als der Durchſchnittsbetrag ber in den legten 
fünf Jahren aus der Reichskalje den Staaten überwiejenen Summen. Sit alfo aus 
Berlin nichts überwieſen worden, jo braucht dorthin auch nicht8 beigefteuert zu werden ; 
freilich nur „in ber Regel“. Immerhin hoffen die Yinanzminifter nun, vor uner⸗ 
träglihen Zumuthungen bewahrt zu bleiben. Sehr großartig ift da8 Programm des 
neuen Herrn nicht; e8 fönnte von einem Partikulariſten erfonnen fein, denn es be- 
laftet das Neich mit Ichweren Sorgen. Was wird aus der Reichsſchuld, deren Ber- 
zinfung jährlich Hundert Millionen erfordert? Herr von Stengel verheißt „eine Re: 
gelung, die dauernden Charakter dat und darum einen nadhaltigeren Erfolg ver- 
ſprechen dürfte als Einzelgeſetze.“ Dunkel ift ber Rede Sinn. Das Reich, das immer 
neue Schulden maden muß, alfo nicht hat, was e8 zum Leben braudt, kann feine 
alten Schulden nicht bezahlen, kann fie hochſtens fchieben wieder Student, derim Som⸗ 
mer ben warmen Rod, im Winter die Taſchenuhr verfegt und jedesmal, wenn er 
eins ber Pfandobjekte gegen das andere ausgetaujcht bat, glaubt, feine Bilanz ſei im 
mufterhafter Ordnung. Die Vorlage Stengels hat ihreguten Seiten, mahnt aber wie- 
der ſchmerzlich an die Thatjache, daß die Regirenven im Großen nichts verrichten kön⸗ 
nen. Wie lange wird ſchon an ber Frage der zzinanzreform herumgezupft! Nach 
allem Gerede durfte man mehr erwarten als ein Flickwerk. Das Reich braudt neue 
Einnahmen. Diele bittere Wahrheit verjchweigen die Verbündeten Regirungen gern, 
weil fie den Reichstag nicht verftimmen möchten. Auf die Dauer wirds doch nicht zu 
vermeiden fein; denn dringende Bedürfnifle können nicht ewig unbefriedigt bleiben. 
Für die „Offiziere und Mannſchaften des Reichöheeres" wird jetzt etwas verbeflerte 
Löhnung gefordert. Ein Tropfen, der auf heißen Stein fällt. Sieht oben denn Nie» 
mand, daß es höchfte Zeit ift, für Heer und Beamtenfchaft ganz neue Gehaltsnormen 
zu finden? Was heute bezahlt wird, reicht Enapp für die Nothdurft. Es Klingt recht 
ſchön, wenn dem Offizier gefagt wird, er brauche nicht zu repräfentiren und folle ſich 
mit dem Stolz der Armuth umgürten; nur |perrt man ihn mit diefer Weifung vom 
hellen Zeben ab, nimmtihm die Möglichkeit des Umganges mitwohlhabenden Bürgern, 
deren Bajtfreundichaft erdoch anftändig erwidern müßte, und bannt ihn in die Kaſerne. 
Solche Forderungen find nicht populär, aber nothwendig; bleiben fie unerfüllt, dann 
wird alles Jammern über den Mangel an tauglichem Offiziererfaß nicht Hindern, daß 
junge Männer von Durchſchnittsverſtand den Beruf des Inbuftriellen, Technikers, 
Saufmannes wählen, Statt im bunten Rod zu darben oder nach Einladungen aus» 
zulugen, die reichliche Schmäujeveriprechen. Lieber fein Heer als eins, dem biegeijtig 
Trägen, zu ernjthaftem Kampf Untächtigen befehlen. Wer regiren will, Darf an unbe» 
quemen Pflichten nicht Scheu vorüberfchleichen. Bet uns iſt man ſchon zufrieden, wenn 
die Karre nit im Sand fteden bleibt. Die Thronrede iſt die darakteriftiiche Urkunde 
einer unfruchtbaren Zeit. Keine Spur von Schöpferfraft, auch nur von Schöpfer- 


En ET A Te nn Lan 


Notizbuch. 419 


muth. Sondergerichte für Handelsgehilfen; Yeldzug gegen die Hebenparafiten; ein 
paar Konzeflionen an die Börfe; im Hintergrund ein Geſetzentwurf, der für ſchuld⸗ 
los erlittene Unterfuchungbaft entfchädigen fol, im Bundesrath aber noch nit — 
noch immer nicht! — fertig geworben ift; und allerlei ungreifbare Phrafen Aber bie 
„Anforderungen fteigender Kultur” (die auch noch nicht fertig ift) und ben feften 
Willenzu foztalpolitifcher Reformarbeit, deren Biel nicht gezeigt wird. Zum Schluß 
dann bie „guten und freundlichen Beziehungen zu allen fremden Mächten”, ein 
Stüdchen auf ber Friedensſchalmei: und die „geehrten Herren“ dürfen nach Haufe 
geben. Herrgott, denkt ber Bürger, mern er feine Beitung aus der Hand legt, iſt bie 
Politik im Deutichen Neich Iangweilig geworden! Und freut fich auf ben Tag, wo 
ein Brandrother wenigftens ein Bischen Leben in die Reichsbude bringen wird. 
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Ein Hauptvergnügen des Beitunglefers war ben lieben Sommer lang bie 
Kabbalgeret in Ungarn. Da gings Iuftig zu; und für Abwechſelung war gejorgt. 
Heutewurde im Parlament gebrüllt, morgen auf der Straßegeheult und Übermorgen 
ein feierlicdes Verfahren eröffnet, um feftzuftellen, ob ein Statthalter den Verſuch 
gewagt babe, inforruptible Kernmagyaren zu beftechen. Zwei Minifterpräfidenten, 
Herr von Szell und Graf Khuen, erlagen ber Obſtruktion und Wochen lang konnte 
der Kaiſer Franz Joſeph für jein Königreich Ungarn keinen möglichen Kabinetschef 
finden. Seht erit ift Friede im Land; oder wenigftens Waffenftillftand. Und ber 
Mann, ben der Lorber dieſes Erfolges ſchmückt, ift der felbe Graf Stefan Tiſza, der 
kurz vorher nicht einmal ein lebensfähiges Minifterium zu bilden vermocht hatte. Kolo⸗ 
mans Sohn und, wieder Papa, ein geriebener Herz, den kein ſchwindliges Gewiſſen auf 
feinem Wege hemmt. Er kam zur reiten Stunde; die Obftruftion zog nicht mehr 
recht und der Abgeordnete Franz Koſſuth, der Führer der Partei, die gegen das 
Haus Habsburg fämpft und Ungarn von Oefterreich trennen will, war klug genug, 
bie Hand zu ergreifen, dieihm aus fchwieriger age half. Er hatte ſich gut geſchlagen; 
foll überhaupt obftruirt werden, dann muß mans jo machen wie Kofluth und feine 
Leute. Sie haben mehr erreicht, als fie vor einem Jahr jelbft ahnten. Das Geſetz, 
das eine gegen früher erhöhte Rekrutenzahl forderte und im öſterreichiſchen Reichs⸗ 
rath ſchon bewilligt war, wurde inbeiden Reichshälften zurückgezogen, weil es Herrn 
Koſſuth nicht gefiel. Bei ihn, dem Sohn des achtundvierziger Todfeindes der Habs« 
burg⸗Lothringer, mußten die Minifter des Königs antihambriren, um von feiner 
Gunſt zu erſchmeicheln, was Gewalt nicht erobern konnte. Der Geltungbereich ber 
magyariſchen Staatsſprache wurde auch im Heerweſen erweitert und eine den Wün- 
ſchen Koſſuths entſprechende Reform des Wahlrechtes zugelagt. Franz Joſeph felbft war 
genöthigt, ben Sinn won Sägen zu mildern, die er als höchſter Kriegsherr geiprochen 
hatte. Und [hlieglih mußte Graf Tifza als Deinifterpräfident im Reichstag Koſſuths 
Formel nachſprechen: In Ungarn enticheibet nur der Wille der Nation, giebt es auch 
für das Heer keine andere Rechtsquelle als biefen Willen, ber im Parlament zu le 
gitimem Ausdruck gelangt. Ein ſchwarzes Jahr für Habsburg. Das Streben nad) 
ambejchräntter Selbftändigfeit ift fo ftark geworben, daß felbft Die liberal ⸗gouverne⸗ 
wentale Partei kaum noch den Schein wahrt und erniten Widerftand nicht mehr wa⸗ 
gen darf. Jeder möchte jet zu den „Unabhängigen” gehören: ber edle Banffy fo gut 
wie Graf Albert Apponyi, der Kunktator, den bie Tifzas ftets haßten und ber bes⸗ 
Halb unter dem erftbeiten Vorwand aus der tegirungpartei gefchieden ift. Der Dun 


420 Die Zukunft. 


lismus, die Hinterlaffenichaft Deaks, wirb ja noch ein Stredichen weitergefchleppt 
werben. Eines Tages aber kann der Stönig von Ungarn fich gezwungen jehen. in der 
ofener Burg Herrn Koffuth die Leitung der Staat3gefchäfte angutragen. Die lingern 
wollen mit Defterzeich nicht länger tn intimer @emeinfchaft haufen und Franz Joſeph 
tft zu alt für den Entſchluß, die Magyaren endlich einmaldieerfehnte Probe beftchen zu 
laſſen. Wenn fieden Dualismusloswürbden und outinthecold allein blieben, fönnten 
bie bubapefter Helden bald merken, daß die Gemeinfchaft ihnen größeren Bortheil 
gebracht hat als ben verhaßten Schwarzgelben. Felix Austria! Dte Arme muß nad 
berungariichen Fiedel tanzen und wird von polnischen Büttelngelnufft. Der Deutſche 
bat keinen Grund, die Magyaren zu lichen; als Politiker find fie aber nicht zu ver 
achten. Bon himmlifcher Frechheit, wo für das Natlöncdden was zu erprefien ift; alle 
Rechte für ſich und fein einziges für die Deutfchen und Slaven, die als Heloten jen- 
ſeits der Reitha wohnen; mit moralinfäuerlidden Kleinigkeiten giebt Keiner fich ab; 
und cher ift ein geborener Redner ... Vieblich Klang Übrigens das Lob, das im 
manchen berliner Beitungen dem Grafen Tiſza für feine „rückſichtloſe Thatkraft“ ge- 
fpenbet wurde, als er, um ber Objtruftion Herr zu werben, die Gejchäfteorduung des 
Neichötages ändern ließ. . . Während bes Tariffampfes hatte mans and: rs gelelen. 
” % 


" * 

Herr Profefior Dr. Guſtav Ruhland möchte fein neues Bud „Die Lehre 
von der Preishildung für Getreide“, das (mit neun graphiichen Darftellungen) bei 
Ißleib in Berlin erfchienen ift und zwei Mark koftet, hier anzeigen. Er ſchreibt da rũber: 

„Wird ein neuer Betreidezoll vom Inlande getragen oder auf das Aus 
land abgewälzt? Dieje Fragen werden von Millionen von Staatsbürgern nad 
ihrer Parteifchablone fofort in ganz beftimmter Weiſe beantworte. Werden 
aber die jelben Perſonen gefragt, ob bie Weizenpreiſe voraugfichtlich bis zum yrüß- 
jahr höher oder niedriger fein werden als heute, dann antworten fie: ‚Das kann 
Niemand im Boraus willen‘. Und doch ift jede Beantwortung der Frage nach 
ber Wirkung der Zölle eine Prophezeiung auf dem Gebiete der Grtreidepreis“ 
bewegung. Daß aljo die felsen Berfonen, die über die Tünftige Wirkung ber 
Getreidezolle fo genau Beicheid willen, fi immer auf ein beicheidenes Nicht⸗ 
wifien‘ zurüdziehen, wenn noch eine andere frage aus dem Gebiete der künf⸗ 
tigen Getreidepreie bewegung an fie geftellt wird, iſt ſeltſam; freilich nicht ſchwer 
zu erllären. Unſere umfangreide Literatur hatte bis heute noch Teine Schrift, 
bie in die Technik der Getreidepreisbildung fo tief eindrang, da fie dem Leſer 
eine zutreffende Beurtheilung der Tünftigen Preisbewegung allgemein ermöglichte. 
Mein Buch mag deshalb nicht nur Landwirthen, Händlern und Müllern, jondern 
auch dem Politiker willlommen fein, der eine fyftematiiche Darftellung ſucht.“ 

* * 


M 

Ein Glück, daB e8 bei unjeren getreuen Nachbarn no Inſtitutionen giebt, 
bie beiden Neichshälften gemeinfam find. Eine davon fcheint die wiener Yırma 
B. Berti zu fein; und eine fehrnügliche. „KRommerzielles Bermittelungburcau für 
Defterreih- Ungarn und die Balfanftaaten. Spezialabtheilung für Hof, Staats- 
und Armeelieferungen, hohe Auszeichnungen, Hof: und Kamımerlieferantentitel u. ſ.w. 
Neferenzen von erften Firmen und Hohen Berfönlichleiten”. Der Inhaber, „Difizter 
bes kaiſer lich ottomaniſchen Osmanje⸗Ordens“, muß namentlicd) in ber Türfel ein 
mächtiger Mann fein. Bor mir liegt ein Rundichreiben, in bem er „ergebenft darau 


Notizbuch. 421 


aufmerkſam macht, daß fich jebt eine nicht leicht wiederkehrende Gelegenheit bietet, 
mit einer verhältnipmäßig beicheidenen Spende einen hohen Orden zu erlangen. Die 
Heilige Bahn wird unter bejonderem Protektorat SeinerMajeftät des Sultans mit 
freiwilligen Beiträgen bes Hofes, der Negirungbeamten und der wohlhabenderen 
Bevolkerungsklaſſen gebaut. Ein — wenn auch Kleiner — Beitrag eines Ausländers 
würde bejondere Beachtung finden und auf geeignetem, durchaus korrekten und legalen 
Wege eine Dekoration (eventuell der höchften Klaffen: Großoffizier oder fogar ben 
Großkordon) einbringen.“ Die Gelegenheit ift günftig. Auch die kleinſten Beträge 
werden angenommen. Wer feinem Nächften eine Weihnachtfrcude bereiten will... . 
s u 


= 

Fräulein Helene von Monbart Bat, unter dem Namen Hans von Rahlenberg, 
1898 eine Novelle veröffentlicht, die ‚Nixchen“ hieß; noch immer heißt, Im Buchhandel 
aber nicht mehr zu haben ift. Denn die löbliche Behörde hat das Buch konfiszirt. 
Ziemlich ſpät; als ſchon ſechs Auflagen verbreitet waren. Eine faft neunzigjährige 
Sungfrau, die in rüftigerer Lebenszeit Lehrerin gewejen war, fand das Nixchen an- 
. ftößtg und trug ihr befchädigtes Schamgefühl ins berliner Polizeipräſidium, auf daß 
es Herr von Windheim, der damals nod; am Alczanderplag thronte, [Auberlich re⸗ 
parire. Das wurde denn auch verfudht. Zunächſt ohne Erfolg. Das Landgericht II 
Berlin lehnte din Antrag das Hauptverfahren gegen Fäulein von Monbart zu er« 
öffnen, ab und ſprach, als tie Beſchwerde der Staatsanwaltichaft beim Kammer⸗ 
gericht Durchgegangen war, bie angeflagte Schrififtellerin und deren Verleger in No⸗ 
vember 1902 frei. Diefes Urtheil wurde von ber Staatsanwaltfchaft angefochten und 
in Leipzig vom zweiten Straffenat am zweiundzmwanzigften Mat 1908 aufgehoben. 
Die Begründung ift nicht ganz unintercffant. „Din Inhalt der von der Angeflagten 
Bon Monbart verfaßten Novelle faßt der erfte Richter dahin zufaınmen, daß darin 
geichtldert wird, wie eine fechzehnjährige berliner Eecheimrathstochter, obgleich fie 
verlobt ift, zu gleicher Zeit ein Verhältnig mit einem anderen Mann unterhält, mit. 
dem fie in frivoler, Sitte und Anjtand verlegender Weife verfeärt, ihn aufſucht, um 
mit ihm vor ihrer Verheirathung alle Raffinements verbotener Liebe zu genießen, 
and in ihrer Wolluft nicht davor zurädichredt, 618 zum Aeußerſten zu gehen und 
fih dem Geliebten fo weit hinzugeben, wie e8 für fie ohne die Folge der Schwanger« 
ſchaft nur möglich iſt. Obwohl die Straflammer anerkennt, daß der Inhalt desachten 
Bricfes, Tosgelöft aus bem Zuſammenhang und für fi allein beiradhtet, als das 
Scham- und Sittlihkeitgefühlverlegend angefehen werden könne, Hat fie doch berge- 
sannten Schrift die Eigenſchaft einer unzüchtigen Schrift verfagt und deshalb beide‘ 
Angeklagte freigefprochen. Die dagegen eingelegte Revifion der Staatsanwaltſchaft 
mußte für begründet erachtet werden. Rechtsirrthümlich ift fchon die Meinung des 
Borderrichters, daß zur Annahme der Unzüchtigkeit einer Schrift, die das Geſchlechts⸗ 
leben berührt ober bebanbelt, eine ‚geichlechtliche Abficht‘ des Thäters in dem Sinne 
gefordert werde, daß durch die Schrift ein gefchlechtlicher Retzhat herborgerufenfollen 
und daß dieſe Abficht fich in der Schrift verlörpern muß. Gerade im Gegenfa hier⸗ 
zu bat das Reichsgericht wiederholt ausgeſprochen, zum Begriff ber Unzüchtigkeit einer 
Schrift jet nicht nöthig, daß der Berfaffer ober Berbreiter unzüchtige Zwecke verfolgt; 
es genüige vielmehr, wenn er an und für fich vorjäßlich Handelte und babei ba3 Be⸗ 
wußtjein von dem unzüchtigen Charakter der Schrift befaß. (Zu hoch für den Laien? 
Oder zu tief?) Einen unzüchtigen Charakter aber hat eine Schrift bann, wenn fie 


422 Die Zukunft. 


das allgemeine, zur Beit im Bolt Lebende Scham: und Sittlichleitgefühl 
in geſchlechtlicher Beziehung verletzt. Dabei tft es gleichgiltig, ob biefe Wirkung in 
der Heroorbringung eines gejchlechtlichen Reizes ober in ber Erzeugung von Wider- 
willen und Abſcheu beiteht.. . Zwar wird vom erften Richter au angenommen, 
daß erwachlene Perſonen männlidden und weiblichen Gejchlechtes im Durchſchnitt 
beim Leſen der Novelle weder einen gefchlechtlichen Heiz empfinden noch aud) ſich im 
ihrem Scham. und Sittlichleitgefüihl verlegt fühlen würden. Allein die erwachſenen 
Berfonen bilden nur einen Theil des Publikums, deſſen fittlided Empfinden den 
Gradmeſſer für die Beitimmung einer Schrift als einer unzüchtigen darbietet; und 
die Straffammerfeldft ftellt feft, daß bie Novelle für Jedermann känflich war, ſchließt 
auch die Möglichkeit nicht aus, daß fie auch unerwachſenen Perjonen zugänglich war... 
(Ausdrüdlic, wird erwähnt daß ınan fie auch bei Wertheim kaufen konnte.) Beitand 
aber die Möglichkeit, daß dieNovelle auch in die Hand unreifer fittlich noch nicht gefeſtig⸗ 
ter Perfonen gelangte und daß ihr Anhalt deren Scham- und Sittlichleitgefühl in 
geſchlechtlicher Beziehung verlegte, jo war die Annahme, daß es fich objektiv umeine 
unzüchtige Schrift Handle, geboten und es blieb dann nur noch zu prüfen, ob die An⸗ 
geflagten fich diefer Mögkichleit bewußt geworben find.” Eine leſenswerthe Ent- 
ſcheidung des hochſten Gerichtshofes. Objektiv ungüichtig und dem 5 184 St8B 
verfallen ift etne Schrift aljo fchon, wenn fie im Sinn unreifer, fittlich noch nicht 
gefeitigter Berfonen, denen ber Berfafler fie gar nicht zugebacht Hatte, Aergerniß er- 
regt, Da „die Möglichkeit befteht“, dab in die Hand folcher Berjonen ſämmtliche 
Klaſſiker nebit dem Alten Teftament und ſchlimmen Spätromantifern gelangen 
— fogar diean Gewißheit grenzende Wahrfceinlichleit —, mag Manchem um unfere 
große Literatur bang werden. Bor ein paar Jahren noch wollte das Reichsgericht 
bie „leicht erregbare Bhantafie einer unerwachſenen Schuljugend nicht zum Maßſtab 
Defien machen, was das Scham: und Sittlichleitgefüh! des normalen Menſchen ob- 
jeftiv zu verlegen geeignet ift oder nicht.“ Jetzt aber ſchützt es gnädiglich auch bie Un⸗ 
zeifen vor früher Verderbniß. In der Beit des Heinze Krieges wurde und jeden Tag in 
die Ohren getutet, das Weltende müſſe nahen, wenn ber Begriff „gröbliche Berlegung 
bes Schamgefühles“ in die Rechtiprechung eingeführt werde. Jetzt ſehen wir, daß bie 
Judikatur bes Reich3gerichtes diefen Begriff, noch dazu ohne das Kriterium ber „Grob⸗ 


lichkeit“, längft in ihre Normenfammlung aufgenommen hat, und id} kann wieder⸗ 


holen, was ich vorvier Jahren dem rajenden Goethebund zurief: „Der vorgefchlagene 
Paragraph tft nicht um Haaresbreite gefährlicherals der jegige S 184, der jeder will« 
kürlichen Auslegung ben weitelten Spielraum läßt“. Fräulein von Monbart hats 
erfahren. Das Neichögericht verwies die Sache an die Borinftanz zurück. Die neunte 
Straffammer de3 Zandgerichtes I Berlin „Jah nicht ale erwielen an, daß die Ange» 
klagte beim Schreiben der Novelle oder bei ber Uebergabe zum Verlag fi bewußt 
geweſen iſt, daß fie durch die Veröffentlichung das Scham. und Sitttlichkeitgefühl irgend 
Jemandes, es fet denn einer ganz beſonders pruden Berjon, verlegen könne”. Daber 
Freiſprechung. Weildas Buch aberindie Hände Unreifer fallen und deren Schamgefühl 
verlegen fann, iſts ala „objektiv unzüchtig“ zu bezeichnen und unbrauchbar zu machen. 
Auch gegen diejes Urtheil hat Fräulein von Monbart Revifion eingelegt, Über bie 
das Neichdgericht nächſtens entjcheiden wird. Ich kenne das Nixchen nicht; die No⸗ 
velle trägı den Untertitel: „Ein Beitrag zur Bigchologie ber Höheren Tochter” und 
jollte nach der Abficht der ſehr begabten, nicht zur Literaturzigeunerſchaar gehören. 


Notizbuch. 423 


Sen Berfafferin ein Schredbild halbjüngferlicher Entartung zeigen. Soll bas Budh, 
das ohne den Prozeß inzwifchen Tängft vergeflen wäre, nun and noch als ein Bei⸗ 
trag zur Pſychologie deutſcher Rechtſprechung fortleben? Die Leipziger Herren, benen 
ber belle Kopf bes Fyreiheren von Bülow präfibirt, jollten ſichs dreimal überlegen, 
ehe fie eine ernſte Künſtlerin, eine Dame mit dem Makel unzüchtigen Schriftthumes 
behaften. Der Herr, der bei ber Eröffnung bes Neichstages neulich den Sat von 
den Anforderungen fteigenber Kultur vorlag, hieß, wenn ich nicht irre, au Bülow. 
⸗ ⸗ 


3 

Noch eine Kriminalgeſchichte; diesmal aus Hamburg. Eine Arbeiterin lebt 
mit ihren vier Kindern allein in einer Hofwohnung; fie hat ſich von ihrem Ehemann 
getrennt (oder er von ihr) und ſorgt für den Unterhalt der Kleinen. Eines Nach⸗ 
mittags, während fie in der Wohnſtube ihr acht Monate altes Kind ankleidet, läuft 
der dreijährige Sohn in die Küche. Die Mutter tft beichäftigt und achtet nicht darauf. 
Der Knabe Llettert neugierig aufs Fenfterbrett und ſtürzt aus dem zweiten Stod in 
den Hof hinab. Schädelbruch; fofort tot. Die Arbeiterin wird angeklagt, durch Fahr⸗ 
laſſigkeit den Tod ihres Kindes herbeigeführt zu haben. Angeklagt und verurtheilt; 
denn die Beweisaufnahme ergiebt, daß der Frau von Nachbarinnen mehr als 
einmal gelagt worbenift, ihr Junge babe die fchlechte Gewohnheit, am offenen Fenſter 
Herumzuflettern. Die Gewarnte hatte aljo die Pflicht, mit gebeppelter Sorgfalt auf 
den Kleinen zu achten. Das tft nicht ganz leicht für eine Proletarierin, die vier Kin: 
der zu büten, zu füttern, zu Pleiden bat. Doc die Strafe iſt auch mild: nur ein Mo⸗ 
nat Gefängniß. Reicht aber aus, um die Arbeiterin, als eine befcholtene, unzuver⸗ 
tälfige Berfon, ins Elend zu bringen. Bon Rechtes wegen. ... Wer Zeit und Luſt hat, 
möge nach dieſem Urtheil der dritten hamburgiſchen Straflammer noch einmallejen, 
was am fiebenzehnten Oktober 1903 hierüßerden Fall Koch-Dippold gelagt worden iſt. 

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% 

Einzelne Leſer fragen, warıım hierüber den olbenburger Skandalprozeß nichts 
gejagt worden fei. Mußte denn was drüber gejagt werden? Ein Lehrer ärgert fich, 
weil er aus ber Reſidenz in ein enges Provinzftäbtchen verfeßt worden ift, und greift 
in anonymen Beitungartileln ben Miniſter an, ben er für feinen Feind und bes» 
Balb natürlich für den Vater aller olbenburgifchen Uebel hält. Sin ber Hauptverhand- 
lung wird nicht erwiefen, daß bie Verfeßung bes Lehrers eine Ehicane war, noch, daß 
der Minifter feine Amtsgewalt jemals mißbraucht Hat ; nur, baß diefer Miniſter, als er 
nod) Erfter Staatsanwalt war, gern fein Spielen machte, auf manche Kollegen 
ſchimpfte und, ohne Unterfchteb bes Standes, an feinem Startentifch Jeden willlommen 
hieß, der Gold jegen konnte. Ich finde nicht, daß biefe Thatſachen in den Bezirk des 
Öffentliden nterefies gehören. Der Lehrer bat abgebeten, der Dtinifter huldvoll 
verziehen. Der Erwähnung werth wäre hödhftens bie Energie ber Bertheidiger, die 
einen hitzigen Borfigenden ziwangen, fie und ihren Mandanten anftändig zu behan⸗ 
seln. Das wird ſelbſt in viel größeren Städten leider nicht oft erreicht, allzu felten 
auch nur verfudt. Sonft aber: eine kümmerliche Schülergefchichte. 

a * 


* 
Uralte Mären, die man längft eingefargt wähnte, leben in dieſem Winter 
. des Mißvergnügens wieder auf. In hundert oder taufend Zeitungen wurde vor vier⸗ 
zehn Tagen gefragt, ob bie Behauptung wahr jei, daß Bismardeinft in jähem Zorn ge 
gen den Kaiſer das Tintenfaß erhoben habe; jet fie wahr, dann dürfe fein Gerechter 





424 Die Zukunft. 


mebr fagen, ber erſte Kanzler jei fchlecht behandelt worden. Biele fragten gar nicht erſt, 
fondern nahınen als erwiefen an, daß Bismard drauf und dran war, feinem König 
bas Tintenfaß an den Kopf zu werfen. Im März 1890, als Wilhelm der Zweite ihn 
„wegen ber Berhandlungen mit Windthorſt zur Rede ftellte“. Und folder rohe Batron 
nannte fiheinen treuen deutichen Diener! So fred waren die ſchlimmſten Hausmeier 
im altenfteich nicht. Zeitungſchreiber follten eigentlich ein beſſeres Gedächtniß Haben und 
nicht für funlelnagelneu ausgeben, mas ihre eigene Feder vorzwölf, dreizehn Jahren 
ſchon dem Erdkreis mitgetheilt Hat. DieTintenfaßgeichichte ift anno 90 mindeftens zehn 
mal durch die Prefje beider Welten gegangen. Bismarck hat, als er fiehörte, den Kopf 
gejchättelt, dann geläddelt und endlich eine Erflärung geſucht. Die war nicht ſchwer 
zu finden. Der Fürſt Hatte, wenn er lebhaft ſprach, die Gewohnbeit, mit der rechten 
Fauſt kurze, leife, aber ftarfe Stöße gegen die Tifchplatte zu führen, von oben ber, 
als wollte er feine Worte in das Holz eindräden. Möglich, daß dabei — der Kanzler 
war nicht Hufar, ſondern ein fchwerer Küraſſier — ein Tropfen Tinte aus bem Fäß⸗ 
Ken ſprang. Doch diefe Erklärung wurde erft gefucht und gefunden, ala die Geſchichte 
immer wieder fam und zu dem Bemühen herausforderte, wenigſtens ein Körn⸗ 
lein Wahrheit darin zu entdeden. Auch der Spriger ift alfo nicht „Hiftorifch” ; und 
daß Bismard das Tintenfaß gepadt und aufgehoben habe, follte man umartigen 
Kindern in der Abenddämmerſtunde erzählen. Behaglich mag beiden Männern wäh 
rend bes Geſpräches nicht zu Muth geweſen fein. Der Verlauf ijt ja bekannt. Am 
vierzehnten März 1890 hatte Windthorft durch den Mund Gerſons von Bleichroeder 
eine Unterredung erbeten, die Bismard noch für den felben Tag zufagte ; Dabei gab 
er jeinem Erftaunen über die Wahl des Bermittlerd Ausdrud: nad) alter Sitte 
konnte jeder Parteiführer ſicher ſein, ſtets vomſtanzler empfangen zu werben. Dielinter- 
redung brachte fein politifch brauchbares Refultat; wasder Katholit wünjdte, fonnte 
der Proteftant nicht gewähren. Bismard ſprach von der Möglichkeit feines Rücktrittes, 
Windthorſt rieth ihm dringend, zu bleiben, und empfahl, falls dennoch cin Kanzler: 
wechfel unvermeidlich würde, ben General von Caprivi für die Zeitung ber Reichs⸗ 
geihäfte. Dem Kaifer müflen die Dinge wohl in anderem Licht dargeftellt worden 
fein; er fam am nächſten Morgen ſehr früh in die Wohnung bes Grafen Bismard, 
ließ den Kanzler rufen und verbat ſich politiide Unterhandlungen, von denen er 
nicht vorher unterrichtet fei. „sch kann mir in meinen alten Tagen nicht das Recht 
nehmen lafjen, einflußreiche Parlamentarier zu unverbindlichen, rein informatorifchen 
Geſprächen in meinen Räumen zu empfangen.“ „Auch nicht, wern es Ihr Herr 
befiehlt?“ „Die Macht meines Heren endet am Salon meiner Frau.” Ein düfterer 
Morgen, der dem Älteren Mann die Gewißheit gab, daß ihm das Vertrauen des 
Königs entzogen war. Drei Tage banad) fam denn auch, zweimal in vierundzwanzig 
Stunden, die Aufforderung, jchleunig das Abſchiedsgeſuch einzureichen. Bismarck 
hatte nicht Die Gemüthsart eines Lämmleins; wer ihm aber rüdes Benehmen nad 
fagt, bat ihn nie gekannt. Eins jeiner Tieblingmorte war „wohlerzogen“ ; und er 
hätte felbjt im Wirbelwind der Leidenſchaft fich nie zu einer Flegelei erniedert. Die 
Tintengeſchichte ift unfinnig, nicht, weil der Kanzler vor feinem Kaiſer ftand, 
fondern, weil der feine Riefe zu „wohlerzogen” war, um mit Realinjurten zu drohen. 
Uebrigens war er, wie felbit der Todfeind zugeben müßte, immer ber Mann ſeiner 
Thaten und hätte fein Handeln nicht feig verleugnet. Vielleicht läßt mar die Anel- 
bote num ruhen. Wie fie entitanden ift? Der Kaifer hat fcherzend ſpäter erzählt: 
„Der Alte war an dem Morgen ganz außer fih und guckte mich an wie Luther ben Ber 


fucher; ich glaube, am Liebften hätte er mir auch das Tintenfaß an den Kopf geworfen". 











- 





— - - * - Pa . - u. - - -.- > -e. - - — — Be. a 


Berlin, den 19. Dezember 1903. 
—— 


Reichsparlirer. 


on Jahr zu Jahr wird mirs ſchwerer, die Berichte über Reichsſtags⸗ 
fitzungen zu leſen; wirklich zu Icfen, nicht daS Auge über das Drud- 
bild ſchweifen und da nur weilen zu laffen, wo lebhafter Beifall, große, ftürs" 
miſche, ſchallende Heiterkeit angemerftift. Zwei, drei Tage nach der Sommer- 
paufe geht8; dann erlahmt der Eifer und die Pflicht wird leidige Laſt. Bildeft 
Dir, Snob, gar wohl was darauf ein? So fragt Mancher; und fügt Hinzu: 
Jedem halbwegs Geſcheiten ift es die jelbe Qual. Auch die Erflärung ift bei 
der Hand. Diefer Reichstag! Schlimmer nod) als das illiterate Parlia- 
ment, das vor fünfhundert Jahren Englands vierter Heinrich berufen hatte. 
Jobn Gully, der zum Abgeordneten gefürte Preisfchter, wurde in Weft- 
minfterwieein Wunderthier begafft; bei uns wimmelts heute von Gullys aller 
Sorten. Nur natürlich, daß Niemand ſich gern mit ſolchen triften Epigonen 
beicäftigt. Die alte Weiſe, der alte Tex! ; längft gehört jadie Geringſchätzung 
„dieſes“ Reichstages zum guten Ton. Und dod) figen neben vielen Banaufen 
auch Leute von achtbarem Wijfen und wachem Menſchenverſtande, die für 
ihren Beruf tauglic) find. An der Qualität der Einzelnen kanns alfo nicht 
liegen. In London ift mehr politischer Inſtinkt und feinere Verlehrsform, 
in Baris mehr Temperament, in Budapeftfhärfere Witterung für Konjunk⸗ 
turen; die Summe der verjammelten Jatelligenz tft wohl in feiner der drei 
Städiewefentlihhöheralsin Berlin. Der Unterſchied muß anderswo zu ſuchen 
fein; und iſt leicht zu ſinden. In London, Paris, Budapeſt regirt das Par- 
lament, giebt Geſetze, verwaltet, durch Hirn und Arm feiner Führer, das 
Land. IaWien ſogar zwingt es der Burenufratie feinen Willen anf, zwingt 
oft jetoft den Raifer zur Wahl neuer Gehilfen. In Berlin keitifirt es; nad 
Im un Bu 8 





436 Die Zukunft. 


der felben Methode, die in den Beitungen angewandt wird, und meift auch 
mitdemfelben Erfolg. Nicht allzu unſanft. Die Zeitder großen Auseinander- 
fegungen ift für die bourgeoifen Gruppen vorbei. Die Urbanen haben über 
die Paganengefiegt, die dampflo;en Tage des Agrikulturftaates, des geſchloſſe⸗ 
nen Handelsftaates kehren nicht wieder; und mählich v:rhaftt auch der Hader 
ber ge palienen Chriftenheit. Die Broteitanten haben das Proteftiren ver- 
lernt und find froh, wenn fie in ihrem Toleranzwinkel nicht geitört werden; 
und die Katholiken find im eich des Iutherifchen Kaifers recht zufrieden, 
find zu gut genährt und zu flug, um ſich nod) in den Wahn Darbender zu ver⸗ 
irren, die Frucht lönne Dem fchneller reifen, der mit der Yampe die Blüthe 
wärmt. Früher wars anders. Da foht man um Beute, ums Daſeinsrecht 
und wäre gern über Leichen zum Siege gefchritten. Yet begnügt Jeder ich 
mit ber Öeberde des reifigen Kriegers, ıft Jeder zufrieden, vergnrügt, wenn bie 
Schlachttage unblutig verlaufen und, im ſchlimmſten Fall, der Radaver eines 
Amtsichimmels auf dem Felde bleibt. Fragt doch Herrn Schaedler, Herrn 
Sattler, Herrn Richter, ob fie der Wunsch treibt, den Grafen Bülow vom 
Plage zu jtoßen. Warum denn? Ein ihnen bequemerer Dann würdeden Ges 
ſtürzten ficher nicht erfeßen. Graf Limburg-Stirum, Herr Stoeder, Herr 
von Viebermann wünfchen ſich wohleinen anderen Kanzler, wiſſen aber, daß all 
ihr Wünschen und Winken nicht hilft. Nirgends der Anſpruch, zu regiren; auf 
feiner Seite des Hohen Haufes auch nur der Wille zur Macht. Das wäre 
ganz ſchön, wenn all die Herren fagten: Uns gefällt diefe Negirung, drum 
unter ftügen wir fie und hılten uns, halten das Rand nicht erftlange mitleinen 
Ouerelenauf. Doch auch dazu fehlt wieder der Muth. Keiner will unbedingt 
gouvernemental fcheinen. Die Regirenden find nicht die Bertrauengmänner 
der Nation, und wer ihnen allzır zärtlich nahte, würde am Ende, als Streber 
und Gunjtbettler, nicht wiedergewählt. Flint die Stirn in Falten; mit düfte- 
rer Diiene das Sündenregifter verlefen. „Mit tiefem Bedauern haben wir 
gehört...” „Geradezu entjegt waren wir, als ſich zeigte..." Nur darf 
das Bedauern und das Entjegen nicht etiva zu Befchlüffen führen, die das 
Syſtem vom Thröndhen ftoßen Fönnten. Man will ja feine Aenderung, will 
nur vor den Wählern Eifer präjtiren. Dan redet alſo, tadelt fanft, tadelt 
ftreng, chüttelt dann eine vom Bundesrathstiichgnädig herabgeftredte Hand, 
padt die Alten zuſammen und geht ftolz nach Haufe. Viermal wurde wähs 
rend der Rede laut gelacht, auch drüben bei den Gegnern, am Schluß gabs 
ein anjtändiges Bravo und keine Excellenz hatte ein Wort übel genommen. 

Mehr war nicht zuerreichen. .. Was aber ſoll daran noch interejjiren? In 





Reichsparlirer. 427 


Bezirksvereinen, in der Fraltion mag Freude herrſchen, weil ihr Mann ſeine 
Sache gut gemacht hat. Für uns iſts ſchlechtes Theater. Immer die ſelben 
Spieler, immer die ſelben Rollen. Niemals ein neuer Ton. Nur die Raids 
ften wiffen noch nicht voraus, was Jeder über jeden Gegenftand jagen wird. 

Acht Tage lang haben wirs nun wieder erlebt; und „große Tage“ 
foffen darunter geweſen fein. Acht Sigungen, die erften nad) den Wahlen, 
eine ſchrankenloſe Debatte: da müßte doc Etwas herauskommen. Nichts, 
Eine gute Rede des Kriegsminifterg, eine amufante des Kanzlers; auch ein 
paar Abgeordnete ſprachen recht nach der Kunſt. In den erften Tagen wird 
über Alles geredet. Das geichah auch diesmal. Von der Mandſchurei gings 
reeta nach Krimmitfchau; von Bilfe zu Vanderbilt. In den acht Stenogram⸗ 
men ſteht aber nicht ein neues Wort, nicht eins, das nicht vorher ſchon in 
einem Parteiblatt ftand. An Kritik war kin Mangel. Früherblieb fie meiſt der 
jeweiligen Oppoſition überlaſſen; die der Regirung befreundeten Parteien 
ſuchten, ſo lange es irgend ging, alles Unangenehme zu verhüllen. Jetzt giebt 
es Feine Oppofition mehr — die Sozialdemokratie, die praftiiche Politik nicht 
treiben will, ift ein Ding an ſich — und alle Fraktionen haben erkannt, daß die 
Tadler im Reich deutichen Mißmuthes eher Gehör finden als die Lober. Seit- 
dem kommts eigentlich nur noch darauf an, wer am Koͤnigsplatze zuerjt das 
Wort erhält. Spricht Herr Schaedler vor Richter und Bibel, dann kann er die 
Almabweiden. Selbft Forbach, Hüffenerund die Soldatenfchindereien wirfen 
bei der Wiederholung nicht mehr wie neu. Auch die Hegirenden haben fich das 
Beſchoͤnigen ziemlid) abgemöhnt. Nur die Sachfen beftreiten manchmal noch 
Alles undbetheuern, das Haus Wettinrageinderbeften aller Welten himmel⸗ 
an. Die Anderen geben Mißftände zu, die man nur nicht „verallgemeinern“ 
dürfe und die nächftens „abgeftelit” fein würden. „Wir verfennen durchaus 
nicht...” „Wir werden mit aller Energie...“ Das ift die Antwort auf das 
Bedauern und Entjegen. Alles bleibt hübſch anodin. Den lieben Sommer 
lang fchneidet der Herr Abgeordnete aus feiner Zeitung, was ſich irgend für 
bie Generaldiskuffion brauchen läßt. In der jelben Beit liefert dem Herrn 
Minifter oder Staatsjefretär fein Geheimrath die felben Ausfchnitte nebjt 
dem entlaftenden Material. Dann kommt der taufendmal bejchnüffelte und 
beleckte Brei auf den Tiſch des Haufes und wird langſam ausgelöffelt. Wir 
können nicht billigen. Wir werden abftellen,. Bindende Verfprechen werden 
nicht verlangt. Keinerdenft daran, dem Miniſter, deffen Reſſort mit fo grim⸗ 
mem Eifer getadelt wurde, da8 Gehalt zu weigern. Wer gläubigen Herzens 
die Reden lieft, muß glauben, die Zeit der „unzähligen fandammeerigen 

84? 


428 Die Zukunft. 


und fternambimmeligen Mißbräuche“ fei wiebergefehrt, anf bie Johann 
Fiſchart einſt mit Keulen einſchlug. So ſchlimm iſts aber nicht; umd wird big 
zum nächſten Jahr noch viel beſſer werden. Ganz ſicher. Oder man fängt 
im Herbft eben von vorn an. Angreifer und Angegriffene wiſſen genau, was 
fie zu erwarten Haben, und regen fich nicht ernſtlich auf. Das Stüd iſt ja ſo oft 
geſpielt worden. Nach Sechs, um Sieben ſpäteſtens iſt Alles aus und, ſo 
weit das Auge zu blicken vermag, nichts, nicht das Geringſte verändert. 
Die Protagoniſten hießen diesmal Auguft Bebel und Bernhard Bü- 
low; und mußte das alte Stüd wirklich wieder gejpielt werden, fo war eine 
beffere Bejegung der Hauptrollen nicht zu erfinnen. Beide Männer find 
Nedner, nicht Politiker. Beide vergeffen fchnell, was fie gefagt Haben, und 
ſuchen nur dem Moment zu genügen. Beide glauben nach einer gelungenen 
Rede inniglich, fe hätten Etwas geleiftet. Beide hat die Erfahrung gelehrt, 
daß die Wiederholung bewährter Effekte ſtets willlommen ift: Herr Bebel 
erzählt alljährlich, im Deutjchen Reich fehe es aus wie im Nom der legten 
Caeſaren; Graf Bülow prägt fich vorjeder Szene die dazu paſſende Rede feines 
„großen Vorgängers“ ein und kommt den Gründlingen im Parterre bis— 
märckiſch. Der Eine iſt Pathetiker und nur ſtark, wenn er wüthen kann. 
Der Andere iſt Feuilletoniſt und des Erfolges gewiß, wenn er im weltmänni⸗ 
chen Plauderton bleiben darf. Jeder auf ſeine Art ſehr tüchtig. Nocheine Aehn⸗ 
lichkeit: Beide leben fo ganz und fo gern in der Zeitungwelt, daß fie die Wirk 
lichkeit faum noch erfennen undgewirkt zuhaben wähnen, wen ihre Preſſe ſie 
lobt. Jeder fühlt die Schwäche des Anderen: Siehaben von Wirthichaftpolitif 
feine Ahnung und können nur Wite machen, fagt Bebel; Sie koͤnnen nur 
fritifiren und leiften nichts Pofitives, fagt Bülow. Am erſten Tag hatte der 
Kanzler die dankbarere Rolle. Weltverbeiferer und Spötter: aus hundert 
alten Stüden kennt man die Szene. Sie verlangen Engelsgüte und Engels⸗ 
reinheit und find felbjt doch Fein Engel; Sie ſchwärmen für Freiheit umd 
Schelten Ihre Frau, weil fie eine halbe Stunde länger als fonft beim Kaffee- 
Hatich faß. Und jo weiter. Cela ne rate jamais, pflegte Sarcey von ſolchen 
Szenen zu fagen. Graf Bülow hat fie munter gefpielt; alle Witze über den 
dresdener Parteitag waren gefammelt und wurden mit guter Yaune vorge 
tragen. Der Zukörerfonntefogarglauben, jet jolle ein Neues werden ;die Ne 
girung habe befchloffen, die Sozialdemokratie nicht mehr ernft zunehmen, fi, 
im Parteikefjel ſchmoren zu laſſen und fortan nur noch ironisch zu behandeln 
Das bringt den Pathetiker zur Maferei; der unerträglichite Gedanke ift ihm 
daß er vom Gegner nicht gefürchtet wird. Ob aus der Hofiphäre nun dei 


Neicheparlirer. | 429 


Kanzler zugerufen ward, er jei zu glimpflich mit der rafch wachjenden Rotte 
verfahren, ob er der Amtswürde feierlichen Ernft zu Schulden glaubte: ſchon 
am zweiten Tag ſprach er ganz anders und am dritten deutete er feine Be- 
reitwilfigfeit an, ein Ausnahmegeſetz gegen die Sozialdemokratie vorzu- 
ichlagen, wenn er ſicher fein dürfe, für folches Geſez eine Mehrheit zu finden. 
Ein gröberer Fehler war faum denkbar. Erftens hat ein Kanzler, der ein 
Sozialiftengejeg für nöthig Hält, die Pflicht, fich eine Mehrheit dafür zu 
juchen, und darf nicht thatlo8 abwarten, daß ihm das Geſetz apportirt wird. 
Zweitens wäre es verhängnißvolle Thorheit, eine Partei, die jo gefährlich 
Icheint, mit Wigen abthun zu wollen. Piychologie des Redners: er beraufcht 
fih am Schalf feiner Worte und will licher auf Widerfprüchen ertappt als 
im Augenblid ohne Applaus entlafjen fein. Schade. Die Tonart des erften 
Tages war vom Standpunkte des Kanzlers richtig gewählt. Mit unzwei- 
deutiger Entichiedenheit mußte gejagt werden, an Ausnahmegeſetze fei gar 
nicht zu denen; die Sozialdemofratie habe ihre Schreden verloren und werde, 
wenn man fie in Ruhe laffe, den Weg aller Bergparteien gehen. Wer ihr ſich 
gejellen wolle, möge es ungefährdet thun ; die Enttäufchung werde ihm härtefte 
Strafe jein. Das hätte muthig gelungen. Jetzt werben die Genoffen bie 
dresdener Widermwärtigkeiten raſch vergefien. Seht hr, wirds heißen, ſelbſt 
diefer Bülow, der ſich für einen modernen Menſchen ausgiebt, fehnt die 
Stunde herbei, wo er die Polizei auf und beten, ung heimlos, friedlo8 machen 
farın. Und in diefer Zeit wolltet Ihr mit der bürgerlichen Gefellichaft pal- 
tiren und ins Schloß Frieden? Das wird bleiben, alles Andere ins Leere 
verhallen. Und Herr Bebel ift ftärker, als er vor vierzehn Tagen war. 

Die ganze Sozialiftendebatt:... . Leben denn immer noch Leute, die 
von folcher öden Rednerei Wirkung erhoffen? Ein paar gute Späße mochten 
hingehen; eine ernfthafte Diskufjion, die auf die fterblichen Stellen des 
Marxismus wies und aus der neuen Biologie ſich die Waffen holte, konnte 
nüglich werden. Nur nicht die alten Geſchichten vom Theilen, vom nie ent- 
hüllten Zukunftſtaat, von dem großen Reichszuchthaus. Daß damit gegen 
die Sozialdemokratie nicht auszurichten ift, follte man feit mindeftens elf 
Jahren wiſſen. Die Herren Richter, Stumm, Stoeder, Bachem haben ſich 
1893 müde geredet und Alles vorgebradht, was in populären Schriften ge- 
jammelt war. Der Liebe Mühe blieb unbelohnt. Gräuelmären vom Zufunft: 
ſtaat ſchrecken die Menge nicht, der unfer heutiger Staat feine Wonnen ge: 
währt. Ihn zu befiern, wäre die Aufgabe ſchöpferiſcher Politik geweſen. 
Doch blutwenig ift gejchehen. An die großen Probleme wagt man fid) nicht. 
Verſicherung gegenErwerbsunfähigfeit undArbeitlofigkeit, Wohnungreform, 


480° Die Zutunft. 
Moderniſirung des Erbrechtes, des Kreditweſens, der Armenpolitik: da könnte 
ein Staatsmann zeigen, was er vermag. Worte find fein ſpezifiſches Mittel 
gegen foziale Nöthe. Jede Partei hat in ihrer Yugend mehr verlangt, als fie 
je erreichen konnte; auch die Heute Nationalliberalen wollten einft mit Ty⸗ 
rannenblut färben und die Fortichrittsmänner, bie noch in den achtziger Jah—⸗ 
ren die unbeſchränkte Herrſchaft des Parlamentes forderten, find jegt froh, wenn 
ſie den Regirenden etliche Millionen aus dem Etat kratzen können. Das ſelbe 
Schickſal wird der Proletarierpartei beſchieden fein; unter tauſend Sozial⸗ 
demokraten zweifelt kaum einer daran, daß es in der gemeinen Wirklichkeit 
nie ausſehen wird wie in Marxens Gedankenretorte Näher als der Zukunft⸗ 
ſtaat iſt ihnen die Gegenwart, deren Schäden ihr Leib ſpürt. Hättenicht Bebel 
geſprochen, den jede Widerrede in blinde Wuthtreibt, ſondern der kühle Skepti⸗ 
fer Auer, dann wäre der Angriff des Kanzlers wohl mit der Frage abgewehrt 
worden, wie er denn feinen Kapitalijtenftaat zeitgemäß umzugeftalten ge» 
denke... Wir bleiben ftetS auf dem felben led, hören immer wieder die alten 
Lieder. Die Zölle werden ermäßigt und wieder erhöht. Das Sozialiftengefet 
fällt undwird vonder Sehnſucht zurückgewünſcht. Warum? DieRothen machen 
feine Resolunion, drohen nicht einmal damit, thun in Fabriken und Kafernen 
ihre Pflicht, ſiegen in wichtigen Kämpfen gegen die Unternehmer faft nie, haben 
nicht schlechtere Eigenſchaften als jede lange unterdrückte Klaſſe, die in die Höhe 
ſtrebt, und nehmen dem Staat nicht die Lebensluft. Warum alſo? Weil ihre 
hochmüthigen Reden ärgern und weil nur, das Reden noch gilt. Ach, Excellenz: 
nos songes valent mieux que nos discours, ſprach ſchon der alte Dion» 
taigne. Wem ſchadets denn, daß wir in Zolldebatten und Sozialiſtenfehden 
die tauſendmal vernommenen Reden abermals hören? Höchſtens dem Par⸗ 
lament ſelbſt, das von Jahr zu Jahr langweiliger und kraftloſer wird. Gewiß 
nicht dem Staat. Der lebt nicht von Worten. Und wer das Geſchick eines 
Staates geftalten will, kann das Wort fo hoch unmöglich ſchätzen. 
Zwiſchen Journaliften und Parlamentariern ift bei uns faum noch 
ein Unterfchied fühlbar. Meeift leiften bie Yournaliften mehr; die Parlamen- 
tarier plappern ihnen das Befte nah. Und fchreiben ift ſchwerer als reden; 
der Schreiber muß feinere Arbeit leiften, werner Erfolghaben will. Er dürfte 
nicht, wie der Kanzler des Neiches that, Proudhon, der Ahnen des Anarchis⸗ 
mus, Rommuniftenaus Marrens Geſchlecht als Autoritätvorführen. Seht 
Euch in Bülows bemunderter Rede doc die Stellen an, denen der ftärlite 
Beifall folgte. „ZA kann Sie verfichern, daß in Republifen auch mit Waſſer 
gekocht wird.” „Sch verfichere, daß der Senat in Nom zur Zeit des Kaiſers 








Reichsparlirer. 431 


Tiberius ganz anders ausſah als dies Hohe Haus.” „EI giebt nicht nur 
Fürftenfchranzen, es giebt auch Volksſchranzen.“ „Wo herrſcht denn weniger 
Freiheit als beighnen?“ „Es hat niemals ein Konzilgegeben, wo eine ſolche 
Unduldſamkeit, eine ſolche Engherzigkeit, eine ſolche Ketzerrichterei geherrſcht 
hätte wie auf Ihrem letzten Parteitag.“, DieFreiheit, die Sie meinen, iſt: Will⸗ 
für für Sie, Terrorismus für Andere. Und willſt Du nicht mein Bruder fein, 
fo Schlag’ ic) Dir den Schädel ein.“ „Bilden Sie, Herr Bebel, fich etwa ein, 
ein Engel zu fein? Sieftnd mir ein netter Engel!" „Wenn Siedurd) irgend 
ein Wunder plöglic an die Macht fämen, würde Ihre ganze Unfähigkeit fich 
in bengalifcher Beleuchtung zeigen ; nur im Berftören und Ruiniren würden 
Siegroß fein.“ „Alle Verſuche, andie Stelle der organifchen und gejegmäßigen 
und verfafiungmäßigen Fortentwickelung die widerrechtliche und gewaltjame 
Revolution zu fegen, werden nad meiner Ueberzeugung fcheitern, — ſchei⸗ 
tern an dem gefunden Sinn des deutſchen Volkes, das fich ſelbſt aufgeben 
müßte, wenn es Ihnen folgen würde.“ Nach jedem diefer Säge ift „Iebhaftes 
Bravo”, „Sehr gut!” oder , ſtürmiſche Heiterkeit" verzeichnet. Wer hat nicht 
jeden von ihnen feitden Dresdener Schtembertagen zmanzigmalgelejen? Und 
wer willleugnen, daß der Durchfchnittsjournaliftin hellenStunden Aehnliches 
und oft Beſſeres produzirt, ohne des halbals ein Mann von vielen Öraden ange⸗ 
ſtaunt zu werden? Auch die Wortkünſtlerleiſtung iſt alſo gering. Redner großen 
Stiles, denen zu lauſchen Genuß ift, haben die bourgeoifen Parteien und die 
Verbündeten Negirungen heute nicht. Das Hohe Haus erfülltſchon Seligfeit, 
wenns was zu lachen giebt, wenn ein eleganter Herr ſich zum Ton mittel» 
wüchſiger Feuilletoniſten und Wigblattjchreiber herabläßt oder Baralitäten 
losböllert. Dann wirdeifernd geitritten. „Richter war gejtern matt.“ „Bebel 
zu lang und zu monoton." „Keiner jo frifch und fo kuftig wie Bülow.“ Un- 
gefähr wie im Wintergarten, wenn die Brogrammiterne verfchwunden find. 
Als hätte für das Reich, für da3 Volk die Couliffenfrage irgend welche Be⸗ 
deutung, ob heute der Eine oder der Andere beifer bei Stimmung war. 
Millionen find für einen Palaft ausgegeben worden, die würdige Stätte 
der Reichsrathsverſammlung. Monate lang wurde verfucht, das Volk zu er⸗ 
regen. Vierhundert Abgeordnete entziehen fic) der Berufapflicht. Beamte, 
Stenographen, Seter, Diener plagen fi. Licht, Komfort aller Art, Papier, 
Drud, Hausverwaltung: das Alles koftetin jedem Jahr ein nettes Sümmchen. 
Minifter, Staatsfefretäre, Dezernenten, Räthe vertrödeln Wochen und laſſen 
inihrem Bureau Altenftöße verftauben. Wozu? Damit geredet werden kann. 
Sünfhundertmündige Männer find dem Haus, den Gejchäften fern, um Reden 





432 Die Zukunft, 


zu halten, Reden zuhören, aufzufchreiben, zu drucken. Reden, die im Palaft 
Keinen überzeugen, braußen nur von fhon vorher Ueberzeugten geleſen 
werben denn jedes Blatt berichtet ausführlich janurüber bieDratorenleiftung 
ber eigenen Partei und lürzt alles Andere fo, daß es wie wirres Gefaſel klingt. 
Der Freund ift immer ein Held und ein Weifer, der Öegnerimmerein Narr; 
in der Voſſiſchen überftraglt Richters Ruhm das große und Heine Himmels: 
licht, im „Vorwärts“ hat Bebel Kanzler und Bourgeoiſie zerfchmettert. Die 
Regirenden werden je nach dem Bedürfniß der Stunde behandelt; ift die 
Börjenreform und die Kartalvorlage in Sicht, der Minimalzoll noch nicht 
gefichert, jo heißts bei den Tiberalen, Graf Bülow habe „die Scharfmader 
zu Baarengetrieben” ‚bei ben Agrariern, die Erflärungen des Ranzlers ließen, 
trog aller Gef; ’cklichkeit, die Sehnfucht nad einem ſtarken Dann nicht vers 
ftummen. Ein reizendes Spiel. Der Vortrag macht des Nedners Glück; 
nicht, was, fonbdern, wie ers jagt. Wer kein Redner ift, wirkt al8 ein Tropf, 
auch wenn er ein weitfichtiger Finder neuer Möglichkeiten und ein guter Ber» 
walter iſt. Wird diefer Jahrmarkt der Eitelfeitaberallgemach nichtein Bischen 
zutheuer ? Das Achttagewerk, das wir jetzt erlebthaben, wäreviel billiger und 
nicht weniger nützlich geworden, wenn die geehrten Herren ihre „&edanten“ 
in Zeitungen veröffentlicht hätten. Ein Parlament ift, der Name lehrt es, 
ein Sprechhaus, ſoll aber nicht zur Aula, zum Klofterparlatoriun, zur Sing: 
Spielhalle werden. Hinter dem Wort muß ein Wille fühlbar fein, der Wille, 
zu wirken, nicht dte Gier, ein Artiftenfrängchen heimzuſchleppen. Ob Diejer, 
ob Jener die Sätze zierlicher feilt, die Witze ſorgſamer fpigt, gilt ung nad) 
gerade gleich. Wir wünjchen uns Dlänner, denen das Wort nur unentbehr- 
liches Mittel ift, nicht Zwed, und deren Weſensmaß Thaten, nicht Reden 
erfennen lehren. Der Blödefte müßte endlich doc) gemerkt haben, was ben 
Sozialdemofraten vorwärts hilft. Neben Allzuperfönlichem daß fiezu wollen 
wagen.Herr Schaedler will nicht einen Papſtlämmerer als Kanzler: Der dürfte 
ja nicht einmal Heine Gefälligkeiten erweiſen. Die Konſervativey erſchräken, 
wenn Wangenheim ins höchſte Reichsamt berufen würde: die ganze Indu⸗ 
ſtrie ftünde bald wider ſie auf. Die Nationalliberalen haben nichts dagegen, daß 
die Reichsfaſſade altpreußiſch bleibt: was gemacht werden kann, wird hinten 
gemacht. Keiner vertraut der Wucht feines Wollens. Und die Regirenden 
find kreuzvergnügt, weil ihr Baraderednier den lauteſten Beifallerhalten hat. 


Fr 











Eorpsftudenten Im Stant. 433 


Lorpsftudenten im Staat. 


eber den Werth des Corpsſtudententhumes für unfere Zeit ift oft ge- 

firitten worden. Viele Stimmen verurtheilten es al3 eine Einrichtung, 
die ſich überlebt habe, eine Schule der Aeußerlichkeiten und Berflahung, als 
ein bequemes Brett zum Sprumg in hohe Stellungen, die der Springer durch 
eigene Tüchtigkeit und aus eigener Kraft nicht erreichen fonute. Die Debatten, 
die geführt wurden, waren meift umnintereflant und unfruchtbar, weil fie den 
Kern der Sache nicht trafen. Auf der einen Seite ging der Haß Derer, 
die fi) durch die Bevorzugung der Eorpsfindenten zurüdgefegt und gejchädigt 
Sühlten, rüdfichtloß der ganzen Einrichtung zu LXeibe; auf der anderen Seite 
wurden die Corps nicht nur ihrem eigentlichen Gehalt nach, fondern auch 
in ihren Beziehungen zum heutigen Staatsleben vertheidigt. Beide Barteien 
führte der Eifer zu weit. Der Kenner weiß heute aus Erfahrung, daß das 
"eben des aktiven Corpsſtudenten unbeftreitbaren Werth befist; der Ehrliche 
aber wird zugeben, daß die Art, wie der Staat ſich in unferer Zeit des 
Corpsſtudententhumes für feine Bmwede bedient, ſchadlich ift. 

Der Schwerpunkt des Corpsſtudententhumes Liegt im Leben des Aktiven. 
Denn hier werden die befonderen Gefinnungen und Eigenfchaften entwidelt, 
die das fpätere Dafein beftimmen. Die Gegner fagen nun, ein anftändiger 
Kerl könne man fein, auch ohne daß man Corpsſtudent war; an Kenntniffen 
reicher aber werde man jedenfall, wenn man feine brei oder vier exften 


Univerfitätfemefter nicht mit „PBaulen und Saufen“ zubringt. Darauf if - 


Mancerlei zu erwidern. Die heutige Exrziefungmethobe geht, vom Beginn 
der Schule bis zum Ende der Univerfität, auf eine einfeitige Bildung des 
Beritandes. Ihr Ziel ift, eine möglihft große Summe von Kenntniffen 
dem Lernenden beizubringen. Auf Gemüth und fittliches Empfinden wird 
dadurch nicht gewirkt. Die Pflege werthvoller Tugenden, wie Tapferkeit, 


Selbſtzucht, Gerechtigkeit, fteht nicht im Programm und ift der Initiative 


des Einzelnen überlajfen. Denn Niemand kann behaupten, daß die perfün- 
liche Neigung zur Billigkeit durch juriftifche, zur Tapferkeit durch Hiftorifche, 
zur Disziplin durch philofophifche Borlefungen entwidelt wird. Die deutjche 
Erziehungmethode zielt ausfchlieglich auf eine wifjenfchaftliche, nicht auf eine 
fittlih bedeutende Bethätigung der Perfönlichkeit. 

Daraus geht hervor, daß die ftaatlich gewährte Bildung nicht etwa 
Läden aufweift, fondern ihrer wejentlichen Aufgaben fi gar nicht bewußt 
ift. Nicht das Maß der Kenntniffe, fondern die Durchbildung des Charakters 
beftimmt in erfter Linie den Werth de Menſchen. Schnell mit dem Wort 
Bertige meinen, für biefe Durchbildung forge da8 Leben felbfi. Das ge 
ſchieht aber nur bei ſtark entwidelten Energien. Im Allgemeinen wird ber 
Bufall darüber enticheiden, welche Grundfäge unſeres verworrenen Lebens 


35 


| RE VE U VE 


454 Die Zuknuft. 


das jugendliche, Leicht zu erobernde Gemuth fittfich beeinflufen und ihm die 
Tendenz ſeines Dafeins geben werden. Die bequemftien Prinzipien werben 
in zahlreichen Fällen vorgezogen werben, zumal die Flüchtigkeit und Haft 
des Verkehrs eine Bffentliche Kontrole des perfänlichen Werthes nicht zulaffen. 
Daraus ergiebt fi, daß eine Inftitution, die die vom Staat ftiefmätterlich 
behandelte Bildung des Charakterd und Gemuͤthes auf fich nimmt, auch dann 
werthvoll ift, wenn fie ihr Mitglied für anderthalb bis zwei Jahre der inten= 
fiven Verſtandesarbeit entzieht. 

Diefe Inftitution will das aftive Leben des deutſchen Corpsſtudenten 
fein und ift fie in der That. Es hat zunädft das Mittel der Freude, um 
die dom Lernzwang verhärteten Gemüther zu Lodern. Kräfte, die Jahrzehnte 
lang unter der Tyrannis des Verſtandes ftanden, werden in Leben gerufen, 
Schließen fi zufammen und ftellen das natürliche Gleichgewicht des Menſchen 
wieder her. Bor Allem wird bie Begeifterung gewedt. Die herrliche Land⸗ 
ſchaft der Heinen Univerjitätftädte, ein treues kameradfchaftliches Verhältnig, 
die Gebundenheit durch die ſelben Traditionen und das vereinte Fechten für ge 
liebte Farben: all Das ift geeignet, jugendlichen Sinn Friſche und Elaftizität 
zu verleihen. Dieſe Begeifterung in Ereigniffen großen Stils zu befunden, 
ift Zwanzigjährigen nicht gegeben; fie haben nur die durch Alter gemeihten 
Mittel ſchlichter Studentenart. Dem, ber über das Primitive dieſer Mittel 
fpottet, ift zu entgegen, daß für den Kulturwerth nur die gehobene Seele, 
ber feurige Herzfchlag in Betracht kommt. Wie diefe Erhebung bewirkt 
wird, ift gleichgiltig; nur ein ganz Unkultivirter lacht über Den, der, trog 
den beengenden Schranken von Jugend und Lebensftellung, ſich mit befchei- 
benem Werkzeug fein Glück zimmert. Begeilterung und feelifher Schwung 
find heute feltene Güter. Die Corps gewähren fie durch eine edle Miſchung 
don Heiterkeit und Ernſt. In ihrem Bereich werden die frohen Feſte der 
Jugend gefeiert, von denen alte und neue Lieder uns künden; bei ihnen wirb 
aber auch ber Werth des Einzelnen gemeflen an dem Schatz traditioneller 
Geſinnungen, die Alles in fich fchliegen, was den Mannesadel ausmadt. 
So erziehen die Mitglieder einander durch Freude und Pflicht. Nur der im 
feinen Anlagen Mißrathene wird abgeftoßen und muß wieder feine Wege 
gehen; feines Mitgliedes innerſtes Weſen fchlüpft glatt und unerkannt an 
ber Kontrole der Gefammtheit vorbei. Sache der Corps ift, der Freundichaft 
die Treue zu halten, Traditionen zu ehren, die Ehre zu pflegen. Man ge 
winnt in ihnen die Form und die äußere Sicherheit des Lebens, feftigt feinen 
fittliden Grund, erprobt den Charakter an den äAußerfien Polen der Härte 
und der Bartheit und gründet fih eine Heimath aller anftändigen Gefühle, 
Heute, wo Alles auf eine armfälige Tagesnüglichkeit zielt und nur Güter 
erftrebt werden — auch die Senntniffe gehören hierher —, die für ben Be= 





Eorpäftudenten int Staat. 435 


fitzer baare Münze werth find, ift der romantifche Luxus einer Iurzen, an 
das rein mienfchliche, auch rein animalifche Aufleben „vergendeten“ Zeit nicht 
hoch genug zu bewerthen. Daß das Corpsſtudententhum, wie jede irdiſche 
Einrichtung, feine Mängel und Fehler bat, wird fein VBernünftiger beftreiten. 
Bielfach wird behauptet, e8 babe jetzt die Lebenskraft und den Schwung ver⸗ 
. Toren, die es einft beſeſſen habe, und vegetire als unzeitgemäße Einrichtung 
dahin. Das ift nicht richtig. Sch kenne das Corpsleben von acht beutfchen 
Univerfitäten und darf behaupten, daß e8 heute, unter anderen Formen, genau 
das Selbe will und erreicht wie früher. 

Das gilt für das Leben der Aktiven. Anders fleht e8 mit dem Corps» 
ſtudententhum als folhem. In vergangener Zeit verdankte man ihm nichts 
als eine perfönliche Bereicherung des Innenlebens, eine Wedung von Kräften, 
die bei vielen Anderen fchliefen, einen Schay fchöner Erinnerungen. Aber man 
trug ſolchen Beſitz nit zur Schau, fondern hütete ihn, wie man ein gutes 
Bild hütet. Zu dem Aufenleben trat das Alles nicht in Beziehung. Heute 
aber hat fih das Eorpsftudententhbum mit dem Staat verbunden: und aus 
biefem Bündniß entftanden alle feindlichen Stürme gegen die Corps. 

Die Staatstunft unferer Tage hat hohe Ziele nationaler Politif nicht 
zu zeigen vermocht. Ihr Wirken ift nicht das Entfalten eines großen Pro= 
grammes, fondern ein beftändiges Saniren und Beichwichtigen, ein ängftliches 
Retten von Tag zu Tag. Die modernen Ergebniffe wirthichaftlicher, wiſſen⸗ 
ſchaftlicher und Fünftlerifcher Thätigkeit fpiegeln fih in der inneren Bolitit 
des Reiches nicht wider; zwifchen ihr und der zeitgemäßen, fich langſam ent⸗ 
widelnden Kultur entfteht ein immer fchrofferer Gegenſatz. Die Leitenden 
fühlen die Macht ber neuen Zeitz flatt deren Kräfte aber im ihren Dienft 
zu nehmen und das freie Geiſteswerk zur Grundlage von großen Reformen 
zu machen, halten fie angſtvoll vorgeftrige Dinge feit und fuchen den Staat 
als einen Komplex altmodifcher und verworrener Anſprüche vor dem An- 
ſturm des Neuen zu fchügen. Für diefe Deutfchland in feinen Geifteslchen 
bemmende Politit fuchen fie Unterftügung, wo fie zu finden feheint. So 
mußten wir bie Religion zu einem „flaaterhaltenden“ Faktor erniedert fehen 
und da8 Schaufpiel erleben, daß die Kunſt oft ihre mühſam erworbene 
moderne Art verließ, um würdeloſe Dienfte zu thun. Doc diefe Krüden 
genügten nicht, um eine müde Politit vom Heute zum Morgen zu fchleppen. 
Der Beamten mußte man ficher fein; zumal derer, die im Berwaltungbienft 
ftehen. Und wie unfere Politik die Neligiofität dadurch vergiftet hatte, daß 
fie fie als ihr mohlgefälig überall belohnte und bezahlte, wie fie die Kunft 
demoralijirte, indem fie ihre patriotifche Gefinnung auszeichnete, fo bemäch- 
tigte fie jih auch des Corpsſtudententhumes, dieſer Duelle harmlofer De 
geifterung, jugendlicher Freiheit. 


85* 


« 


n 


436 Die Zuhmft. 


In Folge der Schulung feines Charakters, der Ausbildung feines 
Taltgefühles und feines Sinnes für Disziplin eignet fich der Corpsſtudent 
gut für die höheren Stellungen bes Staatsbeamten. Nun ift für diefe Poften 
das Haupterforderniß aber „politifche Zuverläffigfeit“, die darin befteht, daß 
man unter Aufgabe feiner Perfönlichleit mit der Regirung auch da, mo es 
fi nicht um Ausübung des Amtes handelt, felbft wider befjeres Willen und . 
Gewifien durch Did und Dünn geht. Diefe fittlih zweifelhafte Forderung 
widerfpricht fchroff den corpsftubentifchen Tugenden des perfänlichen Muthes, 
der Ehrlichkeit und der eigenen Werthſchätzung. Wenn der Corpsfiudent die 


- dem in dieſem Sinn „Zuverläffigen” gebührende Stelle erhält, muß er bie 


im aktiven Leben geübten Gefinnungen verleugnen. Er muß fi, wie jeder, 
ber fih um biefe Poften heiß bemüht, der Uebermacht eines Syſtems beugen, 
gegen das er als Einzelner ohnmächtig if. So Fam «8, daß die ald Schwäche 
fittlich tiefftehende „politifche Zuverläffigkeit”, bie für die leitenden Staats» 
ftellungen gefordert wird und bie weder mit altpreußiſchem Gehorſam noch 
mit corpsftudentifcher Art das Geringfte zu thun bat, durch die Bevorzugung 
des Corpsſtudententhumes Außerlih mit ihm verbunden erſcheint. Schon 
hält Mancher für nüglich, die feile Liebedienerei, die jedem Corpsftudenten von 
Natur verhaßt ift, als corpsftubentifche Tugend zu preifen, die Belohnung ver- 
diene. Die Folge war, daß dem Leben bes Aktiven die Harmlofigfeit gefährdet und 
fhon in der Jugend eine der dürftigen, unproduktiven Politik genehme Art, das 
ftaatliche und foziale Leben zu fehen, herangebildet wurde. So fette der Staat vor 
bie Schwelle des aftiven Corpslebens die Hoffnung auf VBortheil und Belohnung, 
trug in diefe ſchöne Zeit die Furcht, ob fie zu Gunſten der fünftigen Karriere 


‚gut ablaufen werde, und ließ an ihrem Schluß die Freude darüber entfichen, 


daß nun die erfte VBorbedingung zum Avancement gefichert fei. 

So beſchmutzt der Staat felbft alle Quellen, aus denen ihm reine 
Freude fließen Lönnte. Und wie die Religion, die Kunft am Beten gedeihen 
und die meiften Anhänger finden wird, die um ihrer felbft willen ehrlich 
geübt wird, fo bat aud das alte Corpsſtudententhum, das mit Begeifterung, 
fein von flaatliden Beziehungen, zur perfönlichen Freude und Bereicherung 
gepflegt wurde, eine höhere Blüthe erreicht als das jegige. Auch heute noch 
ift das aktive Leben tüchtig und herrlich, auch heute noch medt e8 Freude und 
Begeilterung und der jugendliche Sinn überwindet fpielend den gefährlichen 
Geift der Vortheilsſucht. Zu wünfchen wäre aber, daß die bier gefammelten 
Kräfte vereint auch im fpäteren Leben ber Uebermacht eines fchlechten Staats: 
foftem8 Stand hielten. Gutes verheißt nur die Bolitil, die der Wahrheit 
und bem Muth freien Raum läßt; in den Abgrund aber führt fie, wenn 
Heuchelei, Feigheit und Sklavenfinn ihre unentbehrlichen Stügen find. 


Bofen. Wilhelm Uhde. 
* 





Das Märchen der Dezembernacht. 487 


Das Märchen der Dezembernadit. 


on einem Wunderland, von einem Reich der Märchen und der großen 
Bauberkünfte will ich erzählen. Denn Dies ift die Beit und der Monat 
des Märchenerzählens; eines heimlichen und jühen Traum und Dämmerung» 
lebens, das in unjeren Seelen erwacht. Es fteigt in uns herauf, es dringt von 
außen mit dunklen Gewalten auf uns ein. Denn innig und feft, durch alle 
Bande des Blutes und Lebens, find wir mit ber Natur, mit Wald und Straud, 
mit Waſſer und Licht, mit Himmel und Erde verflodten und bie Seele in ung 
tft nur eine andere Tyorm der Welt, die ung umgiebt. Bon einer Myſtik des 
Greifenalters ſpricht unfere Piychologie, von einem Geiſteszuſtand des alternden 
und binfterbenden Menſchen, ba er gleihfam mit neuen Sinnen in andere Welten 
bineinlaufcht und Hineinihaut, wieder zum Kinde wird und mit einem felig 
gläubtgen Lächeln ſich aufbaut, was er als Mann zerichlug. Und aus dem alten 
Indien willen wir, daß ber Mann, wenn er fechzig Jahre alt geworden, den 
großen Abſchied von biefer Erde nahm, Haus, Hof und Befiß verließ, von Weib, 
Kind und Familie fi losrik und in ben Wald, in die Einſamkeit ging, um 
das Daſein, das er bier führte, durch letzte Selbfterfenntniß zum reinen Ab⸗ 
ſchluß und zur Vollendung zu bringen. Trägt nicht vielleicht auch dieje ent» 
laubte und Binfterbende Winterwelt tiefinnerlich fchon von Uranfängen Ber ſolch 
ein myſtiſches Träumen und Warten in fih? In den langen, dunklen Nädten 
hören wir, wenn wir mit Dichterfinnen in die Finſterniſſe hineinlauſchen, bie 
Lieber und Melodien eines verborgenen Lichtes, das wir nicht fehen, den Geſang 
einer verfunfenen Sonne, die mit all den Blumen und Kräutern und Diyriaden 
lebendiger Keime in die Erde hinabſank. Al das Ticht und das fchlafende Leben 
tn den vereiften Waflern und den Schollen der Aeder, bie Säfte, bie in den 
entblätterten Bäumen treiben und jeden Mugenblid fertig find, junge Knoſpen 
zu bilden, wenn die Luft nur einige warme Athemzüge thut: es find jüße 
Stimmen einer Märchenwelt und erzählen und von verſunkenen Frühlingsreichen 
und vergrabenen Sonnentempeln, von Tchlafenden Königinnen und verborgenen 
Schägen. Und wenn gerade in diefen Tagen, immer wieder ſchon ſeit Jahr⸗ 
taufenden, wie eine NRaturgewalt, eine wunderbare felige Märdenftimmung über 
uns kommt, ein ſeltſam Sinberweien, all das Heimliche, das wir Weihnadhtluft 
und Weihnachtfreude nennen, fo iſts wohl nur, weil unfere Seele wiberhallt 
von den taufend Stimmen und Gefängen bes in Finfternifien verborgenen Lichtes, 
weil unter den Oberflächen unſeres Bewußtſeins in purpurnen Tiefen eine neue 
Sonnen: und Märchenwelt fchlummert, ein befjeres Menfchenland, wie unter 
ben Winterbeden der lommende Frühling ſchläft. Und wir hören diefe Stim- 
men gerade in diefer Zeit ber kurzen Tage und langen Nächte jo hell und beut- 
lich, weil e8 eben bie fo dunkle Beit ift. 

Ueber uns, die wir Kinder biefer nordiſchen Länder, die wir in einem 
Nebelheim geboren und herangewachſen find, kommt zweimal im Lauf jedes 
Jahres ein feltfamer und ſüßer Lichtraufg, eine Stimmung des Glückes und 
einer hellen Quft, eine große, allgemeine Liebestrunfenheit, daß uns ift, als 
ſollten wir alle Welt und Menfchheit mit freubigen Armen umfafjen. Die Feſſeln 


438 Die Zukunft. 


Idjen fi, auf einen Augenblid fpringen die Ketten, die uns umfchnüren, und 
wir Schauen gleichſam auf eine neue, andere, verwandelte Welt Binaus, eine ſonn⸗ 
tägliche Welt, eine Welt der Güte und der Yreigiebigfeit: und Alles erfdeint 
wie von reiner Poeſie Eriitallen umfloffen und durchleuchtet. Diefes kommt ein- 
mal Über ung in den Maientagen, in der Bett der fpringenden Snofpen und 
aufgrünenden Saaten, wenn die neue Sonne lebendig in all unfere Sinne ein- 
dringt, und einmal wird es in uns wach in den Dezembertagen und wir ftellen 
den immergrünen Baum des Lebens, von weißen Tichtern ftrablend, in unfer 
Bimmer; wie im Frühling ift3 uns, als ftröme der goldene Wein der Wieder⸗ 
verjüngung dur unjere Glieder. Der Dezember ijt gleihjfam wie ein Winter- 
maienmond und e3 find nicht zuleßt ſehr tiefe, geheime und geheimnißvolle 
Ströme von Wechjelbezichungen, die unfere Maiengefühle und unfere ganze 
Maipoeſie verbinden mit all den Freuden und feligen Liebesftimmungen bes 
Weihnachtmonates. Mir ift, als verſpürte ih dba Etwas von einem großen 
Rhyth nus, der durch das ganze Weltall geht und auch durch unjere menſchliche 
‚Seele zittert, als rubte all Das, was wir Luft und was wir Leid, Freude und 
Schmerz, Glüd und Ungläd nennen, mit feinen Wurzeln im unterften Schoß 
ber Dinge vergraben. Unſer menfchliches Gefühl ift eine unendliche und unaus⸗ 
gefeßte Wellenbewegung; gleich bem regelmäßigen Steigen und Fallen bes Meer⸗ 
waſſers, fcheint es, jteigt auch bie Welle unferer Zuftempfindung, unferer Qebens- 
glüdsgefühle immer wieder zweimal im Jahre, einmal nad fünf und einmal 
nach ſieben Monaten, am Höchſten empor. Wie zwei Reime zufammenflingen, 
fo verbindet eine innerlihde Harmonie unſere Maien- und unfere Weihnacht⸗ 
empfindungen. Wenn der Yrühling ins Land kommt, fteigt ein Drängen und 
Wallen in uns auf, das und gleichjam aus ung ſelber beraustreibt. Eine Luft 
nad Weite und Ferne blüht in uns auf. Uns werden Haus unb Bimmer eng 
und draußen die Welt liegt in fo goldenen Schönheiten ausgegoſſen, daß wir 
uns auflöfen und aufgehen möchten in all dem Licht und grünen Glanz der 
Matennatur. In dieſen Winterftunden aber ift uns, als follten wir uns in uns 
felber zufammenzichen, al8 müßten wir in uns und bei uns felbft einkehren, 
als jchlöffen wir das Auge zu gegen die Welt, die uns als ein Außen umgiebt, 
und würden uns eined an)eren Sonnenlandes und einer anderen Welt der Schön- 
heit bewußt. Im Maienmonat gehen wir in ein Licht hinein, das wir als eine 
Sinnenwirklichkeit trinken; wir ziehen einer Sonne entgegen, die leuchtend die 
blauen Lüfte durchglänzt. Unſere Weihnadtluft ift das erfchauernde Gefühl von 
einer verborgenen Sonne, die wir nicht fehen, von einem heimlichen Licht, ver- 
ftedt binter Scleiern der Tyiniterniß, von einer Wunberrofe, die aus Schnee 
und Eis aufblüht, mitten in halber Nacht, wie das alte Lied fingt. Der Weih⸗ 
nachtbaum ift nur ein anderes Symbol diefer myſtiſchen Weihnachtrofe, dieſes 
Feuers in der Nacht, diefes Lebens im Tode. In DMaienfreude jauhzen wir 
einer Welt entgegen, die uns mit taujend Gaben und Gütern, mit Blüthen und 
Früchten überjchüttet; im Winter, wenn die Natur Targ und arm geworben, 
fommt über uns cin Raufch der Fruchtbarkeit und Freigiebigkeit, daß wir gütig 
einander bejchenfen. Zur Maienzeit ijt es die Natur, bie wir als Licht, als 
Befreierin und Erlöferin empfinden; unſere Dezemberfreude aber tönt aus in 
einen großen Jubelhymnus: Ecce homo! Und wir feiern den Erldſer Menfd, 








Das Märchen der Dezembernacht. 439 


den Menfchen, ben Lichtbringenden, welcher der toten Natur den Hauch des 
Lebens eindläft. Wenn der Frühling uns umleudtet, ift in unjeren Glieder 
ein Glühen und Drängen, eine Luft vom Dann zum Weib und vom Weib zum 
Dann, Mat und Liebe klingt in unferer Seele wie ein Reim zufammen und 
Alles, was Sinnengläd und finnlicde Liebe Heißt, kommt als feligiter Rauſch 
über uns in ben Maientagen. Doc in den Weihnachtzeiten ſcheint es uns, als 
verfpürten wir mehr und tiefer als fonft den Hauch und Athem einer unenb- 
lichen @eiftesliebe, die über alle Dinge binfluthet; eine wunderbar heilige und 
feierlihe Stimmung wird in und wach und wir fühlen ein Ewige und eines, 
das alle Menichen mit einander verbindet und ſtark ift, aus diefer Welt des 
Haſſes und der eindichaften eine andere Welt aufzubauen, wo zwiſchen Du und 
Sch, zwiſchen Dein und Dein fein Kampf und Streit mehr ift. 

Die zwei großen Wellen eines Lebensluftgefühles, die ung emportragen, 
zegelmäßig wie ber Wechſel der Jahreszeiten — einmal zur Maien- und einmal 
zur Weihnachtzeit —: find fie nicht wie die Rhythmen und die Wechjel, die wir 
von je her in Ullem, was ift, wahrgenommen haben? Ein Doppellufteinpfinden, 
aus zwei Quellen auffteigend, trägt und hebt uns, doppelte Lebenskräfte durch⸗ 
dringen uns und führen ung immer weiter, Wir wachſen einem Licht und einer 
Sonne entgegen, die um uns find, einem Licht der Sinne und der Sinnen- 
wirklichleiten, und wir ftreben einer Sonne und einem Licht zu, bie in uns 
leuchten und glühen. Das wergrabene Licht, die Sonne, die wir nicht ſehen und 
deren wir boch gewiß find, die das Gewiſſeſte alles Gewiſſen, das Wirklichite 
alles Wirklichen bilden: wir ſprechen feit Zahrtaufenden davon als von unferem 
höchſten Beſitz. Wir graben umfonjt nad ihm mit bem Meſſer des Arztes und 
ber Wiflenfchaft, wir ſuchen es umſonſt mit Händen zu faſſen und zu greifen, 
— und es ift dennod. Geift nennen wird, Natur und Geiſt. Das tjt ber 
große und lebte Rhythmus, der unſer Daſein durchfluthet, da8 Doppelantlitz 
der Welt, die zwiefade Duelle unſeres Lebens, bie beiden Schalen, in denen 
wir auf- und niederjteigen. Maienluft und Maienfefte! Da rauſchen und dffnen 
fih die Brunnen ber Natur, wir jauchzen der Welt zu, die uns grünend umfließt, 
und wir fingen ein Lied von diefer Erde und von dieſem Menjchen. Dezember- 
freube und Dezemberſeligkeit! Da feiern wir dem Geiſt ein Feſt und eine 
wunderlide Märcenftimmung kommt über uns, ein Urkindergefühl und ein 
Urkindesleben; mit Geifteraugen ſchauen wir im Schoß der Erbe vergrabene 
Schätze, Sonnentempel und Lichtburgen, eine Welt großer Zauberkünſte und 
ewiger Berwandlungen Öffnet fih uns, und wie im Tode ber Winternadt ein 
Richt Teuchtet und eine Roſe entipringt, jo fchläft in biefer Mutter Erbe eine 
Sindeserde. Unb wenn dieſer Menſch ablebt und ftirbt, dann fteht ein Zukunft. 
menſch im Frühlingsſcheine auf, der aber nur fchlummert in dem Menſchen von 
“Heute, wie der Same unter ber Schneedede des Winters jchläft und im Mai 
als Blume aufblübt. 

Bon dem Märchen der Dezembernadt und ber Winterfonnenwende will 
ich |precden, von einem Bauberland und einem Reich ber Verwandlungen. Das aber 
ift kein Märchen und ich fpreche nit von Wundern und Unmöglichleiten, fondern 
yon dem Wirklichiten aller Wirklichkeiten; nicht in Wolfen und Himmeln über 
ung, auf anderen Sternen und Planeten liegt dieſes Zauberland, fonbern es 


440 Die Zuhmft, 


tft nichts als dieſe unfere Erde und nicht in weiten Zulunftfernen dehnt es fich 
aus, fondern es ift eine Segenwart und in jedem Augenblid können wir ben 
Menſchen in uns zum Wbfterben bringen und ftehen lebendig da al$ ber neue 
Beiftesmenfch, der große Freie, jenfeitd von Du und Ad, jenfeits von Dein 
und Mein, von Egoismus und Altıuismus, erhaben über Todesfurdt und [os 
von der Furcht vor dem Leben. 

Seit fo mandem Jahrtauſend ringt die Menjchheit um die alle anderen 
Tragen einfchließende Frage, was das Weſen der Welt fei, und das große 
Grundproblem, das von je her die Philofophie und bie Wiſſenſchaft bewegte, 
es ift noch heute immer das felbe und unjere mobernfte und jüngfte Natur- 
wiflenfchaft Laut an dem jelben harten Brot, das fchon die älteſte griechiſche 
Naturphiloſophie nicht zu verdauen vermodte. In zwei Qager gefpalten, ſtehen 
heute die Naturphiloſophen einander gegenüber und belämpfen einander, wie bie 
Philoſophen ſtets gethan haben. Ste nennen fi) entweder Atomiftiler oder 
Energetifer. Iſt die Welt Stoff oder ift fie Kraft? Das tft genau die felbe 
Trage, bie einft den Senfualiften John Locke von dem Spirutaliften Berkeley 
ihied, ewig der felbe Zwielpalt, der all unfer Denten ven Anfang an ausein- 
anderriß. Iſt die Welt Materie oder Geiſt? Sind wir Menfchen Leib oder 
Seele? Aber wir haben gefragt und gefragt und feine Antwort gefunden; es muß 
wohl etwas Wahnfinniges und Gefpenftifches in diefem Tragen Liegen. Uns 
Gberläuft e8 immer falt vor diefen grauen und dürren Spelulationen und wir 
haben in Sant den Befreier gepriefen, der uns von diefem jchredliden Joch 
erlöjte. Aber mit Kant find wir auch zu armen, bilflofen, beſchränkten Menſchen⸗ 
weſen geworben, eingejchloffen in eine Natur, bie wir nicht zu verfteher ver» 
mögen, im Beſitz einer Erfenntniß, die nichts zu erkennen vermag. 

Dog noch ein anderer Kant hat jenen Philofophen geantwortet, einer 
jener wunderbaren Dezembermärdenmeniden, in denen die Erdenkinder ftets 
die wahren Uebermenſchen fahen, die fie als Gott ſelbſt auf den Thron erhoben: 
ein Weltgefährte und Bruder jenes Winterlichtlindes, dem unfere weftliche Kultur 
in diefen dunklen Tagen Millionen Weihnachtbäume anzündet. Jene Philoſophen 
famen auch einft zu dem indifchen Chriftus, zum Buddha, und legten ihm bie 
alten, urewigen ragen ber kantiſchen Untinomien vor, die noch Heute unſere 
Fragen find. Iſt die Welt endlich oder unenblih? Iſt die Welt Materie oder 
tft fie Geiſt? Und jubelnd fpricht zu ihnen der Buddha von der höchſten Exr- 
fenntniß, die ihm unter dem Bodhibaum fich offenbarte. Doc anders ſpricht 
er als Kant: nicht wirft er uns als Blinde und Hilflofe in den Staub, fondern 
zu Göttern hebt er und empor und für ihn find jene Fragen nicht, wie für dem 
Tönigsberger Weltweijen, böchfte und tieffte Tragen, die nur in einer Jenſeits⸗ 
welt und durch Uebererfenntniß gelöft werden können, jondern er nennt fie Yragen 
einer Thiermenfchheit und einer Untererfenntniß. Mit lächelnder Ironie wehrt 
der Buddha alle Philoſophen von fi ab. „Bet allen Euren Fragen habt Ihr 
nur Eins vergeflen: nämlich das Leben und was das Leben ausmadt. Wohl 
wird Euch nie Antwort werden, boch nicht, weil biefe Antwort über Eure Kraft 
gebt, fondern, weil es ganz thöricht und unfinntg ift, fo zu fragen. Wenn Ihr 
auf ben ewigen Strom bes Lebens blidt, dann ſchaut Ihr, baß, fo Iange Ihr 
biefe Trage ftellt, Euer Dafein nichts iſt als eine große Krankheit.“ 


Das Märchen der Dezembernacht. 441 


Die Wifienfchaft fragt: Was ift die Welt? Iſt fie Materie ober ift fie 
Geiſt? Und wie in einer dunklen Ahnung von jener höchſten Erkenntniß des 
Buddha jagt diefe Wiffenichaft uns felber immer wieder, daß fie ftet3 umfonft 
nad) dem Leben ſucht, es nicht finden fann und nicht weiß, was das Leben ift. 
hr war immer dad tote Objekt nur zugänglid. Doch neben der Duelle ber 
Wiſſenſchaft ftrömte ſtets noch eine andere Duelle, aus der bie Menjchheit in 
ihren Bweifeln, Aengſten und Echmerzen jchöpfte, und wir dürfen heute wicher 
das Wort ohne Scham und Berlegenheit ausſprechen, ohne daß wir dadurch zu 
armen Finſterlingen werden, zu rüdwärts gefinnten und rüditändig gebliebenen 
Geiſtern. Leiſe Klingt heute wieder aus dem Lärm des Tages ein Echnjucht 
zuf empor: Religion! Wie zwei Benien ftehen fie, neben einander am Brunnen 
der Welt, ein Schweiternpaar, Religion und Wiſſenſchaft, Geiſteskind und Kind 
ber Natur, Maiengottheit und Dezembergottheit; vom Wirklichen redete immer 
die Wiflenfchaft und vom Unwirklichen redete immer die Religion und dennoch 
— wunderlicher, geheimnißvoller Widerſpruch! —: jene, die das Wirkliche juchte, 
bat uns immer Tlagend und verzweifelnd mit taufend Zungen zugerufen, daß 
fie das Leben nicht zu finden vermöge, die aber, deren Augen fih im Unwirk⸗ 
lichen verloren, |prach jubelnd von Erlöjungen und kündete, daß fie und fris 
ftallene Wafler des Lebens reiche. Religion! Mit dem Klang des Wortes fommt 
über uns ber Traum, der Schauer, bie dunkle Myſtik und Märdenftimmung der 
Dezemberfinfternifie, der Geiſtesluſt und der Geiftesfeite. Religion! Und glei auch 
ftehen wir in der Welt ber verborgenen Schäße und hören die alten Märchen vom 
Paradies und vom dritten Reich, vom Reich des Geiſtes und dem neuen Jeru⸗ 
falem, von einem neuen Menſchen, zu bem wir werden, wenn der alte Adam in 
uns abitirbt, das Lieb vom Gott- und Uebermenſchen, den wir in uns erweden 


follen. Magiſcher Zauberkräfte rühmen fi diefe Neligidjen, al3 zu Wunder: - 


thätern bliden die Menfchen zu ihnen empor. Auf ein efoterifches Wiflen deuten 
aber all diefe Meligionen und alten Briefterlulte mit myſtiſchen Zeichen und 
Beichnungen bin, mit geheimnißvollen Symbolen und wunderlichen ſymboliſchen 
Handlungen. Durd al diefe Symbole aber geht ein legter Sinn, eine legte 
Lehre; ein Wort Elingt uns immer wieder aus ben egyptiſchen und eleufinifchen, 
aus den indifchen und chriſtlichen Miufterien entgegen, ein Wort, das und ge- 
wöhnlich als der Inbegriff alles Zauberns erfcheint: das Wort Berwanblung. 
Dod wenn gerade unfere Märchen und Mythen, al unjere Degembernadhtpoefien 
ung von nichts al3 immer wieder von Berwandlungen berichten, fo ilt Das wohl 
nur deshalb, weil all biefe Märchen eben nur Trümmerrefte und Bruchftüde 
uralter Priefter- und Tempeldichtung find. 

Die ewige Freuden⸗ und Erlöfungbotichaft all dieſer Religionen aber ift 
bie Verkündung eines Neiches des Geiſtes, das einft zu ung kommen fol und 
uns von unferer Sünde befreien wird. Was aber tft bie Sünbe? Die Materie. 
Die Lehre vom Sündenfall, die in den altindifhen Beben zum reinften unb 
Ihärfiten Ausdruck kommt, ift die Grundlehre aller Religionen. Der Geiſt ver 
wandelte fi in Materie. Das war für ihn Trübung und Beflcdung. Wir 
müfjen wieder immtateriell werden, unjeres Körpers und Leibe uns ganz ent- 
ledigen und geben in das Nirwana und in das Gottesreich ein. Der Kampf 
gegen den Leib und für bie Vergeiftigung des Menfchen tft der Inhalt ber großen 


_ 


442 Die Zukunft, 


alten Religionen, ber Weltanſchauung, die aud uns jeit nun faft zweitaufend 
Jahren beherrſcht; und wenn heute Einer fid zum Begetarismus befeunt, nur 
Pflanzen- und keine Thiernahrung zu fi nimmt, jo ift in ihm ein Drang und 
ein Wijfen von jenem alten Veda der Inder. Was die Menſchheit in dieſem 
Kampf gegen den Leib, um ihrer Reinigung und Entſündigung willen, ſeit Jahr⸗ 
taufenden vollbracht Hat, ift eine furchtbare Tragoedie, ein erjchätterudes Drama 
„Weber die Kraft”; und mögen wir fonft über fie denken, wie wir wollen: dieſe 
wilden Heiligen, dieſe Afketen, die um bes Geiltes willen ihren Leib unter Den 
ſchrecklichſten Foltern verbrannten, lehren uns das Eine, daß in ben Menichen 
in Wahrheit etwas Uebermenſchliches lebt. Was furchtbarer Wille und Energie, 
was Menſchengeiſt und Kraft zu erreichen vermag, wird uns vielleicht nirgendwo 
ſo deutlich wie in dieſen Orgien der menſchlichen Aſkeſe, 

Geiſt verwandelt ſich in Materie. Materie verwandelt ſich in Geiſt. Das 
iſt die einfache, ſchlichte und naive Grunderkenntniß der Religionen, das ältefte 
Wiſſen der Menſchheit. Eine Verwandlunglehre ſteht als Ausgangspunkt ſchon 
an den erſten Anfüngen des menſchlichen Geiſteslebens. Aber wunderlich: dieſes 
ältefte Wiſſen tft auch unſer jüngſtes und neuſtes Wiſſen und erſt in dem legten 
Jahrhundert wurde unfere Naturwiſſenſchaft Metamorphoſenlehre. Das Märden- 
fand der großen Baubereien und unabläjjigen Berwandlungen, von dem wir im 
biefen Dezembernädten uns erzählen, ift nichts als dieſe unfere Erde, Diele 
unjere Gegenwart, bie nädjite uns umbrängende Wirklichkeit; und nichts, nichts 
geſchieht irgendwo und irgendwann, ob wir auf die Natur Binbliden oder ob 
wir unjeres Geiftes bewußt werden, was nicht Berwandlung wäre. 

Wenn dies Weltwelen aber Verwandlung tft, wenn unfere heutige Natur⸗ 
willenfchaft fi Dietamorphofenlehre nennt, fo wird damit ber ewige Streit, ob 
das Urweſen der Welt Materie oder Geiſt iſt, Kraft oder Stoff, allerdings hin⸗ 
fällig. Atomiſtiker und Energetifer find ganz gleichmäßig im Net wie im Uns 
recht, — die frage, ob zuerit das Anorganijche oder Organiſche, hört überhaupt 
auf, eine Trage zu fein; denn als das Urmefentliche tft eben die Verwandlung 
erfannt, die unabläffige Verwandlung von Geiſt in Materie, von Stoff in 
Kraft. Die alte Kaufalität- Weltanfchauung, die auf der Formel von Urſache 
und Wirkung beruht, die mit Kant ſtets von einem a priori und a posteriori 
redet, uns an ein bloßes Nadeinander und Nebeneinander der Dinge glauben 
läßt, wird in Wahrheit durch eine konſequent durchgeführte Metamorphofenlehre 
über den Haufen geftürzt und die ihr eigentlich entgegenftehende Erlenntniß, auf 
bie ein Goethe, ein Hebbel, ein Hegel Hindeuten, wurzelt in der reinen Er- 
fenntniß von einem In- und Durcheinander der Dinge, von einem polartichen 
Weſen der Welt; durch unfere allerjüngfte Elektronlehre kommt Schelling wieder 
zu feinem Recht. Nehme ich aber einmal ein polarijches Weltweien an, dann 
beligen Monismus und Dualismus nur noch felundäre Bedeutung, 

Dod ich will nicht in bie dürren Haiden der Spekulation führen, jonder. 
im Duntel diejer Dezembernadt bie junge, grüne Maienerde zeigen, die Beute 
nod unter Schnee: und Eisdeden vergraben liegt. Ein wunderbarer Glaube 
tft8, der in den Myſterien und in ben Prieſterkulten fchon in alterögrauen Zeiten 
verfündet wurde, eine wahrhafte Erlöſungbotſchaft; und die furditbaren Hei⸗ 
digen und wilden Alfeten haben uns oft genug bewieſen, daB dieſer Glaube an 


— ee — — S.  -- - (OU — 


Das Märchen ber Dezembernacht. 443 


die Verwandlung unermeßliche moralijche Kräfte verleiht, den Menjchen mit 
magiſchen Fähigkeiten übergießt und ihn gegen die fchredlichiten Schmerzen un- 
empfindlich zu maden wußte. Iſt es denn ein Märchen, eine Traumphantafie, 
was uns die alten indilhen Beden von ber Verwandlung des Beiltes in Ma⸗ 
terie erzählen, iſt e8 nicht bie einfachite, nadtefte Wirklichkeit, die fi in jedem 
Augenblid vollzieht? Und dennoch Elingts uns wunderlich myſtiſch und mit un- 
- gläubigem Lächeln hören wir jene Priefterwortee Daß fi Geiſt in Materie 
verwandelt: Das glauben wir nicht eher, als bis wird gejehen haben. Das wäre, 
fo_denten die Meiften, ja das Märden- und Sclaraffenlandwunder, daß ein 
armer Teufel fih hundert Thaler wünſcht, und in dem ſelben Augenblid bat 
er fie auch ſchon wirklich in der Tale. Nein: jo einfach geht die Sache aller- 
dings nicht, daß wir nur Abrafadabra oder fonft ein Zauberwort ausſprechen, 
daß wir nur Etwas wünjhen und möchten: die Natur will uns immer ganz 
und fie giebt nur dem HBaubermeifter, der die Kunſt bes Verwandelns wirklich 
auch ausübt. Der arme Teufel, der da immer blos wünſcht und wartet, daß 
ihm gebratene Tauben in den Dtund fliegen, hofft ganz vergebens darauf, daß 
die hundert Thaler, die er denkt, zu wirflichen Hundert Thalern werben; aber 
es giebt der Herenmeifter genug — heute ſcheint diefe Zunft befonders in Amerika 
zu blühen —, die fi) ausgezeichnet darauf verftehen, Phantaſie⸗Millionen in 
fehr reale Millionen zu verwandeln. | 
Die Märdgenwelt ber alten Prieftermyfterien iſt die wirklichfte und pofitivfte 
der Welten. Geijt follte fih nicht in Materie verwandeln können? Aber in 
dem Augenblid, wo ich zu Einem fpreche, geſchieht es. Was ich fpredhend in 
biefem Augenblick denfe, was mein Geift ift, — im gleichen Wugenblid denkt 
es auch Der, zu dem ich fpreche, tft e8 in dem Beilt des Anderen. Bertrauen 
wir und einmal dem alten John Lode an: Nichts tft in unjerem Denfen, was 
nicht vorher in unferen Sinnen, was nicht eine Sinneswahrnehmung, nicht etwas 
Materielled war. Daß ein Anderer Überhaupt weiß, was ich denke, ilt nur 
deshalb möglich, weil ich mich auf die Kunft verjtehe, meinen Geift in Dtaterie 
zu verwandeln. Und darauf verjtehen wir uns Alle. Denn wir fprecdhen und 
wir hören, was wir fpreden. Unfere Worte find Sinneswahnehmungen, 
Schälle, die wir durch unfer Ohr aufnehmen, und beshalb eben fo gut matericle 
Dinge wie dad Haus, in bem wir und befinden, wie bie Bilder dort an ben 
Wänden. Sprade ijt lautes Denken, bat ber alte Schleicher gejagt. Das heißt: 
unjer Denken wird zu Lauten, unjer Geiſt verwandelt fi) in etwas Materielles. 
Wir glauben heute an einen ſprachloſen Menichen, an eine Urzeit, da 
der Menſch dieſe Bermandlungfähigfeit, die Kunſt, feine Borftellungen in Worte 
umzufeßen, noch nicht befaß. Denn wir find immer neuer Berwandlungen fähig 
geworden und die ganze Kulturgeſchichte befteht darin, daß wir immer volllommenere 
Baubermeifter werden und immer neue fünfte der Verwandlung uns aneignen; jebe 
neue große Menfchheitepoche beginnt mit bem Erwerb foldder neuen Kräfte; von ber 
legten, gewaltigften und größten Verwandlung aber erzählt uns das Märchen der 
Dezembernadit: von der Berwandlung des Menfchen felbit, von der Grundumwand⸗ 
lung des ganzen Menſchen, von ber Umgeftaltung des alten Menſchen in einen neuen, 
des Thiermenſchen in einen Gottmenſchen. Das tft das große Geiftesfeft, das wir 
zur Winterfonzenwende in diefen langen Dezembernäcten feiern: die Entſtehung 


444 Die Zukunft. 


und Geburt diefes Lichtmenfchen, dieſes Sonnenbelden, der uns einen neuen 
Frühling der Welten bringt. Und zur höchſten Höhe fteigt inmer wieder die 
Welle unjerer Zuftgefühle in diefer Zeit empor, da wir uns, umftarrt von Finſter⸗ 
nijlen, von Eid und Schnee, bie goldenen Märchen von den Berwandlungen 
erzählen. Da fiegt in uns der gläubige Ehriftus und Siegfried über ben armen 
glaubenlofen Heiden, ben Zichandalen und Thiermenſchen, der fein zauber- 
tundiger Dryfterienpriefter ift und nichts weiß von ben ungebeuten magifchen 
KKräften ber Verwandlung. Mit ftumpfen Sinnen figt diefer arme Tſchandale 
im Staub und fein ewiges Lied ift, daß die Welt immer fo bleibt, wie fie Heute 
ift, daß der Menſch nie anders wird; wir aber ſprechen in diefer Stunde zu 
ihm, wie der Priefter, der Brahmane: Du Thor! Du Narr! So fieh doch um 
Did! So Öffne doch Deine Sinne. Alles ift Verwandlung! Was tft in diefer 
Welt nicht Berwandlung? Unabläffig und unaufpörlih ruft Dir die Natur das 
Eine mit Myriaden Stimmen zu, dad Du ftet3 ein Anderer biit. 

Was ift Religion? Glaube an den Gottmenjhen. Glaube an den To» 
und Untergang bes Thiermenichen. Glaube an den Frühling und an die Freude. 
Glaube an das Ende der Nacht und des Leidens. Das Weſen ber Religion 
tft nichts als das Weſen der Welt felbft. Es ift nicht nur der Slaube an die 
Berwandlung, fondern es ift die That und die lebendige magiſche Kraft, daß 
wir uns in Wahrheit und in Wirklichkeit in den neuen Menſchen verwandeln. 
Jede Nacht aber kann für Dich zur Heiligen Nacht werben; in jeder Nacht kannſt 
Du wieder geboren werden. 

Denn bier ſcheidet ſich eine neue Religion von einer alten Religion. Wir 
haben die alte LZehre von der Verwandlung des Geiſtes in Materie gehört, das 
dunkle Winternachtlied vom großen Sünbenfall der Natur, wie das Lebendige 
in die Gewalt des Todes fiel, wie ber Geiſt von der toten Materie gefeflelt 
wurde. Die Materie tft da8 Sündige, der Leib ift das Befledende. So wurbe 
biefe Erde zu einer Stätte der Dual; wir lernten den Tob fürdten und ſchämten 
uns unjeres Leibes. Nur in einem gefpenftiihen, unfaßbaren Zenjeits gab es 
eine Erlöjung, nur wenn wir biefes Körpers ganz los und ledig geworden, wenn 
wir dem Dafein erlofchen find, wird uns eine leere Ruhe, ein bewegunglojer 
Friede zu Theil. Es war das alte Lied von einer Hölle und einem Himmel, 
von einem Kampf und einer furchtbaren Feindſchaft zwiſchen Leib und Seele, 
zwilchen Dlaterie und Geift; damit das Eine fiege, mußte das Undere vernichtet 
werden. Eine dunkle Lehre von einer in wilde Gegenjäge zerrifienen Natur, 
aber niemals von einer Ueberwindung der Gegenſätze. Ein ewiger bunfler Todes 
nnebel liegt über dem eich bes Geiſtes, das uns von den Alten verkündet wurde. 
eilt und Materie, deal und Wirklichkeit können nie verföhnt werben, tönte 
es uns noch aus dem Munde der bdeutichen Idealiſten entgegen. Uber es ift 
ein trauriger, unfruchtbarer Idealismus, auf ben ung Schiller hinweift, nur ein 
armes Leben in Kunft, ein Afthetifches Schwelgen in bloßen Ideen und in 
lügnerifhden Dichtungen, in ſchönen Träumen und gefährliden Täuſchungen. 
Da bauen wir uns ein Reich des Geiltes in ben Wolfen auf, ein Reich ber 
Vollkommenheiten, das wir ung jedoch nur denfen. Nur wie eine Fata Morgana 
ſchwebt es in ben Lüften, als ein Phantafiebild, als eine Welt des ſchönen 
Scheins. Aber ihm entipricht fein Sein; und die Erbe zu unjeren Füßen, bie 








Das Märchen ber Degembernacht. 445 


Wirklichkeit bleibt unerlöft und in all der Nacht und dein Leid befangen. Wir 
träumen und denken uns einen neuen, einen Gottmenſchen, aber unfer wirkliches 
Sein tft ein troſtloſes Weiterleben im Thiermenjchlichen. Nein: nicht dieſe 
Runft, jondern die große Kunft der Welt juchen wir, die nicht unüberbrüdbare 
Kläfte, unliberwindliche Gegenfäge aufreißt zwiſchen Geiſt und Materie, Ideal 
und Wirklichkeit, fondern den Bauberftab ihrer Verwandlungskraft ausftredt 
und Eins immer zum Underen werben läßt, ans diefen Wirklichleiten neue Ideale 
heworruft und die Ideale zu neuen Wirklichfeiten madkt. 

Reißen wir uns los von dem Wahn der alten Religionen! Laufchen wir 
nicht länger dem finfteren Winterlied vom Sündenfall der Natur! Der Leib 
ift feine Sünde. Der Geift Bat fi nicht befledt, indem er zur Materie wurde, 
er ift damit nicht von feinen Höhen herabgeſunken. Das wirkliche Gefühl von 
der Unendlichkeit der Welten, das und Menſchen als hoöchftes Gefühl exit zu 
Theil wurde, als Copernikus die Eriftallene Schale des Himmels zertrümmerte, 
dieſes Gefühl tft unlöslich mit der Erkenntniß verknüpft, daß ſich unaufhörlic 
und ewig Materie in Geiſt und Geiſt in Materie berwandelt: die Materie ver- 
vollkommnet fi), indem fie Geift wird, aber der Geiſt vervolllommmet fi auch, 
indem er zur Materie wird. Er ſündigt damit nicht, ſondern er fteigt glänzend 
nun zu neuen Seligfeiten empor. Dem nur, der bes Geiſtes voll tit, fließt der 
Mund über. Nur wer Künftler ift, wer ganz und gar von großen Gefühlen 
und wunderbaren Gedanken erfüllt ift, in dem die VBhantafien wie ein Meer dahins 
fluthen: nur über ihn kommts wie ein mächtiger Drang, dab er, was in ihm 
tft, zu Stoff und Materie, in Worte und Klänge, in Farben und Linien ver- 
wandeln muß. Nur wenn die Ideale wie ein Wein und wie ein Feuer in und 
glühen, wenn fie ganz und gar Befit von uns genommen haben, daß wir nicht 
mehr ohne fie fein Lönnen, dab fie und mehr find als unjer Leben, dann haben 
wir die magifche Kraft in ung, daß wir diejen Geift zur Wirklichkeit werben 
lafien, dann iſt aber auch in uns eine Gewalt und ein Muß, ein Wille zur 
That und das einzige Verlangen, daß dieſe bejjere und volllommene Welt unferer 
Ideen zur Erdenwelt, zur ſchlichten Alltäglichkeit wird. 

Nur fo iſt das Märchen der Dezembernacht, das Märden von den großen 
Weltverwandlungen, vonder Beriwandlung von Geiftin Stoffundvon Steffin Geiſt, 
von unferen Bauberkräften und magijchen Künften ein Hymnus der Freude, ein 
Hymnus auf die Sonne und das Licht. Nicht darum jubeln wir von einem 
Licht, das wir nicht jehen, von der in die Erde verjuntenen Sonne, von bem 
begrabenen Xempel, dab dieſes Lichtreich dort unter Eis und Schnee verborgen 
liegt: fondern, daß es mit dem Frühling aus den Finfterniffen Hervorfteigt, daß 
es als Matenwelt in lebendiger Wirklichkeit um uns grünt und blüht, daß die 
verborgene Sonne fihtbar durch die blauen Lüfte leuchte. Das Lieb von den 
Berwandlungen ijt ein Lied von der Kraft und Stärke. Das Reich kommt nicht 
dadurch zu uns, daß wir es träumen und denken, nur erjehnen und wünjden; 
fein Schlaraffenland iſts, in dem wir durch bloße Bauberworte und Geberden 
die goldenen Früchte aus den Bäumen bervorloden. Nur dur Kampf und 
Arbeit wird es errungen, nur durch die Idee, die That wird. Das Wort gilt 
immer, das einft der Nazarener rief: Das Himmelreich gehört den Stürmern, 
gehört Denen, die e3 eritürmen können. 


Schlachtenſee. Julius Hart. 
8 


446 Die Zukunft. 


Alpenfönig und Mlenjchenfeind. 


I ich vor einiger Zeit in Fünftlerifchen Angelegenheiten nah Dresden 
fuhr, hoffte ich, abend8 im Hoftheater entweder Bungerts Odyſſeus 
Tod“ oder fonft ein intereffantes Werk zu hören. In den Eifenbahnblättern 
fand ich zu meiner Enttäufchung fürs Opernhaus „Alpenlönig und Menſchen⸗ 
feind“, die alte PBoffe, fürs Schaufpiel „Die Jungfrau von Orleans“ ange⸗ 
zeigt. Die Jungfrau lehnte ich dankend ab; der Alpenkönig ſiegte. Er ver- 
ſprach, alte, liebe Erinnerungen an prager Zeiten in mir bervorguzaubern, 
wo ich felbit das Köhlermäbel fang und noch Leute aus Raimunds Zeiten 
mitfpielten.. So bereitete ich mich auf alte öſterreichiſche Bemüthlichkeit dor, 
die, befonderd von der Bühne herab, mich harmlos zu ergögen im Staube 
ift und bei der ich mich geiftig auszuruhen vermag. 

Bevor ich das Hotel verlieh, fiel mein unbemwaffnetes Auge nochmals 
auf den Theaterzettel, auf dem mir, unter dem Titel, neben Raimund Namen 
die Worte „Muſik von Leo Blech” entgegenblinkten. Schon Hatte meine 
Freude eine Obrfeige belommen. Die alten lieben ‘Melodien follte ich alfo 
nicht hören, follte mich mit neumodiſchen abfinden. Wie fchade! Doch 
tröftete mich der Gedanke, daß man gewiß die alten Nieder nicht ganz ver⸗ 
bannt, fondern eingeflochten haben werde. 

Ahnunglos betrete ich die mir wohlbefannte Stätte. Ans Dirigenten 
pult tritt Schuh. Schuch dirigirt die alte Boffe? Wahrfcheinlich viel Zwiſchen⸗ 
akt: und Zaubermufil, zu denen ja die Szenen des Alpenfünigs Aſtralagus 
Beranlaffung geben. Und nun fehe.ich audy das ganze vollzählige Drchefter. 
Nun ja. Die FJunglomponiften lieben Alle, viel Lärm um nichts zu machen; 
ich ergebe mic) alfo darein. Noch immer bin ich ahnunglos. 

Der Akt beginnt mit einem Yrauenduett. Hm... Meinetiwegen! 
Wenn zwei verliebte Frauenzimmer Blumen pflüden, mögen fie auch ein 
niebliche8 Duett fingen. Das kann man ihnen nicht verbieten. Da bekommt 
meine Hoffnungfreudigfeit fchon wieder einen Stoß: denn zu dem erften ge 
fellt jich ein zweites, ein Kiebesduett. Und ganz wie im Triſtan laſſen ſich 
die Liebenden peu à peu auf eine Bank nieder. Gie werben boch nicht 
noch lange fingen? Ich will endlid) Raimund, endlich reden hören. Da er 
fcheint zu meinem Glüd das Dienfimädchen und wedt die Beiden aus der 
Umarmung Wohl mir! 

Nein: weh mir! Eine fchwere, hölzerne Konverfation, von unglanbs 
würdigen Intervallen getragen, fpreizt, zerrt und ftempelt die einfachften, 
nichtsfagenden Worte eines bei Raimund fchwäbifch redenden Dienftmädels 
zu Dodonas Draleln. Genau wie in Humperdindg Hänfel und Gretel, 
wenn die alte Märchenmutter um den zerbrochenen Topf jammert. Seht 





Alpenfönig und Menſchenfeind. 447 


endlich — ich muß ſelbſt eingeſtehen: etwas ſpät — geht mir ein Licht auf. 
Das iſt ja gar nicht die alte Poſſe, ſondern eine regelrechte moderne Oper. 

Was thun? Ich fafſe mich, verzichte auf die alten Erinnerungen und 
bie Boffe zu Gunften Blechs, deffen Talent man in den Zeitungen vielfach 
gerühmt findet, und verfuche ernftlih, mich für die Oper zu intereffiren. 
Berfuhe . . . Leider fällt mir die hölzene Konverfation auf die Nerven. 
Eben fo der fingende Alpenlönig, obgleich ihn Perron ausgezeichnet interpretirt. 

Das erfte Bild ift vorüber. Ich athme auf. 

Beim Anfang des zweiten fällt mir ein Stein vom Herzen. „Rinde 
vieh!“ fchreit Rappelkopf und ftößt feinen treuen Diener Habaluf, der „zwei 
Fahre in Paris war“, mit einen Yußtritt auf die Bühne. „Rintvieh!“ 
Das erfte vernünftige Wort. Mir wird ganz mohlig dabei zu Muth. Seht 
werde ich den alten Habakuk mit feinem einfältig aufgeblafenem Wejen und 
feinem ewigen Refrain genießen. 

Es war wieder nichts. Der einfältige alte, Hochnafige Habakuk ift in 
einen jungen verliebten Diener verwandelt worden, der mit Raimunds groß: 
fpurigem Parifer gar feine Aehnlichkeit mehr bat. Sein Lied ift unbedeutend 
und giebt nicht8 von dem Geifte bes Driginales wieder. 

Rappelkopf tritt auf den Plan. Er bräüllt wüthenb abgeriffene Sätze 
und Worte zwifchen langathmige mufifalifche Ergüſſe. Mir thut Scheides 
mantel8 fehöne Stimme leid. Das follte Tieber gefprochen werden. Tem 
Sänger wirb zugemutbet, über eine Riefeninftrumentation hinweg in höchfter 
Wuth — man muß willen, wa8 Das heift — in feiner Kehle Töne und 
Intervalle zu finden, die für fein Organ eben fo fchädlich wie für unfere 
Ohren ärgerlid) find. Gleich Manfred beſchwört er die Geifter- und Gebirgs- 
welt — nur ſpricht Byrons Held, während der Alpenlönig Blechs fing: — 
und wird dabei, glei” Mime, von Loge Motiven, aljo geborgten, gezwickt 
und gezwadt. Verfluchte Wagnerei! 

Unmillfürli drängt fih mir der Fluch auf bie Lippen, wo immer 
ich diefen bei allen modernen Komponiften fo beliebten Dlotivenanleihen begegne. 
Arme Sänger! Armes Publitum! Und ich darf wohl auch binzufügen: 
Arme Komponiften! Haben Mozart, Beethoven, Gluck, Weber, Wagner 
ſo ... geliehen? 

Auch Frau Rappelkopf jagt mir mit ihrer Meinen Arie nichts. Sie 
ift furchtbar befcheiden in der Erfindung. Erſt das Finale wirkt durch das 
ausgezeichnete Enſemble von Sängern, Dirigenten und Regie. 

Luſtig und auch muſikaliſch hübſch beginnt ber zweite Alt. Der Fliegende 
Holländer mußte zwar vorübergehend eingreifen, da Salden ja zu fpinnen 
hat, aber die Szene, die hier vor der Hütte, ftatt, wie bei Raimund, in der 
Hätte fpielt, ift munter und geſund. Raimunds Köhlerfamilie iſts frei- 
































448 Die Zukunft. 


lich nit. Man fieht wohl Armuth, aber fein Elend, man Hört eine Kinder 
trommel, aber fieht nur ein Find, ftatt der vielen, die fidh in ber alten Pofk 
tummeln. Die ganze Kinderwirtbichaft, das Kind in der Wiege, die alte 
niefende Großmutter, bie Allen zur Laſt ift, der im Bett Tiegende bezechte Kohlen: 
brenner, Hund und Rage: Alles fehlt. Damit fehlt auch Das ganze jammer⸗ 
volle Elend, das Raimund mit fo entzüdender Kunft in ein Heiteres Gemant 
zu Heiden wußte. Bei Blech iſts auch fein Köhler, fonbern ein Tiſchler, 
der die Klarinette bläſt. Luſtig ift die Szene ja aud bei Raimund; mit 
welcher Macht aber wirkt fie auf den tiefer fühlenden Zufchauer! Der immer 
wiederkehrende Refrain des alten Liedes: „So eb’ denn wohl, Da file 
Haus!“ Fingt dem alten Nappeltopf fo vorwurfsvoll mahnend and Her, 
daß er noch zorniger, noch wilder wird als vorher. Auch davon fpüreft Du 
hier nicht einen Hauch. Hie Raimund mit Elend und Herz, — hie Yld 
mit Klarinette und Trommelſchlag. 
Was Nappelfopf und der Alpenfönig zu fingen haben, ift gut angelegt 
und enthält manches Schöne. Beſonders gut gelungen fand ich das Duen 
ber beiden Männer. Daß Rappellopf, nahdem ihn der Alpenkönig einge 
fchläfert hat, im Traum nochmals zu fingen anhebt, empfand ich als Ueberfluß 
Mind, Eiger und Jungfrau fahen, herrlich in Gold, Burpur, Dämmers 
Iuft und Silber getaucht, auf uns herab. Dazu hat Blech eine fehr om 
pathifche Phantafie mit fehr effeftvollen Klangwirkungen gefchaffen, die da} 
Ohr des Zuhdrers angenehm berühren und das Bild fchliefen. Wie aber 
die Öfterreichifch redende Köhlerfamilie in die Gegend kam, ift mir mid 
ganz Kar geworben. 
Der Doppelgänger Rappelkopfs im legten Bilde ift muſikaliſch beile, 
weil knapper gezeichnet als fein Original im zweiten. Kurz vor dem Schlaf 
hebt fich ein Duett Habakuls mit feiner Liebſten heraus, das, in ber Modu⸗ 
lation reizvoll und fehr gefchidt gemacht, mit den unvermittelten Kreuz⸗ und 
B-Sprüngen, dem Wechfel der Tonarten leider am den Operettenftil reift 
Das gefiel dem Bublitum am Meiften. 
Mein Gefammteindrud war: ich habe einen talentvollen Tomponiften 
tennen gelernt, der vorläufig noch in allen Stilen arbeitet, ohne einen 
rechten Zufammenhang zu finden, und dem noch nicht der Entfchluß gereif 
ift, welchem ber vielen Stile er fich ernfllich widmen will; ich habe ein Bel 
fennen gelernt, da8 in unübertreffliher Weife einftudirt und ausgeführt wat 
und mir hauptfächlich dadurch intereffant genug wurde, um mich noch nad 
träglich zu befchäftigen. Komponift und Werk aber find mir Raimund 
„Alpenkönig und Dienfchenfeind“, mit feiner öfterreichifchen Herzlichleit, feiner 
menschlichen Gemüthstiefe, Teider fchuldig geblieben. 
Grunewald. Lilli Lehmann. 


a 





Ein Traltat vom böfen Gewifſen. 449 


Ein Traftat vom böfen Bewifien. 
gi der vergoldbeten Armlehne des Präfidentenjefjels ſaß der Erſte Konjul, 


Napoleon Buonaparte, und zeritach mit feinem Federmeſſer in ärgerlichem 
Spiel bie Tijchdede, die wie etır grüner See mit zwei langen Buchten fi vor 
ihm ausbreitete. 

„Ich bitte, meine Herren“, fagte er mit dem frembartig harten Tonfall, 
den jeine Umgebung fürdtete, „bleiben wir bei der Aufgabe. Sie haben vor 
zwei Jahren für die Berathungen de Code Civil einige Arbeitluft mitgebradt; 
vielleicht, weil bie Begriffe Ihnen mehr Schwierigkeiten machten. Hier, beim 
Strafgeſetz, wird zu viel philoſophirt. Für ſechstauſend Franken im Jahr halte 
ich Ihnen einen Profeſſor, der zweimal wöchentlich alle Syſteme der Philoſophie 
widerlegt und noch Zeit findet, ſeinem Verleger jedes Jahr ein Buch zu machen. 
Wir arbeiten nicht genug. Es iſt zwei Uhr und wir haben noch nicht einmal 
zehn Paragraphen erledigt.“ 

Die ſechzehn Herren, die in neuen Uniformen an dem Hufeiſentiſch ſaßen, 
fingen an, müde zu werden. Seit acht Uhr früh dauerte die Sitzung. Alle 
Slasthüren des Saales waren geöffnet, aber die Juliſonne brannte auf die gelben 
Marquiſen und die Zuft roch nad) Papier und Leber. 

„Auf Ihre Diftinktionen von Schuld und Sühne laſſe ich mich nicht ein“, 
fuhr der Konful fort. „Die Strafe ift dazu ba, die Zahl ber Verbrechen zu 
mindern. Deshalb muß fie richtig abgewogen und qualifizirt fein. Das, was 
Sie das Schuldbewußtſein des Verbrechers oder gar fein Sühnebebürfniß nennen, 
ift mir gleichgiltig.. Genug, wenn er weiß, daß ein Rückfall ihm ernfte Ver- 
legenheiten bringen kann. Maleville kennt meine Unfichten über Schuld und 
Schuldbewußtjein. Er mag Ihnen, wenn Sie wollen, ein paar Gedanken ent» 
wideln, während ich Sie auf zwei Minuten verlaffe. Sie hörten, daß Augereau 
fi) um Zwölf melden ließ. Mir ift, als bielte ex fi) noch immer im Neben- 
zimmer auf; diefer Menſch Hat die Leidenfchaft des Wartens.“ 

Alsbald erhob ſich am Enbe der rechten Tiſchbucht die hohe Geftalt bes 
Herrn von Dtaleville in dunkler Civiluniform, deren goldgeſtickter Kragen Hals 
und Kinn wie eine Bandage einzwängte. Ex verneigte fih zuerſt nach dem Platz 
des Konjuls bin, dann nad dem Linken Flügel; dabei führte er mit einer ab- 
gerundeten Bewegung ben Arm zur halben Höhe des Cherlörpers. 

„Der Befehl des Konſuls“, jagte er, „feinen Gedanken als Dolmetich zu 
bienen, feßt mich in Berlegenheit. Selbft unter der Dedung feiner Autorität 
fühle ich mich beunruhigt, ja, eingefhüchtert in einer Berfammlung, die an bie 
Meiſterſchaft feiner Erklärungen und Beweiſe gewöhnt ift.“ 

Diefe Worte fonnte Napoleon noch vernehmen; er hatte mit haftigen Schritten 
den Saal durchmeſſen und verſchwand nun Binter einer grüngoldenen Flügel⸗ 
thür, deren Yüllungen mit Yadeln, Leitern und Lorberzweigen geſchmückt waren. 

„Unterftügen Sie mid, meine Herren“, fuhr der Redner fort, „durch die 
Erlaubniß, aller Theorie zu entjagen und ein Erlebniß zu erzählen, bas dem 


86, 


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450 | [Die Zukunſt. 


Konful einiges Intereſſe erweckt und, wie er zu verſichern bie Huld Hatte, ihm 
feine eigene Anſchauung vom Truge des Schuldbewußtſeins verſinnlicht Bat. 
* 


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Wenige Sabre vor ber Ummälzung, der wir unferen polttifden Zuftand ver⸗ 
banken, ftarb mein Vater. Mir, al3 dem älteren Sohn, hinterließ er, nad ber 
damaligen Sitte, feinen Landbeſitz, der leiber ſtark verjchuldet war, meinem 
Bruder eine fleine Rente und uns Beiden einen Namen, der in jener Zeit große 
Rechte und Pflichten in fi trug. Herlommen mehr ald Neigung wies nieinen 
Bruder auf dad Waffenhandwerk; unb fo diente er in Verfailles, in naher Um⸗ 
gebung des Königs. Der Anblid des zur Statiftentruppe fürftlidder Unterbals 
tungen degrabirten Heeres verbroß ihn und er träumte davon, der jungen Römer- 
republid, die jenſeits des Meeres fich erhob, feinen Arm zu leihen. 

Inzwiſchen kämpfte ih für mein Eigenthum. Wlte Brozefie wurden Be 
gliden, das Syftem ber gewiffenlofen Pächter und diebiſchen Intendanten vers 
worfen, hundert Beflerungen und Reformen eingeführt; und nad Jahren harter 
Arbeit ſah ich das Erbe entlaftet und fchließlich, duch meine Bermählung mit 
einer benachbarten Srundbefigerin, zu einem Umfang abgerundet ber in ber Ta- 
milie, fo weit bie Ueberlieferung reichte, nicht erhört war. 

In dieſer Zeit der Xhätigleit und des Gedeihens bejuchte mich mem Bruber, 
um Abſchied za nehmen. Nicht ohne Unruhe hatte ich die Begegnung erwartet, benn 
ic} erwog, daß der Kontraft zwiſchen dem heimathlichen Behagen und jeinent ei- 
genen Wanderjchicjal geeignet fein müfle, neuen Zipiefpalt in feiner Bruft entftehen 
zu laffen. Auch hatte meine Frau mir vertraut, er habe in ihrer frühen Mädchen⸗ 
zeit fie viel gejehen und mit allen Zeichen ſchüchterner Jugendneigung fi um 
fie bemüht. Ich fand ihn äußerlich gealtert, innerlich zwar wohl nicht ftiller, 
doch durch Selbitbeherrfhung gebändigt. Mich begrüßte er mit rückhaltloſer 
Herzlichfeit, meine Frau freundichaftlih und ohne Mitklingen eines Gefühles, 
das ich befürchtet Hatte; und jo war in geſchwiſterlichem Zuſammenſein bald alle 
Beſorgniß aufgelöft und gefchwunben.“ 

Bei dieſen Worten vernahm man im Nebengemad Stühlerüden und lautes 
Spreden. Wie unter einem Windhauch erichauerte das Kollegium, als im ber 
aufgerifjenen Thür der Konſul erigien, ſchnaufend, mit geröthetr Stirn, auf 
ber die bünne, vom Scheitel berabgeftrichene Haarfträhne klebte. 

© „Belehren Sie diefen General, meine Herren, wie viele Batterien wir 
auf den Forts von Wimereur haben! Gr weilt mir nad, daß es nicht mehr 
als jehs find... Bitte, äußern Sie fih, Perniden, der Sie als Statiftiler 
gelten wollen; oder, wenn Sie nichts wiflen, fo laufen Sie und ſchaffen Sie 
fihere Zahlen!” j 

Pernichon, ein fchwädlich grauer Ingenieur des Ponts et Chaussses, 
ber fi) einiger Kenntniſſe auf dem Gebiete des Verkehrsweſens rähmte, zur Zeit 
aber mit der Regelung des Gefängnißweſens betraut war, erwog eine Sekunde, 
ob er daran erinnern jolle, daß er mit Artillerie nicht das Mindefte zu thun 
babe. Mber unter dem Bann der Gewiffensangft ſchmolz ihm bie Rede zu einer 
murmelnden Lautfolge zuſammen und er beeilte fich, mit eirer Verbeugung ben 


‘ 


Ein Traktat vom böfen Gewiſſen. 451 


mächſten Ausgang zu erreichen, während bie golbbeichlagene Degenſcheide in großen 
Schwingungen ihm an die Abjäße fchlug. 


Rapoleons grünlich Ihimmernde Augen waren hinter ber Thlir verſchwun⸗ 
den, als Maleville, feines Unbehagens nicht ganz Meiſter, wieber zu reden begann. 

„Die accidentele Beklemmung“ fagte er, „in die des Konfuls Miß⸗ 
flimmung Einige von ung — um beim Thema zu bleiben: ſchuldlos — verjegt 
Hat, benube ich, um Ihre Theilnahme an dem Seelenzuftand zu heiſchen, den 
ih Ihnen darzuftellen wünjde... Ohne durch Steigerungen Ihre Spannung 
zu erweden, ſage id Ihnen: am Mbend des Tages, von bem ich Ihnen bes 
richtete, habe ich meinen Bruder getötet.‘ 

Hier machte der Erzähler eine kurze Pauſe und blidte mit gejchloflenen 
Lippen auf die Mappe aus Maroquinleder, bie vor ihm lag und die Aufſchrift 
Ministöre de Justice trug. Die Hochgezogenen Stirnen und leicht gehöhlten 
Wangen der Anwejenden waren ihm zugewandt. 

Maleville fuhr fort: „Wie foll ich Ihnen eine That motiviren, bie in 
Ser Sekunde Später mir fo unfaßbar war wie Ihnen? Mein Bruder Hatte in 
Baris viel im den Salons der großen Damen verkehrt, die Ihnen aus ben 
flebenziger Jahren exinnerli find. Bet diefen Bufetiören des Efprit galt ein 
geiliffenes Wort mehr als Beute ein Seefieg über England; und alle Pointen 
and aller Hohn galt dem Beftehenden, dem Herkommen, ber Autorität. 

Daß mein Bruder ſchon vor dem Tag der Baftille revolutionärer war 
als die Revolution felbft, konnte mir nicht entgehen, als ich ihn, vielleicht allzu 
lange, vielleicht auch allzu ſelbſtbewußt, durch Aecker, Forſten und Vorwerke des 
väterlichen Befitzes führte. Sein freundlich offenes Weſen kehrte fih in Miß—⸗ 
muth und Bitterkeit; und manches ſcharfe Wort wurde gewechſelt. Als er jedoch, 
ſeinem Offizierskleid zum Hohn, ſich rühmte, er ſelbſt werde nächſtens das Volk 
der Enterbten gegen die Ausbeuter führen helfen, da beging ich das Verbrechen, 
ihn des Neides, der Undankbarkeit, des Verrathes zu zeihen. 

Die folgenden Sekunden kann ich nicht ſchildern. Wie ich Schmerz und 
Schmach des Fauftſchlages im Antlitz brennen fühlte, wie ich zweimal mit dem 
Metalllnauf meines Rohres ausholte und ſchlug: in meiner Erinnerung Inäult 
#3 fi in eine unauflösbare Konvulſion zuſammen. Aber mit nüchterner Deut- 
lichkeit ſehe ich noch den lebenbigen Menſchen niederbrechen und in ber epilep- 
sich frampfhaften Stellung des gewaltſam Berendeten fi auf dem Boden ftreden. 

Sch blidte um mid. ES war ein entlegener Theil des Parkes, wo die 
Kieswege enden und Kleine überwachſene Pfade im Grün der Waldwieſen fi 
verlieren. In ber Nähe ftand von Väterzeiten ber als Jagddenkmal ein fteinerner 
Hirſch; dahinter lag ein Weiher. Es war neun Uhr abends. 

So mußte es fein, ſagte ih. Ich bin ſchuldlos. Ruchbar kann es nicht 
werden. Jetzt Ruhe und Ueberlegung! Da plößlich ftieg e3 in mir empor wie 
eine brennende Woge, die mir die Eingeweide hob, über meinem Kopf zuſammen⸗ 
ſchlug und alle Befinnung fortriß. Ich lag am Boden und grub Stirn und 
Bähne in ben Moraft des Weges. Ich wagte nicht mehr, den Toten anzubliden. 
Ich wagte nicht, ihm die Augen zu fchließen, — die Mugen, bie lachend und 


86° 


452 Die Zukunft. | 


weinend mir aus fernen Kindertagen vertraut waren. Ich wagte nicht, bie Hänbe 
zu berühren, die mich taufendmal begrüßt Hatten; bieje nachdenklichen Hände, 
beren Büge mir befreundet waren wie liebe Geſichter. Mir graute, daS Haar 
von biejer feingeaderten Schläfe zu ftreichen, die von meinem Schlage blutete 
Ein Theil meines Leibes, meines Lebens lag neben mir, — bejudelt, vernichtet, 
ber Fäulniß hingeworfen durch die That meiner Hände. 

Nie Hatte ich bis zu diefer Stunde ben Namen bed Herrn angerufen als 
zu frivolen Betheuerungen; jet jchrie, nein, heulte meine ganze Seele empor: 
Gott, Du mußt biefe Schuld von mir nehmen, Du mußt die Blut von mir 
waſchen, Du mußt mich retten!“ 

Malevilles mit ſtarker Empfindung geſprochene Worte ſchienen von bem 
Wänden des fchweigenden Saales widerzuhallen. Niemand rährte ih. Kine 
furze, etwas unbehagliche Bewegung der Hörer wurde erſt merkbar, als er fait 
unvermittelt fi in den höfiſchen Ton der Rede zurädfand. 

„Sch hoffe, meine Herren, daß ich Ihre Geduld nicht mißbrauchte, indreur 
ih Ihnen dies Erlebniß, das als Traun endete, in den Formen der Wirklich: 
feit vortrug. Ich fage: ‚endete‘; denn es giebt Augenblide, wo e3 mid; tröftet, 
an Wunder zu glauben. Und warum follte der allmäcjtige Gott, der über 
Gegenwart und Zukunft Herr ift, nicht die Gewalt haben, bie Maſchen bes Ge⸗ 
ſchehenen aufzulöfen, die Zeit rüdwärts zu zwingen, Vergangenes ungejchehen 
zu maden? Es giebt Erlebniffe, die man zu träumen glaubt, und wiederum; 
in allen Träumen weht ein zarter Schleier Über den Dingen, ben man nad 
dein Erwachen erft erinnernd wahrnimmt: diefer Traum batte nichts Traum 
baftes; er trug alle Merkmale bes Lebens.“ Kenlgersn oh 

Hier unterbrad ben Sprecer ein Mitglied ber Berfammlung, der Ge 
neralprofurator: „Und wo war, wenn ich fragen darf, Ihr Herr Bruber, als 
diejes zweifelhafte Ereigniß fich zutrug?“ 

„Ohne mein Wifjen‘‘, erwiderte Maleville, „war er kurze Zeit vorher 
thatfächlih nah Amerika ausgewandert. Er erlag ſpäter in New- Orleans dem 
Fieber. Den genauen Beitpunft feines Todes babe ich niemals feftzuftellen 
vermocht ... Uber bleiben wir bei ber Sache, meine Herren! Die Frage, ob 
Wunder oder Wirklichkeit, Traum oder That, bat ung bier nicht zu beichäftigen, 
Wir fpraden vom Schuldbewußtfein. Meine Schuld war wirklich, denn ich hatte 
die That mit allen Faſern meiner Nerven begangen, mit aller NRothwendigfeit 
meiner Natur, mit allem Bewußtſein meiner Seele. Mein Geift fonnte nit 
wader fein, al3 er war; und ftünde ich, ohne dieſe ſchreckliche Erfahrung, noch 
einmal auf dem felben led: wachend oder träumend, ich fürdite, ich beginge 
fie wieder. 

Das, wie mir fcheint, eigentlich Wunderbare und dennoch Natürliche des 
Borganges will ich erit jebt erwähnen. So lange ich die Wirklichkeit mei 
That vor mir fah, war meine Verzweiflung tiefer, als Menſchen ermeffen förme 
als ich erwachte, fühlte ih mich frei von allem Schuldbewußtfein, rein m 
glücklich. Niemals wieder habe ich biefes Verbrechen bereut; niemals mehr *- 
es mir auch nur eine Stunde lang Sorge gemacht. Es bleibt ein Traum; 
Borfall, meiner Verantwortung fo fremd, als wäre er dem Fremdeſten wid, 
fahren, Meine Seele, die diefe Ausgeburt erzeugt hat, leugnet alle Mutterſche 


Ein Traktat vom böfen Gewiſſen. | 463 


und ſtolzirt in ihrer Jungfräulichkeit. Meine Schuld beitand, — und mein 
Gewiſſen fümmerte ih nicht darum. 

Sch verfage mir, biefe Seelenerſcheinung theoretiſch zu erläutern, benn 
ber Konful bat, wie Sie gemerkt haben werden, die Aubienz beendet. Die Dar⸗ 
Iegung, bie den Beitraum feiner Abweſenheit auszufüllen beftimmt war, Hätte 
er Ihnen wahrjcheinlich kürzer, ficherlich überzeugender vorgeführt.‘ 


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In der That hatte die ovale Klinke der grüngolden lackirten Thür ſich 
ſchon bewegt und ber Flügel eine winzige Spalte geöffnet. Jetzt wurde Er, dem 
die Schlußmworte galten, fihibar. Mit breiten Schritten fpazirte er, fichtlich in 
guter Laune, über die Yorberfränze und fliegenden Adler bes Teppichs nad) feinem 
Sit und fagte, indem er den Kopf auf die Seite neigte und die Hände in bie Taſchen 
verſenkte: „Ich Hoffe, daß Maleville Sie gut unterhalten bat. Wenn bier mit 
Traumdeutung gedient ift, jo hätte ich vielleicht Darauf verzichtet, Ihnen Geſchichten 
zu erzählen, und Ste nur auf eine fehr triviale Erfahrung verwiefen, die Jeder 
von Ihnen ſchon gemacht haben wird. Sie träumen, daß Sie ſich wegen einer 
fteafbaren That zu verantworten haben. Sie fuchen fi} der Verantwortung zu 
entziehen. Man verfolgt Sie. Man holt Sie ein und verhört Sie. Sie leugnen, 
führen Wahrfcheinlichfeiten an, verfuchen, ein Alibt zu Eonftruiren. Sie erbichten 
Thatſachen, treten pſychologiſche Beweiſe an, beſchuldigen Andere, trachten, das 
Verfahren zu verſchleppen, hoffen auf Zufälle, ſuchen Zeugen irr zu machen. 
Sie ſchließen mit einem glänzenden Plaidoyer, — und werden verurtheilt. Während 
der ganzen Zeit haben Sie von Ihrem Gewiſſen, Ihrem Schuldbewußtſein, 
Ihrer Reue und Zerknirſchung ſchwerere Martyrien erlitten als von der Chicane 
des Verfahrens und der Härte der Strafe. 

Sie erwachen: und was bemerfen Sie? Sie haben Ihre Verfolgung, 
Ihren Prozeb und Ihre Berurtgeilung geträumt. Ihr Verbrechen haben Sie 
nicht geträumt. Es war eine Borausjegung der Komoedie, aber eine Voraus⸗ 
fegung, die Sie nicht geprüft haben. ine falfhe Vorausfegung. Und body 
fühlten Sie ſich ſchuldig, waren Sie ſchuldig fo gut wie Einer, der das Ber- 
gnügen oder den Nugen des Bergehens gekoſtet hatte. Sie hatten bie Indigeſtion 
ohne Mahlzeit, den Katzenjammer ohne Rauſch. Ahr Schuldbemwußtfein war 
entftanden, wie ein Juden der Haut, ein Schmerz im Singer, — ohne fitt- 
lihen Anlaß. 

... Genug ber Philofophie, meine Herren; wir Haben zu arbeiten. Ich 
wünfde, daß Ste Schuld und Strafe ohne metaphyſiſche Nebengedanken be- 
trachten, fozufagen als Spielregeln. Das Schuldbewußtfein ift eine Zwangs⸗ 
porftellung, die man fi durch unbedachtes Handeln ober durch Unvorſichtigkeit 
zuzieht, und die Strafe ift feine Sühne, feine Rache, Fein Sakrament, fondern 
einfach eine umgekehrte Belohnung, — weiter nichts. 

Und jegt, bitte ich, zum nächſten Paragraphen.“ 


Ernſt Rainer. 


ab⸗ Die Zuhuſ. 


Selbſtanzeigen. 
Der König aller Sünder, Verlag von Arel Juncker, 1903. 

... Und fo fehide ih Shnen denn das Manuſkript. Mit eigenartigem | 
Empfinden lege ich bie Feder aus der Hand. Zum Ichten Mal. Wohl mit er 
leihtertem Aufathmen, wie von einem Alben befreit, der mich lange geplagt 
bat. Zugleich aber mit dem Gefühl des Bebauerns, liebgeworbene Geſchoͤpft 
entbebren zu müſſen. Wie man aus einem Kreiſe werther Menſchen ſcheidet, 
der und lange Sinn und Herz beglüdt Bat. Man fieht Kinder feiner Phantafie 
ja, alö lebten fie wirklid. Als brauchte man nur wenige Echritte zu wandern, 
um fie in Fleiſch und Blut vor Augen zu haben. Und leben fie benn nid 
auch wirklich? Mir lebt Junker Otto, für mich ſtirbt König Chriltopger am 
liebte Cara. Ich möchte darauf ſchwören, daß fie genau fo aus geſehen haben 
wie ich fie darftelle. Die Ausfägigen haben den Kirchgang gemacht und mi 
ben furchtbaren Waffen ihrer entjeglichen Krankheit dad Schloß Kalundber 
erobert. Der junge Königsſohn liebt im alten Paris bie jungfräulicde Buhlerin, 
die zu nächtlicher Stunde Asmodäus heimſucht, und der Königsiproß ſelbſt wind 
bas Opfer des Böſen Geiftes. Als Sühner urpäterlider Schuld pilgert der 
Junker ind Selobte Land; daß er Ordensritter wurde, ift ja biftorifch vwerbärgt 
Unter dem Oelbaum fieht er im Garten von Gethfemane verzädten Auges der 
Deiland und nimmt, als vom Erlöjer Auserwählter, die ſchwere Laft bes Kreuze 
auf fih. Mit ihm betritt die Verderben bringende Natte die heimiſche Erde 
und verpflanzt „die Geißel Gottes“, die verherenbe Veit aus dem Morgenland, 
auf Zütlands Boden. Er aber lebt und duldet fortan unter ben Aermiten der 
Armen umd erleidet für fie den erlöfenden, fühnenden Tod... Heißt Des, 
„ſchaffen“? Mitfühlen, nachleben, laufchen, was die Geifter Berftorbener im Abend 
wehen ung zuflüftern. Hören, jehen, fühlen. Biel mehr vermag auch ber Künftler 
nicht. Durch medanifche Konftruktion und Kombination entfteht fein Lebendige? 
Kunſtwerk. Wer künftlerifch ſchafft, kann nur ſchauen, belaufchen, errathen, was 
aus uraltem Erdreich die Geiſter Berftorbener in die Nachtluft emporfläftern, nut, 
auf feine befondere Weife, wiedergeben, was ſchon geſchaffen war und ſchon gelebt 

Kopenhagen. Lauridd Bruun. 


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Der Fenriswolf. Ein öfterreichifcher Provinzroman. Hermann weemam 
Nachfolger in Leipzig. 

In meinem Roman „Die Waclawbude“, ben ich vor einem Jahr an 
dieſer Stelle anzeigen durfte, habe ich verſucht, ein Stüd öfterreichifchen Em 
dententhums zu zeichnen. Ein Stüd alademifchen Lebens, das etwas Oeſtliche 
an fig hat, das bem Leben an den deutfchen Univerfitäten nur in Aeußerlich 
feiten ähnelt. Nun babe ich ein Scidfal zu geftalten verjucht, das an dem 
ſpezifiſchen Stumpffinn der öfterreichifchen Provinz zu Grunde geht, ein Schrift⸗ 
fteller: und Menſchenſchickſal. Und wieder drängte ſich mir eine traurige Unter 
ſcheidung auf. Schildburg und Krähwinkel find mit Nedt in deutſchen Landen 
zu fucden und zu finden. Uber es fann im ganzen Deutſchen Reich fein ſo 
gottverlafienes Neft geben wie diejes öſterreichiſche Provinzſtädtchen Rohrburz. 
Die Neicheibee verbindet noch immer jelbft die letzte Kleinftadt in Hinterpom⸗ 


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Selbſtanzeigen. 455 


mern mit dem Ganzen; und trotz allen Kursſchwankungen und Theaterkünſten 
iſt doch eine verſchämte und faſt zornige Liebe da. Vielleicht am Meiſten bei 
Denen, die am Meiſten erzürnt ſcheinen. Das fehlt in Oeſterreich. Niemand 
liebt dieſes zerrüttete Reich, auf deſſen Tod jede Nation und jedes Natidnchen 
mit der Gier zitternder Erben wartet. Kein großer Gedanke, kein heißer Haß, 
keine wilde Liebe erhebt ſich aus dem Sumpf der Provinz. Alles dämmert da⸗ 


hin in einem Druck, ber alles Geiſtige ertötet, alles Funkelnde ausloſcht. Die 


Bürger von Rohrburg find Peſſimiſten, ohne es ſich einzugeſtehen. Cyniker, 
ohne es zuzugeben. Menſchen, die nichts mehr zu hoffen haben. Ihre Wünſche 
find ohne Kraft und ſelbſt ihr Born glimmt nur leiſe dahin. An dieſem Stumpf 
ſinn, an dieſer troſtloſen Verödung ſtirbt ein Menſch. Die neue Zeit kommt 
verſpätet und zögernd in dieſe Stadt und erweckt hier den Sturm in den Herzen 
von einigen jungen Leuten, den ſelben Sturm, der draußen ſchon verbrauſt iſt. 
Sie möchten gern die Stadt erwecken, die fie lieben. Aber hier iſt totes Waſſer. 
Die Wellen antworten dem Wind nicht, — und ſo zieht der Sturm vorüber. Die 
Stadt ſchläft wie zuvor... Ich möchte die großen Errungenſchaften der neuen 
Zeit, alle Künſte der Technik in meiner großen Liebe zur Kunft vereinigen und 
den Roman unjerer Zeit ſchaffen, einen Roman, ber nicht dem Naturalismus 
angehört noch der Neuromantif oder dein Symboliamus, fondern allen zuſammen. 
Und ich möchte in einer Reihe von Romanen bas Defterreih meiner Beit ſchil⸗ 
bern, dieſes intereffante, vermorſchende und zerfallende Reich. 

Brünn. . Karl Hans Strobl. 
Juſt Zwölf. Yankee-Schnurren und Anderes. Concordia, Deutfche Ber- 

lagsanftalt. Berlin. 


Mer eine Selbjtanzeige fchreibt, fol vor allen Dingen erklären, was er 
mit feinem Buch will. Das tft fehr bald erlärt. Zunächſt wollte ich die zwölf 
mehr oder minder fröhlichen Sächelchen, die meilt in der „Jugend“ erjchienen 
find, aud noch anderen Menſchen zugänglich machen und bamit einige beitere 
Uugenblide bereiten. Nebelhafter Tieffinn oder verzwickte Seelenprobleme ſtecken 
in den Erzählungen nit. Ich geitehe ganz cyniſch, daß ich die Geſchichtlein 
allefammt aus dem Leben abgeichrieben habe; freilich Hatte ich fie eben auf meine 
eigene Urt geiehen und innerlich verarbeitet. Wer durchaus auch hinter dieſen 
Kleinigkeiten Etwas fuchen muß, mag, wenn e8 ibm Spaß macht, die uralte 
Wahrheit darin finden, daß Tragik und Komik nicht Feinde, ſondern Geſchwiſter 
find und in dem jelben Haufe wohnen. Was ich fonft noch wollte? Meiner ge 
treuen Kleinen Schreibmafdginiftin (Aha: jet wirds pilant!) eine Freude bereiten, 
da fie nun einmal durchaus die Sachen in Buchform haben wollte. So find bie 
Weiber. Sie wollen immer Alles hübſch bei einander Haben, mit einem roſa Bänd⸗ 
hen drum. Und drittens — entſetzet Euch tugendfam, Ihr Kameraden mit dem 
idealen Heiligengewerbefchein —, drittens wollte ich als nothleidender Literarier 
mit dem Buch Geld ‚machen‘, fo viel wie möglich; denn weder ftehe ich jenfeits 
von Mark und Pfennig noch thue ih, als ob ich jo ftünde. Das tft Alles. er 
mid liebt, Der kaufe mich! 


New Hort. Henry F. Urban. 


DR 





456 Die Zukunft. . 





Danfemann. 


ach ſechsundvierzig Fahren raftlofer Thätigkeit für die Diskontogeſellſchaft if 
VB Aolf von Hanfemann ins Grab gefliegen. Sein Leib war kaum erlaltet, 

vom Banfgebäude wehte die Fahne noch halbmaft: und fchon wurde im Börſen⸗ 
faal auf dem Diskontokommandit⸗Markt ein Freudentanz aufgeführt. Was feit vier 
Jahren nicht mehr gelingen wollte, wurde jett, an der Bahre Hanjemanns, Er. 
eigniß: der Kurs flieg über 200. Ein Hägliches Schaufpiel. Bor die Familie, bie 
Finanzwelt, das Bolt trat man mit der Miene tiefen Schmerzes über ben „ımer- 
ſetzlichen“ Verluſt; und biefe Trauergrimaffe wurde auf der Stelle vom erfien Blid 
auf den Kurszettel Rügen geftraft. Nobel wars nicht. Ein wahres Glück für biefe 
lachenden Hinterbliebenen, daß feiner von ihnen an ein Senfeits glaubt; fonf müßten 
fie bei dem Gedanken an das Wiederfehen in einer anderen Welt doch ein Bischen 
gittern. Bor dem Lebenden haben fie Alle gezittert; jebt, da ihm der Mund für immer 
gefchloffen, der Arm für immer erlahmt ift, athmen fie auf und fühlen fich. 

Hanſemanns Großvater war ein Prediger. Bon ihm hatte der Enkel vielleicht die 
Sucht geerbt, die Menſchen zu beffern und zu belehren. Das gelang wohl nicht immer; 
jebenfall8 aber wußte er den Leuten zu imponiren. Wie zu einem Seelſorger, je 
famen fie zu ihm, um fi in Nöthen Rath zu holen. Und wenn fie nicht raid 
genug famen, fuchte er felbft fie auf. Mit gewöhnlichen Sterbliden gab er fid 
freili nie ab. Er hatte eine Gemeinde Ausermwählter, in bie nur Mächtige, haupt- 
ſächlich die Lenker von Staatsgejchiden, Einlaß fanden. In ihnen fah er feine Heerde, 
über die ein höherer Wille ihm das Hirtenamt verliehen habe. ALS der Norddeutſche 
Bund 1870 von dem ihm bewilligten Kriegskredit zunähft 100 Millionen Thaler 
durch eine fünfprogentige Nentenanleihe auf dem für Deutfchland noch ungewöhn- 
lichen Wege einer direften Bollszeichnung zu befchaffen fuchte, wurde Adolf Hanſemann 
vom Yinanzminifter zu Rath gezogen. Das Antereffe ber Distontogefellichaft murßte 
bei diefer Unterredung fchmweigen; denn eine birefte Zeichnung fchloß jeden Ber- 
mittlergemwinn der Banken aus. Trotzdem legte fi Hanſemann mit der ganzen 
Willenskraft, deren er fähig war, ins Zeug, um den Minifter zu belehren. Ein⸗ 
bringlic) warnte er, ben Emiffionturs über 85 zu wählen, weil fonft ein Mißerfolg 
zu befürchten fei. Der Minifter aber wollte nicht bören und wählte den Kurs 
von 88. Solchem Ungehorjam folgte die Strafe der Borfehung denn auch auf dem Fuße. 
Die Emiffion war ein Fiasko: nur 68 Millionen wurden gezeichnet. Reuig lehrte 
der Minifter beim nächften Geldbedarf in die Hanfemann-Heerde zurüd; er erbat 
die nöthigen Mittel von Adolfs Gnade und ward für diefe bußfertige Demuth reichlich be» 
lohnt. Als 1879 angefehene Berather der preußifchen Regirung empfablen, dem 
ſchwächlichen Markte der heimifchen Konfols dadurch aufzuhelfen, daß fie auch mit 
fremden Texten verfehen und ihre Zinfen in fremder Währung an ausländifche 
Pläten zahlbar gemacht würden, trat Hanfemann wieder mit einem Privatiſſimu⸗ 
dazwifchen und beftand darauf, daß diefer Math unbeachtet bleibe. Diesmal fand 
bei der Regirung williges Gehör. Seine Oppofition war aber faum fo ſehr mt 
Sache wie in dem Gefühl der Sendung begründet, zu der er fih berufen fühl 
Nur er hatte den Regirenden den Weg des Heiles zu weifen, er ganz allein. Gpäı 
im September 1900, al8 er zur Unterftügung des Neichsfredites bas Ausland $ 





Hanſemann. 457 


anzog, als er 80 Millionen Mark deutſcher Schatzanweiſungen an das new⸗yorker 
Bankhaus Kuhn, Loeb & Co. begeben ließ, war dieſer Schritt natürlich wohlgethan, 
wie jeder, ben er that. Daß die Banken bei den preußifchen und Meichgemiffionen 
in den achtziger Jahren umgangen wurben, empfand er als eine ſchroffe Berlegung 
feiner priefterlichen Hoheitrechte und war nie zur Vergebung folcher Sünde geftimmt. 
Im Anfang der neunziger Jahre wagte in Oeſterreich ein kluger Finanzminifter, 
das ſchon längft fpruchreif gemordene Problem der Valutaregulirung anzupaden. 
Sofort ift Hanfemann mit einem Gutachten auf dem Plan und redet fich ein, die 
ganze Enquete, die dann in Wien unter Betheiligung der beften Köpfe der Monarchie 
veranftaltet wird, bringe im Grunde nichts als eine Beftätigung, höchitens eine Er- 
gänzung Deffen, was er ſchon ex cathedra verkündet hat und woran nur Ketzer 
noch frevelnd rütteln Tönnten. In Petersburg, wohin ibn 1886 die Anleihe 
gefchäfte der ruſſiſchen Suüdweſtbahnen und der Wladilamlasbahn geführt hatten, 
ſucht er Bunge, den ruffiihen Finanzminifter, auf und verkündet ihm als Evan- 
gelium die Konverfion der ruffifchen Staatsanleihen. Eine längere Denlſchrift folgt. 
Bunge aber blieb ein flörriger Heide und Herr von Hanfemann erlebte den Schmerz, 
daß erſt die Nachfolger Bunges fich betehren ließen, als die parifer Rothſchilds ihnen 
nachdrucklich zugeredet hatten. Selbft den Franzoſen bot Hanfemann feine Seel- 
forgerdienfte an; miſſionariſcher — und emifftonarifcher — Eifer ift ja an nationale 
Borurtheile nicht gebunden. Bor der Emiffion des zweiten Milliardenbetrages, den 
Frankreich nach dem Frankfurter Frieden brauchte, legte Hanſemann perjönlich dem 
Präfidenten und dem Finanzminiſter der britten Republik einen Plan vor, der durch 
eine internationale Realgarantie für die Bezahlung der franzöfifchen Sriegsent- 
[hädigung bie Bertheilung der Anleihe auf längere Zeiträume ermöglichen follte. 
Aud mit diefer mwohlgemeinten Belehrung drang er nicht durch, nahm aber das 
erhebende Bewußtfein heim, feine Pflicht gethan und wenigftens ben Verſuch einer 
Belehrung gemacht zu haben. Daß Argentinien fo verftodt war, nicht zu hören, 
als er es vor der allzu rafchen Vermehrung des Papiergeldes warnte, bereitete feinem 
Geelforgerherzen befonderen Schmerz, da er ſich für diefe Undankbaren ziemlich weit 
vorgewagt hatte und auf feine Empfehlung aus Deutfchland fo mande Million 
binübergewandert war. Das größte Leid aber that England ihm an. Die Briten 
leiften ja ſelbſt Beträchtliches auf dem Gebiete der Belehrung; gerade deshalb viel 
leicht war ihnen der Emiffionar aus Deutſchland nicht willfonmen. Diefer Beffer- 
wiffer, der die ganze Welt belehren wollte, wurde ihnen läftig, weil er ihnen allzu 
ähnlich war. So oft Hanfemann in die Lage fam, in England perfönlidh zu inter- 
beniren, gab es einen harten Zufammenftoß. Sagte er in dem englifch -deutfchen 
Komitee, das mit Argentinien über die Megelung der Schuld unterhandelte: Grün, 
fo wollten die Engländer Blau. Sagte er während der Berathungen über eine 
engliſch⸗deutſche Kooperation bei chineſiſchen Emiffionen: Blau, fo wollten die Eng 
länder Grün. Die London» & Weftminfter-Bant, mit der er im November 1870 
wegen ber Uebernahme der 17 Millionen Thaler Schatzanweiſungen paftiren wollte, 
trat bald nach Eröffnung ber Konferenzen von der Sache zurüd und Hanfemann 
mußte am Ende noch froh fein, einen Erjat in einem anderen londoner Inflitut zu finden, 
in dem das deutfche Element überwog. ine ähnliche Erfahrung hatte ex fchon 
giei Jahre vorher gemacht, als er dem londoner Haufe Baring vergebens darzu⸗ 
legen fuchte, daß es Unrecht thue, die Uebernahme von Köln» Mindener- Priorität" 


455 Die Zukunft. 


sbligationen zu verfäumen. Barings lehnten dankend ab. Gerade biefe mihglädte 
Werbung bei Barings erinnert übrigens daran, daß Adolf von Hanfemam meh 
als einmal auch erfahren mußte, wie wenig det Prophet in feinem Baterland gt 
Als die Abfage der Firma Baring bewies, daß die 200 Millionen Thaler, die zur 
Erweiterung und Berbefferung des preußiſchen Eifenbahnnetes dringend gebraudt 
wurden, im Ausland nicht zu finden waren, verfaßte Hanſemann wieder, wie er 
fo gern that, eine Denkichrift, diesmal zum Frommen und zur Erleuchtung bet 
eigenen Megirung, der er zeigte, daß eine Losanleihe die einzige Rettung für Deutidr 
land fein würde. Die Regierung war bereit, diefem Rath zu folgen. Die öfent 
liche Meinung aber erllärte, verblendet, wie fie nım einmal zu fein pflegt, das Pre 
jet für ein Werk des Teufels und zwang das Minifterium, feine Zufage zu wider 
rufen. Bald mußte Hanfemann, zu feinem Schmerz, dann erleben, baß feine Idee 
vom Baron Hirfch verwirklicht wurde, deffen Türkenlofe aud) in Deufchland reifen 
den Abfat fanden. Nicht minder fehnöde wurde Hanfemann in der Heimath mie 
gefpielt, als er den preußifchen Behörden den Plan einer über Potsbam nad; Lehrte 
führenden Bahn empfahl. So hatte er mancherlei Leid durchzumachen. Dod ohnt 
Maͤrtyrerkrone ift ein rechtes Mifftonarleben ja nicht vollendet zu benfen. 

Das Bemußtfein, als Pfadfinder in die Welt gefandt zu fein, ließ Harfe 
mann an alle größeren Aktionen mit einem gewiffen Fanatismus berantreten, der 
ibm auch über Mißerfolge hinweghalf. Priefter rechnen fich ſtets zu ben Reinen, 
denen Alles rein ift; und Adolf von Hanfemann hat fi im Innern immer ald 
Prieſter gefühlt. Ex durfte beide Hände auf die Wirthſchaft Strousbergs legen, 
denn er war berufen, die 1700 Kilometer” deutfcher Eifenbahnen, bie der genialiſche 
Doktor und Bauunternehmer mit einem Wuft von Machenſchaften fait erdrüdt hatie, 
wieder zu Leben und Wohlftand zu erweden. Er durfte aud) in Rumänien Stumb 
berg8 Erbe werden, auch dort Vorfehung fpielen, — mochte das deutſche Kapital 
auch dabei biuten. Er durfte, felbft wenn für die deutſche Induſtrie feine einzige 
Beftellung abfiel, die Erbauung ber Kongobahn fördern, eigentlich überhaupt erh 
ermöglichen, denn er war auserwählt, die Welt mit dieſem Kulturwerk zu be 
glüden; c'est une des plus belles affaires du sidcle, rief ja der Baurath Lent 
einer der Akoluthen Hanfemanns aus, als er dem belgifchen Major Thys zu dem 
Gedanten gratulirte. Hanſemann durfte Venezuela und Braftlien mit deutſchen 
Gelde düngen, durfte die Erfparniffe feiner Landsleute nad Samoa, Neu⸗Guinea 
Kamerun und China tragen. Einmal freilich fcheint die Inſpiration fich micht eim 
geftellt zu haben: wegen einer Heinen Zinsdifferen; mit der Regirung ließ Hanfe 
mann die Arbeiten am Nord-Oftfee-Kanal ins Stoden gerathen. Daß er übrigen? 
auch für fich felbft zu forgen verftand, beweift das Gerücht, er habe in feiner letztda 
Lebenszeit ein Jahreseinkommen von mindeftens anderthalb Millionen gehabt. Diet 
Haushaltertalente unterfcheiden ihm nicht von anderen Mugen Prieftern: aud Pit 
der Neunte füllte feine Truhen und hielt ſich doch fir den frömmſten aller Statt 
halter Chriftt auf Erden; freilich war feine Erbin die römische Kirche. | 

Adolf von Hanfemann, der zwanzig Jahre lang faft alltäglich mit Mayer 
Karl von Rothſchild korrefpondirte, war durchaus nicht der wortlarge, weltfremd® 
Dann, den die Menge in ihm ſah. Er wollte nur nicht in die felbe Klaſſe ei 
gereiht und auf bie felbe Weife behandelt fein wie andere Bankdirektoren. Et 
zählte fich zu einer befonderen Gilde, war eine Klaffe ganz für ſich: ein Berufen“ 


0 — 





Hanſemann. 459 


wicht ein Berufsmann. Für ihn hatte auch eine Schlappe, wie bie mit der Dortmunder 
Union eriebte, keine Schreden; und Gewiffensbiffe quäften ihn nie. Für Dortmund 
entichädigte ihn Geljenkirchen, für Luther-Mafchinen Kruſchwitz Zuder. Er hätte 
die Dortmunder Union noch zehnmal fanirt, wenn es nöthig geworden wäre; denn 
es war im Innerfien überzeugt, daß Alles, was er berührte, fchließlich irgend einem 
Zwed dienen, irgend einer Sache zum Segen gereichen müſſe. Die Distontögejell- 
ſchaft war feine Diözeje, die ihn felbft reich machte, der aber auch er mit dem Inhalt . 
feiner Perſönlichkeit mehr zu geben glaubte, als irgend einem anderen Finanz 
inftitut der Welt befchieden jei. Das Tomlapitel, das nad) feinem Tode die Vers 
wefung das Bisthumes übernommen hat, kann wohl die Güter der Diözefe mehren, 
nicht aber Erſatz für die entſchwundene Perjönlichkeit bieten. Vielleicht wird die 
Diskontogeſellſchaft jetzt in rafcherem Tempo als bisher Geld verdienen; das indi⸗ 
viduellſte aller Bantinftitute aber iſt fie nun nicht mehr. Einen Tag, ein paar kurze 
Börfenfturiden wenigftend lonnte man der Trauer um Adolf von Hanfemann, den 
frommen Uebermenfchen, ver anfländigen Kepräfentation widmen. Die Epigonen, die 
gar nicht ermarten fonnten, Distontolommandit wieder auf 200 zu jehen, haben ein 
Bischen zu ſchnell gezeigt, daß fie nicht vom echten Stamm des fasten Mannes find. 
Dis, 


Sie find von anderem Stamm. Ber Wuchs zeigt e8 und der Saft. Aber eine 
Zrauerhauffe hätte auch Herr Adolfus von Hanfemann nicht verfchmäht, um zu beiveifen, 
daß nichts verändert, nur ein überzähliger Dann ins Grab geſunken fei. Denn mit 

- Sentimentalitäten hielt er ſich nie auf. Ein harter Herr. So fchien er; und wurde des⸗ 
halb ringsum gehaßt. Nichts Menſchliches war fihtbar. Ein Mann ohne Nerven, dent 
morgens Keiner anfab, daß er nachts — wie oft! — Über den Bodenfee geritten war. 
Der, als kümmere ihn die Sache nicht mehr als ein Borgang, deſſen Schauplatz ber 
Mars war, vernahm, daß in ſchmutzigen Spelulantenprozeſſen die gefchäftlichen Grundſätze 
der ehrwürdigen Distontogefelihaft zur Entlaftung der Angellagten herangezogen 
worden waren. Solches Gerede Tonnte ihm nicht ſchaden; warum fi alfo regen, 
erregen? Mitt äußerfter Verachtung blidte er auf alle Redſeligen herab. Parlamente 
oder Generalverfammlungen: immer das felbe Blech; wenn die Leute fih müde ge 
ſchimpft haben, hören fie auf und Alles bleibt, wie e8 war. Einen der Beften unter 
den Beredten, Johannes Miguel, hatte er in der Nähe gefehen; ein brauchbares Gehirn, 
aber durd) Nebnerei verdorben und für die Bank unnützlich. Nach der zweiten Flaſche 
Elflafen, das Bedürfniß, ins Blaue hinein zu phantafiren und von Attaches und anderen 
Kindern Beifall zu werben. Nichts für Hanfemann. Der buhlte nie um Bewunde⸗ 
rung, wollte weder bei Hof ein Röllchen fpielen noch à la Siemens in der Preſſe gefeiert 
werden. Er wußte, daß man ihn, wegen feiner barfchen Berfehrsart, den ladirten 
Hausknecht Schalt, ihm als Bankdeſpoten jede Geroiffenlofigkeit zutraute und auf feinen 
Tod lauerte, Mochten fie; fo lange er lebte, mußten fie doch vor ihm kriechen. Nicht als 
Direftor einer Kommanditgeſellſchaft fühlte er fich, fondern als felbfändigen Chef eines 
Bankhaufes, deſſen große und Heine Inſaſſen feinem Wink gehorchen mußten. Wenns Zeit 
war, beftellteer einen Beamten in fein Bureau und machte mitihm die Bilanz; ganzallein: 
die Anderen jahen fie früh genug und hatten ihre Bedenken gefälfigft zu unterdrüden. 
Dreinreden eines „Kollegen“? Das wäre noch ſchöner. Er hatte feine Kollegen; nur 
Werkzeuge, die er wählte und wieder wegwarf, fobald fie fich nicht als tauglich be» 


460 Die Zukunft. 


fortium geſchaffen, die Diskontogeſellſchaft in die Rothſchildgruppe gebracht, in Rumeniea 
nad) Strousbergs Zuſammenbruch das Aergſte verhütet, über die dortmunder Leiden, Ve 
nezuela, die pariſer Druckluftnoth immer wieder hinweggeholfen und bie einträgliche 5% 
fion mit der Norddeutſchen Bank durchgeſetzt? Sie oder er? Alſo ſollten fie auch der 
Weifung des Stärkeren folgen. Er war der Stärfere, wäre ohne den niederfächkicen 
Starrkopf vielleicht unter allen Bankherrſchern der Stärkfte gewefen. Taktik und Moral 
des Volitilers. Niemand hatte das Recht, ihn nach Mittel und Wegen zu fragen, wen 
bas Biel nur erreicht wurde. Natürlich fagt man Unverfländigen nicht flets die Wahr⸗ 
heit. Die Anderen thuns auch nicht, bequemen fi) aber zu der Grimaffe biederer Red 
lichkeit. Dazu gab Hanfemann fich nicht her. Popularität war ihm ein Gräuel. Die ihm 
näher famen, erzählten, feine beten Stunden feien die gewefen, wo es von allen Briten 
ſtürmte und Wuth um die alten Mauern feines Gefchäftshaufes heulte. Dann wuchs ifm 
die Kraft, er ruhte nicht, bis der Himmel wieder hell war, und ſchaute ſelbſt Doch jo finiter 
drein, als nahe erft jetzt das ſchwerſte Unwetter. Den Bater David Aberlebt das Bet, 
in Geldfachen höre die Gemüthlichleit auf; der Sohn hätte folde Banalität gar nich 
erft ausgeſprochen. Nur nichts, mas nad) Ethik und Moralfauce ſchmeckt! In manden 
Weſenszug müfjen aber die Beiden einander recht ähnlich gewefen fein. Kerr Bergen 
grün, der Biograph des Vaters, berichtet, ſchon als Handlungreifender habe Dani 
Hanjemann „das Gefühl gehabt, auf Grund einer überlegenen Einſicht und einer unfträ! 
lichen Abficht feinen Willen unbedingt durchjegen zu müffen“ ; und fpäter jagt er von ihm: 
„Mehr als er ſelbſt wollte, ahnte und zugeftehen mochte, verlangte er eine Unterordnung 
des fremden Willens unter den feinen, die felbfändige Charaktere nicht vertragen fonn- 
ten; oft wurde ihm eigenfinnige Rechthaberei vorgeworfen.” Das könnte auch von de 
Sohn gefagt fein. Freilich mag Adolf Hanfemann felten Köpfe gefunden Haben, die ihn 
imponirten. Mit Rothſchild, fogar mit dem mehr geiflig flinfen als genialen Bleichroedet 
fam er aus; und war auf feines Herzens Grunde doch fiher Antifemit. Eine Per 
fönlichkeit. "Daß er für Preußen und Deutfchland viel Nützliches gewirkt hat, ifl under 
freitbar; wahrſcheinlich that er8 nur, weil feine Individualität ſich eben auf dieſt 
Weiſe ausleben mußte, nicht, weil er ſann und trachtete, feinen Mitbürgern das Leben 
zu erleichtern. Ein Unzeitgemäßer. Heutzutage fol jeder öffentlich Tätige ein Dis 
hen Schaumſchläger fein; fonft ift er nicht beliebt. Hanfemann wars nidt. Die 
Grazien waren ihm fern geblieben und Niemand mochte an feinem Bufen ruhen. DA 
fohtign nicht an. Oderint, dum metuant... Sein Iettes Erlebnif war bie Berbrö- 
derung der Dresdener Bank mit dem Schaaffhaufenfchen Bankverein. Jetzt, riefen au 
der Börfe und in der Preſſe bie Kleinen, ift3 mit der Deutfchen Bank und der Diskonto⸗ 
gefellichaft aus; ohne zu fragen, ob der Bund halten wilde, ohne zu bedenken, daß zwei 
verbündete Banken nicht den hundertſten Theil der Koſten erſparen können, von denen 
zwei Induftriegefellichaften durch eine Fufion'entbitrdet werden. Da wurde der Unter 
ſchied der Generationen fihtbar. Hanfemann rührte fi nicht; wie manchen Gutmann 
batte er im Lauf der Jahre begraben! Die Börfenvertreter der anderen bedre‘“” 
Großmacht aber ärgerte jedes Getufchel; fie wurden ſchon nervös, als vor ihren Pl 

ein malelnder Witzbold rief: „Mittelbanfen alfo feit; Schlußnotiz 220...“ 


DR 


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währten. Herrifch wie “Jeder, der feine Sache verfteht. Mer hatte denn das Preußenlos 


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Bücherlifte. 461 


Bücherlifte. 


rin funfelnde Schäße wollte Gibbon für eine Bibliothek geben; denn nie 
tönne das Wehgefühl, Lebensſtunden nublos, genußlos vertrödelt zu haben, 
Den plagen, derBücher befite. Und vor dem Erweder des Römerreiches, lange auch 
vor Nivarol, der die Buchdruckerkunſt die Artillerie des Geiftes nannte, hatte Mon⸗ 
taigne die intelligenten beklagt, die ohne Bücher, ohne die werthuollite Munition 
den Kampf beftehen müßten, in den uns bas Leben zwinge; immer, ſprach der Weile, 
nehme er Bücher mit, auf jeden Weg, ſogar auf Feldzüge; und wenn er fie auch Wochen 
lang nicht anfehe, tröfte und jtärfe ihn doch die Gewißheit, Daß die guten, zuverläffigen 
Kameraden in jeder Minute erreichbar feien. Beim Nahen der Weihnacht muftert 
auch der Deutfche wohl die alten, wählt neue Kameraden; wieder jollen darum, wie 
feit Jahren, hier ein paar leſenswerthe Bücher empfohlen werden. Ein Katalog wirb 
nicht gegeben; nur, ohne Eyftematif, genannt, mas gerade dem Auge, dem Gedächtniß 
auftaudt. Eottas Jubiläumsausgabe der Werke Goethes (Herausgeber: Herr von der 
Hellen). Der neue Große Brodhaus. Machs „Analyfe der Empfindungen”. Bon 
Mauthners „Beiträgen zu einer Kritil ber Sprache” iſt der dritte Band („Bram 
matif und Logik”) erfchienen und das erfenntnißtheoretifche Werk damit einftweilen 
abgeichloffen. Bauls ‚Prinzipien der Sprachgeſchichte“. Neue Nietſchebaͤnde. Thoreaus 
„Walden“. Binders deutfche Ausgabeder Dunkelmännerbriefe. Lamprechts, Deutſche 
Geſchichte“ mit den drei Ergänzungbänden, bie unfere Tage behandeln. Die Volks⸗ 
ausgabe von Haedels „Welträthſeln“. Schallmayers „Bererbung und Ausleſe in 
Lebenslauf ber Volker.“ Nds „Unverfälfchter Sokrates“. Dyckerhoffs geſammelte 
Scriften. Sombarts „Moderner Kapitalismus" und, Deutſche Volkswirthſchaft im 
neunzehnten Jahrhundert.“ Weiningers, Geſchlecht und Charakter.’ Nordens „Papft» 
thum und Byzanz.“ Bölſches ‚ Schneegrube“, Landmanns „Napoleon“. Cohns „Ge⸗ 
müthserregungen und Krankheiten“. Spemanns , Goldenes Buch der Geſundheit“. 
Allgeyers „Anſelm Feuerbach“. Bodenhauſens deutſche Ausgabe der „Alten Meiſter“ 
von Fromentin. Schefflers ‚„Meunier“. Rilkes „Rodin“. „Die Kunſt des Jahres 19083* 
(aus Bruckmanns Verlagsanſtalt). Der erſte Jahrgang der von Heilbut heraus⸗ 
gegebenen illuſtrirten Monatſchrift Kunſt und Künſtler“. Die deutſche Ausgabe 
der „Madonna“ von Venturi. „Meine Geſangskunſt“ von Lilli Lehmann. Rein⸗ 
eckes „Meiſter der Tonkunſt“. „Im Vaterhaus“ von Alfred Freiherrn von Berger. 
Sverdrups „Neues Land; vier Jahre in arktiſchen Gebieten“. „Sm Herzen von 
Afien” von Sven von Hedin. Goldbergers „Land der unbegrenzten Möglichkeiten”. 
Hellens „Leben Shakeſpeares“. „Geſtalten und Gedanken“ von Georg Brandes. 
Byrons Tagebücher und Briefe" (Renaifjance- Bibliothel). Die bei Dieberich! 
erihienenen Ausgaben von Platons „Gaftmahl”, Marc Aurels „Selbitbetrad: 
tungen”, Emerſons „Vertreter der Menſchheit“ unddem „Buch Paragranum“ von Pa⸗ 
racelſus. Hegelers „Baftor Klinghammer“. Chriftallers „Proftitution des Geiftes“. 
Landauers „Macht und Mächte”, „Todesprediger”, „Stepfis und Myſtik“. Beyer 
leins „ena oder Sedan?“, „Das graue Neben” und „Bapfenftreih”. „Die Wacht 
am Rhein“ von Klara Viebig. „Menſchlichkeit“ von Emil Marriot. Yorimers „Briefe 
eines Dollarkönigs an feinen Sohn“. „Arbeit“ von Ilſe Frapan. Aerzte“ vor 
Heinrich von Schullern. „Dentwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters“ 
(herausgegeben von Paul Goehre). „Ein Sklave der Freiheit“ von Wilhelmine von 
Hillern. „Ein Königsbrama“ und „Die Leutevon Baldard“ von Richard Voß. „Leben . 


462 Die Zukunfi 


ohne Lärmen“ von Helene Voigt: Diederichd. „Briefe, bie ihn nit erreichten" (Don ber 
Baronin Heyfing). „Kunft“ und „Daatjes Hochzeit‘ von Augufte Hauſchner. „Der 
Ihmale Weg zum Glück“ und „Wititalienifche Novellen” von Paul Ernft. „No velles 
bes Lyrikers“ von Hugo Salus. „Die Jagd nach Liebe‘ und ‚Das Wunbderbare‘’ von 
Heinrig Mann. „Die Antifeminiften" von Hedwig Dohm. „Yalllandflizzen”, „Sub 
Bath“ und, Interieurs“ von Heijermans. „Liltane‘ von Henri Borel. ‚Was fiehft Du 
aber den Splitter . .” von Karl Larfen. Sherards „Oskar Wilde”. Strindbergs 
„Schwediſche Schickſale und Abentener.“ Derneuftedädhmann(. Geflägelte Worte” 
Die erſte ungekürzte deutſche Ausgabe von Gontſcharows „Oblomow.“ Korolentss 
„Gewohnlicher Fall". Wieds luſtige, Karlsbader Reiſe der leibhaftigen Bosheit.GSre 
goris „Schauſpielerſehnſucht. Marterſteigs „Schauſpieler.“ Bahrs „Dialog vom 
Tragiſchen“. „Ellen Oleſtjerne“ von ber Gräfin Reventlow. Bon Arno Del: 
„Lieder auf einer aͤlten Laute“ und der mit feinſter Ktunſt ausgeftattete Band „Uns 
Urgroßmutters Garten; ein Früblingsitrauß aus bem Rokoko“. „Der Spirgel* 
won Wilhelmvon Scholz. Webers Sammlung „Der deutſche Spielmann”. Bouſſets 
„Weſen der Religion”. Hiltus „Glück“. Obriſts „Neue Möglickleiten in Der bil- 
benden Kunſt“. Cranes „Srunblagen bes Zeichnen". Klingers, Malerei und Zeich 


. nung”. Schumanns „Briefe“ und „Nugendbriefe". Davids „Uebergang”.„Brönmels 


Glück und Ende“ von Karl Heigel, Dihmels „Zwei Menſchen“. Ein paar neue Bäder 
für die Jugend: Trojans „Bud in die Welt”. De Wets „Kampf zwiichen Buren 
und Briten”; „Das fröhliche Thierbuch“ von Strasburger und Ebel, Spemanns 
„Großes Weltpanorama“; „Jugendbrunnen“; „Quellwaſſer“; „Zn Sränzchen" 
(alle drei aus Kempes illuftrirter Jugendbibliothek). Den beiten Rath giebt das 
vom Hamburger Jugendſchriften Ausſchuß zufammengeftellte Verzeichnißg. ACH die 
großen Alten braucht man nicht immer aufzuzäglen. Bergeßt, liebe Deutiche, benDebbel 
nicht (auch von den Tagebüchern ericheint jeßt eine neue Ausgabe). Kauft, wenn Ihr 
file nicht habt, den Gottfried Keller, Mörike, Novalis, Hölderlin, Cervantes, Bascal, 
Taine, Renan, Balzac, Multatuli, Tillier, Eonftant, Flaubert, Browning, Swift; 
fogar den Wilhelm Raabe, trogdem er noch lebt... Genug für heute. Kein Katalog, 
kein „Leitfaden“; Eurze Notizen nur. Neue Bücher, ſprach Hebbel, find oft nichts als 
Hitzblattern des Tages; alte, die neu geblieben find, mıfffen von einem intereffanten 
Individuum ausgegangen fein. Und auf das Individunm kommts fchließlich an. 
Wer eins ift, will feinen Leitfaden und wählt fi felbjt die Gefährten der ftiliften 
Stunden. Manchmal wird er enttäuſcht werden. Erjtensaber braucht nachLichtenbergs 
boͤſem Witzwort, nicht immer das Buch ſchuld zu fein, wenn es einem Kopf hohl 
Klingt; und zweitens find au aus mittelmäßigen Bücher Berlen beraufzubolen : 
man muß nur die Taucherfunft verftehen, bie Sokrates anwandte, ala er ben He⸗ 
rallitla®. Et prodesse volunt et delectare poetae. Die Einen ergüßen, finbet erbalb 
beraus ; nicht jo leicht ift3 bei Denen, die ung belehren könnten. Eigentlich, feufzte 
felbjt &oerde, „lernen wir nur von Büchern, die wir nicht beurtheilen Können; der 
Autor eines Buches, das wir beurtheilen Lönnen, müßte von uns lernen.“ Imme 
bin fei man auchnicht zu ängſtlich; im ſchlimmſten Fall fteht der Kanterad ja ſtum 
auf feinem Plätzchen und ſpricht erſt, wenn er gefragt wird. Jit im ganzen Dutzen 
aber nur einer, den man gern von Zeit zu Zeit wieber fragt dann iſts bes Lohn 
übergenug. Möge Jeder wenigftens Einen e erwerben... ._ürdhliche Weihnadtl 


Herausgeber and verantw urtlicher Redatteur: m Harden in Berlin. — — Verlag der Zutunft in t in Berl 
Druck don Albert Damde in Verlin. Schöneberg. 











Berlin, den 26. Dezember 1905. 
-————e-*""1##W",7,» 


Morig und Rina. 


Kreffin, Vierter Advent 1903. 

Signor und Lebemann! 
Bm 1,23. „Ich bin die Stimme eines Prediger in der Wüfte, 

Bereitet dem Herrn den Weg!" Deine alte Nummer. J’y penge. 
Wie Du drauf kamſt, weiß ich nicht mehr. Schon in der Schulzeit aber auf 
Deine Ergebenfte gemüngt. „Dies geſchah zu Bethabara, jenfeits vom Jor⸗ 
dan“. Sche Did; noch, mit dem Tafchentuch vorm Mund, um nicht loszu⸗ 
prufchen, wenn unfer guter Kurländer an der Stelle hielt. Warſt eben von 
je ein ungläubiger Böſewicht. Und Dein Schwager (und mein Kreuz) hats, 
wie alles Schlechte, von Dir übernommen. Wo in mir was vom Johannes 
ftedt, mag ein Anderer wiffen. Für Euch war ic) nun mal bie Stimme des 
Wüftenpredigers; und natürlich ſehr komiſch. Meinetwegen ; binlängft daran 
gewöhnt, dag Ihr auf mir herumtrampelt. Heute, wie immer am legten 
Abventfonntag, Johannis 1 an ber Reihe; beim alten Text ging die alte Zeit 
mir duich den Kopf. Kinder! Einfach unglaublich, wie Iuftig man fein fonnte. 
Trogdems oft Inapp genug war. Unfere Krippenpiele, wenn Onkel Bolte 
den Heinen Jeſus gefehnigt hattel Du, geborener Tapezirer, bis anden Hals 
in Goldſchaum und Glanzpapier. Und dieWonne, während Mutter den bil. 
ligen Kramaufbaute! Zinnfoldaten, ne Lederpuppe, Schürzen und Strümpfe, 
als piece deresistance Schlittſchuhe, felbftgemachte Muff, Pelzmütze oder 
was für den Senntagsausgang. Andere Zeiten. Wer Heute nicht das große 
Portemonnaie hat, Iriegt faure Gefichter. Selbft Mariechen viel zu ver» 
wöhnt (auch durch Euch, großftädtifche Geldrogen). Na, dieemal wird das 

J 87 


464 Die Zulkunft. 


Würmchen halbwegs zufrieden guden. Ihre Mutter hat zufammengefratt, 
was von dem einft fürftlichen Vermögen blieb. Wird wohl das lette Mai 
fein; denn, entre nous, da fcheint ficy was angebändelt zu Haben. Zu jun 
ift fie nicht und die Wahl konnte fchlechter ausfallen. . (Weöchteft gleich den 
Namen wifjen? Nee, mein unge: erft wenn ber Bengel angehalten hat.) 
Aber der Gedante, audy fie weggeben und dann mit Adolfen allein auf der 
mit Recht fo geichägten Scholle haufen zu müffen... Merci, je viens d’en 
prendre. Und verbitte mir ſchon jegt alle Beileidsäußerungen. Du md 
Sinn für Muttergefühle! Lotka wird mich verftehen. Ein Bischen; wicht 
ganz. Die Einheit de8 Ortes bei Euch ja doch nur fo fo; ımd die gerade madt 
bie Gejchichte Schwierig. Worauf ich nicht einzugehen wünſche. Item, heut 
wars recht feierlich. Die Kleinein Thränen (vor ber Berlobung ift uns Ganſa 
ja ſtets adventerlich) und ber Paftor zwar nicht fo fürs Gemüth wie der Balt 
bon bonnemals, aber anftändig. Als wir am Jordan waren, machte Adolf 
Blinzelverfuche. Gehört zum Nepertotre. Lieber Himmel! Werm ich jedes 
Müftenprediger fpielen wollte, ift3 lange vorbei. Für wen denn? Wer dres 
unddreißig Jahre Eure vereinigte Zärtlichkeit geſchmeckt hat, giebt3 auf. Us 
ſolches Volk zu befchren, muß ein Stärkerer kommen. Ich bin fertig. 
Auch, was angenehmer ift, mit der Feſtrackerei fo ziemlich. Ueber 
raſchungen werden nicht geleiftet. Das alte Deputat. Für den Faſan bürg 
ich, die Würfte fehen redlich aus und der Altdeutfche wird-meine Liebe nick 
wieder mit einem Wajferftreifen vergelten; Karpfen, verſteht fich, extra in 
Eis. Wohl befomms! Daß wir noch mal zufammen um ben Weihnadl 
baum figen, hofft mein Herze nicht mehr. Und wäre doch ſchön. Alle anderen 
Seite fönnen mir geftohlen werben; wirklid) warm wird Einem doch nur Im 
der Heiligen Nacht. „Ahr KRinderlein, kommet ...“ Werdet Euch hüten. Euer 
Liebden brauchen ja „Arregung”. Sind am Ende nod; gar nicht wieder an 
der Epree? Womit danfend die Karte vom Nialto beftätigt wırd. Anbert 
halb Tage war id) ftarr. Im Greifenalter, denkt Unfereins, müffe die Globe— 
trotteret aufhören. Paris, — va bene; aber Venedig! Alte Erinnerung 
auffrischen, feiner Knabe? Nicht unfere gemeinfame, verfteht fich am Raute. 
Mir waren ja hölliſch folid, das Bischen Quadri triebe Dich nicht fo weil 
und wenn ic) von demeinen Abend abjehe, mo Du Meinen bisvier Uhr frũh de⸗ 
bauchirteſt... An die Kanalfahrt habeich bekanntlich nie geglaubt. Um ſofeſtet, 
trotz'päteren Abſchwächungverſuchen, an die Beichte des Jünglings im locigen 
Haar. Viellcicht auch jetzt noch ein ſchwarzes Kind aus Fiume?, Auf der Lagune 
bei Nacht!” Dirtraue ich Alles zu; und noch mehr. Wenn Lotte nichts dagegen 





Morik und Fine, 465 


Hat, ift ja Alles in Ordnung. Nett wenigftens, daß uns nicht ganz vergaßeft; 
zweiganzeZeilenundeinehafbe. „Wetter ſchlecht.“ Was Ihr nämlich ſo nennt. 
Möüßteft Dich hier mal umſehen. Nicht durchzukommen. Winter läßt man 
ſich gefalfen; aber fein Eis undjder Schnee nur wie auf knauſerig beftreutem 
Napfkuchen. Dabei die ewige Rarrerei, um für das Kind, den Heiden, bie 
Leute einzufaufen. Das ſage ich Dir: bis Oftern hode ich hier nicht wieder. 
Nochgerade genug an dem vorigen Talmiwinter. Meine Krone der Schöpfung 
wimmert zwar über die ſchlechten Zeiten. Berlin unerſchwinglich. Hat ſich, 
um ung „was bieten zu können“, auf feine alten Tage in Induſtriepapiere 
geftürzt, ſchnappt morgens gleich nach dem hebräifchen Kurszettel und redet 
von Ausfichten. Pfeife drauf. Uns blühen die Rofen nicht. Im ſchlimmſten 
Fall wird aber daS Feftgelegte angegriffen, worüber ich zu verfügen habe. 
Zu einem Goldknopf für denweißen Stab reichts noch. Man verbauert. Den 
halben Tag bei der lampe. In der Nachbarſchaft faft Alles weggeftorben, was 
mit Einem aufwuchs. Mielchen muB auch heraus; vielleicht zeigt ſich dann, 
daß der Liebfte gar nichtfo feſt im Herzen figt. Jedenfalls bin ichs ihrfchuldig 

Dem Unnennbaren übrigens aud) eine Kleinigkeit; das Geſtändniß, 
daß er nicht mehr ganz fo ausbündig ift. Nichtetwa ideal: nur beinahe menfch- 
ic) und manchmal annähernd ftandesgemäß. Scheint von den Nothen et: 
liche Kilometer abgerüct. Die Wahl war ihm ſchon im die Glieder gefahren; 
‚ und nachher die endlofe Stänterei! Mitunter träume ich wieder, an einen 
preußiichen Edelmann verheirathet zu fein. Nicht oft allerdings. Er hat 
böje Rückfälle, zäymt fi) aber vor Fremden einigermaßen und ich brauche 
nicht immer auf Kohlen zu figen. Damit Du nicht von Mufterehe radotirft: 
vorgejtern brannte es wieder lich‘erloh; noch) dazu in Gegenwart bes Jungen. 
Dem (früher als fonft gelommen, Rücklieferfriſt leider han am 3 weiten) 
hatten wir alle erreichbaren Porteepees eingeladen; und da gings denn los. 
Mißhandlungen, Forbach, Luxus, Golk, Einem, die Bebeleien et le reste. 
Der Kleine (ich war nie Affenmutter) einfach zum Abfüjfen. Fromm ift er ja 
nicht; aber König und Vaterland, daß ich vor Freude am Liebiten geheul 
hätte. So gehe es nicht weiter. Ob die Bande fid denn einbilde, der buntet 
Rodlebein SausundBraus. Maylzeit! MitAchtundzwanzig beiden Meiften 
die Nerven ſchon vor die Hunde. Nicht ein Zehntel des Wohllebeng, das fich 
heutzutage der beſſere Commis leiftet. Yöhnung zum Verhungern, Zuſchüſſe 
bei altem Adel fait überall fnapp und die Pflicht, proper und nobel aufin: 
treten. Nichts au lachen. Die Kerleein Schw felbande,der vorherei: getrichtert 
ift, jeder Lieutenant ſei ein Schinder, und die blos wartet, daß man ſich mal ver» 

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466 Die Zutmft. 


gißt. Korporale,denennichtüber ben Weg zutrauen. Und unterden Kameraden, 
neben elligen Schuſtern, unfichereKantoniften, nicht aus unferen Schichten, die 
mit Papas braunen Lappen aufbauen können und verdrehte Anfichten mütbrin: 
gen. Borgefegteimmerim Trab, aufden quivive,daßnurjaniht3 „paffirt*. 
Eine Maulſchelle, die ein fuchtiger Sergeant giebt, tan den Hauptnanns- 
topf koften. Früher tröftete man ſich mit dem Anſehen; umbeftritten erfter 
Stand. Yet jeden Tag das ganze Corps öffentlich ſchimpfirt. Ocffentlidh; 
anders gehe es nicht. Weil fich in Lothringen ein paar Rolllutſcher ſchlecht 
aufführen, müflen wir büßen. Alle Wigblätter voll; und das Zeug natürlich 
nicht aus der Kuferne zu räuchern. Autorität längft in bie Binfen, beim Kra⸗ 
gen darf man die Lümmel nicht nehmen, und wer zuvielftraft, kann die Kon⸗ 
duite nicht vor den Spiegel ftedlen. Der Junge hatte Erfolg. Alles feiner 
Meinung: die Armee dürfe nicht durch ben Dred'gejchleift werden; und wenn 
nicht bald ein honoriger Krieg der Sippfchaft zeige, was fie an uns hat... 
Kannft Dir denken, daß mir dabei der Magen fror. Richtig ifts aber. Als 
Mutter ſchämt man fich mit, wenn immer gegen die Rieutenants gefchmiert 
wird. Als Vater nicht, wie es fchrint. Der in Kreſſin faß eine Stunde ftod- 
fteif und that den Mund nicht auf. (Um zureden, heißts; für einen ſehr adht- 
baren Tropfen war geforgt.) Als die Anderen fertigwaren, legteer los. Und 
wiel Mit rothem Kopf und einem Ton, der allein feine zwei Jahre Feftung 
eintragen konnte. Seinem Einzigen quer übern Schnabel. Mit Geplärr fet 
nichts auszurichten. Der Haken fige vieltiefer. Armee und Demofratie (wenn 
ich das Wort ſchon höre!) giebt eben keinen Reim. Ueberall fo; fiche Fraul⸗ 
reich. Im Yoth nur, wo der Offizier Geſchäftsmann wie andere. Komme 
nod) ſchlimmer; wers nicht erleben wolle, müfle den Kittel ablegen. Natür⸗ 
lich Alles aufgebaujcht; Durch den Haß gegen letzte oder vorletzte Privilegien. 
Mancher Schulmeifter baue ganz unverſchämt, kein Menſch aber fchelte da⸗ 
rum denganzen Stand; nicht einmal wegen eines Dippold. Ein Breidenbadh 
bringe ſämmtliche Unteroffiziere in Verruf. Kann nicht Zufall fein. Krieg 
würbe für 'ne Weile helfen; wer folle ihm wagen? In Aſien vielleicht. Bei 
uns? Mit der Regirung? Und nun toute la lyre. Auf feine Kuhhaut zu 
Schreiben. Bor Bismard, anfangs der Sechziger, wo des Königs Rodin & 
lin verhöhnt und bejchtimpft wurde, fet gegen heute noch goldene Zeit gewe 
est Defenfive mit Yebenden Bildern. Der Offizier muß ausbaben, ı 
höher hinauf nicht risfirt werden fan. Ungefähr drei Vierteljtunder 
diefem Text (und ich unterfchlage das Dollfte). Der Kleine blaß wie ! 
Servielte. Kurt, immer nody mit der Atjutantenpufchel, räufperte ſich 


— — —— —— —— — — — 


Morig und Rina. 467 


nehmlich und alles Jüngere, was noch Raupen im Kopf hat, blickte verlegen 
ins Glas. So unentwegt, daß ih, um die Stimmung zus retten, fchließlich 
dem Hausfrauenherzen einen Stoß geben und ein paar Staudige rausrüden 
mußte; von Deiner Sorte. Da gings. Zuerft — de rigueur—allyemeine 
Scimpferei aufs Militärkabinet, das von Bebürfniß und Reben der Truppe 
feinen Dunft habe. Dann Jagd und die liebe Reiterei. Als ich nach Zwölf 
noch mal reinschielte, hielt der Vater denn Knaben wohl in dem Arm und felbft 
Kurtens Auge glängte in feuchter Zärtlichkeit. Gegen Zwei beftellte der Ge⸗ 
bieter Grog „mit nicht zu viel Waſſer“. Der fällige Dank für den „ganz 
reizenden, echt fameradichaftlichen Abend“ Tiegt denn auch ſchon vor mir. 

Während fich Diefes in Pommerland zutrug, gondelte der Peer von 
Breußen wahrſcheinlich. Sie muß ja nicht gerade Fiumanerin fein; auch le 
erü de Venise nicht zu verachten. Leugne nicht, Greis im Silberhaar: ich 
weiß Alles; und finde Rotten von wahrhaft antiker Größe. Wenn ich mir 
meinen Landmwehrmajor in dem fchmarzen Kahn denke... Geftern übrigens, 
noch ehe ich ihm den Standpunkt Har machen fonnte, anjehnlich zerfnirscht. 
Schobs auf den Wein. Unfinn, bei der Suppe fchon fchweres Geſchütz auf- 
zufahren. Ließ ihn reden; die Armfündermiene war entwafinend. Zulekt, 
ganz zaghaft, ob wir am Einundzwanzigften nicht alle Vier das Abendmahl 
nehmen wollten; wie in alter Zeit ſtets am Tage von Le Bourget. Katerrühr- 
fäligfeit. Als er zärtlich zu ſchnurren anfing, hatte ich die Naſe voll und ging 
Kuchen baden. Idyllen werden nicht mehr verzapft. Habe den Baftor aber 
benachrichtigt und freute mich drauf. Nette Zuftände: wenn man nicht bla- 
moren jein will, muß man da8 Haus fammt dem Säugling unter Alfohol 
ſetzen; weiß Gott, wie der Abend fonft geendet hätte. So leben wir alle Tage. 
Du warſt mindeftens ein Genie, al3 Du der Schwefter den Gatten gefreit. 

Bifts noch heute, wie der Neid zugeben muß. Behandelſt die Läftige 
alte Dame mit Entziehungslur. Seit zwei Monaten, außer dem bunten 
Rialtofärtchen, nichts Direltes von Eurer Hoheit; umd die Zettel vorher 
auch nur Depeſchenſtil. Man ift ja eingeſchüchtert und fordert nicht viel; 
arme Verwandte müffen hübſch befcheiden fein. Aber fo ohne allen Kontaft! 
Keine blaſſe Ahnung, was Du treibft und wie das gefchägte innere ausficht. 
Immer noch röthlich ftraflend? Saifonanfang: und nicht das Hleinfte mot 
de la situation. Von Jahr zu Jahr rieſelts dünner. Dabei haſt Du die beften 
Röhren underfährft ficher taufend Gefchichten. Gar nichts Neues in Sicht? 
Beitungen das reine Stoppelfeld. Reichstag: naja. Der Limburger roch mir 
recht gut, auchder alte Kardorff fabelhaft friſch; ra us kommt aber dabei nichts. 


468 Die Zuknuft. 


Jeder ſagtſeinen Sprrihauf und hält das Vaterland fürgerettet. Bülow ſelbft 
amos in Form und gabs der Sippſchaft, daß es knallte. (Adolf natürlich:, Der 
wirft Anderen Mangel an poſitiven Leiſtungen vor!“ Hatten wieder ein Ga⸗ 
lepptänzchen.) Nur fehlte mir die Pointe. Haft doch Boguslawski geleſen? 
„Nicht Rede, aber Fehde wider die Sozialdemokratie.” Allerlei Hochachtung. 
D er forcht ſich nit. So müßte es gedeichlelt werden. Der feine Bernhard will 
nicht8 wagen. Leichtefte Kavallerıe. Redet wie drei Bücher und hat neulich, 
wenigſtens in unferer Gegend, manchen Kopfſcheuen zurüderobert. Pourvu 
que cela dure! Die Altpreußin, die Du vor Jahrhunderten ſchmeichelnd 
Egeria nannteft, ift wohl zu lange bei Dir in ber Schule gewefen, um noch 
S inn für fo was zu haben. „Wäre ic) wie andre rauen, würd’ ich feinen 
W orten trauen.” (Meine Koloratur ift den Weg alles Zeitlichen gegangen 
und mit der Hugenottenlönigin lade ich feinen Erbherrn austem Hanjanier» 
tel.) Im Grunde iſts fo beifer. Die Illufionen find zu oft verbagelt. Abge⸗ 
rüjtet wird aber nicht und eines Tages wird Euer Hohnlädheln verſchwunden 
fein, — wenn wirs erleben. Diejes Vegetiren mit Ah und Krach ift nicht 8 für 
Preußen (auf das Andere wird gepfiffen) ; dabei bleibe ich und behaupte, daß 
jedes Zögern die Kraftprobe ſchwerer macht. Wer glaubt denn an Öffentliche 
Meinung und ſolchen Spuk! Die Blafe aufitechen und ausbluten lajien: paßt 
nur auf, wie Alles dann aufathmet. Sozialiftengefeg, aber mit Aermeln, bes 
IchränktesWahlrecht,vernünftiger&etreidepreisund ins LochJeden, der die Ar⸗ 
mee ſchimpft. Das würde ziehen und Hunderttauſenden die Freude am Reich 
wiedergeben. Du grienſt Dir was. Weiß ſchon: „Die Stimme eines Predi⸗ 
gers in der Wüſte“. Abwarten, Signor! Eure Leiſtung lann mir nicht im— 
poniren. Endlofe Skandalprozeſſe, die man ſelbſt vor Erwachſenen nicht er⸗ 
wähnen kann, ohne roth zu werden, und zwei Excellenzen, die Stunden lang 
ſchwitzen, um zu beweiſen, daß unſere Offiziere nicht Strolche, unſere Offi- 
zierdamen nicht aus dem billigen Laden find. Schöne Befcherung. Und was 
man ſonſt hört, Hingt auch nicht nad) Sphärenmufil. Der Happen Börlen- 
gejet wird uns wieder aus den Zähnen gegjiien und der Kanallommt mit 
Hochdruck. Heiliger Podbielsti! Braucht ung nur noch um den Tarifzoll zu 
bringen: dann könnt hr ein blaues Wunder (oder ein rothes) fehen. Hoff 
nung hat man ſich ja ſchon vor dem Korſet abgewöhnt. Bin aber neugierir 
wie unfere Leute diefes Bündel von Zumuthungen aufnehmen werden. 
Wenn der unge nicht wäre, ließe ich Fünf gerade fein. Wir hab 
beſſere Zeit erlebt und find reifzur Ausrangirung. (Wir Kreffiner; Gond 
helden auf höchiter Höhe.) Der Kleine macht mir Sorgen; nicht nurwege 





Moritz umd Rita. 469 


des pere prodigue,ber, als Mufter ohne Werth, aberaud) nicht von Pappe. 
Schlechte Farbe diesmal und, wie ich heraushorche, drinnen noch ſchlechtere 
Stimmung. Rein Wunder. Jugend braucht Begeifterung. Denkſt Du daran, 
mein tapfrer Lagienka? Nach Allem, was er erzählt, jcheint der Lieutenant 
redht freudlo8 geworden zu fein. Als Gattung, meine ich. Daß ſie furchtbar 
rangeholt werden, ift fein Malheur. Aber die ewige Hundeangft, der Lärm 
wegen ’ner Kinderei und dag Schuftern, dag feine Grenze mehrlennt! Kern- 
gejund ſchickt man fie hin und kriegt nad) ein paar Jahren nervöſe Bappel- 
männer mit Antipyrin zurüd. Wenn Einer da noch auf Urlaub nach Adol- 
fens Methode „aufgellärt” wird, kanns ein böſes Ende nehmen. 

Nicht dran denken. Auch der Winter geht vorüber. Und wenns heute 
gar nicht Tag werden will, muß die Freude auf Weihnachten tröften. Seid 
Iuftiger, Ihr Lieben, und marjchirt Fröhlich ins neue{yahr. Profit! Daß Du 
Zotfa den Heiligen Abend fo gut auspugeft, wie Du irgend kannt, wein ich 
quand m&me. Machſt aud) noch Mufif? Beethoven gehört zu meinem 
Chriſtenthum. Schluß; fonft werde ich fentimental und habe Dir doc) ichon 
über Gebühr zugefett. Feurige Kohlen dringend erbeten. Nimm Dir mal 
einen anftändigen Briefbogen umd fehütte das alte Herz aus. Kanns nichts 
Politisches fein: Alles willkommen, fogar Klatſch. Beſorgungen haft Du 
Glücklicher ja nicht; außer dem Weg in den Weinteller nimmt die viel bejjere 
Hälfte Dir Alles ab und ift fogar auf Geldgeſchenke drefjint. Wenn Du fie 
dafür nicht unterm Miftelz veig ganz altmodilch abküſſeſt, wir) Venedig ver- 
rathen. Keine Angſt? So gehts, werrn man verwöhnt wird, wie Du jeit min⸗ 
deſtens neunundneunzig Jahren von Deiner uralten Pina. 

Was trägt mar denn dort? Bitte aber: nicht Schneiderzeitung! 


Berlin, Winter$ Anfang 1903. 
Holdeſte Wüftenftimme! 

Die bleibft Du in alle Wege. Immer der rührende Eifer, dem na- 
henden Heiland die Bahn zu bereiten; mit fünfzig wie mit fünfzehn Jahren. 
Etwas Geduld, hohe Frau: er wird ſchon kommen; wenns Zeit ift. Eine fo 
beneidenswerth fromme Dame follte doch wilfen, wie felten Götter geboren 
werden, und von Schauderhaft Sterblichen nicht fordern, daß fie in Vicegötts 
lichkeit Hienieden wandeln. Doch diefe faft ununterbrochene Adventiſtenſtim⸗ 
mung ift mit ‘Dein beftes Theil und hält Did) fo unwandelbar jung. Was 
kin Kompliment und feine captatio benevolentiae jein foll (Ueberſetzun⸗ 
gen liefert Adolf, der lateiniſche Landwehrmann, frei ing Haus). 


470 Die Zutnuft. 


Dlin Getreuſter ift auf jchmeiterliches Wohlmollen nämlich gar richt 
angewieſen; auch nichtaufehrenfädhliche Diskretion; und am Allerwenigſten 
wegen Benedig. Ungemein fchmeichelhaft, daß Du mich immer noch zur Fa⸗ 
milte Derer von Springinsfeld zählft, trogdem taufendmal verfichert, dat 
feit anderthalb Eiwigfeitenaus der Manege. Mußendlich aber mitergebenfter 
Entichiedenheit danken. Nachgerade doch zuramponirt; und wenn auch tout 
est pour le vieux dans le meilleur des demi-mondes, jo möchte doch 
nicht als komische Figur ohne Grazie dem Grab entgegenwanten. Ueber die 
Buppenjaturirt, mehr, als ſelbſt Deine Tugend ahnen kann, Soldreinette. Bıtte 
aljo, abzuflingeln. Meine Flucht nach dem Lido — unerbört, daß ein adht: 
mal plombirter Kahlkopf ſolchen Vertacht abmehren muß! — Hatte mit 
Spätherbfterotifnichtdas@eringftezuthun. Die fimpelfte Sache von der Welt. 
Geſchäfte in Wien und von da einen Kageniprung herüberans Meer. Weil 
die gräßliche Nordländerdunfelheit mir auf die Nerven fällt. Weil ich mal 
wieder Eonnenlicht riechen wollte. Und Sanjovinos Bibliothel einmal noch 
fehen, wie einft im Mai. Lächelft Hohn? Jeder hat feinen Tollpunft; meiner 
ift Hochrenaiffance. Harmlos und ſchmutzt nit. Natürlich wars aber eine 
Rieſendummheit. Der Greis am Stabe foll die Orte höchſter Jugendent⸗ 
züdungen meiden; und, vor allen Dingen, über den Kindertraum weg jein, 
der Italien immer in Blau und Gold fieht. Grauer Himmel mit reichlichen 
Niederfchlägen (fo nennens unfere Wetterbeiprecher). Die Waflerdrofchken 
feucht wie fchlechte Hotelbetten. Bei Danieli Engländer dritter Güte und 
Ceylonthee, gegen den meine Magennerven rebelliten. Daß in den ganzen 
Neft kein eßbares Stück Fleiſch zu haben tft, weiß der Europäer. Nun aber 
der Schred, wenn man die Profurazien zum erften Mal ohne den Campa- 
nile erblidt! Das Antlitz der Geliebten, dem plöglich ein Vorderzahn fehlt. 
Bleibt San Dlarco, die Piazzetta und etliches Andere. Unterm Regenſchirm 

giebt8 aber feine Stimmung. Und weil ic) zu edel bin, um den Nächten 
mit meinen Enttäuſchungen zu beläftigen, verzichteteich auf lange Stlagerpiftel, 
die mich erleichtert hätte, und ſchickte als Lebenszeichen nur bie Karte. Rialto, 
weil Erinnerung an Shylock Deinem antifemitisch angefärbten Herzen wohl⸗ 
thun mußte und weil wirs in London zufammen bei Irving ſahen. 

Verglühe gefälligft noch nicht in Scham: ftärkere Befchwörung f 

fogleich. Denn wes that der ehrivürdige Boruffe, den Deine merlmürbdir 
feitige Phantafie in verhängter Gondel bei nächtlicher Weile mit fchm, 
Hexen koſen lich? Er legte einen nennenswerthen Theil feiner bewegl 
Habe in Weihnachtgeſchenken an, deren Herrlichkeit feine unzärtlichen 


Morig und Nina. 471 


wandten einfach überwältigen wird. Deine Schuld, ma mie, daß die Bombe 
ſchon jetzt platt. Muß mich rechtfertigen, ehe Du mit den Wach8itod die Tanne 
befletterfi. Präjentirt das Gewehr! Spiten, von benen noch gar nicht3 ges 
fagt ift, wenn man fie einem echten Muſſet verglichen hat. Schon die Halb- 
handſchuhe werden der erften Dame Eurer Brovinz ſchlafloſe Nächte bereiten; 
und zu Beſatzzwecken ein altes Muſter, das fie mir in der Dogana noch am 
Liebſten abgefnöpft Hätten. Das ift für Die Mutter. Für Mariens bräutliches 
Haupt ein venezianisches Soldneg mit Perlchen: dernier crideParis! Selbft 
ander Seine noch neu, wie Sachkenner betheuern, und das Feinſte vom Feinen. 
Was ſagſt Dunun? Vornehme Seelen weiden ſich nicht an ihren Triumphen. 
Alſo ſchließe ich dieſes Kapitel und bittenur noch gehorſamſt, zu bedenken, wie 
lange ich, dem Ladenbeſuche von KindesbeinenanfoziemlichdasE&fligfte,ftöbern 
mußte, bis die Wunder aus dem Troͤdel gefiſcht waren. Thnt fo etwa Einer, 
der in Amouren macht? Die ehrbare Hausfrauaber ſchreibt von oben herab: 
„Belorgungen haft Du Glücklicher ja nicht." Allerdings nicht für die Ange- 
traute, die feit der Silbernen mit dem Ched vorlieb nimmt und jelbft aus⸗ 
fucht, was ihrgefällt. Aber für Andere, in'fernen Ländern, umter allerlei Ge⸗ 
fahren fürVermögen und Reputation. Was zu beweijen war. 

Da ich doch Schon in in die Chiffong gerathen bin, will ich Schnell noch 
dem gechrten Nachwort Redeftchen Was man trägt? Eigentlich Lottchens 
Reſſort. „Man trägt, was man nicht ändern kann“, fagt Bombardon im 
Goldenen Kreuz, dag wir Beide in unferer zweiten Jugend liebten; und Hat 
aud) für die Mode Necht, in deren Bezirk man ja viel ändern kann. Röcke 
noch immer eng bis über die Möglichkeit und an Pelzwerf, was bie Kapital: 
kraft irgend geſtattet. Nach Maulwurf (Allerneuftes) wird Dein Ehrgeiz 
nicht langen. Fürs Mädel einen picture hat: und fie ift belohnt genug. 
Vebrigeng fennen wir die Melodie. Jedesmal heißts, Ihr habet nichts an» 
äuziehen, und wenn Ihr dann landet, fteht Unfereiner ftarr vor dem Glanz. 
Kommt nur ruhig her. Das Andere findet ſich. Kreſſin jieht im Januar vom 
Weiten netter aus. Seit Aeonen nicht hier geweſen. Ritterdienſte garantirt. 
Ungeheures kann ich nicht verfprechen. Aber gute Konzerte, ein paar Theater⸗ 
ftüde, die Dich) amufiren werben, für den Gatten trinffefte Leute von tadel⸗ 
lofer Geſinnung und fürs Kind bei Friedländer eine Schmudausitellung, 
vor der Berwöhnteren die Augen übergeben. Am erjten hellen Tag zeige ich 
Euch die neuen Denkmale hinterm Brandenburger Thor. So was war auf 
diejer Erde nod) nicht da. Die Purppenallee dagegen das reinste Florenz. 

Hier brennts ſchon. Grenzt hart an Volitifches, das ich gern miede. 


472 Die Zukunft. 


Wärft aber, trog Goldnetz und Spiten, dann doch nicht zufrieden. Kenne ja 
Dein Boruſſenherz. Weils alfonid;tkann ein... Allesprogrammgemäß, ohne 
jegliche Ueberrafchung ; und von Neuigkeiten feine Rede, — was nicht unter 
alfen Umftänden ein Fehler, Patriotin. Lange Vorarbeit für das Kanalbett. 
Wird wahrjcheinlich gelingen, da Deine — nicht: meine — Parteigenojjen 
mürb find, nur noch Vorwand zum Einſchwenken fuchen und das Haupt 1üd 
ihnen einjtwellen wohl nicht angelonnen wird. Die Zeitift Inggewählt. Die 
Leute jagen jich, daß längerer Widerftand ihnen den Zolltarif ruiniren könnte 
(halten, bei Ticht befehen, die hochwohlloͤbliche Regirung alfo nicht für jehr 
gewiljenhaft). Hat der Landtag endlich genict, danndarfmanandie Handels⸗ 
verträge denken. Wie die ausfehen werden? Unter Witte wäre mit fünf Mark 
nichts zu machen geweſen; heute weiß Niemand, wer drüben Koch und mer Keul- 
ner ift. Noch vielweniger, wer morgendie Rechnung präfentiren wird. Unheim- 
licher Zuſtand. Der wichtigfte Poften feit Monaten nicht beſetzt. Wenns uns 
tröjten lönnte: die Ruſſen ſtecken in keiner guten Haut. SelbftderSultan parirt 
nicht wie fonftundin Oftaſien leidet ihr Breftige, weil dergapaner ihnen aufder 
Nafetanzt. Der Krieg wärelängfterflärt, wenn ſie Geld zu finden ver ftänden. 
Aber ohne Finanzminifter,der Schlupflöcher offen hat, ft nichts zu holen. Des⸗ 
halbauch nichts zu prophezeien.Nikolaiglaubt, mit gutem Willen und dem Gei⸗ 
ſterſpuk ſeines Hofipiritiften ausfonmen zulönnen. Braucht uns nicht zugeni- 
ren, wenn nicht eines Tages wieder die Militärpartei ungeduldig und fo 
mächtig wird wie unter Alerander, der auch friedlich fein wollte, vorm Tür: 
kenkrieg. Der alte Verſuch einer Entladung nad außen. Wobei nicht zu 
überjchen, daß e8 um ung recht einfam geworden ift. England, Frankreich, 
Italien in entente cordiale; und wie Diagyaren und Ezedhen ſich für ung 
ehauffiren werden, fühltder Blinde mit dem Krüdjtod. Vielleicht aber Unfinn, 
fo weit zu denken; in beiden öftlichen Kaiſerreichen verichiedene unfichere Fak⸗ 
toren. Handelsvertrag jedenfalls dunlel wie die Zintenflajche. Daß ic} von 
diejer Sceſchlange nichts Graufiges fürdte, ift Deiner Weisheit längft bes 
fannt; von den paar Kopeken würde das Kraut nicht fett. Axiom: Getreide⸗ 
preis, der ung genügt, fommt auf die Dauer nicht wieder; und Großgrund«- 
befits ohne Großkapital wird nicht mehr rentabel. Wiederholte Begründung 
eriparft Du mir. Nur nod) einmal, daß id) von Palliatiomittelchen nicht 
halte; und zu denen gehört jegt aud) das Bischen Zoll. Daher Börjengefe 
und AchnlicheS farcimentum (der Gatte ift klaſſiſch) und nur Frage der 
Beit, warn Induſtrie und Handel ıhre letzten Wünfchedurchfegen. Hunter 
mal wichtiger fürung, was draußen pafjirt. Ob Rußland Geld zur Eroberun 








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5325 TE 


Moritz und Rina. 473 


Aſiens auftreibt. Wie die Sache in Amerika läuft. Wann die britifche Welt 
Ichugzölinerifch wird; wann, nicht: ob. John Bull muß, trog allem Frei⸗ 
bändlergefchrei, wenn er jeine Kolonien nicht verlieren will, Chamberlaing 
Weg gehen. Und dann lönnen wir Dinge erleben, die ins Ajchgraue reichen. 

Deshalb darf felbft in diefem Weihnachtbrief die Warnung nicht feh- 
len. Fuhr ordentlich zufammen, als ich las, Adolf fei unter die Induſtrie⸗ 
Papiernen gegangen. DBegreife ihn ja. Märkiſcher Roggen im vorigen De- 
zember 134, jest 128. Da fieht man fi) um; und wer von dem neuen Auf- 
ſchwung und den großartigen Ausfichten Kieft, leckt, als Familienvater, die 
Lippen. Wenn Ihr mid; aber jemals für leidlich verftändig gehalten habt: 
bie Finger davon! Höchftens fürleute, die dans le mouvement find; und 
auch Die müfjen froh jein, wenn fie mit blauem Auge nach Haufe fommen. 
Siehe draußen und bin Dilettant (Gott fer Dank!), möchte aber jeden Eid 
feiften, daß der eigentliche Krach ung erft bevorfteht. Der Firniß iſt geſchickt auf- 
getragen (wir haben Bankladirer) und dedtdochnicht alle Riſſe. Dein ſpeku⸗ 
lativer Junker fol mal Kurs und Dividende der augenblicklich beliebteften 
Werthevergleichen ;da ſtimmts Schon nicht. Und woherder Segenfommen ioll, 
ift mir ſchleierhaft. Kanal als Auffrichung der begnadeten Brandyen, — soit. 
Auch Elektrizität, wenn die Naubmörderfonkurrenz befeitigt wird und bie 
Preiſe ſich heben, vorläufig wieder einigermaßen. Die Dampfmafchine it im 
Ausfterben; und die Turbine, die fie erfegen ſoll, wird ein hölliſches Stüd 
Geld einbringen; Aber im Ganzen? Altetitanei. Wir haben uns zu hoch ges 
bläht. Der Athem ijt nicht lang genug. Alle Adıtung vor den Kommerzta⸗ 
lenten des Helden von Ye Bourget;er wird ſchlau gekauft und wahrſcheinlich 


‚ mehr als die berliner Reife verdient haben. Da er im Nebenamt aber Bater 


Deiner Kinder ift, joliteft Du feine Knie umllammern undflehen: Raus aus 
den Kartoffeln! Niemand kann willen, wanns zum Klappen lommt. 

Bis dahin aud), was man fo innere Politik nennt, nicht allzu auf: 
regend. Ueber den Reichstag hat Egeria das Nöthigfte gejagt. Bis auf den 
einen Punft, den befannten, wo ich jedesmal paffe. Natürlich Alles geleſen; 
auch Bogus lawski, ders ſehr gutmeint, abernichtfehr weitfieht. Einer, für den 
die alte Preußenherrlicjkeit das Gegebene, von Gott ewiglich Gewollteift. Wäre 
wunderſchön, ift aber nicht. Mir fteht leider nicht viel feft, doch unverrück⸗ 
bar, daß wir eine verſinkende Klafje jind. Nicht zu halten, weil als Klaſſe 
den neuen Berhältnijjen nicht anzupafjen; nur die Wahl zwijchen Hofdienft 
und erwerkender Stadtbourgeoifie. Nun jtelle Dir Preußen ohne den kleinen 
und mittleren Adel vor. Giebts nicht. Der Inſtinkt jagts den Leuten, die 





474 Die Zutunft. 


vornan ſind, auch; ſonſt würden fie zäher Widerſtand verſuchen. Unter Capriv 
und Hohenlohe waren fie noch nicht fo weit. Bülow Hat das Talent, Glück zu 
haben. Er ift bie Schreter und Starrlöpfe los und kann, mit einiger Behnt- 
famleit, den Landfrieden ſchaffen. Erft recht, wenn mein Kalkul ftimmt. Rück⸗ 
Schläge in der Ynduftrie: dann wird wiederder biedere Landmann aus feinem 
Winkel geholt und diewahren Wurzeln unjerer Kraft liefern schöne Reden. Die 
- Öutmeiner vergefjen, daß auch im Staatsleben tout est danstout; und daß 
zehn Jahre nicht auszuradiren find. Innere Politik! Einer ſchreit ein Schlag: 
wort: und Alle, denen es leidlich Hingt, find felig.Haft maldenEpimenides gele⸗ 
ſen? Ich laſſe mir nicht ausreden, daß deraltederrgott von Weimar ſeine Lands⸗ 
leute hoͤhnte, als er das Gefolge des Jugendfürſten im Chor ſchmettern ließ: 

Denn fo Einer „Vorwärts“ rufet, 

Gleich find Alle hinterdrein 

Und fo gebt e8, abgejtufet, 

Starf und Schwad und Groß und Klein. 

Hinan! Borwärt3! Hinan! | 

Und das große, das Werk ift gethan. 
Das große Werk heißt jegt — wie lange ſchon! —: Vernichtung der roten 
Genofienfchaft. Da id) noch immer zu den Befitenden gehöre, fönnte mirs 
Nicht fein. Steht aber übel um den Erfolg. Würden wieder anno 80 halten; 
ber ganze Aufwand verthan. Unmoraliſch wäre es nicht. Die den Vorfchlag 
machen, wollen aud) das Heil der Nation und Dein Boguslamsfi fagt tref- 
fend, daß die Sozialdemokratie felbft die ſchönſten Staatsſtreiche liefern wär: 
de, wenn fie nur könnte. Doc man fchämt fich nachgerade, von der Sache zu 
reden. Kommt ja nicht dazu; wenigſtens nicht, fo Lange die Karre noch fährt. 
Deshalb am Beſten Schluß der Debatte und endlicd) was Neues. Durd) die 
Bülowſtraße gehts freilich auch nicht. Sehnſucht nad Soztaliftengefeg, zu 
dem nur leider die Dichrheit fehlt; und: „Kein Beamter darf Sozialdemo- 
krat fein!" Moͤchte fie nicht zählen. Merkwürdig, daß der auf feine Art kluge 
Mann gar nicht mit dem Neiz des Verbotenen redynet. Gerade nad) Dres- 
den hätte ich8 anders verjucht. Immer ’ran, meine Herren! Wir find nicht 
graulig, gönnen Jedem wonnefam das Vergnügen, mit Ihnen zu tagen, 
kümmern uns überhaupt nicht mehr um die Farbennuance, rofa ober br 
roth, und find unglaublich ficher, daß Sie uns einftweilen nicht einbudd 
werden. Sie haben ſich eine Ecke zu früh decouprirt und müſſen zunädft ı 
gefälligft den eigenen StaatSpalaft reinfegen... Auch kein unfehlbaresV 
tel, Trautefte, doch nicht ganz ausfichtlos. Den Nimbus befeitigen! H 
dünkt Jeder fich einen Heros, wenn er da mitmacht. Das zieht. Und d 





Morig und Nina. 475 


geben Staatsbeamte in Riegenrothe Zettel ab. Uebrigensgeht Alles bekannt⸗ 
Lich auf zwei Beinen und aud) das Drafonifche ließe fich probtren. (Deine 
Brivatmeinung: nach ’nem halden Jahr wünjchten dievon Butfchen bedroß- 
ten, von Brüppchen geärgerten Unternehmer fid) die ftramme Marriftenzucht 
zurück, die, halten zu Gnaden, noch feinen Abſchluß geftört hat.) Nur nicht 
das endloſe, finnloje Gerede, ob oder ob nicht. Yähmtjeit 90 das Reichsgeſchäft. 
Noch ein recht nettes Mittel: gute Bolitit machen, Ziele zeigen, was 
vor fich bringen. Eo lange Bebel intereſſanter als Limburg und Sattler, ift 
wenig Hoffnung. Nous pietinons sur place, Boruffin, und bicten der 
Volksphantaſie (ftehtnicht im Etat) nichts als die Rumpellammer, für deren 
Mottenberrlichkeit fich der Deutfche ergebenft, aber deutlich bedankt. 
Militaria. Das ift ein böfes Kopitel. Ich kann Deinen Major nicht 
fo hart jchelten, denn in der Scheibe fitt fein Schuß. Alles recht hübſch, was 
die Negirenden gefagt haben. Der Kriegsminifter jo gut wie feit Bronfart 


keiner; ernfihaft, tapfer und ohne Phrafenwattirung. Was nütts? Das 


Letzte darf er nicht jagen; und bei ung muß man doch, wie wir fehen, erft aus⸗ 
drücklich jagen, was anderswo ohne viel Reden empfunden wird. Daß man 
ben Soldatennihtfür Kulturverzärtelung erzieht, fondern füreinebarbariiche 
Sache. Diebleibt8, troß Genfer Konvention und hanger Bericht. ind werden 
Zweck will foll über die Mittel nicht die Naſe rümpfen. Breidenbachs brauchen 
nicht vorzulommen — find ſchließlich auch fo felten wie enabenfchänder —, aber 
nach den Regeln feinfter Humanität wirds nie zu fingern fein. Kommiß, 
Lientenantsmama! Das muß man gerocdhen haben. Wenn die Mafchine 
nicht Läuft wie der ‘Deibel, kann man fie lieber abjchaffen. Nichts für mich 
(weshalb früh unglüdliche Verſuche in Diplomatie), vorläufig aber unent⸗ 
behrlich. Eine der übelften Seiten der Rothen (die Alles fentimental nehmen 
und ſich für riefig modern halten), daß fle einen Heidenlärm machen, weils 


Spähne giebt, wo gehobelt wird. Jeder joll ein Englein mit ylüglein fein. - 


ft, Roheit, ein Unzüchtchen : Pfui! Sie felbft aber find von Menfchlichleiten 
auch nicht ganz frei. Und jeit Die Welt in weiteren Kreiſen belannt geworden 
ift, gings noch nie mit ſauberen Pfoten zu, weder oben noch unten. Deinen 
sungen begreife ich. Die Choſe hält nur unter befonderer Schutzvorrich⸗ 
tung. Einfad) dumm, den bunten Rod an die Stelle des Türkenkopfes zu 
hängen, nad) dem {Jeder ſchießt. Will man ihn oder nicht? Ja. Alfo Ruhe 
im Glied. Sonft ble,bt am Ende wirklid) nur eine Campagne als letztes 
Mittel, um die Autorität zu retten. Und dann hätten nicht nur Lieutenants 
ins Gras zu beißen. Kein Thränchen, ReinettevonBommern;wir find noch nicht 


476 \ Die Zukunft. 


fo weit. Zur Aufmunterung rafch was geijtlichTröftendes. Centennarfeier m 
‚Hannover. Der Militäroberpfarrer hat das Wort und erzählt, Napolinm 
habe ſein Volk, das „aus dem Narrenhaus entlaſſen“ ſchien, „Durch feine In⸗ 
fanterie, Artillerie und Kavallerie zur Vernunft gebracht.“ Hiſtoriſch. Nod 
mehr nach meinem Herzen der Sag: „Wir wollen heute ein Feſt ſeltener Art 
vor dem Angefichte der göttlichen Majeftät, des [Königs aller Könige, und 
unter den Augen der irdiſchen Majeſtät, unferes vielgeliebten Kaiſers uud 
Herren, begehen.” Offenbar neufte evangelifche Rangordnung. 
Sonft aber, bei fämmtlichen Göttern, nichts Neues. Set froh. Diet 
Woche gehört dem guten Alten. Dem Beften, ſcheint mir, trogdem id; Fronm⸗ 
heit nie lernte. Du haft die Weihe, haft überhaupt Alles, was Menſchenbe⸗ 
gehr. Gefunde Kinder, bie Maid beinahe Braut, einen Standesgemäßen, 
mit dem Du, wie ſich fpät, aber deutlich zeigt, in märchenhaft glüdlicher Ch 
lebft, und einen Bruder, den ſelbſt Deine bitterfte Laune nicht von ſchlechten 
Eltern nennen darf. Braucht fürs Nömijche Neich nicht zu forgen. Das 
quält ſich Schon fo ſacht durch und hört nicht aufdie vox elamantis in de 
serto. Gud Du mir aus Iuftigen Augen in die Chrifttanne! Konnte vid 
ſchlimmer kommen; öffentl: und privatim. Den Kleinen trägts auch noch: 
fo ſchnell verfchichen die Preußen ihr Palver nicht... Und nach den Feten 
bald auf die Strümpfe gemacht! Will der Rebell nicht, fo bleibt er an feinem 
Herd und lernt in derNoth beten. Das mit der Einheit des Ortes gar nid! 
fo falſch, wie Dein feßsafter Sinn träumt. Hättet Euch viel öfter mal tren⸗ 
nen follen, ftatt immer als Papageienpärchen neben einander aufber Stanf 
zu boden. Frage Cotten, wies ſchmeckt. Die natürlich zehntaufend Grükt 
fendet und ſchon im Voraus für all die verheißenen guten Gaben danft. (Vom 
Schwiegerneffen in 8pe habe ihr nichts gefteckt, weil felbft die beften Weibchen 
- das Mündchen nicht Hılten können, wenn Eheliches im Spiel.) Gute Nıdt, 
mein Herz. Sobald der Engel auf der Tannenipige den erften Strahl kriegt, 
bift Du verpflichtet, an Den zu denken, der war, ift umd fein wird 


Deiner Unvergleichlichleit unwürdiger Knecht 
Meorit 





Die Entmwidelung der Ehirurgie. 417 


Die Entwicelung der Chirurgie.“) 


hne Uebertreibung darf man behaupten, daß das vergangene Jahr: 

hundert für die Chirurgie als Zweig der Heillunde und ihre Ent- 
widelung als Wiſſenſchaft auf Grundlage moderner Naturforfhung mehr 
geleiftet hat als die vergangenen 2200 Jahre von Hippofrates bis zur Gründung 
ber Acaddmie de Chirurgie in Paris. Die Wunbdarzuellunde, wie bie 
praktifche Heilfunde im Allgemeinen, iſt aus den Bebürfniffen des täglichen 
Rebens hervorgegangen, da die Menſchheit, die von Krankheiten, Verlegungen 
und Gebreſten aller Urt befallen iR, dringend Abhilfe verlangt. Wenn 
tundige und fachgemäße Hilfe fehlte, mußte ein Laie, der bach Yamilien- 
tradition einiges Talent, eine dur allzu große Gewiſſenhaftigkeit nicht an- 
gefränfelte Erfahrung und genügenden Muth mitbrachte, in die Breſche 
einspringen. Diefer fuchte, fo gut er konnte, mit feinen Rathichlägen und 
Manipulationen den Schaden wieder gut zu machen, bat ihn aber manchmal 
aus Unfenntnig auch verſchlimmert. Das geſchah fo in alten Zeiten, ges 
fchieht jegt noch auf Schiffen, im Pfarrhaus des einſamen Gebirgsdorfes, 
im weltverlorenen Forſthaus oder bei plöglichen Unglüdsfällen, und da mit 
ooller Beredhtigung, der die modernen, namentlich duch Esmard ind Reben 
gerufenen Beftrebungen des Samaritermefens ihren praftifchen Ausdruck ver: 
fiehen haben. Aber wie die wilden Echöflinge ben edlen Roſenſtrauch über: 
wuchern und endlich erdrüden, wenn nicht die forglame Hand des Gärtners 
fie befchneidet, fo konnte fih auf dem Boden ber modernen Gefeßgebung, 
welche die ärztliche Kunft und Praris dem Laienelement ſchutzlos preisgegeben 
bat, da8 Kurpfuſcherthum Appig entwideln und droht, den edlen Trieb der 
wiſſenſchaftlichen Medizin, der. nicht blos als Produkt des menfclichen 
Geiftes eine ber ſchönſten Blüthen menfchlicher Kultur darftellt, fondern auch 
für das Wohl und Weh des einzelnen Menſchen und des gefammten Staates 
von ber einfchneidendften Wichtigkeit ift, zu erftiden. 


— — — 





*) Herr Profeſſor Dr. Czerny bat die Rede, bie ex bei einer akademiſchen 

Beier ald Prorcktor der Univerſität Heidelberg bielt, der „Zukunft“ zur Ber 
breitung überlaſſen. Das hier veröffentlichte Hauptftüd behandelt die Entwidelung 
der Chirurgie während des neunzehnten Jahrhunderts. Im Anſchluß an diefe 
Darftellung betrachtete der Redner dann noch die Unterrichtsfrage. Er hält das 
humaniſtiſche Gymnaſium für die Stätte der beiten Vorbildung, fordert aber 
breiteren Raum für den phyſikaliſch-naturwiſſenſchaftlichen Anſchauungunterricht. 
Mehr ald ahtundzwanzig obligate Schulftunden in der Woche dürfe der Hygienifer 
nicht geftatten; auch mäffe er verlangen, daß die Lernenden durch angeftellte Schul. 
ärzte fontrolirt werden. Der Schlußſatz lautete: „Wenn der Staat die Blüthe 
feiner Jugend zu neunjähriger Schularbeit zwingt, muß er au dafür forgen, 
daß fie dabei nicht nur geijtig, ſondern auch Fürperlich „gedeiht.“ 





478 | Die Zukunft. 


Es wird niemals möglich fein, Krankheit und Tod, Summer und 
Elend aus der Welt zu fchaffen, und es ift nur allzu menſchlich, wenn bie 
natürlichen Mittel verfagen, auf übernatürliches Einwirken feine Hoffnung 
zu fegen. Iſt doch aus dem Gefundbeten wieder ein Metier gemacht worden; 
und dennoch weiß Jedermann, daß es höchſtens für eingebildete Kranke und 
Narren einen Nuten baben kann. Bon den älteften Zeiten bis auf unfere 
Inge ift die Furcht vor der ungemwiffen- Zukunft zur Beherrſchung der Geifter, 
aber auch bes Geldbeutels der Menfchen ausgenügt worden. So lange bie 
Menfchheit noch nicht fo geſcheit ift, zu willen, daß unfer Sein unb unfer 
Befinden die umerbittlichen Folgen ber ererbten und erworbenen Eigenfchaften 
und der auf ung eimwirkenden Einflüffe der Umgebung find — eine Erfahrung, 
die wir mwefentlich der modernen Biologie verdanfen — und bag die Menſchen 
nur durch eigene Thätigkeit und durch Generationen fortgefegte Arbeit diefe 
Berhältniffe zu beffern im Stande find, wird es nothwenbig fein, dag von 
Staated wegen ein Befähigungnachweis dafür verlangt wird, wenn Jemand 
das Recht beanſprucht, einen kranken menfchlihen Organismus wieder herzu⸗ 
ftellen, der fo viel Fomplizirter eingerichtet ift al8 eine Maſchine, ein bau⸗ 
fällige Gebäude, Befig oder Bermögen. Wir find noch nicht reif für eine 
vollftändige Freigebung der ärztlichen Praxis. Die tägliche Erfahrung ehrt, 
daß viele Reidende, denen der zünftige Arzt nicht geholfen hat, ſich an dem 
Kurpfufcher wenden, ber, in der Negel ohne jegliche Bildung, und nachdem 
er in anderen bürgerlichen Berufen Echiffbruch erlitten hat, fich durch ſchwindel⸗ 
hafte Reklame Glauben und Anfehen zu verfchaffen ſucht. Freilich ift Das 
gerade fo unjinnig, wie wenn man feine Uhr von einem Trödler tepariren 
läßt, weil er auch manchmal mit alten Uhren handelt. 

Der Schade, der aus dem Ueberwuchern bes Kurpfuſcherthumes herver⸗ 
geht, trifft nur zum geringften Theil die Aerzte. Unendlich viel größer if 
er für bie Patienten, die fo oft den günftigen Zeitpunft verfäumen, wo 
ihnen noch geholfen werden Tann, und die nicht nur ihr Geld ohne jegliche 
Gegenleifiung loswerden, fondern vor Scham, daß fie betrogen worben find, 
an Leib und Eeele zu Grunde gehen. Noch größer ift der Schade für den 
Staat, deſſen heutzutage fo wichtige Aufgaben in Bezug auf Belämpfung 
der Volksſeuchen und anftedende Krankheiten, zur richtigen Abſchätzung der 
gegen Unfall Berlicherten und zur Verbeſſerung des Loſes der unbemittelten 
Kranken volftändig iluforifch werden. Nichts fcheint aber ſchwerer zu f 
als einen Irrthum in der Öefeggebung einzugeftehen und wieder rüdgär 
zu maden. So mußten fih die Aerzte organifiren, um Schulter 
Schulter gegen die Unbill der Geſetzgebung und die daraus hervorgehen 
E chädigungen ihre8 Standes und der fanitären Verhältniffe der Geſellſt 
anzukämpfen. Möge es dem zwan igften Jahrhundert gelingen, diefe fchwie 
Etreitfrage zu einem für alle Theile befriedizenden Ausgleich zu brin 


Die Entiwidelung ber Chirurgie. 479 


Denn wir Chirurgen heute mit den inneren Aerzten gemeinschaftlich 
im Kampf gegen Krankheiten zufammenftehen, jo war Das bis ins achtzehnte 
Yahrhundert noch wefentlid anders. Die Chirurgie galt als eine niedrige, 
ja, zum Theil unehrliche Beichäftigung. Vielfach wurde fie im Umherziehen 
auf Meffen und Jahrmärkten getrieben, und bevor der Kranke, der fich einem 
umberziehenden Bruch: oder Steinfchneider anvertraut hatte, noch zum Be⸗ 
wußtfein des Schadens kam, der ihm angethan wurde, war ber Uebelthäter 
fängft über alle Berge. 

Wenn auch im verfchiedenen Staaten Chirurgen⸗Schulen errichtet worden 
ſind, ſo bildeten doch die Barbiere und Bader eine niedere Zunft, die mit 
der mediziniſchen Wiſſenſchaft nichts gemein hatte und deren Mitglieder von 
den Aerzten höchſtens als niedere Heilgehilfen bei der Behandlung der Kranken 
gebraucht wurden. Erſt bie Leibärzte Ludwigs des Fünfzehnten, Marochal 
und La Peyronie, veranlaßten die Gründung der Académie de Chirurgie, 
die im Jahre 1743 der medizinifhen Fakultät gleichgeftellt wurde. Sieben 
Jahre fpäter wurde von Chopart und Default die Ecole pratique de 
Chirurgie mit fech8 Betten eröffnet. In England wurde der Unterfchieb 
zwifchen den Surgeons und Physicians durch hervorragende Chirurgen, 
namentlich durch die bahnbrechenden Arbeiten Sohn Hunters, ausgeglichen, 
wenn er auch bis heute noch nicht ganz verwiſcht ift. In Deutfchland haben 
einige berorragende Profefforen an den Univerfitäten, wie Lorenz Heifter zu 
Helmftädt, Auguft Gottlob Nichter in Göttingen und Karl Kaspar von 
Siebold in Würzburg die Chirurgie allmählich zu Ehren gebradt. Aber 
noch 1774, als Mederer von Wuthmwehr in Freiburg feine Borlefungen mit 
einer Rede über die nothwendige Bereinigung der Chirurgie und Medizin 
eröffnete, drohten die Studenten, fein Haus zu flürmen. Er felbft entging 
nur mit Mühe ihren Mißhandlungen. 

In Berlin wurde fhon unter dem Hurfürften Friebrih Wilhelm 1714 
das „Collegium medico-chirurgicum“ auf Antrieb des General-Chirurgen 
€. ©. Holtendorff gegründet; es follte für die Ausbildung von Militär- 
ärzten forgen. Erſt unter dem General-Chirurgus Görde gelang es, das 
Friedrich Wilhelmsd- Fnftitut auf eine foldde Höhe zu heben, daß feine Zög⸗ 
linge für die zahlreichen Verwundeten in ben napoleonifchen Telbzligen ges 
fühlvolle und theilnehmende Aerzte wurden, wie es der greife Feldmarfchall 
Fürft Blücher von Wahlftatt wiederholt offen und unummunben ausge⸗ 
ſprochen Hat. Die zahlreichen Schlachten, welche die Morgenröthe des neun⸗ 
zehnten Jahrhunderts blutroth beleuchtete, ftellten an die Chirurgen uner⸗ 
börte Anforderungen, verfchafften ihnen aber auch eine Achtung in der gefells 
ſchaftlichen Stellung, wie fle fie vorher niemals befefien haben. In erſter 
Linie find bier die Leibärzte Napoleons, Larrey und Dupuytren, zu nennen, 


38 


480 Die Zukunft. 


welche die Erfahrungen, die fie auf den Schlachtfeldern gefammelt Hatten, 
in die Spitäler übertrugen, die unter ihrem Einfluß neu organifirt wurden. 

Im Hotel Dieu in Paris betrug die Mortalität Ende des adhtzehnten 
Jahrhunderts auf der dhirurgifchen Abtheilung 20 Prozent; und faft all 
Amputirten und Zrepanirten ftarben. 

Dupuytren brachte den größten Theil des Tapes in feiner Klinik zu, 
operirte und verband eigenhändig bie meiften feiner Kranken und verfanrmelte 
um feinen Lehrftuhl die ftrebfamen Chirurgen der ganzen Welt, jo daß mm 
ihn mit Recht den berühmteiten Chirurgen feiner Zeit nennen konnte. Auch 
die deutfchen Chirurgen, wie Chelius, Philipp von Walther, Dieffenbady uud 
Bernhard von Langenbed, holten fich in der erſten Hälfte de8 neunzehnten 
Jahrhunderts ihre Anregung und höhere Ausbildung mit Vorliebe von Parit 
feltener von Wien oder London. 

Die wefentlihe Grundlage ber Chirurgie bildete damals bie anato⸗ 
miſche Unterfuhung und Bergliederung des menſchlichen Körpers. Ti 
Operationen beftanden faft nur in Amputationen, Entfernungen von Aufker: 
lich figenden Gefhwälften, in der Behandlung von Wunden, Geichwüren un) 
Beinbrüchhen. Unter den gefchidten Händen von Graefe, Dieffenbad ums 
Anderen entwidelte ſich die plaftifche Chirurgie, die fi die Wieberherftellung 
von entftellenden ‘Defekten des Gefichtes, wie der Nafe, Tippen, Angenlider, 
Wangen, zur Aufgabe machte. Dabei fpielten bie Blutung-und bie Schmerzen 
eine große Rolle und die &hirurgen fuchten durch Schnelligkeit, glatte Schnitt: 
führung und elegante Ausführung der Operation diefe Gefahren möglidi 
einzufchränfen. Dazu waren genaue anatomifche Kenntniffe damals, wie amp 
heute noch, unerläßlih. Das Studium ber Vorgänge bei der Blutftiillung, 
wie fie namentlich Scarpa in Pavia mit großer Sorgfalt betrieb, führte 
allmählih zu dem Studium der feineren Vorgänge bei der Wundheilung, 
das ſchon John Hunter im achtzehnten Jahrhundert begonnen hatte, das aber 
erft im neunzehnten Jahrhundert, befonder# durch die dentfchen Chirurgen. 
wie Billroth, Thierfch und Andere, das Verſtändniß der Heilungvorgänge 
ermögliht hat. Das Problem ber Blutftillung befchäftigte die Chirurgen 
von Celſus bis auf Esmarch. War ja doch der Tod durch Blutverluft eine 
der älteften Erfahrungen, die der Menſch ‚bei offenen Berwundungen zu 
machen Gelegenheit hatte; und daß mit der Stillung bed Blutftromes das 
fliehende Xeben zurüdgehalten werden konnte, haben wohl fchon bie homerif ı 
Aerzte Podalirios und Machaon gewußt. Oft genügte ein geſchickter Fin - 
druck auf die blutende Stelle, der bei Heineren Gefäßen nach einiger i 
die Verflebung und definitive Blutftillung herbeizuführen im Stande ' 
Größere Gefäße wurden, wenn fie verlegt waren, von den arabifchen Ye. ı 
und ihren Nachfolgern bis ing fiebenzehnte Jahrhundert hinein mit dem 8 


Die Entwidelung der Chirurgie, 481 


eiſen behandelt und zw fchließen geſucht. Es ift das unvergängliche Ber- 
dienft Ambroife Pardes, durch die Ligatur, die Abbindung der Arterien, deren 
definitiven Verſchluß zu erzielen. Aber noch bis zum Kriege von 1870 war 
Die Unterbindung der Gefäße, die meift mit Seide vorgenommen mwurbe, eine 
Gefahr bringende Operation, da der Seidenfaden durch Eiterung ausgeftoßen 
werden mußte und die Eiterung nicht felten den das Gefäß verfchließenden 
Thrombus wieder zur Auflöfung brachte und dadurch eine tötliche Nach: 
-bfutung bervorrief. Es dauerte noch lange, bi durch Liſters Einführung 
von fterilifirten und reforbirbaren Ligaturfäden, durch Auskochen der Seide 
die Methode fo ficher wurde, daß heutzutage der Tod durch Verblutung nad 
Dperationen zu den größten Seltenheiten gehört. 

Man überzeugte fi, daß zur Blutftillung der Blutpfropfen (Throm⸗ 
bus) nicht nothwendig fei, fondern daß der Berfchluß der Gefäße auch durch 
direkte Berklebung ihrer Wandungen mit Wucherung des Endothels zu Stande 
tommen könne. Dan wagte deshalb, die Gefäte anzubinden, direkt am Ab- 
gange eines neuen Zweiges, ja, ſelbſt Schnittwunden der Gefäße direkt zu 
nähen und endlich auch Stichverlegungen des Herzens durch die Naht zu 
ſchließen, wodurch jettt ſchon manches Leben gerettet worden ift. 

Diefe Studien waren nur möglich unter dem Einfluß der neuen Wiffen- 
ſchaft der Hiftologie, der Gewerbefehre, deren Anfänge auf Felir Bichat (1803) 
zurädgehen. Als dann Schleiden und Schwann den Aufbau der Organismen 
aus Zellen nachgewiefen hatten und Virchow in feiner Cellular- Bathologie 
den Satz omnis cellula e cellula auch für die pathologiſchen Produkte 
bewieſen hatte, bemächtigten fich die deutſchen Chirurgen mit Vorliebe dieſer 
Studien über die feineren Vorgänge bei der Heilung der Wunden, ber Ent- 
zündung und Geihwulftbildung und fürberten dadurch in hohem Maße unferen 
Einblid in die Vorgänge des organifchen Lebens bei der Erkrankung. 

Sehr weſentlich wurden diefe Studien durch das Thiererperiment unter: 
ftügt und gefördert. Schon Immanuel Kant hat 1787, in der Vorrede zur 
zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, die Bebingungen, unter 
denen das Experiment Erfolg haben kann, fcharf formulirt: „Die Vernunft 
muß, mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinfommende Erjcheinungen 
für Gefege gelten können, in der einen Hand, mit dem Experiment, das fie 
nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar, um von ihr 
belehrt zu werden, aber nicht in Geftalt des Schülers, der ſich Alles vor: 
fagen läßt, was der Lehrer will, fondern eines beftallten Richters, der bie 
Zeugen nöthigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt * Im 
Experiment fönnen wir uns willlürlich die Bedingungen fchaffen und dadurch 
die Natur zwingen, auf unfere Fragen Antwort zu geben. 

Ä Schon Harvey entdedte den Blutkreislauf, Albrecht von Haller die 


38* 





482 Die Zukunft. 


Musfelivritabilität durch das Experiment. John Hunter machte Verſuche 
über Uebertragung von vollſtändig abgetrennten Körpertheilen, die wieder aus 
beilten. Charles Bell entdedte durch das Xhiererperimient den Unterſchied 
ber Tenfiblen und motorifchen Nervenwurzeln, die großen franzöfifchen Er 
perimental: Phyfiologen, vor Allen Magendie und Claude Bernard, au bie 
ſich unfere deutſche Phyfiologenfchule von Johannes Müller, Karl Ludwig 
bis auf Kühne angefchlofjen hat, haben durch das Thiererperiment den ſtolzen 
Bau unferer Kenntniffe über die phyfiologifche Thätigleit der Organe errichtet. 
Noch in jüngfter Beit hat Pawloff in Petersburg in bem Inſtitut, daS ber 
Herzog von Oldenburg gegründet bat, die Lehre von der Verdauung dur 
feine Berfuche an Hunden aufgeflärt. Die Berfuche von Heine in Würzburg 
über bie Neubildung von SCnochengewebe durch das Perioft gaben Bernhard 
von Zangenbed den Anſtoß zu feinen fubperioftalen Refeltionen, die im Kriege 
bes Jahres 1864 zuerft in größerem Maßſtabe zur Ausführung gelommen find 
und bei richtiger Nachbehandlung ausgezeichnete Refultate herbeigeführt Haben. 

Guſtav Simon hat an Thieren feftgeftellt, daß der Ausfall einer Niere 
durch die Funktion der anderen Tompenfirt werden lönne, und hat es gewagt, 
das Refultat diefes Berfuches mit glänzendem Erfolg auf den kranken Menfchen 
"zu übertragen und dadurch den Anftoß zu dem großen Gebiete der Nieren: 
Chirurgie: zu geben. j 

Billroth und feine Schule fürderten durch Thiererperimente unfere durch 
die Franzofen Jobert und Lembert angebahnten Senntniffe über Die beſte 
Nahtmethode bei Verlegungen des Darmes, ftudirten die Ausfchneidung des 
Magens oder eine Magentheiles und eröffneten dadurch neue Gebiete der 
Unterleibs. Chirurgie. 

So könnte ich Hunderte von Thatfadhen anführen, aus denen unwider⸗ 
‚ Ieglich hervorgeht, daß das von manchen Seiten viel verläfterte Thierexperi⸗ 
ment nicht nur unfere Kenntniffe jehr wejentlich gefördert hat, fondern auch 
hundertfachen Nugen für die Behandlung der Krankheiten und zur Xinderung 
der dem ganzen Menfchengefchlecht befchiedenen Qualen gefchaffen Hat. So 
lange die Menſchen Millionen von Thierleben opfern, um ihren materiellen 
Hunger zu ſtillen, wird man aud) da8 mit möglichfter Schonung de8 Schmerz⸗ 
gefühles ausgeführte Thiererperiment zur Stillung des Wiſſensdurſtes ge- 
ftatten müflen. Der Drang nad der Erforfhung der Wahrheit ift nicht 
weniger quälend al8 der materielle Hunger und Durſt. Sonft hätten nid 
Hunderte von Märtyrern für ihre Ueberzeugung Lebensglüd und Geſundhei 
hingeopfert und fi dem Mlärtyrertode geweiht. 

Auch die genauere Kenntniß der fchmerzftillenden Mittel, die unenblic 
viel zur Verminderung und Abſchwächung der alle chirurgiſchen Eingrif 
begleitenden Schredniffe beigetragen haben, verdanken wir im Wefentlicher 





Die Entwidelung der Chirurgie. 483 


dem Ihiererperiment, wenn auch die Anfänge auf zufällige Beobachtungen 
beim Menfchen zurüdzuführen fein dürften. Die Empfindunglofigfeit des 
Meenfchen im Alkoholrauſch ift ficher eine Jahrhunderte alte Erfahrung. 
Humphry Davy benutte die damals neue Kenntniß der Cafe zu therapeuti= 
fchen Zmeden und ließ Sauerftoff, Stidorgbul, dem er den Namen Lachgas 
gab, und fogar auch Scwefeläther zur Befeitigung von afthmatifchen Be— 
ſchwerden einathmen. Aber erft der Chemifer und Arzt Jackſon und ber 
Zahnarzt Morton in Bofton empfahlen 1846 fuftematifch die Anwendung 
der Aethernarlofe zum Zwed der fchmerzlofen Ausführung bon Operationen. 
Die Amerilaner befchenkten die alte Welt mit der künftlichen Erzeugung der 
Schmerzlofigkeit und dürfen mit Stolz ihren fpäter fo unglüdlichen Lands⸗ 
leuten die Devife aufs Grab feßen: Jovi dolorem eripuerunt. 

Es würde mich zu weit führen, wollte ich hier genauer fchildern, wie 
der Aether von dem Schotten Simpfon durch das Chloroform erſetzt worden 
tft, wie die alten Methoden der Lokalen Anäfthefie durch Kältewirkung wieder 
durch neue Mittel, wie die Wetherzerftäubung, zur Anwendung gekommen 
find, wie man nad) Erkenntniß der Gefahr, welche die allgemeine Anäfthefie 
als eine Art Vergiftung in fich birgt, fie zu erfegen ſuchte durch Lokale Anäfthetica, 
wie die Auffindung des Cocains umd feiner fynthetifchen Erfagmittel immer 
mehr dazu führt, den fchmerzftillenden hemifchen Kern von den giftigen Stofien 
zu ifoliren, und wie die merfwürdigen Produkte, die man aus ber Neben» 
niere gewonnen hat, biefe Lofal anäfthefirende Wirkung in wunderbarer Weife 
zu fleigern vermögen. Thatſache ift, daß all diefe noch immer im Fluß be= 
findlihen Unterfuhungen unfere Kenntnifje über die Funktion der Nerven, 
über deren eigenthämlichen Reiz, den wir als Schmerz empfinden, außer- 
ordentlich vertieft haben, daß aber auch die Befeitigung der Schmerzempfin- 
bung e3 ung ermöglicht hat, operative Eingriffe auszuführen, vor denen noch 
wenige Jahrzehnte vorher die fühnften Chirurgen zurückgeſchreckt wären. 

Dahin gehört im erfter Reihe die enorme Entwickelung der Chirurgie 
der Unterleiböorgane. Noch in feiner Operativen Chirurgie hat Dieffenbach, 
der kuhnſte und gejchidtefte Chirurg in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, 
die Ausführung der Ovariotomie als ein tollfühnes Unternehmen bezeichnet, 
dad weber dem Kranken noch auch dem Operateur Segen bringen konne. 
Dennoch hatte fchon der amerikanifche Arzt Mac Dowell feit bem Jahr 1809 
mit Abit und Erfolg mehrere Dvariotomien ausgeführt. Seine Berichte 
wurden aber nicht beachtet. Die fpärlichen Verſuche, ihm nachzuahmen, hatten 
erft in den Händen von Spencer Wells in London und Köberle in Straf 
burg durchſchlagenden Erfolg. Erſt die Einführung der antifeptifchen Wund⸗ 
behandlung durch Korb Fofeph Lifter hat den mit Eröffnung des Bauchfells 
berbundenen Operationen ihre Gefahr genommen und ben Exfolg aller ope- 


484 Die Zukunft. 


rativen Eingriffe fo ſehr gefichert, daß ihre Zahl gegen früher nicht nur ver- 
bunbertfacht worden ift, fondern die Prognofe des Eingriffes als folden ih 
mit mathematifcher Genauigkeit nach den biäherigen Erfahrungen auf dem 
Gebiet voransbeftimmen läßt. Zufällige Wundkrankheiten, Eiterveıgiftungen, 
feptifches Wundfieber, Rothlauf, Starrkrampf, die früher oft zu ben eim 
fachften Eingriffen hinzukamen, Lafien fi durch die Einführung der ants 
feptifchen und afeptifchen Wundbehandlung von nicht infizirten Wunden mit 
faſt volllommener Sicherheit abhalten. 

Die Mortalität der Ovariotomie, der Amputationen, ber komplizirten 
Knochenbrüche, die früher 50 bis 60 Prozent betrug, ift durch Liſters Ent 
dedung und ihre Ausbildung auf 5 bis 6 Prozent gefunfen. Viele Ope⸗ 
tationen, die man früher wegen der großen Rebensgefahr kaum auszuführen 
wagte, gehören jest zu dem täglichen Aufgaben bes Chirurgen. So bie Erin 
pation des Kropfes; die uralte Trepanation, die faſt vergeffen mar, wurde 
erweitert zur Gehirn-Chirurgie und biente nicht allein zum Aufſuchen vor 
Abszeflen, zur Entfernung von Knochenfplittern, fontern auch zur Befeitigung 
von Gefchwülften in der Gehirnoberfläche. Die dabei gemachten Erfahrunger 
erweiterten unfere Kenntniffe über die Kofalifation der Gehirnfunftion. And 
der Rüdgratsfanal wurde eröffnet und verborgene Geſchwulſte, die aus de 
Symptomen richtig diagnoftizirt werden konnten, befeitigt und im mandes 
Fülen dem Ruckenmark feine Leiftungfähigleit zurüdgegeben. Die operatix 
Behandlung der Ergüſſe in die Brufthöhle, felbft in den Herzbeutel mark 
wieber aufgenommen, methodifch ausgebildet und führte viel Häufizer zu einen 
günftigen Erfolg als vorher. Durch die Radilaloperation der Unterleib* 
brüche werden Taufende von jungen Menfchen von dem läfligen und un 
fiheren Bruchband befreit und Hunderte wieder bienftfähig fürs Militäͤr und 
feiftungfähig für ſchwere Arbeit. Als ganz neues Gebiet wurbe bie operafif 
Befeitigung der Gallenfteine, wenn fie allen Bemühingen der inneren Medizie 
zum Trotz nicht abgehen wollen_und ihrem Träger große Befchwerden m 
Gefahren verurfachen, durchgeführt. Die älteren Verſuche, Leberabszeſſe und 
Echinokokken operativ anzugreifen, wurden mit glüdlichem Erfolg wieder auf: 
genommen und felbft Gefchwülfte aus ber Xeber entfernt, wobei die Cre 
rimente von Ponfid die merkwürbige Regenerationfähigkeit der Leberfubilan 
nachgewiefen haben. Zu den ſchon erwähnten Operationen am Wagen u 
Darnılanal, die durch die chemifche und mechaniſche Unterfuhung dd ' 
halte8 und der Lage mit der Magenpumpe auferordentlih an Si‘ 
gewonnen haben, gefellte jich die operative Behandlung der Blinddam ' 
zändung, als deren Ausgangspunkt der Wurmfortfag erfaunt much, 
Befeitigung die großen Gefahren der Erkrankung in der Regel aufbeht 
Operation ift leider beinahe Diode geworden, zum Theil, weil buch 





Die Entwidelung der Chixurgie. 485 


rativen Eingriffe die früher ſehr ungewiſſe Diagnoſe viel ſicherer gemacht 
worden iſt, zum Theil aber auch, weil die Erkrankung durch die Lebensweiſe, 
vielleicht auch durch die wiederholten Influenza: Epidemien häufiger geworden 
if. Auch die Operationen an der Blafe und an der Niere haben an Sicher: 
heit gewonnen und ihre Erkennung buch Erfindung des Blafenfpiegels große 
Fortſchritte gemacht. 

Wenn der Unterſchied in der Geſammtheit der Mortalität nach Ope⸗ 
tationen von jeßt gegen früher nicht fo auffallend fich gebeffert hat, wie ich 
e3 für die Amputation und die Dvariotomie hervorgehoben habe, fo liegt es 
daran, daß immer neue und fchwierigere Operationgebiete erobert worden find 
und daß bie erzielten Erfolge zu Eingriffen ermuthigten, bei denen die Aus⸗ 
fichten nur gering fein fonnten. Selbft der Kranken bemächtigt fich der Ge⸗ 
danke, daß, wenn alle Hilfsmittel nichts nüßen, vielleicht dircch eine Operation 
noch geholfen werben fönne, und gar manchmal läßt fich der Operateur dadurch 
zu einem Eingriff beflimmen, den er bei genauer Kenntniß der Sachlage 
tieber unterlafien hätte. Das vorgerüdte Alter gilt im Allgemeinen nicht 
mehr als eine Öegenanzeige operativer Eingriffe, aber dennoch können wichtige 
Drgane des Kreislaufes und der Lunge fo abgebraucdt fein, daß Kompli- 
fationen von diefer Seite einen Strich durch die befte Berechnung machen. 

Liter ging bei der Entdedung feiner Behandlungmethode von den 
Unterfuchungen Paſteurs aus, der nachwies, daß bie Zerfegung von Ylüffig- 
feiten ausbleibt, wenn man den Hinzutritt von organischen Keimen verhindert. 
In diefer Beziehung hatte Paſteur ſchon Vorgänger, da Schwann, Helm- 
holg, Schröder und Dufch durch ähnliche Experimente den felben Beweis, 
wenn auch vielleicht nicht fo augenfällig, geliefert hatten. Lifter wurde durch 
den auffallenden Unterfchied im Heilungverlauf von einfachen und kompli⸗ 
zirten Knochenbrüchen dazu geführt, dag die fo viel größere Gefahr bei ben 
offenen Knochenbrüchen durch das Hinzutreten der Luft und von Zerfegung- 
erregern bedingt fein müfle. Er fuchte deshalb die Luft und die Wunde zu 
besinfiziren und benuhzte dazu als beftes Antifeptitum die Karbolfäure. Mit 
divinatorifhem Scharfblid erlannte er aber auch die Wichtigkeit, die Hände 
und Inſtrumente vor der Berührung mit anderen infeltiöfen Stoffen in Acht 
zu nehmen und die mechanifchen Inſulte der Gewebe bei ben Operationen 
auf das möglichſt geringite Maß einzufchränfen. Wie er ſich ausbrüdte, Tolle 
man die Wunde allein laſſen, wenn fie gut heilen ſolle. Auch Liſter haite 
in diefer Beziehung ſchon einen Vorgänger, ba fchon vorher der Geburthelfer 
Semmelweiß in Wien die Ueberzeugung ausgefprochen hatte, daß das in dem 
Gebaͤrkliniken fo gefährliche verherende Wochenbettfieber durch Uebertragung 
von fauligen Stoffen, namentlich durch die Hände der Aerzte und Hebammen, 
zu Stande komme und daß äußerfte Sauberkeit und möglichft wenig Berüh⸗ 
zung der Gebärenden biefe Gefahren erheblich einfchränfen oder befeitigen könne. 





486 Die Zutunft. 


Schon Kifter hat ſich bemüht, feine Methode nach verfchiebenen Rich⸗ 
tungen zu modifiziren; aber bie weſentlichſte Bereinfahung und erperimentelle 
Begründung hat fie in Deutfchland gefunden. Dur Bruns und Miluliez 
wurde feftgeftellt, daß die Gefahr der Luftinfektion verbältnigmäßig gering 
fei, daß man den Karbolſpray Liſters entbehren kann, daß die antifeptifchenz 
Mittel nicht nur Gifte für die Bakterien, fondern au für die Gewebe des 
menfchlichen Körpers find und daß man auch ohne fie, mit firengfier Rein— 
lichkeit, Desinfektion der Inftrumente umd Berbanböftoffe, durch Hige unb 
frömenden Dampf im Stande ift, die beflen Heilungrefultate zu erzielen. 
In Folge Deffen ift die afeptifche an die Stelle der antifeptiichen Methode 
getreten (Bergmann). Da fich herausgeftellt hat, baf auch bei der größten 
Vorſicht und gründlichiten Desinfektion eine vollkommene Keimfreiheit der 
Wunde nicht zu erzielen ift, trogdem aber der Heilungverlauf fidh regelmäfig 
afeptifch geftaltet, hat man gelernt, den im lebenden Körper vorhandenen Schug- 
Träften gegen die Infektion größeren Werth beizulegen und die mechaniſche 
Inſultirung der Gewebe bei den Operationen auf das möglichſt geringfie 
Maß einzufchränten. 

Dei diefen Studien über die Urſachen der Wundinfeltion, die nament⸗ 
lich durch Theodor Billroth und Dtto Weber mit Zuhilfenahme der damals 
von Bärenfprung und Anderen ausgebildeten Thermometrie eingeleitet worden 
find, hat man da8 zahllofe Heer der Bakterien namentlich mit Hilfe der durch 
Robert Koch verfeinerten Kulturmethoben genauer kennen gelernt. Man hat 
gefunden, daß fie zwar durch ihre ungemein raſche Vermehrungfähigfeit bie 
Gefäße und Gewebe ſchädigen und durch ihre Stoffwerhfelprodufte den Or: 
ganismus vergiften, daß fie aber bei ungünftigen Lebensbedingungen auch leicht 
zu Örunbe gehen oder doch ihre Gefährlichkeit einbüßen. Das genaue Studinm 
auf fünftlichen Nährböden im Qchiererperiment hat diefen Heinen Unholben, 
zum Beifpiel: den Peitbızillen, einen großen Theil ihre Schredens genommen, 
wenn aucd mancher Erperimentator feinen weniger vorſichtigen Umgang nrit 
ihnen duch Selbftinfeltion mit dem Tode büpen mußte. ‘Das genaue Stu: 
dium der mit diefen Mikroben infizirten Thiere bat ergeben, daß bei vielen 
eine gewiffe Angewöhnung eintreten kann und daß die Thiere eine Immu— 
mität gegen weitere Anftefung mit diefen Mikroben gewinnen. Diefe That- 
fache, die ih an die alte Minifche Erfahrung, daß das Ueberſtehen einer In⸗ 
feftionfranfheit, wie Blattern, Scharlach, Maſern, vor einer zweiten Erkrankung 
meiltend Schütt, führte dazu, aus den immunijirten Thieren Schugfloffe 3 
gewinnen, die ſowohl die Thiere felbft gegen ſolche Seuchen fihern als auc 
den Menfchen wie durch einen Impfſtoff gegen diefe Krankheiten immuniſiren 
oder Durch hochpotenzirte Schugftoffe von der ſchon ausgebrocdenen Kran 
beit wieder befreien können. 











Die Entwickelung ber Chirurgie. 487 


Den glänzendften Erfolg auf diefem Gebiete hat Behring durch die 
Erntdeckung des Diphtherieferums erzielt. Die früher fo gefürchtete Diph— 
therte hat bei feiner rechtzeitigen Anwendung den größten Theil ihres Schredens 
verloren und durch die fortgefegte Bekämpfung auch ihre frühere Gefahr zum 
Theil eingebüßt. Hier im Heidelberg ift durch die Einführung des Diph 
therieferums die Behandlung der diphtheritifchen Kinder und die jett feltener 
gewordene Tracheotomie faſt vollftändig von der chirurgiſchen Klinik auf die 
Kinderklinif übergegangen. Es ift fehr erfreulich, zu fehen, daß die modernen 
Kortfchritte der Therapie auch wieder manche Gebiete für die innere Behand⸗ 
lung zurüderobern, während immer neue Gebiete innerer Krankheiten ber 
mechaniſchen — Das heißt: der hirurgifchen — Behandlung zugeführt werden. 

Die ſtets zunehmende VBerwerthung phyfifalifcher und chemifcher Unter- 
ſuchungmethoden für die Diagnofe der Krankheiten ift eine wefentliche Ur⸗ 
fache, daß fich von dem Hauptftamm der Chirurgie verfchtedene wichtige Seiten: 
zweige felbftändig entwidelt und im Laufe des Jahrhunderts abgetrennt haben. 
Dis zur Erfindung des Angenfpiegel3 duch Hermann von Helmholg be 
ſchränkte fi die Augenheilkunde wefentlich auf die Behandlung der äußeren - 
Theile des Sehorgans bis zur Linfe. Dieſes befchränfte Gebiet konnte der 
Ehirurg neben feinen verhältnigmäßig einfachen fonftigen Aufgaben noch bes 
wältigen. Nachdem aber Helmholtz wie mit einem Schlage das Innere des 
.Anges dem ftaunenden Bid bis in den verborgenften Winkel blosgelegt hatte, 
nachdem er in feiner Bhyfiologifchen Optik die mathematifchen Probleme der 
Dioptrie auf die Nefraktion-Anomalien des Auges anwenden gelehrt hatte, 
ftellte fich, im Zufammenhange mit der durch Heinrich Diüller, Mar Schulze, 
Brüde, Reber geförderten mikroftopifchen Anatomie des Auges, eine folche Fülle 
von neuen Problemen ein, daß fie nur durch geniale, unermüdliche Spezia- 
Liften gelöft werden fonnten. Im rechten Moment trat die Lichtgeftalt Albrechts 
von Gräfe auf. Wie wenn ein alter Baum burch ein neues Pfropfreis ver 
ebelt wird, fo wurde die gefammte Heilfunde durch die Entwidelung der Augen⸗ 
beilfunde fruchtbringend beeinflußt. 

Auch die Erfindung des Kehlkopfipiegels, der von Czermak und Türk 
m Wien für die Praris nugbar geworden ift, ermöglichte die lokale Be⸗ 
bandlung ber Kehlkopfleiden unter Leitung des Geſichtes. Die erften operativen 
Erfolge, die Viktor von Bruns in Tübingen auf diefem Gebiet erzielte, ver- 
anlapten die Abzweigung einer neuen Spezialität, die fehr bald die Er- 
franfungen der Ruftröhre, der Nafen- und Rachenhöhle ſich Hinzugefellte. 

Auch die Ohrenheilkunde, die lange etwas ftiefmütterlich im Nebenamt 
von der Chirurgie verwaltet wurde, erhielt durch die Erfindung des Ohren 
fpiegel3 durch Toynbee und durch die foftematifche Bearbeitung ihrer phyſi⸗ 
laliſchen Grundlagen durch Helmholg mächtige Impulfe und hat in dem 


488 Die’ Zukunft. 


Händen gewiegter Spezialiften den alten Steptiziämus durch glänzende Erfolg 
überwunden. Durch fühne Operationen am Warzenfortfab, Behandlung der 
Gefahr drohenden Eiterungen in ben benachbarten Blutleitern und Gehirn 
partien haben Obrenärzte und Chirurgen einander befruchtet. 

In Deutfchland if die operative Gynäkologie, für die Guſtav Simer 
in Heidelberg bedeuiſame Fortfchritte angebahnt hat, weſentlich an die Ge 
burthelfer Abergegangen und hat ji in teren Händen mächtig entundel. 
In anderen Ländern führt fie entweder ein felbftändiges Dafein oder wir 
mehr von Chirurgen ausgeübt. 

Die merhanifche Behandlung von Verkrummungen der Ertremitäten 
duch Mafchinen, wie fie namentlich Zander in vorzägliher Weife erdach 
hat, tie Wiederaufnahme der Mafjage, die von den Römern geübt und m 
Drient niemald ganz vergefien war, die bamit. vielfach verfuüpfte Hybre 
therapie, die Heißluft» und Kichtbäder, die Anwendung von Elektrizität, de 
ſchwierige Verbandtechnik find die Veranlafjung, daß auch bie Drihopädt 
fih neben der Chirurgie felbfländig entwidelt und neue Gebiete, namentlid 
. and der Nervenpathologie, eroberte. Die Anwendung der Nöntgenphets 
graphie, die und fo wichtige? Dienfte bei der Behandlung von Knochen⸗ 
brüchen und Berrenkungen, bei der Entfernung von Fremdksrpern leiſtet, 
hat ſich zu einer fchwierigen und auch koftfpieligen Technik ausgebildet, welche 
die Zeit und Intelligenz eines geſchickten Mitarbeiters reichlich in Anſpruch nimmt 

So fehen wir, daß die Chirurgie mit der Ausdehnung ihres Mahe 
bereiche8 auch wieder Einbuße erleidet dadurch, daf neue Spezialitäten fd 
von ihr abzmweigen, die allerdings in ihrer felbfländigen Entwickelung wirde 
mächtig zur Fortbildung der Heiltunde beitragen. Aber wie jedes Ding I 
der Welt zwei Seiten hat, fo fteben auch hier dem Licht manche Schatle⸗ 

” gegenüber. So viel auch Deutfchland zu der Entwidelung der Chinsmgt 
beigetragen hat: es ift doch kein bloßer Zufall, daß die zwei größten Er 
findungen, die den mächtigen Auffchwung der Chirurgie ermöglicht haben: 
die Einführung der allgemeinen Narkofe und bie antifeptifche Wumbbehand 
fung, nicht bei uns, fondern in Amerika und England gemacht worten finl- 

Der enorme Fortfchritt auf faft allen Gebieten der wiſſenſchaftlicher 
Medizin, wie in der Chirurgie, hat deren Studium im neunzehnten Jahr 
hundert viel fehwieriger und fomplizirter gemacht. Wenn auch mancher alt 
Plunder über Bord geworfen wurde, fo ift doch die Menge Defien, meh 
ber junge Stundent bis zu feinem Staatseramen zu bewältigen hat, eı ' 
große, daß auch die jetzt durchgeführte Verlängerung des Studiumd 
zehn Semeiter und die Hinzufügung des praktifchen Jahres ihn ummi 
zu einem Meifter auf allen Gebieten der Medizin machen kann. © 
Hälfte feiner Studienzeit geht auf die theoretifchen Grundlagen uni 


Die Entwidelung der Chirurgie. 489 


in Deutſchland wird auf diefe das allergrößte Gewicht gelegt, weil fie ben 
jungen Arzt befähigen, mit der fortfchreitenden Wiſſenſchaft mitzugehen und, 
wenn er richtig medizinifch denken gelernt hat, auch auf ihm bisher unbe» 
kannten Gebieten fih mit Hilfe der Literatur unter berathender Beihilfe 
anderer Kollegen zurechtzufinden. Die praftiiche Ausübung der Heilkunde 
erjorbert fo viele Handfertigfeiten, die gelernt und geübt werden wüflen, die 
für jede Spezialität mit eigenen Hilfsmitteln und Inftrumenten umgeben 
find, dag er während der Studienzeit auch bei ausgebildeten mechanifchen 
Talent fih doh nur in beſchränktem Maß praltifh ausbilden kann. Da 
heißt es, auch in feinen Zielen und Anforderungen Maß halten. Ich Tann 
in den Minifchen Borlefungen meine Zuhörer, unmöglich in der Ausführung 
der Operationen, der ſtreng ajeptifchen Durhführung der. Verbände, der 
Einführung und praktiſchen Benugung ber verfchiedenen Sonden und Spiegel 
in enge Kanäle bis zur Meitfterfchaft bringen. Sie fehen ja all diefe Dinge 
vielfach und, wenn auch jeder Fall fein individuelles Gepräge bat, manchmal 
bis zum Ueberdruß; aber das Zufehen macht noch nicht den Meifter, und 
felbft wenn dem Praltikanten einfache typiſche Operationen und Berbände 
überlaffen werden, fo kann doch erft länger fortgefegte Uebung ihn für alle 
Anforderungen ber Praxis genügend vorbereiten. Auch dazu findet fi Ge⸗ 
legenheit, wenn die Stubirenden den guten Willen haben, als Praktilanten 
auf der Abtheilung unter Leitung der Affiftenten ſich zu befchäftigen. Am 
guten Willen fehlt e8 den Meiſten nicht, wohl aber an der Zeit, ba bie 
Zahl der Vorlefungen für den Mediziner eine fo große ift, daß 35 bis 40 
belegte Stunden in der Woche nebft mehreren Stunden praltifcher Uebungen 
ein ganz gewöhnliches Penſum daftellen. Da wir auf der Univerjität feinen 
Beſuchszwang ber Kollegien haben, fo ift felbftverftändlich, daß dieſe gefund- 
hei’lich ganz unerlaubte Ueberbürdung mit Arbeit nur durch gelegentliches 
Schwänzen der Borlefungen erträglich gemacht wird. Durch die Einführung 
eined praftifchen Jahres follen die jungen Aerzte mehr als bisher in die 
Praris eingeführt werden. Da aber die Wahl der Fächer, mit Ausnahme 
der inneren Medizin, freifteht, fo ift zweifelhaft, ob für die chirurgifche Aus- 
bildung der Aerzte dabei fehr viel herausfommen wird. Trotz all diefen 
Schwierigkeiten hat fich in den legten Dezennien eine fo große Zahl junger 
Aerzte in der Chirurgie ausgebildet, daß das Bedurfniß Deutfchlands nad} 
Chirurgen ficher mehr al3 doppelt gededt if. Wir haben heutzutage Feine 
Kriege mehr nöthig, um Chirurgen auszubilden. Die zahllofen Maſchinen, 
die mannichfachen Transportmittel, die ſozialen und politiſchen Streitigleiten 
und" Tte Haft des täglichen Lebens und Broterwerbes veranlaffen fo viele 
Unglädsfälle und Berlegiünigen, daß in Deutſchland etwa in anderthalb Jahren 
fo Diele Bertegungen zur Behandlung fommen wie während des Feldzuges 


” 





490 Die Zukuuft. 


von 1870 in ber beygtichen Armee. Deshalb find auch in allen Städten 
ze EEE I — — 
und Induſtriebezirken chirurgiſche Abtheilungen, zum Theil mit allermodernſtes 
Einrichtungen, unter tüchtigen Aerzten eingerichtet worden, die mit einem 
großen Stab von Affiftenten arbeiten und fie in die hirurgifche Praris einführen. 
Ich, zum Beifpiel, arbeite mit zehn Affiftenten und betrachte einen 
vierjährigen Lehrkurs, wobei alle Jahre eine andere Abtheilung bezogen wird, 
für ausreichend zur chirurgifchen Ausbildung nach beendigtem Staatferamen. 
Wenn nur der junge Chirurg nach zehnjährigem Studium aud gleich feine 
BDerwendung finden könnte ald Chef einer chirurgifchen Abtheilung, als &e 
werlichaftarzt oder al8 Dozent ber Chirurgie! Aber die Stellen finb nicht 
nur überall beſetzt, fondern auch die Ausficht, in eine davon einzinräden, 
durch meift vorhandene Anwärter fehr gering. Kurz, wie auf allen Gebieten, 
fo ift auch auf diefem in unferem allzu engen Baterlande die Konkurrenz 
übergroß. Deshalb ift die Furcht des Publikums, daß zu leiht und zu viel 
operirt werde, nicht ganz. ohne Grund. Es ift immer fo gewejen, daß, wenn 
eine Operation neu auffam und gänftige Erfolge aufzumeifen hatte, bie In⸗ 
difation etwas zu leicht genonmen wurde und häufiger ausgeführt wurde, als 
vielleicht abfolut nothmwendig geweſen wäre: fie wurde eben eine Modeoperation. 
&o war es früher mit dem Aderlaß, dem Schröpfen, dem Anfegen bes Haar 
feils, der Durchſchneidung des Zungenbändchens, der Berlürzung der Uvula, 
der Herausfchneidung der Mandeln, der Tenotomie und manden gunäfologi- 
fen Operationen. Die Sicherheit, mit der man heutzutage ftraflo8 Gelenke 
und die Bauchhöhle, ja, felbft die Schädelfapfel eröffnen kann, fcheint manch⸗ 
mal die Erfhöpfung aller diagnoftifchen Hilfsmittel, um bie Natur eines 
Leidens zu ergründen, durch die Probeinzifion überfläffig zu machen. Kurz, 
es wird mandmal vergeffen, daß bei jeder Operation ein gewiſſes Riſiko vor- 
handen ift, daß fie faft für jeden Menſchen eine wichtige Entfcheidung bedeutet, 
daß jie auch im beften Fall Narben binterläßt und daß fie nur dann berechtigt 
il, wenn man ficher ift, daß alle anderen ‘Mittel erſchöpft oder nutzlos ind, 
um die Heilung herbeizuführen. Diefe Entſcheidung kann manchmal recht 
ſchwierig fein und wird, je nach den in der Medizin herrſchenden Anſchau⸗ 
ungen, immer etwas verfchieden ausfallen, weshalb auch die fonfultirenden 
Aerzte oft verichiedener Meinung find. Die genannten Operationen find 
zweifello8 unternymmen worden aus dem berechtigten Wunſch, zu helfen, 
waren aber mandhmal der Ausflug einer überflüſſigen Vielgeſchäftigkeit und 
hätten dann vielleicht durch andere, einfachere Mittel erfegt werden köonnen. 
Da dem jungen Mediziner die glänzenden Erfolge in einzelnen Spegiali« 
täten, befonder8 auf operativem Gebiet, ſehr imponiren, jo kann man ji nicht 
darüber wundern, daß fich viele nach kaum beendetem Studium ohne die breite 
Unterlage allgemeiner gründlicher Vorbildung fofort einer Spezialität zus 








Die Entwidelung der Chirurgte. 491 


wenden. Daß Dies zu einfeitiger Auffeffung der Kranfheitprozefle, mehr 
zur Behandlung einzelner erkrankten Drgane alß des kranken Menfchen führen 
muß, liegt auf der Hand. Am Meiſten find die reichen Kranken zu bedauern, 
die für jedes ihrer Organe einen eigenen Spezialiften haben und für die der 
Hausarzt Feine andere Bedeutung hat als die, zu fagen, welcher Spezialift 
gerade am Meiften in Mode fei. Leider ift der gute alte Hausarzt, der auf 
ber breiten Bafis allgemeiner Bildung Rathgeber und Bertrauendmann der 
Familie in allen körperlichen und geiftligen Nöthen war und der auch mit 
praktiſchem Blid im Fall ernfter Erkrankung vollftändig feinen Dann fiellte 
und da8 Butrauen der Familie jo weit befaß, daß fie ihm überließ, wenn 
er glaubte, den Rath eines anderen Kollegen nöthig zu haben, in ten großen 


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Städten immer feltener geworben. Es if mir ſtets die größte Freude, wenn ' 
ih auf meinen Konfultationreifen einem ſolchen Arzt von altem Schrot und 


Korn begegne. 

Gar manchmal befommt man von Spezialiften den Eindrud, als wenn 
‚für fie zum Lofungwort geworden wäre: Quod non est operandum non 
est curandum. Der Fall bat nur fo lange Interefie für fie, wie er zu 
operiren und bie Dperationwunde zu heilen ift. Und dennoch füngt für den 
Arzt die wichtige und fchwierige Aufgabe erfi an, wenn der Kranke nicht mehr 
zu heilen ift oder wenn die Heilung nur auf bem langwierigen Wege von 
großer Umficht in Bezug auf Ernährung, Luft und Licht, forgfältiger Bes 
herrſchung aller Methoden und Mittel, welche die mechanifche und pharma» 
tologifche Behandlung den Aerzten in die Hand giebt, erzielt werben fan. 

Die zahllofen Fälle chronifcher Entzündungen, Abszeſſe und Fiſtelbil⸗ 


dung, tuberkulöſe Knochen» und Gelenkleiden, unheilbare Krebſe u ſ. w. find 


erſt recht eine wichtige Aufgabe für den humanen Arzt. Da heißt e8, feinen 
Mann ftelen und dem Kranken die Ueberzeugung beibringen, daß nicht nur 
feine Muhe zu viel ift, daß der Arzt fein Beſtes will, fondern, daß er auch 
im Vollbefige des Könnens und Wiſſens ift und daß er immer wieder Heine 
Erfindungen zur Erleichterung der Qualen und zur Beflerung des Befindens 
bei der Hand Hat, — kurz, daß gefchieht, was menfchenmöglich ift, um, wenn 
nicht den Kranken zu heilen, jo boch feine Leiden zu lindern. Die Ver⸗ 
ſaumniß diefer wichtigen Aufgabe des Arztes rächt ſich bitter an der Ver⸗ 
minderung des Anfehens des ärztlichen Standes und treibt Hunderte von 
Kranken, wenn fie an der Wirkſamkeit der wiflenfchaftlihen Medizin vers 
zweifeln, in die Hände der Kurpfuſcher. 


Heidelberg. Brofeffor Dr. Bincenz Ezerny, N 


Wirklicher Geheimer Rath. 


492 Die Zunft. 


Die Auserwählten. 


8" Iinten Flügel des Sankt Gertrud-Hofpitals feiern beim Inſpektor die „Aus 
erwählten“ das Weihnachtfeſt. Kummer oder Verbrechen haben ben Geiſt dieſer 
Menfchen verwirrt. Sie find fanft und frieblid und lieben ihre Pflegerin, die im 
Hofpital nie anders als „Fräulein“ heißt. Der Flügel der „Auserwählten” gehört zur 
erften Abtheilung. Nur wer reif befunden warb, findet hier Aufnahme. Der älteſte 
unter ihnen, der „Pfarrer“, hat ihnen den Namen der „Auserwählten“ beigelegt 

Sie fpeifen in dem breifenftrigen Zimmer, das „Saal“ beißt, weil es m 
alten Klofter als Speifefaal benutt wurde. Der Inſpektor läßt feine Blicke Akeı 
die Schaar hinweg, hinüber zum „Fräulein“, das am entgegengefesten Ende der 
Tafel first, und durch das Fenſter hinausgleiten, wo der Schnee vom Dad) bes langen 
Klofterganges blinkt, der das Hofpital mit der uralten Kirche verbindet. Hier bat 
er ein zweite® Heim gefunden; und er fann fie dort drüben, mit dem reichen, 
blonden Haar, das in Wellen die Stim umrahmt, nit mehr entbehren. Jriemals, 
felbft nicht, alS er noch mit feiner einftigen Gattin lebte, von ber er nun ſeit zehn 
Jahren gefchieden ifl, war ihm fo warm ums Herz wie jebt. 

Und nun follte e8 vorbei fein. Das längliche blaue Couvert, das er ba 
morgens erhielt, da8 Weihnachtgeſchenk des Miniſteriums, hat Allem ein Ende ge 
madt. „Wie Ihnen belannt fein wird, giebt c8 feinen rechtsgiltigen Grm), 
irgend welche Veränderungen vorzunehmen . . .“ 

Seit er von den entfetzlichen Ereigniffen in dem großen Iondoner Aſyl ge 
lefen hatte, läßt es ihm feine Ruhe mehr. Nächte lang hat er gegrübelt, berechnen 
Entwürfe gemadt. Die uralten Schorfteine, die offenen Kamine und die Walken 
defe! Unverantwortlidh! 

„Keinen rechtsgiltigen Grund!” Punktum. Wbgemadt! „Wollen Sie dr 
Verantwortung nicht übernehmen, — bitte: e8 giebt Andere, die e3 gern thım.“ 

Jetzt follte man eigentlich ftandhaft bleiben und nicht nachgeben, fondern dir 
Zuſtände an die Oeffentlichfeit bringen. Dann befam er feinen Abfchied in Ungnade 
und ohne Penfion und endete wohl wie der arme „Pfarrer“ dort, der Perfonen, 
die einmal gefchieden waren, nicht trauen wollte und die Folgen auf fidh nahm 
Aber das Fräulein mit dem fraufen Haar und ben Augen: er kann nicht. Mag 
fommen, was da will, — er bat jedenfalls feine Pflicht getban. 

Der Inſpektor erftidt den Seufzer in feinem Bollbart und ſchiebt den Stuhl 
zurück. „Gefegnete Mahlzeit!" Dann gehen fie durch das grüne Zimmer hinüber 
nad) dem „Konftftorium“, wo im offenen Kamin die blauen Flammen der Birlen- 
floben luftig prafjeln und ihren Widerfchein auf Die Studengel an ber Dede werfen. 
f Der „Pfarrer“ bleibt mitten im Bimmer fteben, beugt feinen frumme 
Rücken noch tiefer und ſpricht leife: „Uns ift heute der Heiland geboren!” | 

Kirsten, die „Braut“, jett ihren Myrthenfranz vor dem Spiegel über ber... 
zurecht, während ihre fanften und zugleich unſteten Augen von überirbifchem . 
ftrablen. Heute kehrt gewiß der himmliſche Bräutigam wieder, der ihr durch 
Gewalt böſer Menſchen entriſſen wurde. „Fräulein“ legt den Arm lieblofe-“ 
ihre ſchlanke Taille: „Wie fein unſere Kirſten heute iſt!“ Kirſten beugt de 
zurück, lehnt ihn an Fräuleins Schulter und lächelt ſelig unter gefchloffener > - 
Augenkdern: „Sc bin fo glücklich, fo glücklich!“ 





| TH 3 3 m 


Die Auserwählien. 498 


Setst kommen die Mägde mit den weißen Schürzen und reichen Kaffee und 
Weihnachtſtollen. Der Inſpektor nimmt ein verfiegeltes Padet, das unter dem 
Kuchen liegt, und giebt e8 Karen, der Fiſchersfrau mit den bleichen Wugen, ber 
das Meer in einer Nacht den Gatten und den Bater geraubt hat. 

„Andreas und Jens lajjen grüßen und wünſchen Karen ein frohes er!“ 

Karen ergreift das Packet; mit weit geöffneten, matten Augen und einen rofigen 
Hauch auf den blaſſen Wangen öffnet fie e8 baflig und nimmt den Fugen heraus. 

„Wie fteht e8 mit dem Haus?“ fragt fie athemlos. 

„Ja. ... Jetzt arbeiten fie fchon am Dad.“ 

„Gott fei Dank! Dann kann e8 nicht mehr lange dauern!“ 

Karen wollte feit jener Nacht keine Nahrung zu fich nehmen; denn die Toten 
erwarten fie zum Abendmahl im Himmel. Sie ißt nur, was Andreas und Jens 
ihr von dort durch den Inſpektor fenden. Beide bauen an der himmlifhen Wohnung; 
ift fie fertig, fo fommen fie und rufen Karen. 

In der Fenfternifche lauert „Klein-Annchen”. Beim Schein des Kamin- 
feuer näbt fie haflig die legten Stiche am Weihnachtkleidchen für ihr Heines Mädchen. 
Die dunklen Kinderaugen irren hinaus zu den Engeln an ber Dede; fie nidt ihnen 
zu und trodnet die Augen. „Klein⸗Annchen“ hatte einen Seemann lieb und belam 
ein Kind, deſſen Vater fie verließ. Da ftürzte fie fi mit dem Kind in den Kanal, 
um ihr Kleines dem unbarmderzigen Leben zu entreißen. Dan mußte bas Kind 
mit Gewalt aus ihrer krampfhaften Umarmung befreien. 

Ningsum hodt es in den Winkeln. Lauter „Auserwählte”, die mehr mit 
den Augen al8 mit dem Munde reden. Sie flarren in die blau lodernden Flammen, 
‚die ihnen das Geheimſte ihrer Herzen künden. 

Der Inſpektor reicht dem „Kaufmann“ eine Cigarre. Der dreht fie wwiſchen 
langen, raſtloſen Fingern, während feine ſchwarzen Augen bin zum Pfarrer ſpähen, 
der mitten im „Zimmer fieht und die Sand über den langen, buſchigen Bart 
gleiten läßt. 

„Sie verftehen mid) doch?“ flüftert er dem Inſpektor zu: „Ich wars nicht, 
der ihm die Silberlinge gab. Ich kann mein Alibi nachweiſen. Zu der Beit, wo 
der Kontrakt geichloffen wurde, war ich auf der Börfe. Sie wiffen ja, daß ich das 
‚große Geſchäft mit Levy & Nathan eingeleitet hatte. Weshalb follte ich mich aud) 
in die Sache mifhen? Zumal ich ſtets die größte Achtung vor dem Heiland hatte. 
Wenn er aud) das Geſetz verlettt und feine Zinfen nicht bezahlt Hatte, fo... 

Der Kaufmann war einer der ſchlimmſten Blutfauger der Stadt gewefen. Bielen 
nahm er ihr Hausgeräth, wenn fie ihm nicht den Zins zahlen fonnten. Aber eines 
Morgens erhielt er einen Brief, in dem nichts Anderes ftand als: „Jeſus Chriftus“. 
Ein zorniger Schuldner, dachte er, lachte fi ins Fäuftchen und ging auf die Börfe. 
Doch an dem Tage, da der Bankerott von Levy & Nathan ihm den großen Ber: 
luft brachte, lief er die Treppe hinab, hinaus auf die Straße und rief Allen zu: 
„Ich wars nicht, der ihm die Stlberlinge gab!“ 

„So, Träulein”, jagt der Inſpektor, der nad) feiner Uhr geſehen hat, „jett 
müffen fie drinnen fertig fein und wir können anzünden.“ Seine runden Augen 
ruhen zärtlich auf dem dichten, fraufen Haar, und als fie im Dunkeln vor ihm her 
durch die grüne Stube geht, muß er fih Gewalt anthun, um nicht feinen Arm 
um ihre weihen Schultern zu legen, die ihm fo lieb geworden find. 


494 Die Zuhmft. 


Sm Saal ift der Eßtiſch auseinandergenommen und an die Wanb gerüds 
worden. Der große Weihnadtbaum fteht mitten im Zimmer auf dem Fußbodes 
und firedt feine Spite bis in die Balfen hinauf. Mit Gold- und Silbergehänge, das 
fi) von Zweig zu Zweig windet, ift er gepubt; Engel mit glänzenden Flügeln tanzen 
an Gummifäden zwifchen den weißen Kerzen. 

.. Fräulein fteht auf der oberiten Sproffe ber hohen Leiter und hängt Konfelt 
an bie Zweige, während ber Inſpektor die lange Stange des Laternenputers Peter, 
bie felbft die höchſten Lichte erreicht, zum Anzünden benutt. Dabei fällt im ein, 
wie oft fie und er bier ſchon geflanden und ben Weihnachtbaum für die „Aus 
erwählten“ angezündet haben. Bielleicht ift heute das letzte Mal .. . Ein tiefer 
Seufzer ringt fi) aus feinem Herzen los. 

„Weshalb feufzen Sie?” fragt fie, aber mit einem weichen Klang ihres 
Stimme, der verräth, baß fie e8 weiß. 

„Weber die Schwäche der Menfchen, Kleine! Man fett Alles ein, um feims 
Sache durchzuführen, und erhält als Antwort eine Obrfeige. Trotzdem bleibt man.” 

„Weshalb bleiben Sie?” fragt fie leife und firedt die Arme aus, um 
eine berabgefallene Goldpapierguirlande zu befeftigen. Die Leiter kommt babei in 
Wanken und es fieht aus, als ob Fräulein herunterfallen wollte. 

„Um Gottes Willen!“ ruft der Inſpektor, lehnt die Stange gegen ben Baum 
und ftürzt herbei. „Liebfte, geben Sie Acht!“ Mit den Armen umfaßt er ihre Knie, 
um fie zu ftügen. Sie lächelt hinab zu ihm, um die Angft in feinen runden Augen 
zu beſchwichtigen. Darauf fteigt fie, an feiner Hand, vorfichtig die Sproffen herab, 

„Und gerade Sie fragen mich,” fagt er, „weshalb ich bleibe?” 

Sie antwortet nicht. Leiſe ftreichelt fie mit ihrer weichen Hand fein Saar. 
Er legt den Arm um ihren Leib, jebt, da fie unten ifl. Sie geht an den Ti 
und läßt ſich auf einen Stuhl fallen; die Erregung raubt ihr den Athem. „Lie 
beth!“ flüftert er und fiebt ihren feuchten Augen an, daß endlich ihr Widerftand 
gebrochen ift, daß fie endlich feine erfte, wegen feines Ehebruches gefdjiebene Che 
vergeffen hat. Er beugt ſich zu ihr, füßt ihr Haar, ihre Stiin. Da reiht fie ihm 
felbft den Mund. 

Es fniftert oben im Baum. Im Glasrahmen der Bilder über ihren Häup 
tern leuchtet der Widerſchein von fladernden Lichtern. Der Hündflod hat die Spike 
bes Baumes in Brand geftedt. Ringsum an den Wänden flammt es roth von 


. den Bildern längft verftorbener Direktoren des uralten Krankenhaufes. 


Der Inſpektor ift leihenblaß; feine Blicke haften wie gebannt an ber praf 
felnden, fladernden Spite unter der Ballendede. Vergebens bemüht er fi), dem 
Baum loszurütteln, den Lars Peter im Fußboden befeftigt bat. 

„Neiße die Gardinen herab!” jagt er zum Fräulein. Sie fieht an ber Thür 
und drüdt mit aller Kraft auf den Knopf der elektrifchen Klingel. Schnell fpriu 
fie hinzu und thut, wie ihr befohlen. Entfetst bleibt der berbeieilende Bermalter ı. 
der Thür ftehen; Hinter ihm kreifchen die Mägde vor Angfl. 

„Eine Art, ſchnell eine Art!“ 

Fräulein padt ihn am Arm; fie ift fo bleid wie er. 

„Die Auserwählten!“ flüftert fie. 

„Um Gottes Willen! Sie könnten den Brandgerucd merken, das Praf 
hören. Die Bellen drüben find ſicher — vorläufig —, biefe bier nicht; wenn 


* 


Die Ausermäptten. 495 


ietzt durch die grüne Stube gelaufen fämen!” Er ertheilt bem Berwalter feine Be- 
fehle, kurz und bündig, bleibt fliehen und denkt einen Augenblid nad: dann gebt 
«x binaus in den Gang und hinüber ins „Konfiftorium“. | 
Mitten auf dem Fußboden fit der „Pfarrer“, das Befiht dem Kamin 
zugewandt, und um ihn her fauern die Auserwählten und unterfudhen aufmerkſam 
feine ausgeftredten Hände. \ | 

„Seht, liebe Kinder”, fagt der Inſpektor ſcheinbar vergnügt, „gleich find wir 
fo weit. Uber die Chriftmeffe... Unfer lieber alter Pfarrer ift frank; was fangen 
wir da an? Sie müffen die Predigt halten, Ehrwürden; wollen Sie?” 

Der „Pfarrer“ erhebt fich, richtet feine tiefen Augen mit dem in fidh ger 
tehrten Blick auf den Inſpeltor und fagt leife: „Uns ift heute der Heiland geboren!” 

„Erifts. Kommt Alle und laßt uns hinüber in die Kixche gehen.” Der In⸗ 
{peftor führt die Auserwählten die Treppe hinab, hinaus in ben langen Kloftergang, 
wo bie lalte Dezemberluft durch ein Mappernbes Fenſter hinein pfeift. Jetzt leben fie 
in der uralten Kirche mit den vier biden Säulen in ber Mitte, die die Kuppel 
tragen, und ben hoben, jchmalen Tenftern. 

„Nun Hole ich unfer Fräulein!” fagt er, zündet die Gasflamme am Ein- 
gang an, dreht den Schlüffel um Schloß Hinter fi um und eilt zurid. Eben roflt 
die Sprite vom Magazin dur den Hof über den knirſchenden Schnee und von 
dern Flügel ber, wo die Zellen find, Mingt durch das klappernde Fenſter das Brüllen 
des „gefangenen Löwen” und das idiotifhe Lachen ber „Primadonna“ berüber. 

. Als der „Pfarrer“ die Kanzel erblidt, färmen alte Erinnerungen aus feiner 
Bergangenheit auf ihn ein. Er fteigt hinauf und beugt feinen Rüden über das Pult 
hinweg den emporgerichteten Häuptern zu, deren Schatten wie ungeheure Fleder⸗ 
mäufe über die weiße Dede des Altars mit feinen großen Armleuchtern hinhuſchen. 
Dann ftredt er den Arm ‘aus und fing. Mählich ftimmen Alle mit ein; Kirften- 
„Braut“ fingt im Zubel der Erwartung aus voller Bruſt. In ihrer Kindheit fang 
He im Kirchenchor mit. 

Auf! Der Tag ift nun erwacht, 
Der die Welt glüdjelig madt; 
Und in alle Herzen rein 

Dringt der Gnade Sonnenfchein. 


Der Pfarrer faltet die Hände und richtet den fo lange in ſich gefehrten Blick 
der tiefen Augen zur Dede empor. Dann predigt der Irre vor Irren: „Und das Licht 
leudtete in der Finſterniß und die Finſterniß verftand es nicht. Denn ihn, der 
uns zur Erlöfung geſandt ift, ihn ergriffen fie und nagelten ihn ans Kreuz. Ihn... 
Ihn fchlugen fie ans Kreuz.“ 

Kirften birgt das Geſicht in die Hände und fchludhzt laut um ihren ſtrah⸗ 
lenden Bräutigam. 

„Für dreißig Silberlinge verrietben fie des Menichen Sohn mit einem Kuß, — 
Hört Ihr: mit einem Kuß! ES fteht gefchrieben: Ihr follt nicht ehebrecdhen, und 
ein Seglicher, der ein gefchiedenes Weib zur Ehe nimmt, bricht die Ehe, Und er 
weigerte fi), fie zu trauen. Der Minifler fagte, daß das Geſetz e8 heiſche, aber 
er weigerte fid) trogdem. Der König befahl es ihm, aber er that e8 nit. Denn 
es ftehet geichrieben: Dur folft Gott mehr gehordjen als den Dienihen. Da er 
griffen fie ihn und ſchlugen ihn ans Kreuz zwiſchen zwei Schächern.“ 

39 


- 


496 Die Zukunft. 

Kirftens Wehllage tönt von der Wölbung wider. * 

Der Kaufmann lauert fich in feinem Stuhl zufammen und ſtöhnt mtı jyitrem- 
der Stimme: „Ich wars nicht, der ihm die Silberlinge gab.“ 

„Ja, Du warft es!“ donnert der Pfarrer von der Kanzel herab. * „Sch Teune 
Did wieder, Deinen fchwarzen Bart und Deine fchwarzen Augen! Du mwarftı @. 
ders in.die Zeitungen ſetzte, Du warſt e8, ber ihn Freuzigtel“ 

Karen. richtet ihre bleihen Augen auf den zitternden Juden und jagt „Bir 
wollen ihn ergreifen und auch ihn ans Kreuz fchlagen, auf daß ihm vergolten feil” 

Kirften fährt: mit geballten Fäuſten auf ihn los. Ihr Antlig. brennt um 
ihre wilden Augen fprüben. 

„Setze Dich nieder, Weib!“ befiehlt der Pfarrer; „denn al® er am Kreng 
hing, erhob er feine Stimme und fagte: Vater, vergieb ihnen, denn fie wiſſen nicht, 
was fie thun! Aber in ber fechsten Stunde kam Finſterniß über das ganze Lana. 
Und fiehe: da öffnete der Himmel feine Pforten und Blite fuhren bernieder amt 
der Hand bes Gewaltigen. Und die Pharifäer, die am Fuß des Kreuzes flanten, 
fogten unter einander: Niemals fahen wir ein ſolches Wetter! Aber ein Feuer. 
zegen fiel herab, fo daß der Himmel fid) fpaltete vom Scheitel bis zur Sohle. Um 
das Antlig des Allmächtigen wurde fichtbar und Hinter ihm Die drohenden Heer: 
ſchaaren der Engel. Da entſetzten fich die Pharifäer und riefen: Herr, wenn Da 
willft, gebiete dem Feuer Einhalt! Und in ihrer Angft fnieten fie nieder umb 
flehten: Herr, wenn es Dein Wille ift, höre auf mit Deinem Zorn, fo wollen wir 
Did) herabnehmen und zum- Könige trönen. Aber er würdigte fie feiner Antwort 
Der Himmel war wie ein Feuermeer anzufchauen. Die Thiere auf dem Felde 
brüßlten und riefen mit Menfchenzungen: Herr, weshalb fchlägft Du uns? We 
halb fuhft Du an uns beim, daß die Herzen der Menſchen böfe find von Jugend 
auf? Und zum dritten Male fielen die Pharifäer nieder und riefen: Herr, fliße 
ben Zorn Deines Baters, fo wollen wir Dich herabnehmen vom Kreuz und nieder- 
fallen und Dich anbeten als Gottes eingeborenen Sohn! Da erhob ber Erlöier 
fein Antlit zu dem Allmäcdtigen und rief: Bater, Du kannteſt fie beſſer als id: 
fie wußten doch, was fie thaten! Aber vergieb ihnen troßdem um Deiner unend 
lihen Barmderzigkeit willen! Und fiehe: die Schleußen des Himmels öffneten fid 
umd ein dichter Regen ftrömte herab und löfchte die Flammen. Das geſchah aber 
in der neunten Stunde. Da erhoben fid) die Pharifäer vom Fuß des Kreuzes mb 
ſprachen unter einander: Das Gewitter hat feine Zeit gedauert; auf Blitz und 
Donner folgt Regen. Und der Minifter fagte zu den. Soldaten: Laßt ihr nım 
hängen! Denn er wollte nicht die Gejchiedenen trauen, aber es fteht gefchrieben, 
daß das Geſetz erfüllet werde. Da ward der Herr und Erldfer zornig und rief: 
Du böjes Geſchlecht! Wiſſe: wenn die Zeit gefommen ift, da follen alle Sterne 
des Himmels berabfallen und alle himmliſchen Kräfte fih rühren. Dann werdet 
Ihr des Dienfhen Sohn in der Wolfe kommen fehen in feiner Macht und Herrlid- 
feit. Und er wird feine Engel fenden und feine Auserwählten verfammeln vom 
Ende der Welt bis zum Ende des Himmels.“ 

Ueber dem hohen Kirchenfenſter fladert die rothe Flamme. Das Feuer im 
Saal hat die Balfendede durchbrochen und aus ben Fenſtern züngeln bie Flammen 
an der geſchwärzten Mauer empor. 

„Seht das Licht!“ ſchreit Kirſten. 


— — — — — — ——— 


Die Auserwöhlten. 497 


Der Pfarrer wendet fein bleiches Antlig mit dem langen, buſchigen Bart 
dem zenfter zu. Bon der hohen Kanzel aus kann er Alles überſehen. Zuckende 
Tlammen, zifhende Waileritrahlen, eilige, ftürzende Dienfchen. 

„Das Licht leuchtet!“ ruft er. „Die Stunde ift gelommen. Sehet die lim 
finnigen! Noch jegt können fie es nicht begreifen.” . Und er richtet ſich in feiner 
ganzen Größe empor. Sein Antlıg ift erhellt von rothen Flammen, feine Augen 
ftrahlen in überirdiichem Glanz. „Seht: er kommt! Sein Kreuz: hat er abge- 
worfen. Er lommt, um feine Auserwählten zu fammeln vom Ende der Welt bis 
zum Ende des Himmels. * Dann jteigt er von der. Kanzel herab und geht über 
die, Galerie an der Maner entlang, bis er das Fenſter erreicht. Die Auserwählten 
unten in der Kirche Hettern auf die Stuhllehnen und erreichen die Galerie. Und 
jetzt ſtehen fie Alle wie gebannt vor dem gewaltigen Feuermeer, das den Giebel 
bes Kloflerganges umflammt. 

Karen drängt Kirften weg: „Andreas und Jens“, ruft fie „Tommt Ihr end⸗ 
lich? Gott ſei Lob und Dank!“ 

Kirſten⸗, Braut“ breitet wild die Arme nach dem Licht aus und fährt in 
die Scheiben, die Hirrend auf da8 Dad, hinabſtürzen. „Sch komme, ich komme!“ 
ruft fie, reißt fi die Hände an der zerbrochenen Scheibe-blutig und umklammert 
das eiſerne Gitter, um hinaus zu gelangen. 

Klein⸗Annchens Kind ſtreckt ſeine Aermchen der Mutter entgegen. „Mein 
Kind, mein ſüßes Kind!” ruft fie unter freudigem Schludjzen. 

„Herr, ich komme!“ fagt fill der Pfarrer, während feine Hände vor Selig- 
feit beben. Dann kriecht er durch das zerbrochene Fenfter; einen Augenblid tappen 
feine Füße in der Luft: nun ſteht er auf dem fchmalen Dach des Kloflerganges. 
Und er wandert mit./emporgehobenen Armen den fchmwindelnden Steg entlang. 
Ihm folgen Kirften, Karen und Annchen, alle Auserwählten, Einer nad) dem An- 
deren. BZulett kommt der Jude, der unausgejeht vor ſich hinmurmelt, während das 
Acht ihn unmwiderftehlich an fich zieht: „Ich wars nicht! Ich wars nicht!” 

Unten im Hof ftehen der Inſpektor und Fräulein und alle zum Hofpital ge- 
hörigen Leute fprachlos vor Entjegen. Dann rufen fie freundliche und drohende 
Worte zum Dad hinauf. Aber die Ausermählten hören und fehen fie nicht; ihre 
Blide hängengebannt an den fodernden Flammen und der leuchtenden Gluth der Wolten. 

Während fie mit ausgefpreiteten Armen auf dem ſchmalen Weg dem Tode 
entgegengehen, tönt ihr Weihnachtgefang Über die Erde: 

Jetzt der Vorhang ift gefallen! 
Gottes Herrlichkeit winkt en, 
In fein Heiligtdum zu treten. 

Die Flammen winken ihnen fchmeichelnd. Und fo, Mmempfimdlich für irdiſchen 
Schmerz, wandern ſie der ewigen Heimath zu, dem Gott entgegen, der ihnen gnädig 
den Verſtand nahm. Noch im Tode tönt ihr jubelnder Chor: 

Der in die Welt das Licht gebracht, 
Zum Tag verwandelt bat die Nacht 
Durch feiner Glorie heilgen Schein 
Hallelujag! Hallelujah! 
Linalyſt. Laurids Bruun. 


ð 39* 


' 


108 Die Zutsef 





Papſtthum und Neformation im Mittelalter. 1143—1517. Da 
Sängewald, Leipzig. 20 Mar. | 

Machiavelli fagt in feinem „Fürften“: „Alle bewaffneten Propheten 
haben gefiegt und bie unbewafineten find zu Grunde gegangen, wie es zuunien 
Beiten bem Bruder Girolamo Savonarola widerfuhr”; Diefer Satz des grohßes 
Staatsmannes wirb durch die Erfahrungen des fechgehnten Jahrhunderts mm 
eben fo durch bie bes ganzen Mittelalterß beftätigt. Um daher das Wachsthum un) 
die ſchließliche Vernichtung einer gegen das Papftthum Lämpfenden Religion 
partei, ber Waldenfer, Albigenſer, Stebinger, Wyklifiten und Lollarden, Taboriter, 
richtig zu verftehen, muß man bie politiihen Verhältniſſe kennen, ſowohl ia 
ben einzelnen Staaten als in ganz Europa, da das Papftthum immer verftane 
hat, die Unterthanen gegen das Staatsoberhaupt in Aufftand zu bringen, (ürke 
und Sreiftanten, namentlich die Schweiz, gegen andere Fürſten ins eb r 
führen. Die „Brüder“ ober Waldenfer in Italien wurden zuerſt burd de 
Hobenftaufen, fpäter durch Karl ben Vierten niebergeworfen; an bem Beutem 
gegen bie Albigenſer betheiligten fidh Kürften und Herren vom Rhein, aus Bed 
falen und ungarifhe Banden; das gegen die Huffiten kämpfende Freu 
gefinbel gehörte allen Spraden an. Der Geichichtichreiber der religiöfen ot 
kirchlichen Bewegungen bes Mittelalters bat es alfo fortwährend mit ben Ber 
hältniffen von ganz Europa zu thun und muß feht auf feiner Hut fein, men 
er fi nicht verlieren, ben leitenden Faden in der Hand behalten will. 

Seit ber Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts bereiteten fid; große Be 
änderungen vor; bie Päpfte ftellten ſich in feindlichen Gegenfag gegen bie Leijer 
Friedrich ben Dritten und Maximilian den Erften, Böhmen behanptete jet 
Unabhängigkeit vom Bapft, indem es an Polen Nüdhalt fanb und an ben Ir 
fürften von Sachſen und Brandenburg Bunbesgenofien, Halb Sachſen ſoget eu 
böhmifches Lehen wurde. So begreift man, wie es Kurfürſt Friedrich der 
wagen Lonnte, Martin Luther und feine Anhänger erfolgreich gegen Papft ao) 
Inquiſition zu ſchützen; Sachſen war unangreifbar. Aus ber GStellimgnafst 
Polens ferner erflärt fi die fo wichtig gewordene Säkularifirung des Destif 
orbenslandes Preußen im Jahre 1525. Aufmerkſame Beachtung verbienen fern! 
die Vorgänge in Süddeutſchland. Die Wegnahme öſterreichiſcher Landſchaſtes 
durch die Eidgenoſſen und beren Losfagung vom Reich weckte in ben Herrſchen 
Defterreich$ ftets von Neuem das Streben, das Verlorene wieberzugemintf® 
und die Eidgenofjen niederzumerfen, wozu 1525 ein naher Verſuch in Ar 
ftand und wozu aud die Aechtung der „Salramentirer‘' (Bwinglianer) 
den fpeierer Reichsabſchied von 1529 dienen follte; bie religiöfen Lehren Ziv 
galten vielen beutfchen Fürften als ſolche eines Ausländer, befien Anh! w 
der Beitritt zum Schmalfalbifchen Bund verfagt werben müffe Ich de u 
ein Glück betrachten, früh nad; Württemberg gelommen zu fen und jo ? J 
erhalten zu Haben, die Verhältniſſe Süddeutſchlands im fünfzehnten md ſech n 
Jahrhundert genauer kennen zu lernen, und ſcheue mich nicht, anszul Mr 
dab Rankes Deutſcher Geſchichte eine tiefere Kenntniß dieſer Verhältni h 


Selbftanzeigen. 
| 
| 





Gelbflanzeign. . | 49 


Die Beichlüffe des basler Konzils zur Einſchränkung der päpftlichen Ge⸗ 
walt, den Inhalt der Fürſtenkonkordate von 1447, die in der Wahllapitulation 
von 1519 für maßgebend erklärt find, die Bedeutung des Wiener Konkordates 
von 1448 babe ich auch dem Ungelehrten verftändlich zu machen gefucht und 
zugleich den Beweis geliefert, daß das Wiener Konlordat niemals die Geltung 
erlangt hat, die ihm die meiften Schriftjteller zufchreiben. Für die Gegenwart 
Bedeutfam ift der Abfchnitt Über das Konkordat zwifchen Leo dem Behnten und 
Franz dem Erften von 1516, das den franzöfifchen Königen das Recht zur Er 
nennung aller Biſchöfe und Aebte ihres Landes einräumte, aber den Untergang 
der politiichen Tyreiheit, die Erſchwerung der Reformation und ihre nachherige 
völlige Unterdbrüdung zur Folge hatte. Auf eigentliche Glaubenslehren einzu- 
geben, erichien nach mehreren Richtungen unerläßlich: hierher gehören bie Ab⸗ 
ſchnitte über die Brüder oder Waldenjer, die päpftlidhen Lehrſätze ſeit 1215, 
über Wyflif und die Lollarden, die Beichlüffe des Eonftanzer Konzils gegen bie 
Kommunion in beiberlei Geftalt. Beſonders genau find unterfucht die Lehren 
ber Zaboriten und der Utragquiften, da die gangbaren Angaben hierüber zum 
Theil unbeftiimmt lauten, zum Theil gröblich fehlerhaft find; wie denn über⸗ 
haupt die gefammten böhmiſchen Verhältniſſe eine forgfältigere und vorurtbeil- 
Iojere Würdigung gefunden haben. Dieje Darlegungen zeigen deutlich, daß die 
Neformation des fechzehnten Jahrhunderts feine Gedanken hervorgebracht Hat, 
die über da3 von den Brüdern und Taboriten Bertretene hinausgehen, ja, daß 
fie in gar Manchem Hinter ihnen zurücdgeblieben ift, da fie bindende Bekennt⸗ 
niffe ſchuf und den Grundfaß der religiöfen Dulbung verleugnete. Das Neue, 
was das jechzehnte Jahrhundert brachte, waren die kritiichen Arbeiten von Johann 
Neudlin über das Alte, von Erasmus von Rotterdam über das Neue Tefta- 
ment; ihnen durfte daher ein größerer Raum gewibmet werden. 


Tübingen. Brofeflor Friedrich Thudichum. 
s 


Der klingende Berg. Eine Novelle. Verlag von Arel Junder in Stuttgart. 


Ich babe mein Ohr an das Herz des alten Berges gelegt und es fing 
wunderſam zu tönen an. Quellen rauſchten, Vögel fangen, Menſchen lachten 
und weinten und jodelten laut. Und ich wunderte mich, wie bunt dies Alles 
Mang. Da fagte mein alter Berg: „Du erftauneft, daß ich troß all meinen 
Wurzelrunzeln und ſchweren Jahren noch fo viel Tugend in der Bruft trage. 
Ich wohne in einem geheiligten Land.“ Und ich küßte das Herz des alten 
Berges und er jegnete mich mit Strömen von herbem, herrlichen Fichtenduft 
und feine .männlichen Eichen hoben ihre Kronen. Aber ich Tage nicht, wo mein 
alter Berg wohnt. Ihr kennt doc, die Gefchichte vom Bogel, der das Lied aus 
plauberte und von den böjen Buben totgefchlagen wurbe? 


8 
Die Chöre des Lebens. Romanchklus. Erſter Band: Fräulein Don 
Juan. M. Lilienthal, Berlin 1903. 


Vielſtimmig find bie Chöre des Lebens; Jahre lang hörte ich nicht darauf. 
Im ſchweren und jchmerzhaften Kampf ums Leben, dein meine jungen Kräfte 


Miriam Ed. 


- --. — — 
[U U U —— — — —z — — ——- 


500 Die Zuhmift. 


faum gewachſen waren, jtellte ih mich taub für alle anderen Stimmen. Am 
Tage rang ich ohne einen abjchweifenden Gedanken mit bes Lebens Roth. Nur 
mande Nacht lag ich unter blühenden Rofenbüfchen und horchte auf eine Harfe, 
die von Liebe fang. So entftand dieſes Bud. Die Heldin Franka Peterien 
ift männlich begehrend von Charakter, aber weibli zart und hingebend von Au 
und Wejen. Dieſe Zwieipältigkeit ihres Innern treibt fie in allerlei verwegent 
und gefährliche Liebesabenteuer, aus benen fie gereift und veredelt hervorgeht 
Doloroja. 
— 


Letzte Stunden. Schauſpiel in drei Aufzügen, nad einem Motiv Erneß 
Renans. Berlin, Schufter & Löffler 1903. 

Es ijt ſeltſam genug, daß nod Niemand vor mir auf den Gedanken ge 
kommen tft, den ſchönen Stoff der „Aebtilfin von Jouarre“, der geradezu ned 
der Bühne feufzt, fürs Theater umzugeitalten. Bei feinem der vier großen 
Dramen des gedankenreichen Franzoſen ift die Unaufführbarleit jo zu beklages 
wie bet biefem legten und bedeutendften. Xöft fich doch Hier von dem gewaltigen 
Dintergrunde ber denkwürdigſten Gefchichtepoche ein Menſchenſchickſal ab, wie es ie 
reizvoll nur ein feiner und doch fühner Dichter oder das Leben felber erfinnen fonnte. 
Wie ftarf neben dem tiefgeiftigen und feelifchen Gehalt diefes eigennartigen Schau 
ſpiels fein dramatischer Reiz ift, ergiebt fich jchon baraus, daß große Schaufpieler 
und beſonders Scaufpielerinnen — nit nur in Fraukreich — in Gedanker 
immer wieder zu ihm zurüctgefehrt find. Vergeblihes Bemühen. Der geiftreiche 
Forſcher Hat ſchon durch jeinen bühnenunmögliden Dialog, der aus langen phile 
jophifhen Perioden mit gehäuften Relativſätzen befteht, jeder Wirkſamkeit im 
Rampenlicht den Riegel vorgefhoben. Dem Drama Renans fehlt vor Allem 
ein erjter Aft. Es fehlt der Auftaft, die Einleitung, das „erregende Moment“, 
die Entwidelung; aud) die Steigerung fehlt. Wir fpüren nichts von dem fiebern- 
den Pulsichlag jener ftürmijchen Zeit unb begreifen daher im Takt der Dar- 
ftellung jo Mandes niht, was nur als Zeitſymptom zu verftehen if. Das 
„Geſetz des geforderten Wechſels“ ift in der Anlage des Ganzen nicht genügend 
berüdjihtigt worden. Trotz dem im Stoff begründeten Iebendigen Verlauf 
ber Begebenheiten fehlt es den Perfonen an Bewegung. Sie bewegen bei Renan 
eigentlich nur die Lippen. Wie ein großer Goldblod lag ber fhöne Stoff vor 
mir. Reſtlos eingefhmolzen mußte er werben, wenn er geprägt, wenn er in 
flingende dramatijch" Münze umgewerthet werden follte. Nicht ohne reiflich er: 
mwogenen Plan babe ich die beiten Stunden eines ganzen Sommers auf bie 
Urbeit verwendet. Den fehlenden Auftakt babe ich als erften Alt vorangefekt, ben 
übrigen Stoff in zwei Akte zufammengezogen und mit neuen Motiven geftüßt. 
Eine Hauptfigur (Paul) und wenige Epifodenrollen (Schaufpteler Auguſtin, 
Kaplan Bernoy, Mutter Boulanger, Sansculotten-TFührer u. |. mw.) find hinzu⸗ 
gefommen, um bie Handlung mannichfadher zu beleben. Die Charalteriftit habe 
ih Ichärfer zu fchraffiren verjucht. Der lange Faltenwurf ber doktrinüren Schrift- 
ſprache mußte fallen, kurz gefchürzt follten Nebe und Gegenrede widereinanber: 
fpringen. So ift von dem urjprünglidhen Dialog felbft in den beiden Aften, 
die fih an Renans Stoff anlehnen, kaum eine Zeile ftehen geblieben, obwohl 


1908. 501 


ich mich bemüht habe, die jhönften und feinftern Gedanken ber geiftvollen Dichtung 
nad, Möglichkeit zu retten. Ob und inwieweit es mir gelungen ift, fie mit 
‚Eigenem zu vermählen, wag der Leſer beurtheilen. Daß ein paar äußere Ge 
ſchehniſſe der Revolution um wenige Monate näher aneinandergerüdt find, er⸗ 
jchien mir, da der Siun des Ganzen und das Bild der Zeit dadurch in feiner 
Weiſe geftört wird (im Gegenteil!) als mein gutes dramarifches Recht, eben fo 
wie der Umguß und die Verwendung von ein paar Verſen des jungen Puſchkin 
für meine Zwede. Ich nehme die Hand nicht von dieſem Werk, ohne mich tief 
zu neigen vor dem großen Finder jeiner dichterifchen Grundidee. Erneft Renan 
ſchrieb „Die Aebtiſſin von Jouarre“ 1886; ich beſitze eine Ausgabe aus dem 
ſelben Jahr noch (Paris, Calmann Lévy) und es iſt ſchon die fünfte Auflage. 
Man ſieht: auch ohne die Bühne fehlte dem Werk die Anziehungskraft nicht, 
wenigſtens in feiner Heimath. Aus dem ſelben rein geiſtigen Intereſſe entſtand 
der Berſuch, ihm in dieſer — freilich kaum noch ähnlichen — Geſtalt auch die 
Bühne endlich zu erobern, auf die feine Anlage und Beſtimmung es hinweiſt. 
Karl Streder. 
s 


1903. 


"ie felige, fröhliche Zeit der Coupon-Inſerate ift wiedergefehrt. Coupon-Inſerat? 
Bergebens, lieber Lefer, greift Dü nach dem Meyer oder Brodhaus, um Dir 
Rath zu holen. Roc ift daS prächtige Wort nicht zu der Reife herangewachſen, die 
ibm das Recht auf einen Plat im Lexikon verliehe; es ift jung an Jahren. Wenn 
feinem Urfprung fpäter ein Sprachforſcher nachſpürt, wird er finden, daß es ent- 
Rand, als das Börfengeje in Kraft trat, an deſſen Reform jett fo bedächtig ge- 
arbeitet wird. Neue Verhältniſſe fchaffen eben neue Gebräuche. Das Börfengefeg hatte 
ſich leiſe auch in die Beziehungen zwischen Finanz und Preffe eingemifcht; die Folge 
diefer Indiskretion war ein ‘Paragraph, der die Heinen Geſchenke der Freundſchaft 
"unter eine Art fittenpolizeilicher Kontrole ftellte. Was war zu machen? ... Geduld! Eine 
neue Diöglichkeit war bald gefunden. Um die Weihnachtzeit hingen zärtliche Bankdirel⸗ 
toren an die Bäume und Bäumchen im deutfchen Blätterwald nette und nahrhafte 
Angebinde, die das danfbare Gemüth der Empfänger froh begrüßte: denn gegen 
ſolche Beſcherung fonnte, felbft wenn fie recht reichlich ausfiel, auch der Korrektefte 
nichts jagen. Es war ja nur der Auftrag, die Liſte fämmtliher Werthpapiere zu 
annonciren, für deren Coupons die Bank Zahlſtelle iſt. Eine geradezu geniale Er- 
findung. Der Kopf, dem fie entiprang, bereut wohl, daß er fie nicht durch Patent 
ſchützen ließ; denn der neue Brauch hat fidh fo ſchnell eingebürgert, daß nur noch 
Leute von bejonders gutem Gedächtniß ſich an die Quelle erinnern, aus der einft 
der köftliche Einfall bervorfprudelte. Das Coupon⸗Inſerat, das die feinften Ab- 
fufungen im Rang der Geber und der Nehmer ermöglicht, ift raſch zur Staats. 
mflitution geworden. Noch ift e8 zwar nicht durch die Verfaſſung verbürgt; wer 
im Dezember aber die AUnnoncenblätter lieſt, wird ganze Seiten mit der Meldung 
gefüllt finden, welche Coupons bei jeder Bank zahlbar find. Wie käme ein armer 
Kapitaliit ohne ſolche Lifte au) aus? ... Verhaltet das Lachen, Ihr Freunde! 
Diesmal ward der Prefje noch reichlicher beſchert als im vorigen Jahr. Das 


502 Die Zukunft. 


war zu erwarten. Die Seiten find ja beffer geworden, — bis aufBeiteret. Bar 
einem Jahr glaubte die Deutfche Treuhaudgefellichaft noch, einem dringenden Be 
ditrfniß entgegenzufommen, als fie fi) erbot, „periobifche oder einmalige Reoifione 
von Ultiengefellfchaften, insbefondere die Prüfung der Bücher und Bilanzen, unter 
Zufiherung unbedingter Berfchwiegenheit ber alle durch die Reviſionen zu ihre 
Kenntniß gelangenden Verhältniſſe“ zu übernehmen. Ein neuer Gefchäftszweig, te 
nübliche Frucht zu tragen verfprad. Das Mißtrauen war damals noch wad m 
ſchonte and bie Großen nit. Wäre es nad dem Willen der Aktionäre gegangen 
dann wären neun Zehntel aller Direktoren und Auffichträthe weggefegt worden ım 
an ihrer Stelle hätten ſich die eifervollen Vehmrichter der Treuhandgeſellſchaft ci 
geniftet, von denen man, mit Rouffeaus Wort, fagen könnte: Ils cesseraient d’in 
heureux, si le peuple cessait d’ötre misdrable. Zum @lüd aber kennt nur W 
graue Theorie, nicht die goldene Praris einen freien Willen der Aktionäre. Ant 
hatte die Treuhandgefellichaft, die es fo herzlich) und uneigennütig gut mit der leidenin 
Menfchheit meinte, den Fehler gemacht, ihre Aufforderung aus dem Gebäude der Dentigan 
Bank in die Welt zu fenden. Voreingenommen, wie die Menfchen num einmal 
blieben fie zögernd vor dem Eingang in der Franzöfifchen Straße fliehen und win 
durchaus nicht glauben, daß fie da an die richtige Adreſſe gekommen feien. Hola 
Gh nennt uns die Deutſche Treuhandgefellfchaft in ihrem Geichäftsberichte die Jul 
der Mufträge, die der Auf ihr gebracht hat. Schon als Dokument der menjſchlicha 
Schwachheit wäre diefe Statiftif werthvoll; fie würde zeigen, wie fchnell bie deutiän 
Aktionäre bie berechtigten Zweifel an der Zuverläffigfeit mancher Bermaltung nah 
der Aera der Enthüllungen und Zufammenbrüde wieder in ben Wind geichlagn 
haben. Ein feines Ohr für die Herzthätigleit unferer Wirthfchaft hat aber die Tre⸗ 
bandgefellihaft damals nicht gehabt. Die Erregung war ſchon im Schwinben, 3 
fie noch große Dinge von ihr erwartete. Die Schniudt nad dem Halbdunkel, 8 
dem fich der Durchſchnittsmenſch, auch wenn er Attien bat, fchließlich immer a 
Wohlſten fühlt, war längft wieder erwacht und wollte befriedigt fein. Da mat fh 
eine aufflärende Thätigkeit, wie die Treuhandgefellichaft fie verhieß, fein Raum mehr. 
In diefer Stimmung wurde aud die Enthaftung ber angeflagten Direltoren der 
Pommernbant als ein gutes Zeichen genommen, das gewiffermaßen mit amtlicher Aut- 
rität bewies, wie übertrieben die Catonen den angeblid ringsum drohenden Bankjwinde 


geichildert Hatten. So ſchlimm wars in der Wirflichfeit ja gar nicht. Am Liebfen 


hätte man auch Sanden aus dem Gefängniß geholt. Die Wuth wandte ſich nun gegen 
die Aufflärer, denen man die Hauptſchuld an allem Unheil zufchob. Herr Direktor Bert 
hard Dernburg befam von dem großen Organ, das mit dem anderen Bernhard duch 
Did und Dunn geht, eine Douche, die nicht nach Kolniſchem Waffer duftete. De 
Guten, hieß es, fei zu viel gethan, die Neorganifation in eine Desorganifation bergen 
worden. Dem Publikum dämmerte die Erfennmiß, daß zu einer munteren gun 
bes Wirthichaftlörpers am Ende aud) das ſchlechte Blut unentbehrlich ſei. 

hatte vor drei Jahrzehnten auch der prager Bankdirektor Lederer ungefähr ge! 
als er von der Anklagebank aus dem Staatsanwalt zurief: „Würden alle Schw 
aus den Jahren 1870 bis 73 vor Gericht geftellt, e8 wäre in ben böhmifchen 

bern nicht Holz genug für die Anklagebänke!“ Schwindel ift eben ein relativ 
grivf; unmittelbar nach einer Krife fieht Manches ſchwindelhaft aus, was be 

wieder lorreft, beinahe ehrlich fcheint, — ehrlid) wenigftens nach der Uf 


„eranag 





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