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830.6
294
!
1
!
ge u —— — — — — -
Die Dukunfte
Berausgeber:
Maximlian Barven.
2
Jünfundvierzigſter Band.
Berlin. |
Derlag der Zukunft.
1903.
—
Dr
- wo. —
un ed be Se —— ——— ——
-
Inhalt,
Kpenkönig und DMenidenfeinb . 446
Anthropologie, politifide . . . . 174
Uphorismen . . ... 222. . 83
Krbeiter |. Bud eines Ar-
Beiters.
Auffidtsrath |. Reform.
Auserwählten, bie... .. . . 492
Uutobiograpbie. ........ 66
Bebel und Genojin . . . . . 1, 47
Bilfe, Lieutenant ....... 307
Bismarck und das Tintenfaß
f. Notizbuch 423.
Börfendefherung . . .. . . . 414
Brief, ein...» 22200. 80
Bud, das, eines Mrbeiters . . . 328
Büderlifte. ... 2.222020. 461
Garlyle, Thomas und Jane 817, 873
Chirurgie ſ. Entwidelung.
CKorpsſtudenten im Staat.... 433
Damoklinos...... 32
Denkmale ſ. Notizbuch 202.
Dippold ſ. a. Koh ...... 164
Entwidelung, die, der Chirurgie 477
Hormender Weltgefhichtichreibung 899
Bortpflanzung, geichledhtlide ... 21
Frankreichs Furcht und Hoffnung 28
Frau, ihre. ». . 2 22000 266
Gerichtshof, ein, Über Weltliteratur 103
Geſchaͤft iſt Sefchäft ſ.Geſchäfts⸗
mann.
Geſchaͤftsmann und Sturmgeſelle 165
Geſchlechtliche Fortpflanzung
ſ. Fortpflanzung.
Gobineau ſ. Sellidres.
Goya...... 834
Grenzgarniſonen und Tran . . 211
Hanfemanın .... 0:2... 0.456
Hölle, in der... . 222 0. 188
Serufalem .... 222000. 257
Smmediatberidt ....... . 315
Raiferiniel, te ........- 135
Raiferparaben |. Notizbuch 889.
Kirchhof, der neue . ...... 110
Kod-Dippolb f. a. Dippold . 87
Kosmiſche Wanderungen
f. Wanderungen.
Krankheit, die, des Kalfers ... . 891
Kriegsgeſchichte, amoraltide. . . 106
ſ. a. Napoleon ſ. a. Notiz⸗
buch 885.
Kunſt, Kultur, Kirche
Kmiledi® .... 2...
Landerziehungbeim, ein .. . . 118
Zafter, das, der Perfönlichleit . 258
Leichner ſ. Nietzſche.
Lotte
Märchen, das, der Dezembernacht 437
Maſſener 43
Mehring, Dr. |. Notizbuch 200.
Moore, George»... 2... 184
Morig und Rina ....... 468
Nahwudd.... 2.2.2002. 237
Napoleon tn Jaffa....... 231
f. a. Notizbuch 885.
189038.......... .. 501
Nietzſche Über Leihner .... . . 46
Nietzſche md Hobde ..... . 241
Nischen |. Notizbuch 428.
Notizbuch .. .... 199, 383, 417
Banama-Berlin ........ 880 °
Partei und Gewerlihaft .. . . 151
Betroleum, nationales . .. . . 121
Bolitiide Anthropologie |. An⸗
thropologie.
Primadonnen, die rothen... 81
Pro patria....... . 304
Propheten, falide ...... . 76
Prozeß Auwileda .... . .. 868
Pſalm, ber freie... ..... 409
Rache für Leippig . - -.. .- - 850
Neform, die, des Auffichtrathes. 262
Neichögericht |. Notizbuch 199.
Meichsparlier . ... 2.2... 425
Reichstag ſ. Notizbuch 388, 417
f. a. Reichsparlirer.
Nemaiffance . . 20.0. 300
Nina ſ. Moritz.
Schmidt, Profefior Morig
ſ. Notizbuch 890,
Sellidres Sobinean ..... . 208
Selbſtanzeigen 158, 196, 235, 270,
302, 346, 454, 498
Skizzen, ſüdweſtafrikaniſche. 34, 147
Stlavenboom, der ....... 161
Sonne, auf zur... 2 2.2... 343
Strafgejegbud, ein neues? . . . 203
Sturmgefelle Sofrates |. Ge⸗
ihäftsmeann.
Südweſtafrikaniſche Skizzen |.
Skizzen.
Syndikat und Synbilat . . . . 193
Traftat, ein, vom böfen Gewiſſen 449
Ungarn |. Notizbud 419.
Vecſey, der Tleine Geiger
ſ. Notizbuch 201.
Wanderungen, kosmiſche.... 218
Weiber, drei alte, von Berlin . 228
Weltanſchauung, impreifioniftifche 138
Weltgeſchichtſchreibung ſ. yormen.
Weltliteratur, ſ. Gerichtshof.
Bauberlehrlinge ..... 2... 273
Zuchthaus, aus dem... ... 79
Berlin, den 5. Oktober 1905.
—1 — — ⸗
Bebel und Genoſſen.
1)
nkavövug xal akavdpsvor.
enoſſe Heine. Das ift der Kopf des Wurmes. So ſchrieb ich vor acht
Tagen; und vergaß, daß in der früheften deutfchen Tragoedie des Po⸗
litikers als Kopf des Wurmes nicht der Held bezeichnet wird, fondern der
graue Thraterrömer Verrina. Dem ähnelt Herr Heine in feinem Bug. Eher
ſchon dem Fiesfo von Lavagna, dem ſich, ſtaatsklug“ dunkelnden Weltmann
mit dem ſchwindligen Gewiffen, der fich auffelbft gebauten Auftichlöffern nicht
handelnd behaupten fan. „Ein ſchlanker, |höner Mann, ftolz mit Anftand,
freundlich mit Majeftät“ : die Worte, mit denen der junge Schiller ung feinen
Helden malt, würden recht gut auf den Vertreter des dritten berliner Reichs⸗
tagswahlkreiſes paſſen; leider auch der Nachfag: „Höftfch-geihmeidigundeben
fo tũckiſch“. Doc Fiesko oder Verrina: der blonde Mann mit dem blauen,
Treue lächelnden Blid ift mir der Kopf des Wurmes, bis bewieſen wird, daß er
auch indiefem Fall nur ber Vollſtrecker eines ftärkeren Willens war. Auf dem
dresdener Parteitag kam er am Morgen nach Bebels Schimpfrebe zum Wort;
was hat er über mich und meine Wochenfchrift gefagt? „Ich habe nie in der
Zukunft eine Zeile veröffentlicht und ich werde es auch nie thun, weil id)
ber Anſicht bin, daß man in einer Sache, die zum großen Theil @efühlsfache
tft, das Gefühl der Parteigenofien reſpektiren muß. Ich bin allerdings auch
durch Das, was ich Hier gehört habe, zus diefer Anficht gelommen; denn die
Angriffe, die in der „Zutumft‘ gegen die Partei gerichtet find, find denn doch
) S. „Bufunft“ vom 26. September 1903.
2 Die Zukunft.
ärger, als es mir frühergegenmwärtig war. Würde der Befchluß blos lauten:
Es ift verboten, an ber „Zufunft‘ mitzuarbeiten, dann würbe ich nicht da⸗
gegen ftimmen.” Genofje Heine bläft nun die Bäckchen auf und erklärt, er
balte fich für verpflichtet, „einem Verfolgten, ber fich hier nicht felbft verthei⸗
digen kann, als Bertheidiger zur Seite zu ftehen”; fchon diefe Ankündung er-
regt umter ben dreihundertſechsunddreißig Vertretern hoͤchſter Sittlichleit und
Wahrhaftigkeit „Unruhe" und „Wideripruch”. Doch die Genoſſenſchaft all-
gerechter Völferbefreier Hatte fich ohne Grund echauffirt; denn was jetzt kam,
war Sicher die wunderjamfte „Vertheidigung”, die jemals vernommen ward.
„Ich mißbillige Hardens Politik auf das Schärffte, weil ich den perfönlich-
gehäffigen Ton mißbillige, mit dem Harden feine Politik betreibt. Das habe
ich auch Harden gegenüber ausgefprocdhen. Es tft bier nicht ber Ort, über
bie Berfönlichkeit Hardens zu fprechen. Er geht uns nichts an. Ich kenne
ihn kaum, denn ich bin mit ihm dreis, viermal zufammengelommen. Unſere
Gefpräche galten wejentlich Kiterartichen Dingen. Ueber Hardens Charalter
kann ich nicht viel fügen. Von mir hat er fein Parteigeheimniß erfahren;
eher kommt das Umgelehrte vor. Die ‚Zukunft‘ war an fidh ein guter Ge⸗
danke. Andere Nationen haben längjt Blätter, in denen Politiker der ver-
fchiedenften Parteirichtung fchreiben. Das mag Harden urfprünglich ges
wollt haben; aber feine eigenen Artikel mit ihrem prononcirt perjönlichen
Charakter haben diefe Abficht vereitelt. Das ift e8, was ich zur Bertheidigung
Hardens zu jagen habe. Sie jehen, daß ich mich nicht mit ihm identifi-
zire.” Alſo: feine Silbe, die irgendiwie als Vertheidigung aufgefaßt werden
fönnte; und in einem Zwifchenfägchen ein Vergleich mit der „Tomplizirten
Biychologie” des Genofjen Mehring, von dem Heine mir vor Zeugen gejagt
hatte, er halte ihn, nad) allerlei Spndizten, für einen agent provocateur,
jedenfalls aber für einen verächtlichen Menſchen, der, was er auch fchreibe,
feiner Antwort würdig fet. Das war die „Vertheidigung”. Ich habe nach
ben Bericht des „Vormwärts” citirt. Am Tage nach feiner Rede ſchickte Herr
Heine mir aus Dresden einen von ihm mit Strichen, Korrelturen und Bus
lägen verjehenen Bericht; dern, jagte er in dem beiliegenden Brief, „der Sie
betreffende Sat ift im ‚Vorwärts‘ nicht jo wiedergegeben, wie ich gewünſcht
hätte.“ Ich habe erhebliche Gründe, zu glauben, daß die Berichterftatter des
„Vorwärts“ ,imihrerArbeitalstüchtigbewährte Männer, befonders ſcharf hin⸗
gehört haben, als Heine über mid) ſprach; daß fie falfch berichtet haben,behauptet
er auch nicht: er hätte den Bericht nur anders „gewünicht”. Diefer Wunfch war
begreiflich, wieder Leſer bald merken wird. Uebrigeng find Heines Aenderungen
Bebel und Genoffer. 8
unweſentlich; der Erwähnung werth ift nur ber eingeſchobene Satz, weder
Mehring noch Harden ſei durch die geſtern gebrauchten Worte gerecht charak⸗
teriſirt. Mit und ohne Retouche bietet die Rede das ſelbe Bild. Genoſſe
Heine hat erft anf dem Parteitag erfahren, wie arg ich die Sozialdemokratie
angegriffen habe. Er mißbilligt aufs Schärffte meinen „perfönlich-gehäffigen
Ton“ und hat mir diefe Mißbilligung ausgeiprochen. Er lennt mich kaum,
Hat mich drei⸗, viermal gefeben, faft nur über Fiterarifche Dinge mit mir ges
fprochen, mir nie ein Geheimniß enthüllt, und findet, daß die gute Abſicht, Die
anich zur Gründung der, Zukunft“ getrieben haben mag, durch meine eigenen
Artikel vereiteltworden ift. Das iſt das Plaidoyer meines Vertheidigers.
Ich kann den Beweis erbringen, daß diefe Behauptungen, die der
Rechtsanwalt umd Reichsſtagsabgeordnete Wolfgang Heine der höchiten
Rechtsinſtanz feiner Barteivortrug, ſämmtlich, ohne eine einzige Ausnahme,
wider beſſeres Wiffen aufgeftellt, objektiv und ſubjektiv unwahr find. Bet
der Erfüllung diejerleidigen Pflicht werde ich mich, wie in den anderen Fällen,
zunächft anf das von der Nothwehr Gebotene beichränten.
Herr Heine bat auf dem Parteitag über die Art und Argheit meiner
gegen die Sozialdemokratie gerichteten Angriffe nichts Neues erfahren. Die
drei vom dresdener Ketergericht infriminirten Artilel— „Dierothen Prima-
donnen”, „Obftrultion”, „Die Katferpartei” — kannte er genau: nicht nur
als „einer der. älteften Abonnenten der ‚Zulunft‘”, fondern, weil ich ihm,
auf feine Bitte, kurz vor der Parteitagszeit die drei Hefte geſchickt habe. Als
er fie wieder gelejen hatte, fagte er mir: „Unſere Partei follte, tro& gelegent-
Lichen Angriffen, glücklich fein, daßes einen Manngiebt, der fich, wie Sie, ohne
auf unſer Programm zu schwören, mitjeiner ganzen Perfönlichkeit für die heute
wichtigften Korderungen konftitutionellen Lebens einfett. Das werdeichaud
in Dresden ausſprechen“. Herr Heine hat mirntegejagt, daß er meinen Ton ge⸗
häffig finde und „aufs Schärfftemißbillige”, ſondern mir oft die wärmſte An-
erfennung meines Charalters und Wirkens ausgedrüct und durch lebhafte
Bekundung der Freude am Verkehr mit mir bewiefen, wie fern fhärffte
Mißbilligung meines politifchen und Literarifchen Bemühens ihm lag.
Er war nicht drei- bis viermal mit mir zufammen, fondern mindefteng fünf-
zehnmal; zweimalmwährtediefes Zuſammenſein, das ſtets Durch feinen Wunfch
herbeigeführt war, unter vier Augen viele Stunden lang. Er hat mit mir,
ich habe wit ihm faft ausschließlich über polittfche Vorgänge gefprochen, ins⸗
beſondere über Taktik, Haltung, Entwidelung und Berjonalien feiner Par»
sei, über Schupzoll, Obftruftion, Wahlpolitit, Bewerbung ums Vizeprä«
1°
4 Die Zuhmft.
fidium des Reichstages; ganz felten, eigentlich nur zum ‘Deffert, über un
gemeinjam intereifirende Fragen ber Literatur. Diefe Gefpräche hatten den
intimften Ton. Keiner von uns Beiden ſcheute fi, dem Anderen-zu ent-
bälfen, was er dem Fremderen forgjam verfchleiert hätte; und wir Habeneins
ander manches „Geheimniß“ anvertraut, — wenn das feierliche Wort auf
Mittheilungen aus den Untergründen der Politik und des internen Partei»
lebens überhaupt paßt. Was bleibt noch? “Die Frage, ob die „Zukunft“ ihr
Biel, Politiker der verfchiedenften Richtung zum Wort kommen zu Lafjen, er-
reicht Habe und warum fie e8 bisher nicht erreichen lonnte. Darüber fagte
Herr Heine am jechzehnten September 1903 in Dresden: „Hardens eigene
Artikel mit ihrem prononcirt perjönlichen Charakter haben die Abficht, die
gut gewefen fein mag, vereitelt." Am achten April 1903 in einem — jpäter
noch zu betrachtenden — Brief an mich: „Wenn die ‚Zukunft‘ nicht ganz
fo allgemeine Tribüne für alles Sagenswerthe geworden ift, fo fehe ich darin
eine Folge der politifchen Rückſtändigkeit Deutſchlands““. Und die Monate
April bis September 1903 waren die Zeit unjeres intimften Verkehrs.
Ka, denkt nun Mancher, hier fteht Behauptung gegen Behauptung
und wir haben nicht den mindeiten Grund, dem Schriftfteller mehr zu glauben
als dem Abgeordneten. Ein Bischen Geduld, bitte. Herr Heine kann feine
einzige meiner Angaben als unwahrermeijen; will ers: erhat das Randgericht
nah. Ich aber kann und werde beweifen, daßer mit mir foverfehrt, über mich
und meine Lebensarbeit jo geurtheilt-hat, wie ichs hier dargeftellt habe; daß
er in Dresden aljo wider befferes Wiſſen die Unwahrheit gejagt hat.
Ich lernte den Rechtsanwalt Heine vor zwölf oder dreizehn SYahren.
fennen. Der uns Beiden befreundete liebenswürdige Stilfünftler Hermann
Bahr ftellte ung einander vor; aber es blieb, auf der Straße, beim Aus-
taufch fonventioneller Höflichkeit und neun Jahre vergingen, bis wir wieder
von einander hörten. Im Auguft 1900 war ich zum dritten Dial der Diajes
ftätbeleidigung angeflagt und einzelne meiner Bekannten wünjchten, ich folle
Heine zum Vertheidiger wählen. Auf eine Anfrage, die nicht von mir aus⸗
ging, antwortete er, der damals jchon fozialdemofratifcher Abgeordneter
war, in einem vom fünfzehnten August datirten Brief: „Irgend welche
grundfäglichen Bedenken, Herrn Harden zu vertreten, habe ich natürlich
nicht; ich würde Dies fogar recht gern thun.“ Ich hielt und halte Herrn
Heine für einen unfererbeften Kriminalanwälte, wandte mich fchließlich aber
nicht an ihn, weil ich von ängftlicher Liebe beſchworen wurde, aud) den Schein
einer Verwandtichaft mit fozialdemofratijchen Tendenzen zu meiden. Ich
Bebel und Genoffen. 5
wurde von der Straflammer abermals zu einer Freiheitſtrafe verurtheilt und
das Urtheil wurde rechtsfräftig. Während ich in der Feſtung faß, erjchien im
einem Provinzblatte der Sozialdemofratie ein Artikel, der mich verleumdete.
Ein Herr, der zumiljen glaubte, daß Heine mir ſehr freundlich gefinnt jet, bat
ihn, der gegen einen Gefangenen, Wehrlofen verübtenNiedertrachtim@entral-
organ der Partei entgegenzutreten. Am fünfzehnten April 1901 antwortete
Heine brieflich: „Obgleih ich herrn Harden perſonlich fern ſtehe, würde ich ſtets
meine Hilfe bieten, um ihn gegen einen ſo albernen und nichtswürdigen Angriff
zu vertheidigen. Ich glaube aber nicht, daß ſich im vorliegenden Fall irgend eine
Zeitungaktion empfiehlt. Eine Vertheidigung Hardens iſt nicht nur dieſem
Gegner, ſondern auch dieſen Vorwürfen gegenüber wirklich überflüſſig. Wer
Harden einigermaßen kennt, auch wenn er ſein politiſcher Gegner iſt, weiß, daß
er für ſolche Anzapfung nie den geringſten Grund gegeben hat. Wünſchen
Sie trotzdem, den ‚Vorwärts‘ dafür zu intereſſiren, fo bin ich gern bereit, mit
... zu ſprechen.“ April 1901. Heine kennt mich faum, weiß aber, daß ich
zu nichtswürdigen Angriffen nie den geringjten Grumd gegeben habe, und
erflärt fich bereit, mich gegen folche Angriffe „ſtets“ zu vertheidigen. Sep⸗
tember 1903. Heine hat eben erft lange Stunden intimfter Zwieſprache mit
mir verbracht und, ohne von mir aufgefordert zu fein, dem feſten Entjchluß
angefünbet, in Dresden meine Sache gegen die Schmäher zu führen. Er ſitzt
in dem Saal, wo id) von feinen berühmteften Parteigenoffen ein verächtliches
Subjekt genannt werde, mit dem nur moralifc, Verkommene Gemeinfchaft
haben fönnen, ein von Geldgier getriebener Lump, ein Proftituirter: und er
hat nichts Anderes zu Jagen als dieSätze, dieich vorhin wörtlich angeführt habe,
Er bat ſchon einmal öffentlich über mich gefprochen: in der Reichs»
tagsfigung vom ftebenten Februar 1901. Er hatte mir furz vorher ges
fchrieben, meine Verurtheilung fei die objektiv ungerechtefte, die ihm in feiner
„auf diefem Gebiet nicht ganz Heinen Praxis vorgefommen” fei, und ges
beten, ihm die Urtheile des Landgerichtes und des ReichSgerichtes zu ſchicken.
In feiner Rede, diedas mit meinen Kriminalerlebnifjeneng verfnüpfte Amts⸗
ſchickſal der Kandgerichtsdireltoren Schmidt und Feliſch behandelte und bie
im legten Februarheft der „ Zulunft” vom Jahr 1901 abgedruckt worden ift,
nannte er mich „einen Mann, der meine Partei oft in der heftigften Weife und
in einer Weife, die ung durchaus nicht immer gefallen hat, angegriffen hat.”
DBielleicht dachte er an diefen Sag, als er in‘Dresden von feiner Mißbilligung
meines Tones ſprach. Ich fah in dem Sat nur eine empfindlichen Barteis
genoſſen gemachte Konzeifion und die Abficht, die Wucht feines Angriffes
6 Die Zukuuft.
auf die Gerichtspraxis zu fteigern. Heines Briefe mußten mid) in dieſer An»
ficht beftärken ; mehr noch die Thatfache, daß er als Bolitifer und Juriſt foener-
giſch für mich und mein Mühen eintrat. Berjönliche Gehäffigkeit des Tones
wäre, wenn die Neigung dazu vorhanden war, gewiß auch in meiner Kritil
der kaiſerlichen Politik zum Ausdrud gelommen; und Heine nannte diefe
Kritit „wohlwollend, mit befter Abficht, von einem höchft monarchiſchen
Standpunkt aus gefällt” und befämpfte das Kandgerichtserfenntniß, das
Gehäffigkeit darin gefunden hatte. Der Abgeordnete wolltenichtmir, fondern
der Sache politischer Redefreiheit dienen; da ich an den — leider recht fernen
— Sieg diefer Sache aber das perjönlichite Intereſſe habe, jchien es mir
Pflicht, dem politifcehen Gegner für fein tapferes Wort zu danken.
Das konnte ich bald auch mündlich thun. Seit acht Jahren verkehre
ich in einem Kreis, der fich, wenn Herr von Vollmar in Berlin ift, umihn und
feine geiftig grazile grau jeden Donnerstag abends zu bilden pflegt. Ich war auf
Wunſch des Ehepaares Vollmar in diefen Kreis geladen worben, ließ mich,
als politifch anders als die Mehrheit ver Tafelrunde Gelinnten, in jedem
Jahr ausdrüdlich wieder einladen und hatte die Freude, vermißt zumerden,
wenn ich ausblieb. Theilnehmer an diefen ungemein beicheidenen Sympofien
waren, außer dem Rieſen von Soienjaß, die ſozialdemokratiſchen Abgeord-
neten Grillenberger, Schoenlant, Blos, Heine, Sudekum; fait immer war
auch einder Bolitiffern ftehender Literat, manchmal eine Dichterm anweſend;
und wir länger am Donnerstagstiich Vereinten hatten das Recht, Freunde
mitzubringen, die uns in diefen Kreis zu paffen fchienen. Anregende, behagliche
Abende, auf die Jeder ſich freute und deren Wiederkehr Jeder herbeifehnte, wenn
bie Bayerngarzulange das Borufjenland mieden. Getrunfen wurdenicht viel;
doch gute Rebe würzte das Schöppchen und nie wurde vor Mitternacht an
den Aufbruch gedacht. Natürlich prady man zwar de omnibus rebus et
quibusdam aliis, mehr aber als über jeden anderen Gegenftand über Poli-
tif, alte und neue. S$ede Ueberzeugung wurde reſpektirt, in Ernſt und Scherz,
fuchte man einander näher und nah zu kommen und niemals entjtand die
Gefahr eines noch fo winzigen Konfliktes. Im Kleinen das Bild des Zu-
ftandes, der in Rändern älterer Kultur Alltagsereigniß geworden iſt. Nach
erfüllter Pflicht, nach dem Kampf um die Wirkung perjönlichen oder partei-
lichen Wollen fommen Menſchen zufammen, deren Europäerpuls, trotz
alfen Berjchiedenheiten des Glaubens, ungefähr in gleichem Takt jchlägt, und
Sprechen fich offen über Gemeinfames und Trennendes aus. Wir hatten gute
Erzähler, Starke Humoriften und anmuthige Grauen an unjerem Tiſch;
Bebel und Genofſſen. 7
Temperamente und Berfönlichkeiten. Nun hat das blinde Wüthen bes Sel-
teneifer8 auch diefe zarten Bande freier Menfchlichkeitzerrifien. . . In dieſem
Kreis traf ich Heine erft ſpät. Wer feine dresdener Rede lieft, muß glauben,
ich hätte ihn dreisoder viermalaufgefucht, um Parteigeheimniffezuerfahren,
mein Ziel aber nicht erreicht; der Abgeordnete habe mir die Würmer ausder
Nafe gezogen, das Geſpräch auf literariſche Fragen abgelenkt und mir deut»
lich gejagt, wie widrig ihm meine Politik und Ausdrudsart jet; über meinen
Charakter, über die Reinheit oder Unſauberkeit meiner Motivewilje er nichts;
denn er kenne mich faum. Ein paar Briefproben aus diefem Jahr:
6. 2. 1903.
Heute im Theater war es mir nicht möglid, Sie einen Augenblid
zu fprechen, um Ihnen bie Grüße auszurichten, Die Herz und Frau von Boll:
mar mir noch für Sie aufgetragen haben... Die Donnerstagszufammen-
tünfte werben nun wohl eine Störung erleiden... Ich würde aber gern eine
Gelegenheit finden, die ſo angenehmen und anregenden Plaudereien mit Ihnen
wieder einmal fortzufpinnen. Bitte, fchreiben Sie mir, was aus den Don⸗
nerstagen wird oder wo man Sie jonft mal trifft, falls Sie eben fo denken.
Diefer Brief enthielt auch eine freundliche Anjpielung auf bie von
dem „Schaffenden” Sudermann mir aufgeziwungene Fehde. Mein Kleines
Bud über den großen „Kampfgenofjen“ war eben erfchienen. Ich fchickte
Herrn Heine ein Eremplar und fehrieb auf die erfte Seite ein Wort, das
Mirabeau einft von Robespierre gejagt und das Haus Bülow in einer mein
Wirken gütig überjchägenden Buchwidmung wiederholt hatte, die er mir
jelbft in die Wohnung brachte, — das Nachficht werbende, zur Nechtferti-
gung irrenden Glaubens oft von mir angewandte Wort: Il croit tout ce
qu’il dit. Perfönlich-gehäfjigen Ton hatte mir, neben ſchlimmeren Laſtern,
Herr Sudermann vorgeworfen; wenn Heine diefem Urtheil zuftimmte,hatteer
jet die befte Gelegenheit zurücthaltlofer Ausfprache. Und was antwortete er?
10. 2. 1903.
Bielen Dank für Ihren Brief und die freundliche Sendung Ihrer
Brochure. Obgleich ic Ihrem Urtheil über Sudermanns Kampfesweiſe völlig
zuſtimme und volllommen einfehe, daß Sie zu Ihrer Antwort gezwungen
worden jind wie mır je Einer, wird Sudermann doch beim lieben Publitum
feinen Zweck erreichen, ſich wieder ins Gedächtniß gerufen zu haben. Die
Rechnung auf Sentimentalitäten ift felten verfehlt; und die Stellung, die
Ste fett dreizehn Jahren außerhalb der Parteieneinnehmen, ift nicht geeignet,
Freunde zu ſchaffen ... Mit bem mirabeaufhen Wort, das Sie ihrer Wid⸗
mung beifügen, werben Sie fi) aber felber nicht gerecht; ich bitte, mir biefe
Anmerkung zu geftatten. Den wohlfeilen Ruhm des croire tout ce quel’on
dit würde man mit jedem fubalternen Schwärmer theilen. Das Wejen
der politifhen Wahrhaftigkeit ftedt tiefer, in dem Muth, Nothiwendiges
8 Die Zuhmft.
zu erkennen unb zu vertreten, auch wenn ed Einem zuwider ift. Es tft wohl
nicht nöthig, Ahnen zu jagen, daß Sie fi diefen Ruhm vindiziren Lönnen;
vielleicht Hören Ste es aber gern auch von Jemand, der in ſehr weientlichen
Puntten, vielleicht ben wichtigften ber heutigen Tagespolitit, anderer Meinung
als Sie über das Notbiwenbige iſt ... Befte Grüße und gute Beflerung.
Ihr ergebeniter Wolfgang Heine.
Aus einem Brief vom fünfzehnten April 1903:
Ich würbe mich freuen, wenn Ste in der Oſterwoche oder ber darauf
folgenden einen Abend frei hätten... Seftatten Sie mir, Ihnen das Januar⸗
beft der Sozialiſtiſchen Monatshefte zu überreichen, worin fi ein Auflag
von mir befindet, der weniger fachjuriſtiſch ift, als fein Titel befagt, und der
Ihnen bie mir perfönliche Urt, ſolche Stoffe zu beurtheilen, zeigt. Ich bitte
Sie, mir eine Nachricht wegen einer Zufammenkunft za geben. Mit beiten
Empfehlungen Ihr fehr ergebener Wolfgang Heine.
Gedanken und Form feiner von foartiger Redegeleiteten Arbeitgefielen
mir; umd ich ſchrieb ihm — wie wohl jeder höfliche Herausgeber einer Zeit⸗
Schrift gethan hätte —, daß ich mich freuen würde, wen ich ſolche Artikel von
ihm auch inder, Zukunft“ veröffentlichen fönnte;Teider ſei wahrfcheinlich feine
Parteiftellung ein Hindernig. Die Antwort fam fchnell; hier ift fie:
8. 4. 1903.
Es freut mid, daß mein Verſuch, dem verwüftenden Einfluß einfeitiger
Theorien auch im Strafrecht entgegenzutreten, Ihnen gefällt. Ihre Aufforderung,
folche Arbeiten gelegentlich auch in der „Zukunft“ zu veröffentlichen, babe ich feinen
Grund abzulehnen. Ach bedaure oft, daß das Öffentliche Intereſſe für ragen bes
Strafrechtes, Staatsrechtes, Progeßverfahrens u. ſ. w. in Deutfchland fo gering tft,
und ich ſehe in der Erneuerung dieſes Intereſſes ein Mittel politifcher Fortentwickelung.
Dazu ſcheint mir bie „Zukunft“, die von Angehörigen aller Parteien geleſen wird, bie
geeignetfte Tribüne; fie bat auch ſchon eine Menge anregender Beiträge gelie
fert und es läge durchaus im Intereſſe meiner Richtung, dort aud) zum Wort
zu lommen. Die Angriffe Mehrings würden für mich höchſtens ein Antrieb
mehr fein, Ihrer Aufforderung zu folgen. Ich werde ftet3 das Recht unbe»
ſchränkten freien Wortes für mich beanfpruchen, aber e8 auch Anderen gönnen.
Ich kam deshalb auch Ihnen fo wenig übelnehmen, daß Sie ſich perfönlich gegen
die Bezeichnung Brotwucerpolitif zu werwahren gefucht haben, wie ich auf den
Gebrauch dieſer fachlich bezeichnenden polemifchen Wendung verzichten werde. Ans
griffe auf meine Partei, aud) wo ich fie für perfönlich ungerecht halte, würden mid)
nicht abfchreden. Ach halte Empfindlichkeit in der Politik für eine der größten
Schwächen. Ich würde nicht befürchten, Ihre abweichenden politiichen Anſchauungen
zu fördern, wenn ich meine in ber „Zulunft” auseinanderfeßte; noch weniger natür⸗
lich dur Erörterungen über mehr neutrale Stoffe. Ich habe es für eine ſehr glüd-
liche Idee gehalten, daß die ZZukunft“ ein Diskuffion-Organ werben follte, das
allen Richtungen offen ftände und woraus Jeder aus ber Feder bedeutender Mit-
glieder gegneriſcher Parteien auch deren Auffaflungen kennen lernen könnte. Sol
beſſeres gegenfeitiges Verſtändniß der gegnerifchen Parteien würde bie politichen
nm —
Bebel und Genoffen. 9
‚Kämpfe nicht abſchwächen, fondern würde fie Harer machen und mehr aufdas Wefent-
liche richten. Die eigentlihen Parteiblätter find — Überladen mit nothwendiger
täglicher Polemik — weniger geeignet, Dies Berjtänbniß zu vermitteln. Wenn bie
„Zukunft“ nicht ganz fo allgemeine Tribüne für alles Sagenswerthe geworben ift,
fo febe ich darin eine dolge ber politiſchen Rückſtändigkeit Deutſchlands..
Ich empfehle mich Ihnen mit beſtem Gruß
Wolfgang Heine.
Ein paar Tage danach verplauderten wir faſt vier Stunden; wir waren
allein und ſprachen beinahe ausſchließlich über den parlamentariſchen Zoll⸗
hader und über die Ausil ten des Wahllampfes, die Heine — und mit ihm
wohldie Mehrheitjeiner Fraktiongenoſſen — feiner Barteinicht fo günftig fand
wie ich. Gut verbrachte Stunden, dachte ich auf dem Heimmeg. Und ſchon
am erjten Mai empfing ich einen Brief, der mit dem Sat ſchloß:
Ich hoffe, balbiwieber einmal Gelegenheit zu haben, ein paar Stunden
in fo angenehmer Weiſe wie neulich mit Ihnen zu verbringen... Mit ergebenften
Grüßen Wolfgang Heine.
Immerhin: von Mai bis September kann Vieles ſich ändern. Alfo
noch eine Stelle aus dem Brief vom zwanzigften Auguft 1908:
Seit Monaten wäre ich gern wieder einmal mit Ihnen zufammen-
getroffen... Sch möchte Sie bitten, wenn es Ihnen möglich tft, mir in ber
nächſten Woche einen Abend zu ſchenken. Ich verreife am Neunundzwanzigften
und komme vor dem Parteitag nicht wieder hierher... Mit beiten Grüßen
Ihr ergebenfter Heine.
Diefer freundlichen Aufforderung folgte in der letzten Auguſtwoche
ein langes Gefpräh. Das Thema — wir waren wieder allein — bot ſich
von jelbft. Der alles fraftionelles Erwarten weit übertreffende Wahlfieg
der Sozialdemokratie, die Unterftrömungen des PBarteilebens, die Frage, ob
ein Genoffe um den Preis höfiſcher Repräſentation ins Reichstagspräfidium
eintreten jolle — eine Frage, die, darin ftimmten wir völlig überein, beant-
wortet und abgethan war, ſeit Bernfteins Unklugheit die bürgerlichen Frak⸗
tionen zum Widerjtand gereizt hatte —, und der vorausfichtliche Verlauf
des PBarteitages: dieje und ihnen verwandte Gegenftände wurden befprochen.
Da mir in einzelnen ſozialdemokratiſchen Blättern nachgejagt wird, ich hätte
die mir befannten Genofjen angefleht, mich in‘Dresden zu vertheidigen oder
gar zu verherrlichen, und fei nun wüthend, weil diefer Wunsch unerfüllt blieb,
ftelle ich hier, al8 ermweisliche Thatjache, feft, daß ich feinen Menſchen gebeten
habe, mich zu vertheidigen, feinen einzigen. Die Sippe kennt mich eben nicht.
Zwei Genofjen befchworen, beftürmten mid), an Vollmar zu ſchreiben oder,
wiederholter Einladung folgend, zu ihm an den Walchenfee zu fahren;
10 Die Zukuuft.
fie belamen die Antwort: Ich bettle nicht um Hilfe und denke nicht im Traum
an bie Taktloſigkeit, jegt, mitten in der gegen mich tobenden Hetze, Herrn und
Frau von Vollmar ins Haus zu fallen. Auch Heine habe ich nie erfucht, für
mich zu fprechen. Als er mich fragte, ob ich ihm gejtatte, einen Vorgang zu
erwähnen, der allein ſchon beweiſe, daß ich fein Feind der ſozialdemokratiſchen
Sache fei, habe ich erwidert: Berfönlich habe ich nichtSdagegen, bitte Sie aber,
zubedenten, daß ſolche Erwähnung dem Preſtige Ihrer Bartei jchaden würde.
Er felbft nannte e8 feine „Ehrenpflicht”, für mid) einzutreten; und dabei
ahnten wir Beide nicht, daß ich in Dresden nicht als angeblich blinder Gegner
ber Proletarierpartei angegriffen, ſondern als Menſch für ehrlos verfchrien
werden follte. Wir fchieden, nicht etwa als Freunde nod) auch nur als Gleich»
gefinnte, aber intimer denn je vorher, als Männer, die einander achten und
vertrauen und deren Jeder gern fein Fühlen und Wollen am Urtheil des An⸗
deren.mißt. Heine reifte ab; und fprach in Dresden die Süße, bie ich hier
wiederholt habe. Und als er fie gejprochen, jede nähere Beziehung zu mir,
jedeenntniß meines Charakters verleugnet, feinWortgegen Bebels Schimpfs
rede gefunden und nur feinen Abfcheu vor meiner ihm widrigen Schreibart
betont hat, jett er fich, in von Arbeit überlafteten Tagen, hin, macht ſich die
Mühe, den Bericht des „VBorwärts" auszujchneiden, die einzelnen Stückchen
fäuberlicy auf weißes Papier zu Eleben, zu forrigiren, zu interpoliren, und
ichieft mir das Ganze, — „mit beiten Grüßen“.
.. In dieſer eklen, jinnlojen Fehde find fo rohe Wortegefallen, von allen
Seiten fo ſchrille Töne des Hafjes und der Verachtung angejchlagen wor⸗
ben, daß ich jeden heftigen Ausdruck meiden möchte. Die Thatjachen fprechen
ja auch für fich felbft. Hat irgend ein Genoſſe im Trianonjaal die Art meis
ner Beziehungen zu den Bernhard, Braun, Göhre, Heine geahnt, fonnte er
fie nad) ihren Reden ahnen? Keiner. Die Bier, hier fteht es noch einmal, ha-
ben ſich zu Unwahrhaftigkeit und feigem Verrath erniedert. Warum? „Weil
fie vor der Wuth der aufgeftachelten Maſſe zitterten. Weil der alte Meifter-
demagoge Jedem, der für mich auch nur ein armes Wörtchen rede, graufe
Mache ſchwor und die Macht hatte, jeden Widerfpruch niederheulen und mit
der Erlommunifation ftrafen zu laſſen.“ Solches Handeln hätte ich gerade
Heine nicht zugetraut. Sch habe ihn nicht: er Hat mich gefucht; fein, nicht
mein war Berdienft oder Schuld daran, daß wir einander jchnell nah
famen, auf dem weiten Felde politifchen Lebens bald faum ein Geheimniß
vor einander hatten. Noch jehe ich ihn, wie er, beim Abfchied, mit einem
Lächeln ſtolzer Geringſchätzung auf dem hellen Geficht, fagte: „Dresden wird
nt, -
Bebel und Genoffen. 11
mich in die jelbe Situation bringen, in der ich jchon oft auf Parteitagen war:
man wird mich als Angeflagten behandeln und ich werde Ankläger fein.“
Und wie kläglich ftand er dann vor der heulenden Schaar Betrogener! Er
wollte fich retten und brachte fich jelbjt um den Preis mühpoller Lebensar⸗
beit. Und in puncto „Zukunft“ wenigftens war der Ausweg doch leicht zus
finden. Ich hatte nichts von ihm verlangt. Er brauchte mir nur zu fchreis
ben: „Bebel ift bis zur Tobfucht aufgehegt und fein Berdienft umdie Partei
jo groß, daß im Augenblick nichtS zu machen ift. Ich werde fchweigen, weil
ich durch Reden wichtige Intereſſen unferer Gruppe gefährden würde, die
fich, Sie wiſſens, nad) fchöpferifcher Arbeit fehnt. Vertrauen Sie mir. Ber-
trauen Sie Bollmar. Bebelwird ſelbſt über ein Kleines erkennen und bekennen,
daß er getäuſcht worbenift.” Ich hätte ihm feinen Vorwurf gemacht, hätte fein
Berhaltenfogargebilligt. Denn eine Partei von der jungen Kraft, dem weltge⸗
ſchichtlichen und kulturellen Werthe der Sozialdemofratie darf fich den Luxus
erlauben,einmal ungerechtzufein. Anftändiger freilich, füger und — bie jegige
Anarchie, der Schimpflrieg im rothen Lager lehrt e8— mit befferem Nuten
für die Barteifohäfion hätte Heine gehandelt, wenn er tapfer genug gewejen
wäre, umzufprechen: „Barden hatgroße Fehler und ein höchftmangelhaftes
Berftändnißfür Zielund Taktikunſerer Bartei. Docher iſt kein Feind, fondern
bat in allen entjcheidenden Stunden bewiefen, daß er den fittlichen und na»
ttonalen Werth unferer Sache erfennt und allgemein anerkannt wifien will.
Sollen wir, die vor Staatsanwalt und Gericht täglich das Recht zu ſchroff⸗
fter, perfönlich verlegender Kritik fordern, uns lange beider Frage aufhalten,
ob er maljeine ſatiriſcheLaune nicht früh genug gezügelt, ein unfer Gefühl krän⸗
kendes Wortgewählthat? Statt uns zu freuen, daß er vielhöheren Gewalten,
viel mächtigeren Perfonen unendlich viel härtere Wahrheit zu fagen gewagt hat,
— bie härteftenda, woer für unſer Lebensrecht focht ? Bebel kennt ihn nicht; ich
und ein paar meiner Freunde hierim Saalkennen ihn und wiſſen feit Jahren,
daß er ſtets, auch wo er uns auf falſchem Weg Scheint, nur dem ‘Drang reinen
Wollens folgt. Left, waserüberdieBerathung des Bürgerlichen Gefegbuches,
ber Umfturzvorlage, des Zuchthausgeſetzes, über den löbtauer Prozeß, Lieb»
knechts letzte Verurtheilung und Tod, die bielefelder, berliner, breslauer,
efjener Reden des Kaifers, was er eben erjt über unjeren Wahlfieg und die
Bicepräfidentenfrage gejchrieben hat; oder left3 auch nicht, wenn Ihr Beſſe⸗
res zu thun habt. Dann aber richtet auch nicht, fümmert Euch nicht um den
Dann, der von uns nichtS begehrt hat, nie Etwas begehren wird, und laßt
ung endlich zu ernfter Arbeit für das Volk der Armen und Aermiten über-
12 . Die Zukunft.
‚gehen, das uns hierher gejchict hat.” In einem Saal, wo Segik und Elm,
Legien, Hue, Bömelburg und andere tüchtige Männer faßen, hätte folche
Rede ficher gewirkt; und der Bartei Beihämung, Zerrüttung erjpart, eine
Schlammfluth, deren Schmutzſpur nicht leicht abzufpülen fein wird. Haftig
‚aber drängte Heine fich in den Lichtglang der Majorität; nicht mehr Ankläger
wollte ernun: nurnoch Entjühnter, Begnadigter fein. Er hat fo Vieles ge-
Iefen, mehr wahrjcheinlich als, außer Sello, irgendein berliner Anwalt ;gemwiß .
auch einmal die Gedanken Wolfgangs des Größten über „Naturwiffenichaft
im Allgemeinen”. Schade, daß erdie nieveraltende Stelle nicht angeftrichen,
feinem politischen Wandel nicht al8 Motto gefett hat: „Nichts ift wider-
wärtiger als die Majorität; denn fie beiteht aus wenigen Träftigen Vor⸗
gängern, aus Schelmen, die ſich alfomodiren, aus Schwachen, die ſich aſſi⸗
miliren, und der Maffe, die nachtrolft, ohne im Mindeften zu willen, was
fie will.” Doppelt ſchade, für ihn und für mich, daß er durch fein Handeln
mich zwang, eines heftiger fühlenden deutichen Dichters zu denken und unter
das mir lieb gewordene Bild. des Politikers Wolfgang Heine vor meines
Geiftes Auge Kleiſts Worte zu ſchreiben: „So kann man blondes Haar und
blaue Augen haben und dod) jo falſch fein wie ein Punier!“
Kleifts blonder Held trog zu hohem Zweck: er wollte jein Volt befreien
und durfte dem fremden Bedrüder den Zreufchwurbrechen. Auch der Cheruss
fer des dritten berliner ReichStagSwahlfreijes wollte ein allzu ſchwer ges
wordenes Joch abfchütteln ; auch er brach die Treue nicht ohne geheimen Grund
und meinte wahrjcheinlich, er ftehe, al8 Staatsmann, unter anderem Moral⸗
gejeg als ein winziger Wochenmonomachos, der die Maffe nicht hinter fich
hat und, nad) alter Entſcheidung des höchiten Gerichtshofes, zur Wahrneh-
mung öffentlicher Intereſſen nicht berufen ift. Nach Allem, was ich aus feinem
Deunde gehört habe, muß ich annehmen, daß Herr Heine auf dem weiten
Erdenrund feinen Bolitifer jo inbrüftig haft wie feinen Parteigenoffen Franz
Mehring; heute haft, morgen verachtet, immer als eine Laſt und Pön, einen
unerträglichen Alben empfindet. Solches Gefühl ift Leicht zu begreifen. Daß
jederVerſuch jcheitert, von unfruchtbarem Marriftengroll, von thatlojer und
unwirkſamer Negation des hiftorifd gewordenen Staatsweſens die Bartet
zu jchöpferifcher, den fozialen Aufftieg, den Machterwerbder Maſſen befchleu-
nigender Arbeit im Sinn der Gewerkſchaften zu führen, iſt Mehrings Schuld.
Marx Eonnte lächelnd fprechen: Moi, je ne suis pas Marxiste; er hätte,
mit feiner Gabe genialer Intuition und raſcher Synthefe, als Erfter ineiner
gewandelten Welt die Modernifirung ber Taktik empfohlen. Mehring war
— —
—
=‘
Bebel und Genoifen. 13
Sozialdemokrat, wurde Sozialiftentöter, dann wieder Sozialdemofrat; in
fo Heiffer Lage muß man orthodog fein, darf man nicht um Fingers Breite.
vom Dogmenweg weichen. Mehring hat viel auf dem Kerbholz. Niemand
hat die Führer der erwachfenden Bartei wüfter als er bejchimpft, Niemand
härtere, graufamere Mafregeln gegen fie gefordert. Unerbittlicher Eifer joll
die Erinnerung daran aus der Gedäcdhtnißfurche roden. Konvertiten find
fast ftets Fauatiker; und gar Einer, der zweimal, unter Manchem verdächtigen
. Umftänden, den Glauben gewechjelt hat! Wenn Mehring nicht nur Marxens
Haar und Bart, fondern auch Marrens Hirn hätte, wäre er vielleicht der
Paulus des demokratiſchen Sozialismus geworden, derprovidentielle,derjacht
faulenden Partei nachgerade unentbehrliche Mann, der das enge, lichtloſe, kei⸗
ner geſunden Entwickelung fähige Sektenbekenntniß zur Weltreligion erwei⸗
tert, zueinem Menſchliches menſchlich ſehenden Evangelium, mit dem ſich auch
ohne Engelsflügelchen leben läßt. Aber der vorzügliche Journaliſt war nie
ein Finder neuer Wahrheit; ſelbſt ſeine Bewunderer können keinen ſtarken,
vorwärts weiſenden Gedanken nennen, der ihrem Götzen als Eigen gehört.
So muß der einſt Vervehmte ſich meiſt mit geringerer Arbeit begnügen, Tem⸗
peldiener und Straßenkehrer, Bravo und Schinder ſein. Wehe Jedem, den
er auf Nebenpfaden ertappt, fern von dem rechten Weg, der — endlos, un⸗
abſehbar endlos — zur Expropriation der Expropriateure, zur Diktatur des
Proletariates führen fol! Er iſt ein verlorener Dann und wird in einem
an Marxens Heinen, auch als Leiſtung kleinen und als Mufter nicht zu em⸗
pfehlenden Schriften geſchulten Stil ſo unbarmherzig zerbläut, daß er ſich
in der Sonne nicht mehr ſehen laſſen kann. Allen iſts ſo ergangen, die von
einer zeitgemäßen Reviſion des veraltenden Marxiſtenprogrammes träumten
und ſchüchtern anzudeuten wagten, das Kommuniſtiſche Manifeſt habe heute,
nach fünfundfünfzig Jahren, nach Darwin und Wallace, nach völliger Um⸗
geſtaltung allerLebensbedingungen, des Verkehrs, Waarentransportes, Geld⸗
weſens, der Fabrikation und politiſchen Expanſion, nach der zweiten, für die
Weltwirthſchaft wichtigeren Entdeckung Amerikas, nach dem Schwinden
europäocentriichen Wahnes, habe jetzt nur noch hiſtoriſchen Werth. Ein hüb⸗
ſches Schauſpiel, daß ein Einzelner, ein ſo ſündiger, oft geſtrauchelter Menſch,
der nicht reden, nicht kandidiren darf und immer, ein Holſtein der rothen
Diplomatie, im dunkelſten Hintergrund bleiben muß, Leute wie Auer, den
ſtaͤrkſten Kopf, und Vollmar, die lichteſte, lockendſte Mannesgeſtalt der Partei,
Jahre lang in Schach halten, verärgern, von aller Initiative wegekeln kann.
Daß die Führer der Gewerkſchaften, der Nährer und Blutbildner des käm⸗
14 Die Zukunft.
pfenden Sozialismus, feine Aussicht Haben, ſich vor dem endgiltigen Ban⸗
Terott der Nichtsalspolitiker zur Geltung zu bringen, weil ein vonder Partei
bußfertigin Gnaden aufgenommener,von der Bartei bezahlterScharfichreiber
ſolche Geltung nicht will. Daß drei Millionen mündiger Männer an bie
Urnegetrieben wurden, bamitdie Stahlfedertyrannis des Genofjen Mehring
fortan noch feiter begründet fei. Iſt in Alledem nicht die felbe feige, bequeine
Kraftloſigkeit ſpürbar, die ſelbe Sucht, um jeden Preis fchnell die Maſſen⸗
gunft zu erfchmeicheln, die jelbe Korruption, die in Dresden zu Tage trat?
Den Helden des Kneipenkonventes konnte ich das Wort des Sieyeszurufen:
Ils veulent ötre libres etnesavent pas&tre justes| Dievon Mehrings
Feder Geichredten darf der Monarchiſt fragen: Fluchtet Ihr den Fürſten,
um Euch von der Hand Eurer Dienftboten fuchteln zu laſſen?
Genofje Mehring ift auch mitſchuldig daran, daß Genoffe Heine in
der Bartet nicht die Rolle fpielen kann, die feiner Bildung, der Flinkheit feines
Geiftes gebührt. Hinc illae lacrimae. Ein Weifer aus Morgenland hat
einst gewarnt, ſich mit Mehring zu verfehden; denn „jo gemein wie Der könne
doch kein Anderer werden.“ Und Heine empfindet feine konſervativ⸗antiſe⸗
mitifche Studentenvergangenheit, fo wenig fie ihn bemafelt, wie eine wunde
Stelle auf feiner Haut und weiß: gerade indiejen led würde das böfe Fränz-
hen fein Gift fprigen. Denn Mehring, der ſündenlos Reine, verzeiht Anderen
niemals einen Geſinnungwechſel, auch politifch Halbwüchfigen nicht, und ift,
wennnicht alle Zeichen trügen, augenbliclich mit dem für Zeit und Ewigkeit
und beionders offenbar für feine Partei ungeheuer werthuollen Nachweis be⸗
ſchäftigt, daß ich Verruchtefter aller Verruchten anno 1892 „angehender So⸗
ztaldemofrat“ war, — gleich nach ber Ausgabe der Apoftata-Bände, in denen
die Artikel „Nicaea und Erfurt“, „Senofje Schmialfeld”, „BeiBismarda.d.“
stehen, in den Sommer: und Serbfttagen, wo ber jelbe Mehring, der Bewun⸗
derer meines Charakters, Muthes, Talentes,. mich täglich faft, feine Hand-
fchrift bezeugt es dem Blick nod) heute, vergebens drängte, von „Nietiche
und Bismard” zu Marr und Bebel zu jchwenten. Habeat. Zwiſchen
Heine und Mehring kams aljo nie zu offenem Kampf. Jetzt aber — und
bier bitte ich, auch ein grobes Wort nicht allzu Did anzufreiden —, jetzt hat
Heine gegen Mehring aus dem Hinterhalt einen Streich geführt, zu dem er
die Waffe mir abgeliftet hatte. Das war erbärmlich gegen Mehring, war
niederträchtig gegen mich gehandelt. Deshalb nannte ich den Genoſſen Heine
ben Kopf des Wurmes. Und deshalb binich, leider, noch nicht mit ihm fertig.
Raſch für heute nur ein paar Worte über mein Verhältniß zu Meh⸗
Bebel und Benoffen. 15
ring. Ich habe dem Mann nie das Geringfte zu Leib gethan, nie ihn auch
nur mit bewußtem Willen gefräntt. Er felbft hat in feiner Brochure „Ka⸗
pital und Preife erzählt, daß ich, damals ein darbender Anfänger, ein ganz
ungewöhnlich artiges Anerbieten bes Verlegers der Bollszeitung mit ber aus⸗
drücklichen Motivirung abgelehnt Habe, mit einem Blatte, das durch die Miß⸗
handlung Mehrings „diskreditirt“ ſei, wolle ich nichts zu fchaffen haben.
Das ift für Einen, der nicht für fich allein Brot brauchte, immerhin eine
anftändige Reiftung und follte Ihm von Dem mindeſtens nievergefien werben,
dem dieſes — nicht ungeheure, aber fühlbare — Opfer gebracht ward. Mein
früherer Freund, ber mir fo oftdie Unwandelbarkeit feiner Gefühle bethenert
batte, ift anderer Meinung. Er hat mir in Brochuren, im „Vorwärts“,
inder „Neuen Zeit”, trogdem ich Damals dem Soztalismus noch um Meilen
ferner ftand als heute, Hymnen gefungen und “geben, der mich zu verbächtigen
wagte, in feiner zierlichen Sprache einen Schuft genannt. Längſt aber bin ich
ihm zum Schuft geworben; zum größten im ganzen Land. Streber, Lügner,
Fälfcher, Betrüger, Reptil, Spion, Strolch: es giebt Teinen Schimpf,
feine Schande, die er mir nicht angejchrieben, angedruct hat; und ich halte,
feit er in einem Artikel über den Bommernprozeß durch ftete Wiederholung
meines, nur meines Namens ben Glauben zu wecken verfucht hat, ich, der
Antläger flediger ournaliften, fei der Angeflagte, Beitochene, Korrumpirte,
— ich Halte ſeitdem die Wette, daß er fich auch in feiner jest angelündeten
Schrift nicht mehr zu überbieten vermag. Ich habe gegen diejes kindiſch
perverje Treiben nie Etwas gethan; mich nur manchmal gefragt, ob der
Mann nichtam Endeganz einfach wahnſinnig ſei, und öfter, ob er denn wirk⸗
Lich vom Gelde deuticher Arbeiter bezahlt werde, um immer und immer wieder
den für biefe Volksſchicht gänzlich gleichgiltigen Herrn Harben zu ſchimpfen.
Es muß wohl jo fein; und wenns die Sozialdemokratie nicht blamirt, daß
in der felben Leipziger Vollözeitung, in der Bruno Schoenlant fo gern
meine Artikel mit lobenden Gloſſen nachgedrudt und mein Wirken hitzig
vertheidigt Hat, ich num alle paar Wochen al3 dernier des derniers vor:
geführt werde: ich habe es fehr gut überftanden und, wiegefagt, nıtr barüber
geftaumt, daß der Preßapparat einer Millionenpartet der läppifchen Privat»
rachfucht eined armen Irrſinnigen ausgeliefert ift, den krankhafter Hang
treibt, zu beſpeien, was er geftern gefüßt hat, und zu küſſen, waser beipie. Bor
vier Jahren ſchien eine Auseinanderfegung mir unvermeidlich, Mehring hatte
ein wahres Lügengebirge mit einzelnen Stellenans meinen an ihn gerichteten
Briefenaufgepugt — eriftdergrößte Birtuofe journaliftifchen Truges und hat
16 Die Zuhmft.
für Den, der nur ihn lieft, immer Recht —, ich mußte Ihn mit Stellen aus feinen
Briefen jchlagen, thats fo fchonend wie möglich und konnte beweifen, daß
fein ganzes Gethürm zufammengefchwindelt war. Wer fich dafür intereffirt,
mag das Heft vom vierten März 1899 nachlefen. Natürlich wuchs num die
Wuth. Ich antwortetenie und frentemich, in meiner Zeitichrift anerkennende
Kritifen der befferen Arbeiten Mehrings (von Jeutſch und Ernft) veröffent-
lichen zu können. Aus meinem Abwehrartitel wiſſen die Genofjen und
Todfeinde Mehrings,daß ich gute Waffen gegen den ihnen fo Kürchterlichen
habe; wie gute, wiffen auch fie nicht, die nur einzelne Briefe Mehrings und
feinen Brief Schoenlants kennen. In den erften Tagen diejes Jahres 1908
bat mich Herr Heine, ihn Mehrings Briefe leſen zu laſſen; ich lich ihmeinige
und er gab fie nach etlichen Wochen zurück. Ungefähr um die jelbe Zeit kam
ein neuer Anfall. Diehochnothpeinliche Frage, ob Herr Göhre, Frau Braun,
Herr Bernhard für die „Zukunft“ fchreibendürften, dieſe für mich, für das
Wohlergehen meiner Wochenfchrift recht unbeträchtliche Frage wurde vom
Boliziften Mehring aufgeworfen, vom Erzengel Mehring natürlich ſchroff
verneint; und abermals das ganze Regifter meiner Ruchlofigkeiten aufges
rollt. Ein Gerede, andemich ſchuldlos war, mußinder mißtrauiſchen Lakaien⸗
feele wohl die Wahnvorftellung gefchaffen haben, ich ftrebe nach Einflußaufdie
Sozialdemofratie, wolle am Ende gar in die Partei treten. Daß ich nie an
Aehnliches gedacht habe, nie daran denken werde, brauche ich bier nicht zu
fagen; und die Genoffen Vollmar, Blos, Heine, Südelum, Bernhard, Braun
wiffen es jehr genau. Einerlei. Mehring rafte, als ftehe Hannibal vor dem
Thor. Und nicht minder laut rafte im anderen Lager das ethiſche Pumpgenie
Heinrichs Braun und jeiner Gehilfin, Gefährtin. „Unerhört!” „Ein Dann
wie Sie, der jich um die Bartetfo große Verdienfteerworben hat!" „Schmach
und ram!” Am einundzwanzigften März baten fie mich zum Kriegsrath
und legten mir ihr „Material“ gegenden Erbfeindvor; biealten Gefchichten: -
Mehrings gräuliche Verleumdungen der vom Sozialiftengejeß gelnebelten
Bartei, Sartenlaubenartikel, Hafenclevers Rede, — Alles, was Heinrich der
Alchemiſt im September jettt dem Parteitag aufgetijcht bat. Le geste était
beau; und der Endreim war: ichmüfjfedieSachein Fluß bringen. Am Beften
durch eine Privatllage e / a Mehring. ch war fühl geblieben und mußte num
lachen. Jetzt plöglich lagen? Zwei Schöffen umdie Feſtſtellung bitten, daß id)
nicht beftochen bin, da8 Deutfche Reich nicht für Rubelſold verrathen und fogar
Tafchendiebjtähle und Luſtmorde nur felten verübt Habe? Die lage hätte
doch nur einen Sinn, wenn ich die Genoſſen als Zeuge lüde und eidlich aus⸗
Bebel und Genoſſen. 17
jagen ließe, was fie von Mehring wiſſen. Das wäre ihnen, die nicht an Ueber»
fülle trogigen Heldenmutbes leiden, damals noch höchft unbequem gemefen.
Schwoͤren und ſprechen mußten fie freilich, wenn ich fie lud; doch nur einem
kurzſichtigen Narren konnte einfallen, die Partei vor die Frage zu jtellen, ob fie
für Mebring, ihren bewährteften Lanzenknecht, oder für Harden, ihre böte
noire, optiren wolle. Der Fall Mehring, fagteich in der Uhlandftraßedamals,
fei fiir mich erledigt; ich wolle den Mann weder aus feiner Stellung noch ing
Gefängniß bringen und ehre die Erinnerung an eine Jugendfreundfchaft,
wenn ich ihm ungeftraft fchimpfen laſſe. Das habe ich dem Genoſſen Heine
und dem Genoſſen Bernhard in ruhigen Stunden wiederholt. Kein perjön-
liches Intereſſe an, fein Bedürfniß nach einer Abſchlachtung Mehrings; nur
wenn politifche Pflicht es dringend heiſche, würde ich dem widrigen Handel
nicht ausweichen. Was kommen ſollte, ſah ich freilich nicht voraus... Herr
Wolfgang Heineift fein Narr; ein macchiavelliſch gefühlter Kopf. Er wollte
den ewigen Mehring vom Halfehaben und ſah, als die Zeit ihm erfüllet ſchien,
jofort ein, daß, wer Mehring zur Strede bringen wolle, Harden der Miente
preisgeben müffe. Unddas Unbefchreibliche ward num leichten Herzens gethan.
Das zeitlich legte Urtbeil, das ich vor dem Parteitag bier über Wefen
und Werth der Sozialdemokratie fällte, hatte ich meinem lieben Junker Moritz
auf die Lippe gelegt. In feinem am vierten Juli 1903 in der „Zukunft“
veröffentlichten Brief an Rinas Schwefterherz fagte er: „Soll durchaus
(über das Ergebniß der Wahlen) geftaunt fein (wofür ich nicht fehr bin),
dann darüber: daß ſich daS Centrum, ſammt feinen Arbeiterbatailfonen,
wider alle Stürme hielt und, noch mehr, daß, nach unverzeihlichen Todfünden,
einumdfiebenzig Konſervative in den Neichstag zurücklehren konnten.
Nicht Über das Wahsthum der Sozialdemokratie; nicht eine Minute,
mefrouw. Nur das Tempo, nicht die Thatjache war zweifelhaft; und dem
Zempo wurde in den legten ſechs Monaten ja mit Feuereifer von den Spitzen
der Pyramide her nachgeholfen. Mit Patzke ftimme ich darin überein, daß
auch die Rothen nicht hexen koͤnnen; nur verlange ich8 gar nicht. Sie gehen
mir, mit Roheit und Moralpredigerjentimentalität, oft genug auf die Ner-
ven; Theorie: Jeder ift durch ölonomifche Determination gebunden, Praxis:
bie Helden, hie Schufte. Und eine gräuliche Rachſucht, der keine Strafe für
den anders Klafjirten hart, fein Schimpfwort rüde genug ift; Tſchandala⸗
reifentiment nennts Nietiche. Aber was wollen folche Kinderkrankheiten,
was will ſolche Kriegerrauhbeinigkeit (halten zu Gnaden !)gegen bie ungeheure
Leitung jagen! Die Einzigen, die (faft immer) glauben, was fte fprechen, und
2
18 Die Zukunft.
an den Glauben die Eriftenz oder doch ein Städ davon fegen. Die Einzigen,
bie den Millionen da unten Nahrhaftes bieten, in dunkle Seelen einen Licht-
ſchein fenden und... Nur nicht etwa pathetifch werben, Jubelgreis; der Faden
läuft ohnehin fpät und früh von der Reichsſpule. Alfo ganz fimpel, daß die
von den Bebellenten geleiftete Boltsbildung, Volkodrillung, Vollsidealifirung
gar nicht erjegt werden könnte und daß man die Sozialdemokratie (ohne die
wir auch induftriell nicht an der Spige marjchirten) von Staates wegen er-
finden müßte, wenn e8 fie nicht |chon gäbe. Da haft DumeinCredo. Heißt:
ich glaube. Hier aber haperts. Ich glaube nämlich nicht. Glaube nicht, daß
man mit gleichen Rouſſeaumenſchenrechten und nach Ausfchaltung der Pros
fitbegierden mit der b&te humaine gebeihlich wirthichaften könnte. Optis
miſtiſcher Ehriftenwahn; und ſchon den peffimiftifchen, der den Menſchen für
grundfchlecht, nur in der Hygiene des Leidens erträglich hält und mir des⸗
halb näher lag, Ließ ich in Unterprima. Deshalb bin id) fo bedenklich; und
fozum Heulen unglüdlich, daß ich nicht glaubenların. Sonft, ma mie, hielten
alle Peers von Preußen und Umgegend mich nicht: ala Gemeiner träte ich
in die Rotte und wäre ein feliger Mann, — felbft wenn ich.aus ficherem
Beugniß vernähme, daß achtundzwanzig nachweisbare Ahnen den jchwärzejten
Theil ihrer noch unzerfreſſenen Leiblichfeit ſargdeckelwärts gewenbet haben.
Daß es, Edelfte, hienieden mehr Hungernde als Satte giebt, dürfte als
unbeftritten vorauszuſetzen fein. Ergo müffen, bei gleichem politifchen Recht,
bie Satten indie Diinderheit kommen, fobald die Hungrigen ihre Kraft kennen
und ficher find, die freigeäußerte Meinung nichtallzu ſchwer büßen zumüffen.
Das wußte Bismard;rechneteaberdaranf,daßer die Nation ftetsernfthaft bes
Ichäftigen Fönneund ein zu hohen Zielen aufblickendes Volk ſich nie in radikale
Diyftifverirren werde. Heute? Dieunfruchtbarfte, anSchöpfergedanfen ärm⸗
fte Politik, die zu erdenken ift; eine Verlogenheit in allem öffentlichen Leben,
Wie ich fie (nur in Hiſtorie halbwegs beſchlagen) in feiner dem Vergleich zugängi⸗
gen Epoche gefunden habe. Dabei ewige Illumination, Fahnen, Schügenfeft-
ftimmung, — die alte Leier, dieich Dir nicht zu fchlagen brauche. Noch nicht
Alles: ein Monard), der über die Tendenz der Zeit völlig getäufcht wird und
nicht heilvoll wirken fönnte, jelbft wenn er noch zwanzigmal begabter wäre.
Der in feinem Reich ſechzig Millionen Dienfchen befjern und befehren möchte,
alle Stände, Klaffen, Berufe, während der Moderne nur aus eigenem Er-
leben nod) lernen will und Präzeptoren höchftens auf dem engjten Gebiet
threr Sadıverftändigfeit anerkennt. Es geht nicht. So kann heute nicht mehr
regirt werden, auch nicht vom lauterſten Genie; fo wird de facto nicht in
Bebel und Genoſſen. 19
Rußland mehr regirt. Daß kein Kanzler es ſagt, iſt das Schlimmſte vom
Schlimmen. Und ein Glück, wenn das Volk ſelbſt es wenigſtens mal klar zu
verſtehen giebt. Drei Millionen wahlmündiger Republikaner im Deutſchen
Reich. Das iſt nicht zu überhören. Urſache? Die Sozialdemokraten machen
ſich jelbft und ihren Sieg Fein, wenn fie ihn mit dem Brotwucher motiviren.
Einen Blifaufdiegiffern. 1881:311961, 1884:549990,1887:763128
fozialdemofratiiche Stimmen; alflmähliches, dem Vormarjch der Induſtrie
entfprechende8 Steigen aljo (und 87 kam doch der Fünfmarkzoll). 1888
Tod der beiden erften Kaifer, Wilhelm der Zweite befteigt den Thron, Biß-
mards Macht welft und 1890 hat die Stimmenzahl ſich plötzlich verdoppelt:
1427298. SYebt, im fechzehnten Jahr der Regirungeifernden Wohlwollens:
vervierfadht; und darüber... Was id) ‚eigentlich dazu fage‘? Ich war des
Königs Diener und bin Dein Bruder, Senior und Sklave Morig.”
Selbft wer die „Zukunft“ nur felten gelejen hatte, wuhte, daß Mo-
rigens mein Credo war; gewiß nicht das eine8 Sozialdemokraten, dodh,
fcheint mir, aud) nicht Eines, den man zwei Tage lang und einen halben
mit Kothklümpchen bewerfen mußte. Hinter der junferlichen Nedeform, die
den erdichteten Menſchen lebendig machen jollte, ſpürt Jeder, der lefen Tann,
meine hohe Schäßung der Proletarierpartei, meine Hoffnung auf den dauern⸗
. den Werth ihrer Kulturarbeit, meinen Schmerz, ihr nicht gläubigen Her-
zens anhangen zu fönnen. Wenn diefe Partei wirklich, wie ihr Führer be-
bellte, nie ſchlimmer gefcholten ward als von mir, mag fie frohloden. Unter
Perftändigen galt bisher das legte Urtheil, das Einer fpricht, für das eins
zige, daS er zu verantworten hat. Warum framte man elf Jahre alte Sati-
ren aus, ftatt ſich an diejen Artikel zu halten oder an die im zweiten Auguft-
heft veröffentlichte Notiz, die über den rothen Neichstagspräfidenten Ipricht
und den Genoſſen Bebel mindefteng eben fo gut wie den Genofjen Vollmar
behandelt? Warum ward der tote Joeſt über Sibirien, nicht der lebende
Sombart citirt, dejjen kluge Verherrlichung Marrens und Engels’ fein an-
dcres „bürgerliches" Blatt gebracht hätte? Warum der ganze Yärın?
Ein nicht ſchlecht gejchriebener Artikel des Kieler Sozialiftenblattes,
der mir vorgeflern ins Haus gefchieft wurde, giebt die Antwort. Da fteht:
„Die ‚Zukunft‘ Hat oft auch Befinnung genug gehabt, um die Verdienfte
und die Bedeutung der Sozialdemokratie in einem Maße anzuerkennen, wie
es ſonſt fein bürgerliches Blat that ... Der ‚Zukunft‘ ift Unrecht gejchehen
... Aber freilich: jo lange ber Verdacht befteht, daß Harden das Gift Fochte
unddie Waffen ſchärfte, mit denen Bernhard ſchoß und die Debatte vergiftete,
g*
20 ‘ Die Zukunft.
kann maneseiner foehrlichen und zugleich jo iimpulfiven Natur wie Bebel nach⸗
fühlen, wie e8 kam, daß er die ‚Zukunft‘ fo in den Vordergrund ſetzte.“ Ein
nettes Verfahren. Wenn der Kaiſer die Führer des Proletariates Verführer
und Mörder fchilt, bäumt fich Bebel in Krämpfen und jchmettert im Dro-
metenton, ein Öffentlich Wirkender dürfe nicht jähen Impulſen folgen. Wenn
Bebel, auf bloßen Verdacht hin und auf Grund alberniter Fälfhung, einen
. Menjchen verruft, verbrülft, ifter ein ehrlicher Mann, eine impuljive Natur
und frifchen Lorbers würdig. Mag fein. Ich habe weder Zeit noch Luſt,
„Gift zu kochen“, das den Herrn Mehring umbringen fol. Ich glaube nicht,
daß er da, wo er fich jetzt alternd verwurzelt hat, umzubringen ift, wünſche
e3 auch gar nicht ; jo weit geht, liebe Xeute, meine Sorge um das Gedeihen
der Sozialdemofratiedenn doch nicht. Der Thatbeftand ift ganz anders. Arm
neunten September veröffentlichte der Genoffe Mehring gegen mid) einen
feiner pugigften Tügenartifel, den er dann in vierhundert Exemplaren dem
Parteitag zuſchickte; der alte Kohl, den Bebel, wie fich gehört, eifrig repetirte..
Am elftenSeptember fand ich heimkehrend ein Telegramm aus Tegernfee. Hier
der Wortlaut: „Sendet mir damals anvertraute Originalbriefe Sonnabend
Dresden Hotel AlbertShof. Heine.” Sonnabend? Die Verhandlungen follten
erft Montag beginnen. Nicht nur deshalb mußte ich annehmen, Heine wolle die
Parteigeronten zufammenrufen und ihnen jagen: „Dier.der Beweis für die
tolle Pſeudologie dieſes Mannes; penjonirt ihn oder laßt ihn wenigftens ein -
paar Monate von einem Piychiater beobachten 1" Ich nahm, was ich rafch
fand, jchickte es nach Dresden und erjuchte um fchleunige Rüdfendung, fo-
bald Heine dieBriefe nicht mehr brauche. Er hat fie nicht gebraucht, hat fie
einfach, ohne mich auch nur zu fragen, dem Genoſſen Bernhard gegeben, ber
damit fein häßliches Heldenjtüd wider Mehring verübte. Bon Alledem wußte,
ahnte ich nichts. Nach zehn Tagen, nach zwei Schroffen Depefchen, die Heine
fehr unfanft an die Pflicht zur Rückſendung mahnten, hatte ich endlich mein
Eigenthum wieder in Händen... Darüber wird nod) Einiges zu jagen fein.
„Hardens Verfahren fpricht aller Sittlichkeit Hohn”: fo ungefähr
ftands in Dutenden rother Blätter. Natürlich: wer nachts überfallen wird,
foll die Waffe, die einzige, die er hat, in der Tajche behalten und fittiam ſich
meucheln laffen. Was ging Eure ſchmutzige Wäſche mid) an? Warum famt
Ihr zu mir? Ich lud Euch nicht, ſchwatzte Euren Aerger nicht aus. Jetzt habt
Ihr verſucht, Euren Unrath auf dieArbeit abzuladen, der, mag fie gut oder
Schlecht fein, feit elf Jahren jeder meiner Athemzüge gehört. Deshalb fchlage
ich Euch den nicht nach Myrrhen duftenden Eimer aus der Hand und zeige,
daß ich mid) rein hielt und daß Eure Unjauberfeit himmelan ſtinkt.
uaras
BR |
Geſchlechtliche Fortpflanzung. 21
Befchlechtliche Sortpflanzung.
BD‘ Fortpflanzung ift entweder ungefchlechtlich oder gefchlechtlih; im
erften Fall beruht fie lediglich auf der Zelltheilung, im zweiten Fall
anf einer Verbindung von Zelltheilung und Zellverfchmelzung. Die unge
fchlechtliche Fortpflanzung ift am Leichteften bei den einzelligen Organismen
zu verftehen; die Belltheilung Liefert hier Probufte, deren jede der Mutter⸗
zelle gleicht. Über auch fie macht bereit8 dem Verſtändniß Schwierigkeiten
bei der Fortpflanzung der mehrzelligen Organismen. Denn hier muß gleich-
fam die gefammte Struktur des mehrzelligen Organismus eine Reduktion
erleiden oder in eine einzige Belle, die Fortpflanzungzelle, hinein zuſammen⸗
gepreßt werden, um als Anlage für die Entwidelung eines mehrzelligen
Organismus von gleihem Bau zu dienen. Damit thut fi da8 große Pro⸗
blem der Vererbung auf, das einer eigenen Betrachtung bedarf. Laffen wir
diefe bier als bloße Thatſache gelten, die und auf Schritt und Tritt in ber
Natur begegnet, fo entfteht die weitere Frage: Warum hat es nicht bei der
ungefchlehtlihen Fortpflanzung fein Bewenden und warum fehen wir in
den höheren Pflanzen und Thieren faft ausnahmlos die ungefchlechtliche Fort
pflanzung durch eine gefchlechtliche erfegt? Mit anderen Worten: Welche
Vortheile erreicht die Natur durch die gefchlechtliche Fortpflanzung, die fie
durch die ungefchlechtliche nicht auch erreichen könnte?
Dreierlei zeigt ung die Beobachtung als Wirfung der gefchlechtlichen
Tortpflanzung: 1. Die Befruchtung giebt dem Ei einen äußerſt kräftigen
Entwidelunganftoß; 2. die Begattung artgleicher Individuen Töft die Ab-
änderungneigung innerhalb des Arttypus aus, die Kreuzung artungleicher
Individuen erregt eine Bariationtendenz überhaupt; 8. die Begattung inner
halb der Art wirft als Ausgleich auf alle Bariationtendenzen, die den Art-
typus bei einzelnen Individuen abzuändern ftreben, dient alfo als Mittel,
um die Beftändigkeit des Arttypus zu fihern, oder al8 Regulator der Konftanz.
Unbefruchtete Eier von zweigefchlechtlihen Pflanzen: und Thierarten
bedürfen eines Reized, um in die Entwidelung einzutreten. Als folche Reize
fönnen bei Feuerbohnen fehr verdünnte Löſungen von Pflanzenalfaloiden
dienen, bei Seidenfpinnereiern Schwefeljäure, bei Froſcheiern Sublimatlöfung,
bei Seeigeleicrn Chlormagnefiumlöfung oder wäſſeriger Spermaertralt, der
nicht8 von den Formbeftandtheilen der Spermienferne enthält. Wie fehr das
Eindringen einer Spermie in das Eiplasma noch vor der Berührung des
Eilernes auf diefen al3 Reiz wirkt, fieht man an den lebhaften amöboiden
Bewegungen, in die er geräth. Bon den unbefruchteten Eiern parthenoge-
nnetifcher Schmetterlinge bleibt immer ein großer Theil unentwidelt, während
die befruchteten fich faft alle entwideln. Bei gewiffen Schmetterlingen (Liparis)
®
22 Die Zukunft.
entwickeln ſich unbefruchtete Eier nur .bi8 zum Raupenftadium und die durch
fünftliche Reize zur Entwidelung veranlaßten Wirbelthiereier gelangen zu
feiner vollftändigen, abjchließenden Entwidelung, fondern bleiben früher oder
fpäter auf einer unvollendeten Stufe ftehen. Der Reiz der Befruchtung
ſcheint alſo Eräftiger zu wirken als der künftliche. In manchen Fällen fcheint
die Befruchtung nöthig zu fein, um dem Ei als Reiz für den Abſchluß
feiner Reifung zu dienen, durch den es erſt befähigt wird, in den Furchung—
borgang einzutreten.
Der Reiz der Spermie auf das Ei ift feinen Grade nad) davon ab—
bängig, daß beide zwar gleichartig, aber doch bis zu einem gewiffen Maße
verfchieden find. Selbftbefruchtung einer Pflanze wirft als ein geringerer
Reiz als Befruchtung duch den Blüthenftaub eines anderen artgleichen In—
dividuums. Kreuzung von einander nicht zu fern ftehenden Raſſen der felben
Art wirkt als Auffrischung, während Inzucht die Raffe träg dahindänmern
läßt und um fo ſchädlicher wirkt, im je engerem Sreife fie ſich vollzieht.
Rein erhaltene Stänme und menfcliche Berufsftände werden fchmerfällig,
fonfervativ, paſſiv; gefchichtliche Lerftungen gehen immer von Stämmen und
Ständen aus, die durch Blutmifhung in einen Zuftand erregbarer Aktivität
verjett find. Aber die zu Freuzenden Raſſen dürfen einander auch wieder nicht
zu fern ftehen, fonft nimmt der Entwidelungreiz der Befruchtung wiederum ab;
Das jieht man ſchon bei der Kreuzung fernftehender Menfchenraflen, noch
mehr an der Unfruchbarkeit der meiften artungleichen Berbindungen oder doch
der aus ihnen entfpringenden Baftarde. Das Marimum des Reizes liegt bei
einem beftimmten Optimum der Aehnlichkeit und Verfchiedenbeit.
Weil jeder Entwidelungreiz auch als Reiz für gefteigerte Entfaltung
ber Lebensthätigfeit dient und jede gefteigerte Entfaltung der Lebensthätig-
keit ſich als Verjüngung barftellt, Hat man auch wohl die Befruchtung als
ein Mittel der Verjüngung bezeichnet. Gewiß mit Recht, fofern man unter
Berjüngung nichts weiter verftcht als eine in der Entwidelung fich befundende
gefteigerte vitale Aktivität. Aber der Begriff der Verjüngung verknüpft fich
leicht mit myſtiſchen Nebenvorftellungen, wie fie in der Sage vom Bogel
Phönir verbildlicht find, und folche unklare Nebenvorftelungen find unbedingt
zurüdzumweifen.
Jeder Gärtner weiß, daß die von ihm oder Anderen gezüchteten Spiel-
arten durch gefchlechtliche Fortpflanzung (Ausſaat) nicht zu erhalten find,
fondern der ungefchlechtlichen Fortpflanzung durch Ableger, Stedlinge, Knospen
u. f. w. bedürfen; fofern aber die Pflanzen zu folcher Fortpflanzung nicht
geeignet find, muß das Pfropfen oder Okuliren zu Hilfe genommen werben,
bei dem eine gefchlechtlich entjtandene Pflanze ald Nährboden für die unge:
fhlechtliche Vermehrung der beitimmten Varietät dient. Die ungefchlechts
Geſchlechtliche Fortpflanzung. 23
liche Bermehrung erhält alfo die einmal entftandenen Abänderungen aufrecht,
die gefehlechtlihe nimmt fie in den Typus der Stammart zurüd. Die erite
liefert Individuen, die in allen Zügen dem Mutterindividuum möglichſt ge-
nau gleichen; die zweite dagegen greift auf die ererbten Anlagen der Stamnı-
art mit allen Abweichungen zuräd, die jemal3 unter den direkten Ahnen der
beiden Eltern ſchon vorgelommen find. Die erfte hält fih an die Modi—
fifationen, die das Srimplasma in den Körperzellen des Mutterindividuums
erlitten Hat; die zweite reduzirt die Leiftungen der Ahnenreihe innerhalb des
Arttypus auf eine Gefammtanlage, in der zwar der Normaltypus der Stamm⸗
art überwiegt, die aber auch allen Fluftuationen des Typus innerhalb feiner
Grenzen Spielraum beläft.
Blidt man auf diefen Spielraum der Fluktuationen des Typus inner-
halb feiner Grenzen, jo erfcheint die gefchlechtliche Fortpflanzung als ein Hilfs:
mittel zur Beförderung der Variation im Gegenſatze zu der ungefchlechtlichen
Fortpflanzung, die nad) Erhaltung der zuletzt erreichten Abänderung ftrebt. Blickt
man dagegen auf das Uebergewicht de3 Normaltypus in der Keimanlage und
die aus ihm folgenden Rüdfchläge aller Spielartennachlommen in di: Stamm:
art, fo erfcheint die gefchlechtliche Fortpflanzung als ein natürlicher Regu⸗
fator der Artlonftanz im Gegenfage zu dee ungefchlechtlihen Yortpflanzung,
die die Neigung hat, die Arten durch Erhaltung jeder einmal entitandenen
Barietät in viele Varietäten zu [palten. Aus diefem doppelten Geſichtspunkt
erflärt fich, daß ein Theil der Biologen die gefchlechtliche Fortpflanzung blos
als Hilfsmittel der Artenabänderung feiert, während der andere Theil in ihr
blos den Regulator der Artbeitändigfeit erblidt.
Es ift wohl zu beachten, daß die Abänderungen, die aus der geſchlecht⸗
lichen Fortpflanzung zwifchen artgfeichen Individuen entfpringen, nach unferen
Erfahrungen ausfchlieglih innerhalb der Grenzen des Arttypus liegen und
um den Normaltypus herum ſchwanken, aber feinerlei Tendenz zeigen, fich
fortfchreitend von ihm zu entfernen oder gar zur Entitehung neuer Arten zu
führen. Sie bilden nur gleichſam den Pendelfchlag ber Bartationtendenz,
der um die, Nuhelage de3 Normaltypus fchwingt und aus jeder Abweichung
um fo ftärler in fie zurüdgravitirt, je weiter er ſich von ihr entfernt hat.
Noch ganz andere Bedingungen und Einflüffe müffen hinzutreten, um an
die Stelle der flultuirenden eine progrefiive Variation zu ſetzen, Das heißt:
um eine Art in eine andere umfchlagen zu laſſen; die Variation der geſchlecht⸗
lichen Fortpflanzung durch artgleiche Individuen allein ift dazu ganz unfähig.
Nur wenn artungleihe Individuen fih Freuzen, Fönnen neue Arten
entjpringen, die einige Merkmale der einen Art mit einigen Merkmalen der
anderen Art verbinden, vorausgefegt, daß die Baftardarten fruchtbar bleiben
und fich durch gefchlechtliche Inzucht fortpflangen. Baftarde haben in ihren
24 Die Zukunft.
ererbten Keimanlagen einen weit größeren Bariationfpielraum; denn in ihnen
addiren ſich nicht nur die Variationfpielräume der beiden elterlichen Arten
zu einander, fondern zu diefen auch noch der aus dem Abfland beider Arten
entfpringende Bariationfpielraum, der alle möglichen Kombinationen von
Merkmalen beider Arten umfaßt. Daher ift e8 kein Wunder, daß ſolche
Baftarde auch eine viel ftärfere Variationtendenz zeigen als reine Arten.
Wenn Weismann die feruelle Variation auf die mannichfachen Kombinationen
der Kernfchleifen in den beiden verfchmelzenden Fortpflanzungzellen zuräd-
zuführen fucht, fo findet biefe Anficht in der Erfahrung feine Betätigung.
Denn die Thiere, deren Wortpflanzungzellen eine große typiſche Zahl von
Kernfchleifen haben, müßten danach viel variabler fein, weil die Zahl der
möglichen, Kombinationen mit der Zahl der kombinirbaren Elemente fehr
raſch wächſt; fie zeigen aber thatjächlich Teine größere Bariationtendenz als
die mit Heiner Kernſchleifenzahl.
Sole Abänderungen einer Art, die nur in einzelnen ober wenigen
Eremplaren auftreten, werden durch die gefchlechtliche Fortpflanzung wieder
ausgeglichen. Denn e8 ftehen den wenigen abgeänderten Exemplaren viele
des Stammtypus gegenüber; und die aus ſolchen Kreuzungen hervorgehenden
Nachkommen gewinnen in Folge größerer Lebensfähigkeit und Fruchtbarkeit
ſtets das Uebergewicht über die Nachlommen, die aus der Inzucht der abge⸗
änderten Minderheit entfpringen. Deshalb muß die gefchlechtliche Fort:
pflanzung dahin wirken, daß nur folche Abänderungen ſich dauernd erhalten
Können, die in Folge befonderer Reaktionen auf dauernde äußere Reize bei
einer größeren Zahl von Individuen gleichzeitig auftreten oder die ſich in
mehreren Generationen gleichartig wiederholen. Abänderungen an einzelnen
oder wenigen Individuen können ſich nur dann erhalten, wenn ihre Kreuzung
mit der Stammart durch natürliche oder fünftliche Abfonderung verhindert wird.
Wäre in der ganzen Natur feine andere Art ber Fortpflanzung als
die gefchlechtliche zu finden, fo würden wir fehr geneigt fein, die Zellver-
[hmelzung für eine unerläßliche Bedingung der Fortpflanzung zu halten.
Jetzt können wir nur fagen, daß für beftimmte höhere Organismenarten die
Befruchtung unerläßliche Bedingung ber Fortpflanzung zu fein fcheint, weil
und fofern fie einmal auf diefen Reiz abgeftimmt find. Aber fo wenig die
kunſtvollen Einrichtungen zur Verhinderung der Selbftbeftäubung bei vielen
Pflanzenarten Etwas dagegen beweifen, daß andere, oft nah verwandte
Pflanzenarten mit Selbfibeftäubung dauernd vortrefflich gedeihen, eben fo
wenig bemeift die weite Verbreitung der gefchlechtlichen Fortpflanzung, baf
es nicht auch ohne fie geht bei allen folden Arten, die nicht auf den Be:
fruchtungreiz abgeſtimmt find.
Bei vielen grünen Algen, bei manchen Phäoſporeen, bei Dictyotaceen,
on
Geſchlechtliche Fortpflanzung. 25
Florideen und einer ganzen Anzahl von Pilzen tritt die gefchlechtliche Fort:
pflanzung fafultativ, Das heißt: unter beftimmten Umfländen der Ernährung,
Beleuchtung u. f. w. ein, die man erperimentell heritellen fann. Bei man-
chen ungefchlechtlich fortwuchernden Algen findet die Bildung der Dauerfporen
auf gefchlechtlichen Wege ftatt, während bei anderen Algen und Pilzen aud)
die Dauerfporen auf ungefchlechtliche Weife gebildet werden. Bei den Dia-
tomeen werden die Uurofporen, die den fortlaufenden Theilungprozeß unter=
brechen, gejchlechtlich hervorgebracht, bei Melosira und anderen dagegen un:
geichlechtlih; und zwar bildete Rhabdonema arcuatum die Aurofpören,
‚ohne je in gefchlechtliche Fortpflanzung eingetreten zu fein, Synedra affinis
aber unter Berluft der gefchlechtlichen Fortpflanzung. Bei den Infuforien
genügt eine Befruchtung je nad der Spezies für 135 bis 450 Generationen;
viele Pflanzen, zum Beifpiel die Farren, leben im Generationwechſel zwifchen
je einer gefchlechtlichen und einer ungefchlechtlicden Yortpflanzung.
Es giebt hoch entwidelte Pflanzen mit ungefchlechtlicher Fortpflanzung,
wie die Laminariaceen, und bei fo hoch entwidelten Thieren, wie die höheren
Inſekten find, kommt es vor, daß auf die jchon lange befeflene gefchlecht-
fihe Fortpflanzung wieder verzichtet wird, fei «8 zeitweilig in beftimmten
Jahreszeiten, fei e3 dauernd für die Produltion eines der polymorphen Typen
der Art. Um in folchen Fällen die iypifche Sernfchleifenzahl trog ihrer
Neduktion auf die Hälfte im Ei aufrecht zu erhalten, find befonders kom⸗
plizirte Borgänge nöthig, die überflüffig wären, wenn die gejchlechtliche Fort-
pflanzung unter allen Umftänden feftgehalten würde. Dies Alles fpricht
dafür, daß noch auf ziemlich hohen Stufen der Organifation die gejchlecht-
liche Fortpflanzung ganz wohl entbehrlich ift und feine erheblichen Bortheile
gewährt, die nicht eben jo gut auch ohne fie erlangt werden könnten.
Wir finden nicht, dag die ungefchlechtlich ſich fortpflanzenden Arten an
Bariationfpielraum hinter den gefchlechtlich fich fortpflanzenden zurüditänden.
Wenn wir Arten von etwa gleicher Drganifationftufe betrachten, fo ſcheint
die Dariationtendenz von der ungeſchlechtlichen oder gejchlechtlichen Forts
pflanzungweife unabhängig zu fein. Wenn wir zu den Spaltalgen und
Spaltpilzen binabfteigen, fo begegnet und trog ungefchlechtlicher Fortpflanzung-
weife eine fo große Wandlungfähigfeit der Arttypen nad) den Umftänden,
wie wir fie bei gefchlechtlich fich vermehrenden Arten nicht kennen. Doch
ſcheint auch die Beftändigfeit des Arttypus trog aller um die Norm fluf-
tuirenden Bariation bei den ungefchlechtlich fi vermehrenden Arten keines—
wegs fchlechter gelichert als bei denen mit gefchlechtlicher Fortpflanzung, troß-
dem die erften des Regulators entbehren, den die anderen befigen. Eben fo
wenig leidet die Fruchtbarkeit bei der ungefchlechtlichen Fortpflanzung durch das
Fehlen des Befruchtungreizes; gerade unter dem niederen Organismen giebt
, 26 Die Zukunft.
e3 viele Arten, deren ganz erflaunliche Bermehrungfähigfeit für einen aus-
reichenden Entwidelungtrieb der Fortpflanzungzellen ohne Befruchtungreiz bürgt.
Die Erfahrung lehrt ung, dan zahllofe Arten mit gefchlechtlicher
Fortpflanzung ausgeftorben find, daß wiederum aber eine große Menge von
Arten mit ungeſchlechtlicher Fortpflanzung fich behauptet Hat. Das heißt,
daß die gleichzeitigen Arten mit gefchlechtlicher Fortpflanzung nicht im Stande
geweien find, fie im Kampf ums Dafein zu verdrängen und fi ganz an
ihre Stelle zu ſetzen. Und Dies gilt nicht bloß für Arten fehr verfchiedener
Drganifationftufen, die überhaupt kaum mit einander in Wettbewerb treten,
fondern aud für einander nah ftehende Arten, von denen die einen die un-
geichlechtliche Fortpflanzung noch beibehalten oder die gefchlechtliche wieder
aufgegeben haben, die anderen zur geichlechtlichen Fortpflanzung übergegangen
und bei ihr fehen geblieben find. Wir dürfen daraus fchliegen, daß jede der
beiden Fortpflanzungarten ungefähr da8 Selbe leiftet für Organismen, bie
auf fie eingerichtet find. Für Arten, die auf die ungefchlechtliche Fortpflanzung
eingerichtet waren, konnte demnach die gefchlechtliche Fortpflanzung erft recht
feinen Bortheil im Kampf ums Dafein gewähren, da fie nicht einmal den
auf fie eingerichteten Arten einen Selektionvortheil verſchafft. Die Selektion
konnte alfo auch feinen Beitrag liefern zur Begünftigung und Befeſtigung
der gefchlechtlichen Fortpflanzung bei ihrem erften Auftreten inmitten bon
lauter folgen Arten, die fich ungefchlechtlich fortpflanzten.
Noch weniger ift diefes erfte Auftreten felbft durch Selektion zu er⸗
Hären, weil es nicht dur eine Häufung Heinfter Abänderungen, ſondern
nur durch einen plöglichen großen Echritt in umgekehrter Entwidelungrichtung
zu Stande kommen konnte. Die gradlinige Entwickelungrichtung des Lebens
geht auf Zellverinehrung durch Zelltheilung aus; die Zellverfchmelzung aber
führt da8 Gegentheil davon, nämlich eine Zellverminderung, eine Reduktion
der bereit3 erreichten Zellenzahl herbei. Sie gleicht dem Zurückweichen eines
Fußgänger um mehrere Schritte, der feine Wanderungrichtung zeitweilig
unterbricht und umfehrt, um durch einen Anlauf ein Hindernig auf feinem
Wege überfpringen zu können. Die Zellvermehrung ehrt jich zeitweilig in
BZellverminderung um, damit fie dann einen defto üppigeren Schuß in der
Vermehrung thun kann. Diefer Bruch im gradlinigen Fortgang der Zeil:
vermehrung, diefe Retardirung durch zeitweilige Umfehrung der Entwickelung⸗
richtung ift duch Feine Häufung Heinjter Abänderungen erflärbar. Es kann
wohl das Zurüdweichen um einen oder mehrere Schritte ftattfinden; es fünnen
fi) einzellige Organismen zeitweilig ohne Subftanzaustaufch aneinanderlegen
und fi blos dynamisch anregen; oder ihr Plasma zeitweilig mit einander
verfchmelzen ohne SKernverfchmelzung und ſich dann wieder trennen (Plaſto⸗
gamie); oder endlich auch ihre Kerne verfchmelzen und zu einer Zelle ver:
— —— —
Geſchlechtliche Fortpflanzung. 27
bunden bleiben. Aber jeder dieſer Schritte läuft der normalen Entwidelung-
rihtung zumiber und bedarf deshalb befonderer Erklärung. Belltheilung-
produfte können ihre Trennung fufpendiren, um einen mehrzelligen Organis-
mus zu bilden, aber jie verfchmelgen weder mit einander noch wirken fie auf
einander al3 Zelltheilungreiz. Zellen verfchiedener Herkunft pflegen einander ab-
zuftoßen, aber nicht anzuziehen und in feinem Fall verfchmelzen fie mit einander
. Selbft gleichartige Fortpflanzungzellen verfchiedenen Gefchlechtes haben nur
eine kurze Reifezeit, in der jie verfchmelgen, und gehen nach unbenugtem
Ablauf diefer Reifezeit bald zu Grunde. Dies deutet eben fo wie der periodifche
Eintritt der Neifezeit für eine oder mehrere Fortpflanzungzellen in einem
Organismus darauf Hin, dag die zur Verfchmelzung führende Anziehung
Ergebniß befonderer maſchineller Vorkehrungen ift.
Wenn wir nun doch die geſchlechtliche Fortpflanzung in den höheren
Pflanzen und den Wirbelthieren als die allein herrſchende und ſelbſt auf
niederen Stufen weit verbreitet ſehen, ſo können wir nicht umhin, nach deren
Zweck zu forſchen, der anderswo liegen muß als in einem Selektionvoriheil.
Die gefchledtliche Fortpflanzung löſt gewiffe Aufgaben (Entwidelungreiz,
Bariationfpielraum, Beftändigfeitregulator) auf dem Wege erfennbarer mechanis
ſcher Hilfsmittel, die bei der ungefchlechtlichen Fortpflanzung zwar auch gelöft
werden, aber nicht durch uns erkennbare mechanifche Hilfsmittel. Es iſt nicht
ausgeichloffen, daß auch bei der ungefchlechtlichen Fortpflanzung namentlich
der höher organijirten Arten ſolche mechaniſche Hilfsmittel beftehen, die wir
blos noch nicht erfannt haben; aber jedenfalld find fie dann fehr viel ver-
borgener und zugleich unvollkommener als die durch die gefchlechtliche Fort:
pflanzung dargebotenen.
Nun befteht aber der Fortfchritt der Organifation weſentlich darin,
daß für die befonderen Aufgaben des Lebens immer mehr befondere mechanifche
Hilfsmittel bereitgeftellt werden. Je höhere und mannichfachere Aufgaben
das Leben zu bewältigen hat, je verwidelter und feiner feine Leiftungen werden,
defto nöthiger wird die Mechanifirung des anfänglich autonom Vollbrachten
durch materielle Strufturen und mafchinelle Vorkehrungen, damit die auto=
nomen Reaktionen fi immer mehr ausfchlieglich dem Ausbau der Details
und der Steigerung und Verfeinerung der Öefammtleiftung zumenden können.
So bedeutet auch die gejchlechtliche Fortpflanzung eine dem Lebensprinzip
Kraft erfparende Mafchinerie, die auf den niederen und mittleren Stufen
der Organifation noch entbehrlich ift, auf den höchſten aber nicht mehr. Die
weite Verbreitung ber gefchlechtlichen Fortpflanzung aud) auf den niederen
Organifationftufen ftellt fih unter diefem Geſichtspunkt nicht als eine un-
mittelbare teleologifche Forderung bar, fondern als eine mittelbare Bor-
bereitung der hier zwar noch ganz wohl entbehrlichen, hier aber auch leichter
28 Die Zukunft.
zu präparirenden Maſchinerie für die höheren Stufen, wo fie unentbehrlich
wird und fchivieriger nachzuholen wäre.
Wenn die teleologiiche Bedeutung der gefchlechtlichen Fortpflanzung
für das Pflanzenreich mit diefer Frafterfparenden Wirkung erſchöpft ift, fo
erlangt fie im Zhierreich noch einen höheren Sinn. Während nämlid) die
ungefchlechtliche Kortpflanzung im günftigften Fall nur bis zu einer einfeitigen
miütterlihen Brutpflege führen kann, wird die gefchlechtliche Fortpflanzung
zur Grundlage der Ehe, der Familie und der gefchlechtlihen Zuchtwahl. Sie
führt die Gefchlechter durch die Gefchlechtäneigung zufammen und verbindet
fie durch gemeinfame Brutpflege nicht nur mit ben Jungen, fondern aud)
unter einander noch enger; fie veredelt den Typus durch gefchlechtliche Ausleſe
bei der Gattenwahl. So wird fie zur natürlichen Grundlage der wichtigſten
Semüthsbeziehungen und fozialsethifchen Einrichtungen und wirft an ber
Berfeinerung und Höherbildung der Artiypen mit. Wenn wir heute noch
in der Familie und Gefchlechtsliebe die Zelle der Staatenbildung und ben
wichtigften natürlichen Stüßpunft des Geifteslebens nad der Gemüthsfeite
bin fehen, jo dürfen wir nicht vergeflen, daß ohme die gefchlechtliche Fort⸗
pflanzung in unferer thierifchen Ahnenreihe der Dienfchheit diefe Naturgrund«
lage ihrer Kulturentwidelung gefehlt hätte, und durfen bie Entftehung der
geſchlechtlichen Fortpflanzung im Thierreih auch für biefen Erfolg als eine
teleologifche Vorbereitungftufe in Anfpruch nehmen.
Großlichterfelde. Eduard von Hartmann.
Frankreichs Furcht und Hoffnung.
aan der einzelne Menſch, vom Lebensgang gezwungen, ein gut Theil
RZ feines Selbftvertrauens aufzugeben und von allen Einbildungen ab⸗
zulafien, fich zu einigermaßen richtiger Würdigung feiner Anlagen durch—
gerungen hat, jo fommt er manchmal dahin, ſich nach der Zeit zurüdzufehnen,
da fein unberechtigtes Selbftgefühl ihm zwar mehr denn einmal eine zu ver:
meidende Niederlage zufügte, da aber die Selbftüberfhägung ihm auch
wiederum eine Unternehmungluft, einen Wagemuth einflößte, an benen es
ihm num gebriht. Es gereicht nicht unbedingt zum Guten, ſich fo zu fehen,
wie man ift. Sich zu mehr befähigt glauben, al8 man, ftreng genommen,
fann, iſt eine Stärke.
| Wie dem Einzelnen, fo geht e8 auch den Völkern. Freilich bilden
Nationaleitelfeit und Selbftüberfhägung eine ungemeine Gefahr für fie.
Wie die Geſchichte lehrt, Tann fie die Neigung, ſich in ſchmeichelnden Illuſionen
zu wiegen, an den Rand des Abgrundes bringen. Das fah man in Dänes
1 A.
Frankreich Furcht und Hoffnung. 29
mark 1864 und in Frankreich 1870. Das Erſte, was alſo nach einem von
Illuſionen herbeigeführten Zuſammenbruch nothwendig wird, iſt: die Erfüllung
der Pflicht, dem Volk die Augen zu öffnen, ihm zu zeigen, daß feine ſcheinbare
Macht Machtloſigkeit war, ihm ein lebendiges Bewußtſein feiner Schwächen und
Fehler beizubringen. Cine undankbare, zeitraubende Aufgabe, die fi nur
unter beftigem Widerftand löſen läßt, aber es ift die nächftliegende, unüber- -
fpringbare. Iſt fie aber gelöft, dann zeigt fich, daß auch in der nothwendigen
Verringerung des Selbfigefühles eine Gefahr Liegt, eine faft eben fo große
wie in ber Einbildung. Denn die Vorftellung, die ein Gemeinwefen, eine
Menfchengruppe, eine Nation von fich bat, ift eine Kraft im Dienfte diefes
Gemeinwefens. Der Begriff, den ein, Vol fi über feine Zukunft, feine
Sendung mad, wirb im hohen Grade mitbeftimmend für diefe Zukunft.
So dialektiſch ift das Leben eingerichtet, daß die Wahrheit nicht immer
zum Heil führt. In Renans „Priefter von Nemi* ift bie Hauptperfon ein
großer Neformator, der fih harmvoll felbft befchuldigt, die Vorurtheile,
auf denen das Selbftgefühl feiner Landsleute beruhte, gereizt und ausgerodet
zu haben. Mit ihren Borurtheilen taugten fie allerdings nicht viel; ohne
ein kräftiges Selbftbewußtfein aber taugen fie gar nichts.
Ein Boll, da8 der Wirklichkeit wicht ind Auge zu fehauen vermag,
ift zwar unftreitig der Gefahr ausgefegt, fehr unfanft aus feinen Träumereien
geriffen zu werden; und wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht
forgen. Doch ift feine Borftellung für ein Volt fo gefährlich wie die, im
Rüdgang, im Niedergang begriffen zu fein. Und beftehe er auch nur in ber
Einbildung: die Vorftellung fchon erzeugt Muthlofigkeit und: wirklicher Rück⸗
gang ift die unabweisliche Folge der Berzagtheit.
Schon unter dem zweiten Kaiferreich war e3 in Frankreich Diode, vom
Niedergang de8 Landes zu fprechen. Renan, der manchmal ein rechter
Schwarzfeher fein konnte, proteftirte doch immer heftig gegen folche Reben:
„Roh ift viel Geift in Frankreich“, war einer feiner Lieblingausſprüche.
Im legten Denfchenalter aber ift der Niedergang Frankreichs in feiner eigenen
Prefle und Literatur ein ftehendes Thema geworden. Ganz befonders haben
zwei Thatfachen bei vielen Franzoſen den niederfchmetternden Eindrud des
Nüdganges Hinterlaffen: erſtens der Umftand, daß die Bevölferung bes
Landes nicht zunimmt, während die des mächtigiten Nachbarlandes mit
reißender Schnelle wächſt, zweitens die überwältigende Niederlage von 1870,
die durch einen neuen Krieg wettzumachen ſich ald unmöglich erwies, Der
außerordentliche Auffhwung von Handel und Induſtrie in Deutfchland, deſſen
erft feit einem Menſchenalter vorhandener meltpoliticher Einfluß, die Macht:
ftellung Englands, die gewaltige Kraftentfaltung der nordamerilanifchen Frei⸗
ftaaten, verglichen mit der Armuth Spaniens und Italiens, die, ohne Aus⸗
/
30 | Die Zukunft.
dehnungskraft, an den Erinnerungen einftiger Eroberergröße zehren, endlich
der Sieg der Amerikaner über Spanien, — da8 Alles zufammen hat die
Ueberzeugung von dem Niedergang ber lateinifchen Stämme und Staaten,
im Gegenfage zur dem Wachsthum der angelfächfifchen und germanifchen, genährt.
Großes Auffehen erregte baher das Buch von Demolins, „Die angel:
fächfifche Ueberlegenheit“, das vor einigen Jahren den Franzoſen nicht nur
Mar machte, daß fie überflügelt feien, fondern auch, woher diefe Entwidelung
fomme. Daher nämlich, daß die Franzofen ein Volk feien, deſſen Kinder ftets
von dem ihnen Nächſten Unterſtützung erwarten, die Angeljachfen dagegen eins,
in dem Jeder nur auf fi felbft zähle Sogar ein Nationalift wie Jules
Lemaitre lobte da8 Buch. Bald danach erfchien Bazalgetted Buch: „Worauf
beruht die franzöfifche Inferiorität?“, dem nun als Fortfeßung, „Das Pro⸗
blem der Zukunft der Iateinifchen Stämme“ gefolgt if. Mit glühender
Leidenſchaft ſucht und findet Bazalgette die Urfache des Elends der Iateinifchen
Naffen, zumal all des über Frankreich gefommenen, in der römifch:fatholifchen
Kirche. Daß die Reformation in Frankreich fcheiterte, daß die in Nantes
zugeficherte Toleranz nicht gewährt, daß die Proteftanten ausgetrieben, daß
felbft nach der Revolution das Konkordat gefchloffen und dadurch ber Kirche
ihre Machtftellung zurückgewonnen wurde: in Alledem erblidt Bazalgette die
Grundurſache des Unheils, dad Frankreich betroffen hat. Kein fremder Monarch
oder Heerführer habe dem Lande auch nur annähernd ſolchen Schaden zu:
gefügt wie feine eigenen berähmteften Monarchen, Ludwig XIV. und Napoleon,
die es, Jeder auf feine Weife, Rom botmäßig machten.
Ein Gegenftüd zu diefen Schriften ift Emile Pierrets Buch „Der
moderne Geiſt.“ Auch diefer Fromme Autor fieht Frankreich von der alten
Höhe gefunken; die Urſache aber findet er gerade barin, daß der Katholizis⸗
mus nicht nur feine Herrfchaft ber viele Seelen verloren habe, fondern daß
die Regirung Alles daran fee, daS leichte und mohlthätige Joch der Kirche
abzufhätteln. Er hofft mehr auf die Frauen als auf die Männer Franl-
reihe. Der Mann, fagt er, „ift nicht fonderlich ſtark und Tann nicht viel
Döfes anrichten, wenn die Frau nicht feine Mitſchuldige ift. Die antiklerifale,
atheiftifche, freimaurerifche, revolutionäre Negirung, die wie ein Alb auf Frank:
reich Taftet, weiß Das gar wohl und richtet deshalb in Staat3- und Privat-
ſchulen ihre Angriffe auf das Weib.“ Mit Beifall führte er ein paar Worte an, bie
1879 ein anderer Franzoſe ſchrieb: „In der Arbeiterbevölferung unferer Stäbte,
wo die Frau um nichts weniger gottlos ift als der Dann, hat die Verderbts
heit, die Unordnung, die Anarchie ihren Höhepunkt erreicht. In den großen
Städten find manche Arbeiterverbände zu einer Verworfenheit herabgefunfen,
die Alles übertrifft, was eine verderbte Einbildungskraft ſich nur vorftellen
kann.“ Und ihm graut bei dem Gedanken an die furchtbaren Fortſchritte,
Pi
Frankreichs Furcht und Hoffnung. 31
die im legten Vierteljahrhundert die Berberbtheit gemacht habe, — in Folge
einer Bewegung, bie die Megirenden einen „Vormarſch“ nennen.
Charles Richet fagte vor anderthalb Jahren in der Revue Scientifique:
„Die großen foziologifchen Erſcheinungen ziehen ihre wmerbittlichen Geſchicke
nah fih. In einigen Jahren wird Frankreich Feine große Nation mehr fein,
fondern, im Bergleih mit mächtigen Nachbarn, ein Heines Volk wie Por⸗
tugal oder Dänemark." Dänemark muß fi hier leider häufig als Schreck⸗
bild aufgeftellt jehen.
Nur zu begreiflich ift, daß man in Frankreich zu einer Zeit, wo die
verfchiedenften Schrüftfteller, oft fogar mit ganz entgegengefeßter Begründung,
zu bem felben, das Nationalgefühl tief demüthigenden Ergebniß gelangt find,
mit frohem Staunen des ruſſiſchen Soziologen Novikow Buch L’expansion
de la nationalit& francaise las, das den Franzoſen die geiftige Weltherr⸗
fchaft verkündete. Novilom, der Prototyp eines felbftbemußten, radi⸗
kalen, mit Wort und Schrift wirkfamen ARuffen von gutem Humor und zus
verfihtlihem Glauben an die Zukunft, hat fiegeögewiffe Antworten auf alle
Einwände und Bedenken. Die Abnahme der Geburten, meint er, Tönme
eben fo gut ein Zeichen von überlegener Civilifatton wie vom Verfall des
” Bolks fein. Wenn einmal die benachbarten Völker eine fo hohe Kultur:
fiufe erreichen wie Frankreich, wird ſich auch bei ihnen die Zahl ber Geburten
vermindern. Der geringe Zuwachs fei übrigens auf vorübergehende Urfachen
zurädzuführen. Die Franzoſen fühlten fich in ihrem Heimathlande zufrieden
und hätten keinen Drang nad erhöhter Probuftion. Wenn die Nachfrage
nad „Händen“ fich neuerdings fteigerte, würde auch die Bevölkerung zunehmen.
Im Ausland, etwa in Kanada, fei der franzöfifhe Stamm äußerſt fruchtbar.
Kanada fei die befte Kolonie Frankreichs, wie die Vereinigten Staaten die
Englands; daß Kanada politifch von Frankreich getrennt fei, habe nichts zu
bedeuten. An der numerischen Schwäche der Franzofen trügen außerdem bie
Kriege der Revolution und des Kaiſerthumes Schuld; ohne fie würde das
Land 59 ftatt 39 Millionen Menfchen zählen. Endlich jei die Behauptung
unwahr, daß die Franzojen nicht zu Tolonifiren verftünden. Der 1648 von
Frankreich eroberte Elſaß fei zweihundert Fahre danach ganz franzöfifch ge-
weien, während Irland, das den Engländern feit 1172 gehört, noch heute nicht
Britifch fei. Eine militärifche Niederlage bedinge noch feinen geiftigen Nieders
gang; nach Roßbach habe Frankreich, nad Jena Deutichland die Welt ber
Geiſter beherrfcht. Bei nationaler Ausdehnung komme e8 hauptjäkhli auf
die Sprache an; und Novilom kann mühelos nachweiſen, daß die franzöfifche
Sprache, wenn fie unter den verbreitetften jetzt auch nur an vierter Stelle
fließt, von Fahr zu Fahr Boden gewinnt. Frankreichs Literatur ergöge und
feflele mehr als die eines anderen Landes und habe wegen ihres kosmopoli⸗
82 Die Zukunft.
tifchen Geiftes das größte Publikum. Aus all diefen Gründen glaubt No»
vifow, daß Frankreich wieder die geiftige Herrichaft über Europa zufallen
werde. Sein anderes Volk babe fich fo völlig den Windeln des Mittelalters
entwunden; nur in Frankreich gebe es wahrhaft moderne Inſtitutionen. Die
Oberſchicht fpreche ſchon jet überall Franzöfifch, das in ein paar Jahr⸗
hunderten Dutterfprache oder literarifches Werkzeug von dreihundert Millionen
Menſchen fein werbe.
Mit folhen Hoffnungen tröftet Novikow Frankreich, das von fo vielen
einheimifchen Unglüdspropheten entmuthigt ward.
Kopenhagen. Georg Brandes.
⸗
Damoklinos.
es Damokles Urenkel, Damoklinos,
Wie ſchämt er ſich der Feigheit ſeines Ahnen,
Des Schmeichlers Damokles, des Fürſtenknechtes,
Der vor den Höflingen zu Tod erſchrak,
Da fein entfeßter, weibifh feiger Blick
Des Schwertes Spitze niederzuden fah
Juft auf fein Haupt — pfui, hündifche Ahnenfeigheit! —,
Indeß ein Haar des Schwertes Fallen hemmte.
„Weh, mein gefymäht Geſchlecht! Weh, unfer Name,
Der ewig jenes Shwädlings Mafel trägt!”
Und ganz geheim an feiner Kammer Dede
Bängt er ein Schwert an einem Haare auf:
„Ich bebe nicht!” Und ftellt fi unters Scdywert.
„sh will den Fleck von unferm Namen tilgen,
Dor allem Volke will ih morgen ſtehn,
Ich, Damoflinos, ich, des feiglings Enkel;
Dfui, feiger Ahn!“ Er höhnt zum Schwert empor
Und heiliges feuer fprüht aus feinen Bliden.
Sein Mund wird ftolz, da — weh! —, da fchreit er auf,
Sein glüher Blick erlifcht, faum ſieht er nod:
Ein müßig tändelnd Müdlein furrt durchs Zimmer.
Noch rührt fein Flügel nicht das ftraffe Baar,
Ein Müdenflügelden .. .
Er aber zittert:
„Wenn fie das Haar berührte! Wehe mir!
Durch eine Müde fterben? Nein!“
Er flieht,
„Was eilft Du for Heh! Hör’ dodh,
Des Damofles Urenfel, Damoflinos!”
Drag. = Bugo Salns.
Er jagt dahin.
Aphorismen. 33
iphorismen.
enn das Bishen Schwäche in der Philoſophie nicht wäre, fo wären bie
Philofophteprofefioren die reinen Götter.
%
Die Probleme zu einem fcheinbaren Abſchluß zu bringen, ift eine Haupt-
ſache in der Philofophie. Wer e8 darin zu einer beträchtlichen Fertigkeit gebracht
bat, kann Profeffor diefes Faches werben.
. *
Wie ſollte es anders ſein, als daß ein Affe, der auf einem Baum ſitzt,
ſich einem Philoſophen für überlegen hält, der darunter ſitzt.
$
Vorausſetzungloſigkeit.
Das heißt, daß man das Selbe vorausſetzt, was die Anderen vorausſetzen.
$
Anfangs verlief die Welt theologiich, dann hiſtoriſch; und jetzt berrfchen
Raturgejeße.
3
Mehr als ein Weiler beantworten kann.
. Wird im Lauf ber Jahrtauſende die Menjchheit und das Wetter befler?
3
Die organifche Zweckmäßigkeit ift dazu da, von Darwin erflärt zu werben.
L
Geſchichte der Philoſophie.
Wenn toten Helden ein lebender Totengräber gegenüberfteht, behält immer
Diefer Recht. Wo er fie binlegt, bleiben fie liegen.
$
Literaturgefchichte.
Die Kunſt, Gedanken Anderer jo zu erzählen, daß man den Schein erwedt,
man habe jelber welche. s
Um die ewigen Polemiken zu befchränten, follte man verſuchen, bie
Bhilologen geiftig zu beichäftigen.
Mit dem Hintern auf Büchern —: wiſſenſchaftliche Grundlage des Juriſten.
$
Ein anftändiger Arzt darf fih nichts zu Schulden kommen laffen, als
daß er feine Patienten umbringt.
Münden. Paul Nikolaus Coßmann.
8
24 Die Zukmft.
Südweitafrifanijche Sfizzen.*)
Ein afrtlanifher Werktag.
5) em Berwaltungchef Liegt die allgemeine Polizeigewalt und bie Strafrechts⸗
pflege über die Eingeborenen feines Bereiches ob. Hierin unterſtützt ihr
der Stammeshäuptling. Ferner leitet er die geſammte Verwaltung, zieht Steuern
ein, regelt die Landverkäufe, richtet Polizeiftationen ein, befämpft die Viehſeuchen,
baut die Wege und Brunnen. Er wohnt mit einer Anzahl weiber und ſchwarzer
Polizeimannſchaften und zahlreichen Arbeitperfonal auf einer geräumigen Station.
Diefe enthält Wohnräume, Bureaux, eine Kaſſe, das Eingeborenen-Gefängniß,
Küche, Badofen, Vorrathskammern, Proviantlager, Inventarien⸗ und Materialien-
depot3, Munitionraum, Montirungsfammer, Poſtamt, Werkitätten, Pferdeunter-
ftände, Viehkrale und Dergleihen mehr, was zum wirthichaftlichen Leben einer
größeren Niederlaffung in einer halb entwidelten Kolonie gehört. Zum Station-
ganzen zählt ferner: ein Garten, Wagenpark, Pferde, Maulejel, Zugochſen und
Schlachtvieh. In den Bureauz blüht das Schreibweien. Draußen am „Schwarzen
Brett” reiht ih Verordnung an Verordnung. Der Betrieb einer folden Station
läßt an Bielfeitigfeit und Lebhaftigkeit nichts zu wünfchen übrig. Gar mancher
Rolonialfreund zu Haufe würde darüber baß erftaunen.
Sechs Uhr morgens fällt mit europäiſcher Pünktlichkeit ein Schuß, darauf
ein Ochſe. So ſchlachtet es fich beiler mit ungelibten Leuten. Das Fleiſch kommt
in bie Fleiſchkammer und wird in Portionen zerlegt. Im Badofen röftet das
Brot. Bor dem Gefängniß jtehen, in Säde gehüllt, in einen Häuflein klappernder
Mijere die Gefangenen. Der Polizeifeldwebel theilt fie zur Arbeit ein. Die
ihwarzen Poliziſten esfortiren mit geladenem Gewehr die einzelnen Gruppen
nach den verſchiedenen Richtungen. In der Küche brodelt in großen Kefjeln
der Neid. Vor dem Proviantamt wird die Koft an die ſchwarzen Arbeiter aus⸗
gegeben. Bom Felde kommen bie Ochſen herein und werben eingejpannt. Die
Bureauz Öffnen fih. In den Werkftätten ift e3 jchon lebendig. Aus dem Garten
tönt dad Quietſchen der Bewäfjerungpumpe herüber. Mein Bambufe pugt das
dicke Baradepferd, das ihm bei jedem SKarbätjchenftrih mit angelegten Ohren
nad dem Hofenboben ſchnappt. Die Arbeitmühle beginnt zu Happern. Da wird
geſchmiedet, geſchloſſert, gemalt, gemauert, getifchlert, geklempnert, geſchuſtert,
gejchneidert, gejattlert, gezimmert. Ein emfiges Getriebe. Bald belebt ſich der
Hof mit weißer und fchwarzer Bevölkerung. Die Einen laufen Munition, bie
Zweiten gehen zur Poſt, die Dritten zur Zollabfertigung. Diefer will eine
Frachtordre, Jener meldet feine foeben eingetroffenen Wagen an. Der Eine
fommt, eine Farm zu kaufen; der Andere zeigt einen Viehbiebftahl an. Dem
iſt über Nacht der Grenzitein von feinem Grundftüd verfchwunden, bei Jenem
eine Viehkrankheit ausgebrochen. Ein Anfiebler liefert einen friſchen Hyänen-
fopf ab und fordert jeine Prämie. Ein anderer beantragt ſtandesamtliches Auf-
gebot. Die Schwiegermutter legitimirt fih. Nah dem Schwiegervater fragt
fein Menſch. Die Braut zeigt etwas „lebhafte Yarben“.
*) ©. „Zukunft“ vom 29. Auguft 1903.
Südmweftafrifanifche Sfizgen. 35
In ber Kafje werden Steuern eingezahlt, Beträge abgehoben, Beftellicheine
ausgejchrieben, die verſchiedenen Poften auf die Etatstitel verrechnet.
Bor der Station fteht, von Hirten umringt, blöfend und brüllend eine
ganze Landwirthſchaft. Ich foll die Erbichaftsthetlung vornehmen. Die Böde
werden von den Schafen geidhieden und Alle gefragt, ob fie zufrieden find. Der
Kapitän friegt feinen Antheilochſen.
Ueber Nacht find in der Kneipe zwei Radaubrüder einander in die Haare
gefahren. Am Morgen kommen fie zur Polizei und Jeder verlangt für ben
Anderen Beitrafung. Mit einigen befchwichtigenden Worten werden fie jachlich
an die Luft gefegt. Bon „oben“ fommt die Dieldung, bas Wafler jei in Dingsda
am Trandportwege ausgegangen. Einer beklagt fi, da „unten“ hätten die -
Hereros Wafjerzoll von ihm verlangt. Dem ift eine Kuh fortgelaufen. jener
fchleppt jeinen Wagentreiber heran, ber ihn beftohlen habe. Am Iedernen Gängel⸗
band wird ein auf frifcher That ertappter Viehdieb eingebradt. Vor dem Thor
fteht Schon die Schaar der Großleute mit dem Kapitän an der Spibe. Gie
kommen berein, ftellen ihre Stöde an die Wand und lajlen fi) auf der Bank
im Berathungzimmer nieder. Endloſe Verhandlungen beginnen. Da find wieder
taufenderlei Angelegenheiten zu beſprechen. Ich berathe, beichwichtige, drohe,
ermahne. Dann kommen bie Gerichtsfigungen: meift Viehdiebftahl. Der
Thäter lügt wie gebrudt, vertheidigt fi mit unglaublihem Wortjihwall, erzählt
von Adam und Eva, aber antwortet nie auf die Trage. Jetzt laffe ich den
Kapitän heran. Er ftellt‘ ein Kreuzverhör an und treibt geſchickt die faulen
Kunden in die Enge. Die Sache ſcheint klar und wird kurz zu Papier gebradit.
Dann erfolgt Antrag nad Schema F.: ein paar Monate und bie üblide Zur
that. Alles nidt. Die bewußte Mehlkiſte wird wieder bei Seite geichoben.
Schon fommt ein neues Bild. Ein Händler bietet Schlachtvieh an. Der Pros
viantmeifter tarirt e8 ab. Der Dann kriegt fein Gelb.
Inzwiſchen ift „Pot“ eingetroffen. Man thürmt einen Berg Briefichaften
vor mir auf. An alle ſechs Dienftftellen gerichtet, die ich in meiner Perjon
vereinige. Die Couverts fliegen, Anmweifungen werben ertheilt unb bie Schrifts
ftüde nach Dienitftellen gefichte. Dann gebt e8 an die Arbeit. Da wird be
richtet, gemeldet, angeorbnet, mitgetheilt, begutachtet, nachgeforſcht. Aftenheft
nad Aktenheft durchitöbert.
Es klopft. Ein ſchwarzer Rod erſcheint: der Miifionar mit einem An-
liegen. Am Sonntag haben fie während des Gottesdienftes gefegelt! Er Hat
betrunfene &ingeborene gejehen! Hter fcheinen ihm feine Weiberechte gefährbet,
dort legt er gegen eine Regirungmaßnahme feierlich Proteſt ein. Miffionare
proteftiren ſtets. Aber nur die Proteftanten.
Durdreilende — Kaufleute, Anfiedler, Mineningentenre — machen mir
ihre Aufiwvartung. Ein Negerweib beflagt fi, daß ihr Junge von jeinem Dienſt⸗
bern zu viel Prügel friegt. Ein .paar ſchwarze Saufbrüber wollen einen Kauf
erlaubnißfchein für Schnaps haben. Ich fage, ich tränte auch feinen Schnaps.
Da meint der Eine, er habe es „jo im Magen.“ Ich ſchicke ihn zum Lazareth»
gebilfen. Der giebt ihn eine böfe Mixtur: er fommt nicht wieder. Der Andere
meint, er habe jo lange feinen Schnaps getrunten. ch erwibere, dann habe
er fih ja an die Enthaltfamfeit gewöhnt. Der Dritte kriegt ſchließlich feinen
Schein, weil er feine Schulden bezahlt Bat. gi
36 Die Zukunft.
Draußen wird eifrig an den neuen Gebäuden gemauert; Lehm gefnetet;
Ziegel geftrihen; Holz berangefahren; Ziegelöfen gefegt. In Reihen kommen
die Negermweiber mit ihren Kindern bahergezogen und bieten Gras für die Pferbe
zum Berlauf an. Stunden lang boden fie ftumpffinnig umber, bis fie ihren
Becher Reis oder Mehl für das Bündelchen erhalten. Der Amtsjchreiber, der
Rafienfügrer, der Polizeifelbiwebel, der Propiantmeifter: Jeder legt eine dide
Unterfchriftenmappe vor. Ich jchiebe Berichte und Alten weg unb fange an,
zu unterjchreiden. Mein Diener, zugleih Soc, meldet, das Eſſen ſei ange:
richtet. In einer Biertelftunde tft der materielle Menſch befriedigt. Der Kaffee
wird ſchon wieder am Schreibtiih eingenommen. So geht es weiter, bis ber
Sonnenball ſich abendlich röthet. Das Pferd ſcharrt vor der Thür. Ein Furzer
Ausritt. Der Abend bricht herein. Die zweite Mahlzeit wird eingenommen.
Dann brennt die Lampe wieder Über Büchern und Papier. Der Sandmann
fommt. Noch eine Eigarette, dann in bie Falle. Im Traum fchreibe ih an
meinen Berichten weiter. Der Morgen graut. Ich drehe mich auf die andere
Seite. Die Sonne fteigt bedenklich höher. Ich bekomme Gewiſſensbiſſe. Bon
draußen tönt ſchon das neue Tageögetriebe zu mir herein. Entſchluß! Ich
Ipringe auf. Die Badewanne fteht bereit. Die Toilette tft beendet, — und
das Alltagsleben hebt von Neuem an.
Ein „Afritaner” von Ruf bat Südweltafrifa dad Land der Yaulheit
genannt. Ich beantrage hiermit, den Ausſpruch cum grano salis zu nehmen.
Neujahbrsftimmung.
Heute tft Neujahr! Der Tag der Unbeicheidenheit und des Selbftbetruges,
wo der Menſch in einem Meer von Wünfchen plätfchert und dabei mit fich felbft
Verſteck jpielt. Goldene Berge begehrt und erhofft er; in der Dunkelkammer
feiner innerjten Ueberzeugung aber erwartet er höchſtens ein Häuflein Flitter-
gold. So geht es zu auf beiden Halbfugeln, aljo auch in SW., dem füdlichen
Web unferer kolonialen Xaftverfuche.
Neujahr! Zu Haufe gleich einer Apotheofe auf der Menfchheit Wollen,
Sehnen, Hoffen, Streben, Wirken, Schaffen. ch glaube, der einzige Tag, an
dem ein gemeinfamer ibdealiftifder Zug bie gefammte Kulturmenfchheit durch⸗
weht. Der Tag, der die Sehnſucht nad Zuſammenſchluß zu gemeinjamen
Bielen und Zweden in allen Strebenden flüdtig erwedt. Denn Alle beugen
fi in gleicher Weile vor Chronos, diefem gewaltigiten ber Erdentyrannen. Un
foldem Tage jpürt man daheim den faufenden Schwung des Beitenrabes, der,
fonft vom geichäftigen Haften des Werljahres übertönt, unjeren Geiſt für wenige
Stunden berausreißt aus der ftidigen Utmofphäre der Alltäglichkeit. Hier, in
SW. aber, automatiſch⸗nüchtern wie beim Zahlenſtreifen eines Tarameters, kippt
00 über, 01 ſpringt ein: der Jahreswechſel tft ohne Fahrtunterbrechung voll:
zogen. Das ift unfer Neujahr... Aber Hoffentlih nur für Den, der ſich den
ſelben thörichten Gedanken überläßt.
In der Sylveſternacht hielt ich ein geiftreiches Zwiegeipräch mit dem phos-
phoreszirenden Schädel Moltkes über die großen Dajeinsräthjel. Da, plötzlich,
flammte ed auf: und von rotbglimmmender Gluth verzehrt, ſank das beinerne
Traumphantasma in ſich zu einem Aichenhäufchen zufammen und ließ mid), fo
flug als wie zuvor, Über der Welträthjel tiefftes verbußt zuräd. Wars ein
Südweſtafrikaniſche Skizzen. 87
Symbol? Wer kanns jagen? In Afrika gedeiht Leine Metaphyſik. Dort
liegen die Dinge hart bei einander. Ich hatte am Tage vorher über Moltke
in der Zeitung gelejen, Edermann mit Goethe belauſcht, ein Protokoll über ein
entftandenes Feuer aufgenommen und einen weißgrinfenden Negerichädel zur
Beize in die Sonne gelegt. Voila tout!
Am Neujahrsmorgen brachten mir meine Teute ein Ständen, aus dem
ich die Meberzeugung ihrer Anhänglichkeit und erneut die Thatſache jchöpfte, dag
der Baß, unfer mufſikaliſches Schmerzenstind, ſich noch immer nicht jo recht ber
Harmonie gewifienhafter Notentonftellation anzubaſſen vermochte. Dann erhielt
ber Miſſionar feinen Choral. Profane Weijen, bie mit größeren Bwifchenpaufen
folgten, ließen auf Trankopfer jchließen. Wahrſcheinlich im bewußten ſüßlichen
Profelgtenwein vom Kap, womit biefige Miſſionare über Befuche zu quittiren
pflegen. Auch unfere Weihnacht haben wir gehabt; mit Pjeudobaum. Ein
kaukaſiſcher Bandit mit höchſt ehrwürbigem Bart, einem Piftölchen im Gürtel
und Strippe zum Biehen vertrat den Knecht Nupredt. Ein Naffael, einer von
denen, die man ihrer fchlechten Haltung wegen nit in Kinderzimmer hängen
joll, baumelte jtilmildernd über ihm. Kleine Geſchenke wurden werloft, ein gemein
ſames Mahl ſchloß fih an. Wir fuggerirten einander Eis, Schnee, Ofenwärme,
Lichterglanz, Heimathduft und was ſonſt noch äußerlich und innerlich dem fenti-
mentalen Deutſchen „Weihnachten“ bedeutet. Die Leute halfen mit Bier und
Punſch nad. Ich aber ſchlich mich bei Zeiten nach Haufe.
Sentimentalität ift die einzige beutfche Waare, auf ber in Südweſtafrika
noch fein Einfuhrzoll Laftet.
Ein gerettetes Idol.
Die Buren find in ihrer Geſammtheit weder das Urbild ftumpffinniger
Reaktion der engliſchen noch die idealifirten hochſittlichen Freiheitrecken der deutſchen
Beleuchtung.
Seit gierige Hände in den gelben Eingewetden ihres Landes mühlen,
haben jie die Einheitlichfeit, die zur Beit bes eriten Treffs wohl noch beitand,
eingebüßt. Heute giebt e8 ſolche und „ſolche“ Buren.
Hatte ih da von der legten Sorte Niederbeutfcher ein paar Exemplare
in meinem Bezirk, die wie zerzaufte Rübezahls ausfchauten. Sie waren mit
ein paar Weibern behaftet, denen man zurufen modte: „Waſſer thuts freilich
nicht allein, wenn Ihr Euch reinigen wollt!" Die Sippe trug einen abderitijchen
Stumpfſinn zur Schau. Wenn bie bei der Krüger⸗Feier in Köln im Original-
Einbande mit auf dem Ballon erjchienen wäre: der Andrang wäre noch größer
gewejen. Dieje Stammesbrüder bauften zwifchen nadten Felsklippen, inmitten
einer troftlofen Szenerie, in einer Lehmhütte, die mit alten Säden eingedeckt war.
Sie bauten ihre Kaffern, daß die Yappen flogen — falls fie melde anhatten —,
fangen aber, nad} der Vorſchrift, jeden Abend dem Herrn einen Yubgefang. Sehr
andadhtvoll würde auch dem Frömmſten dabei nicht zu Muth geworben fein.
Bum bejtimmten Termin fommt der fehon legenbäre ſchwarze Viehräuber,
deilen Bande die wilden Klüfte bergen, vom Berge ber, den Behnten vom Vieh
unjerer Freunde zu fordern. Es find ihrer fünf ftramme Burjche. Ich fagte
ihnen, fie jollten der Behörde Helfen, den Sterl zu fangen; fie feien in jeder
Hinficht die Nächten dazu. „Hih. Hm.. Jaa..“ Ich wies fie auf die ausgefeßte
40 Die Zunft.
Kolonie wird reformirt; an Haupt und Gliedern. Jeder entwidelt fein Wirth⸗
Ihaftprogrammı, vor dem die Weisheit des Kolonialrathes zerbleiht. Die Tiſch⸗
platte erdroͤhnt; die Flaſchen Elirren; die Pfeifen qualmen. Im Parorysmus
Schalt heiſerer Kehlen lallende Disjonanz in die afrikaniſche Wundernacht hinaus.
Da erhebt fih unvermittelt in feiner ganzen Gardelänge ein alter Witbois
Kämpfer und brült: „Silentium! Es fteigt: Ein Profit der Gemüthlichkeitt
Der Wirth fingt bie Weiſe vor!’
Africanus minor. °
Als Handwerker, Kaufmann, Soldat, entgletiter Landwirt und „Ver⸗
Iorener Sohn“ kommt er zu uns berüber; findet bald Hier, bald bort fein täglich
Brot — auch eine Flajche Bier muß bei dem Brote fein! — und afflimatifirt
ih. Ein kategoriſches Streben erfüllt ihn: felbftändig, fein eigener Herr zu
werden! Um jo fchneller und gründlicher, je weiter er daheim von diefem Biel
entfernt geweſen ift. Man wandert doch nicht aus, fich auch ferner fauren Monats⸗
lohn in perſönlicher Abhängigkeit zu verdienen. Die Zeit veritreicht, der große
Augenblick ift nah. Der Mann mit dem Drang nad) oben, der es ſchon ganz,
leidlich verfteht, feine Mutterfprache mit Kaffern- und Burenbrocken zu verhungen,
faßt einen Entſchluß: er ſucht fich einen Kreditgeber. Ich empfehle den heimath-
lien Mittelftandpolitifern dringend das Stubium ſüdweſtafrikaniſcher Kredit⸗
verhältniffe. Der Realiſt pumpt fi Waaren, Karte, Trekkochſen und zieht ins
„gandelsfeld“, den Negerbuſch, um Zalmiringe und Khakihoſen in Ochſen und
Ziegen zu verwandeln. Das fieht die Regirung nicht gern.
Auch der Idealiſt pumpt fid Waaren, Karre, Trekkochſen. Außerdem
aber — er ift eben das Opfer ſeiner Weltanſchauung — Baumaterialien, Brunnen»
geräth, Zuchtvieh und wird „Farmer“. Er dentt: Großgrundbeſiber. Das ſieht
die Regirung gern.
Als Steppengebieter, ein König unter den Schwarzen, von keinem Zwang
umſchränkt, verdient der Realiſt, wenn es ihm gut geht, gerade genug, um ſeinen
Kreditgeber in Bewilligunglaune zu erhalten. Geht es ihm ſchlecht — Das iſt
die Regel —, ſo decentraliſirt er den Pump und wartet der Zahlungbefehle, um
mit verbindlichſtem Bedauern zu erklären: „Keia!“ Das heißt: „Mer ha'n nix!“
Das geflügelte Wort „ft ja Alles da!“ ift in S.W. nicht heimathberegjtigt.
Der Idealiſt figt — aud als abjoluter Herr — zwiſchen Lehm und
Wellblech mit jeinem ſchwarzen Gefinde in rauher Dorneneinfamkeit und denft
über die hundert „Wenns“ nad, mit denen ein ſüdweſtafrikaniſcher Wirthſchaft⸗
betrieb zu rechnen bat. Er fieht nicht die Rauchfäule feines Nachbarn, dieweil
er meift feinen hat, und fommt mit der Behörde — wie angenehm! — nur in
Berührung, wenn er fie braucht. Seine ſchwarze Haushälterin focht und wäſcht
für ihn und theilt, nah dem Grundfag: „Es ift nicht gut, daß der Menſch
allein jei”, jein von feiner Haft verftörtes Leben. Eine weiße rau ift jelten
und theuer. Eine ſchwarze will zwar auch behängt und befchentt fein, ift aber
doch ein gutes Theil bequemer und billiger. An dem Brofamen heifchendem
Anhang fehlt e8 aber aud ihr nid.
In dieſem Negermilieu fühlt fih unfer Mann wohler, als e8 dem kul—⸗
turellen Fortſchritt dienlih ift. Sein Bildungsgrab legt dem menschlichen Hang
Südweſtafrilaniſche Skizzen.
nad unten fein Hemmniß in den Weg. Er paßt fich geiftig einem Land an,
bag für die Dauer dem Gebildeten zur Richtſtätte feiner ideellen Welt wird.
Das natürlihe Beharrungvermögen und die hiftorifche Scham des Auswanderers,
nicht mit leeren Taſchen zu den Seinen zurüdzufehren, tragen dazu bei, ben
Grundheren -an jeine dürre Scholle zu fejleln. Bor der heimathlichen Enge,
vor perjönlicher Abhängigkeit, aljo vor der Rückkehr, zittert er. Braucht er
Bargeld, fo bewirbt er fih um eine „NRegirungfracht”, die er gewöhnlich nicht
erhält. Dann greift er kurz entfchloflen in den Kral und bringt ein paar Schlacht⸗
ochſen auf die Station, bie ein rationeller Betrieb noch nicht für reif zum Verkauf
erklären würbe. Bargeld zahlt nur bie Regirung.
Trotz Alledem ift diefer meift in der Weißgluth fühweftafrifaniicher Wirth.
ſchafterfahrungen gehärtete Dilettant als Kolonift geeigneter für unfer Land als
der deutfhe Bauer. Der paßt hierher, wie der preußiſche Kanzleirath in eine
jübamerifanifche Verwaltung. Beide ftänden mit ihrer Tüchtigkeit an verfehrter
Stelle. In Südweſtafrika herrſchen beſondere Lebensbedingungen. Daran ändert
alle Privatdozenten⸗Weisheit nichts.
Der gegebene Mann für unſer Land, in rein wirthſchaſtlicher Beziehung,
iſt der Bur. Er iſt in ſeiner zwiſchen Natur⸗ und Kulturvolk ſchwebenden Eigen-
art mehr Erzeugniß des Bodens als der Raſſenmiſchung. Sein Land aber iſt
dem unſeren verwandt; wenn es auch nur die verarmte Seitenlinie darſtellt. Der
Bur bringt Weib, Kind, Vieh und Alles, was ſein iſt, mit und lebt bei ſeiner
Anſpruchloſigkeit und ſeiner patriarchaliſchen Wirthſchaftorganiſation um ſo
beſſer und billiger, je verheiratheter er iſt. Der deutſche Farmer dagegen krankt
an einer Familie.
Uns aber, beſonders aus Rückſichten volkiſcher Romantik, mit Buren auffüllen:
Das wäre ein ſchwerer politiſcher, ſozialer und kultureller Fehler. Bald würden die
niederdeutſchen Stammesbrüder rufen: „Nieder, deutſche Stammesbrüder!“
Ueber dem Realiſten und Idealiſten ſteht als dritte Kategorie der Eklektiker.
Der baut eine Wellblechbude am rechten Ort und holt ſich eine Schankkonzeſſion.
Das iſt der einträglichſte Farmbetrieb in Südweſtafrika.
Tagebuch.
14. VIII. Htute find fünfzig Dienſtbriefe eingegangen.
1. IX. In China find Wirren ausgebrochen. Eine Expedition wird aus⸗
gerüftet. Wer doch mit dabei fein könnte! Da fcheint fi etwas Weltrummel
zu entwideln. Hier roftet das Schwert in der Scheide, die Feder aber gleitet
tajtlos Über das Papier. Ein paar Miffionare ermordet. Mir fällt dabei ein
Wort des alten, milden Yontane aus einem Brief an Harden ein: „Wenn ich
Iefe, daß wieder ein Mijjionar ermordet ift, thut mir der arme Kerl furchtbar
leid; aber von Prinzips wegen kann ich ihn nicht bedauern. Ich finde es an-
maßlich, wenn ein Schuitersjohn aus Herrenhut vierhundert Millionen Chineſen
befehren will!” Charity begins at home!
24. XI. &3 fängt an, Heiß zu werden. Bald find wir wieder in Gluth
und Heufchreden getaucht. Ich gedenke mit Sorge unferer Thiere. Fällt in
diefem Jahr der Regen nicht reichlicher, jo müflen wir fie mit Verordnungen füttern.
42 | Die Zukunft.
13. VII. Mein Diener tritt aufgeregt herein und meldet, draußen jet ein
großer Stern mit einem langen Schweif! Es fehlte nur noch ber Zufaß: „ber
mich zu jprechen wünſche.“ Ich ging hinaus und erklärte ihn für einen Kometen.
Danach wird der Diener jo Elug als wie zuvor geweſen fein.
25. VII. Der legte Intranfigent, ber Ortsjude, hat Frieden mit ber
Regirung gemadt. Un feinem Geburtätage trank er ih Muth, damit er mein
Antlig ertragen Tönne. Ich lieh ihn zappeln und kehrte dann nach Peking zu⸗
rüd. Hämiſche Leute munfeln, die Saffern hätten ihn im Transvaal eines
fhönen Tages ſchlankweg über den Deichielbaum gezogen. Das wird wohl aber
nur der Sonkurrenzneib eingegeben haben.
13. X. Meine Yamilie ift um zwei Baviane vermehrt worden. Sie
baben wor der Thür ein Häuschen befommen, find aber durch fefte Riemen in
threm Berjtörungradius befchränft. Steht der Wind darauf, fo jpfire ich in meinem
Bimmer ihres Weſens einen ftarfen Haug. Der große geht bei feinen Liebes»
bieniten etwas brutal zu Wert. Er bat dem Tleinen ſchon das ganze Fell blutig
geknipſt. Dem kleinen haben die Hunde beim Yang einen Daumen abgebiflen.
Cr wird täglich regelrecht verbunden.
7. J. Mein neuer Bambufe Hat die erften Senge bejehen. Am Nach—⸗
mittag bringt er mir dafür ein hölzernes Milchgefäß mit Schöpflöffel aus
Mutternd Pontok als Präſent. Ich revanchire mich am näditen Tage durch
einen Gürtel. Ich hätte durch fofortige Erwiderung des Geſchenkes grob gegen
die gute Sitte verftoßen.
16. IH. Eine Jagderpedition tft aus Deutfchland eingetroffen. Der eine
Theilnehmer tjt fein Neuling mehr in Afrika. Er dat die Reife in Angola
gemacht, die der Tronenorbentliche Drefier als die feine befchrieb. Der war aber
nicht der erfte „Afrikaner“, der dem Mitteleuropäer die Hude vollgeichnurrt bat.
Der zweite Jagdkumpan: ein gemüthlicher Sektpfropfen mit leichtem Auftern-
glanz im Blid. Er hörte nie zu, quittirte aber über dad Nichtgehörte ftet3 mit
einem: „om... Sa... Sehr intereffant! Wirklich ſehr intereflant!” Das
glaubte er Afrika ſchuldig zu fein. Vom Lotterbett feines mit Wein- und Bier-
fiiten vollgepfropften Salon⸗Ochſenwagens aus jah er fih Afrika an. So be-
wahrt man fich die Diftanz für das Pathos heimathlicher Berichterftattung.
Ya, ja, fieben Wochen durch die Wildniß und nur zwei Nächte bavon
nicht in den felben Kleidern; in den Sand geftredt und mit Mondſchein zugededt:
Das macht den Menjchen mit der Eigenart eines Landes vertrauter. Ein drei⸗
zehnftündiger Ritt — in drei Abſchnitten —, um am nächſten Mittag die Labung
ipendende Pfütze zu erreihen: Das läßt die Natur in anderer Auffaffung er:
ſcheinen. Lömenbräu und Steinberger Kabinet jchmeden beſſer als Salz: und
Jauchewaſſer. Dazwilchen gähnt die Kluft einer ganzen Weltanfchauung.
Wer ſich ald Globetrotter braun einlappen fann, muß von Allen „da
draußen“ begeiftert fein. Daß er dabei meilt Schein für Wirklichkeit nimmt,
verſchlägt ihm ja nichts. Im Segentheil. Ein Land lernt aber nur Der kennen,
dem es fih auch in jeiner Erbarmunglofigkeit offenbart Hat.
Fritz Treffer.
2
Mafjener. 43
Maffener.
err Budde, der Berkehrsminifter, hat vor Kurzem erflärt, bie Staatsbahnen
feien\ für das Publikum, nicht das Publitum für die Staatsbahnen da.
Diefe verblüffende Neuigfeit war fehr willlommen. Im preußiichen Beamten-
ftaat findet der Einwohner ganz natürlich, daß er fi) als dienendes Glied den
öffentlichen Inſtitutionen einzuordnen bat, während in Staaten ohne Uniforms
zwang jeder Bürger verlangt, daß bie gemeinnügigen Unftälten fi) feinem Be-
dürfniß anpafien. Hoffentlid madt Herr Budde Schule, in feinem eigenen und
in anderen Reflorts. Wenn fih im Publikum erſt ein neuer Geiſt, eine mobernere
Auffafjung von den Rechten des Einzelnen und ben Pflichten der Organe, bie
von ber Geſammtheit für die Geſammtheit geichaffen find, eingebürgert hat, dann
wird es fi) vielleicht auch zu dem Entihluß aufraffen, die felbe Denkart auf
fein Berhältniß zu Altiengefellfchaften zu übertragen. Noch begnügt fi der
deutfche Aktionär leider damit, willenlofer Sklave der Direktion und des Auf-
ſichtrathes jeiner Gefellichaft zu fein, unb bedenkt gar nicht, daß er Beiden das
Amt und die Macht verlieh, von der er fi nun tnechten läßt... Das Beilpiel
lehrt, daß nicht der Slaube an das Gottesgnadenthum, wie man gemeint hat,
der Autorität Anerkennung fidert. Borftand und Auffichtrath einer Altiengefell-
ſchaft find Kreaturen der Generalverfammlung, die ihnen den Stuhl vor die
Thür jeßen kann, wann immer es ihr beliebt. Der beutfche Aktionär aber fieht
feine Direktion und feinen AuffidtratH vom Nimbus amtlicher Befugnig um⸗
ftrahlt und blidt zu ihnen wie zu einer hochwohlweiſen Behörde empor, deren
erhabenes Walten er zu rejpeftiren bat. Wann wird Das anders werden?
Skandale von der Art deſſen, den in dieſen Tagen die Maſſener Berg-
baugeſellſchaft dem erftaunten Blic bot, müßten eigentlich diejen falſchen Nimbus
ſchleunig befeitigen. &röblicher find Aktionäre ſchon lange nicht getäufcht worden.
Der Fall reiht fich würdig gewiſſen Vorgängen an, bie im Lauf der legten Jahre
aus Ländern mit minder ftrenger Gefebgebung gemeldet wurden unb über die
unjere Moraliften dann ftolz die Nafe rümpften. Ich will die Handlung des
Stüdchens ruhig erzählen. ALS die Zechenbefiger von Rheinland-Wejtfalen um
die Septembermitte zur Erneuerung des Kohlenſyndikates zujammentraten, er-
klärte die Maſſener Gejellichaft, die Entſcheidung über ihren B itritt bis zum
breißigften September Hinausfchieben zu mäflen, da zur Zeit Verhandlungen
weges des Berkaufes ihres Bergwerkseigenthumes an ein Hüttenwerk fchwebten.
Dieje Erklärung ftimmte bie Börje natürlich zu dem Glauben, irgend ein größeres
Hüttenwerk bewerbe ſich um den Bergwerksbeſitz von Maſſen; jolde Bewerbungen
waren in den legten Monaten ja auch ſchon an andere Bechen berangetreten.
Und nun begann, wie fich von felbit verjteht, das Rathen. Wer wirbt um Maſſen?
Nach einander wurden Gute Hoffnung, Königsborn und die Rombacher Hütte
genannt. Umpgehend famen Dementis von Gute Hoffnung, Königsborn und von
der Rombader Hütte. Maſſen ſelbſt jedoch blieb ftill, als ınan Gute Hoffnung,
ftill, ald man Königsborn, fiill, al8 man Rombach nannte. Inzwiſchen wurden bie
Kurſe der Mafjener Aktien wild getrieben: ehe man noch recht drauf geachtet hatte,
waren fie um faft fünfzehn Prozent höher. Zu dieſem hohen Kurs wurden Altien ge-
fauft und der Theil der alten Aktionäre, der dumm genug war, fi) narren zu laflen,
44 Die Zukuuft.
klammerte fich in dieſem Freudentaumel an jeinen Befig wie an etwas Unfchäßbares.
Allzu Bald gerieth die Hauſſe freilich wieder ins Wanken. Bweifel erwadten. Aber
die Maflener, dachte man, hätten doch ficher nicht jo beharrlich gejchwiegen, wenn
Alles nur Qualm geweien wäre. Da kam ein Wink. Man vernahm, die entſcheidende
Auffihirathsfigung, in der über den Verkauf von Mafien ein Beſchluß gefaßt werden
follte, jei um vierundzwanzig Stunden verjchoben worden. Alfo nur noch ein
kleiner Aufigub: dann wurde die Sade ganz fidher perfekt. So träumte der
Unterthanenverftand des Aktionäre, der noch am Grabe bie Hoffnung aufpflangt.
Es fam aber anderd. Der nächſte Tag bradte die Auflihtrathäfigung und als
Ergebniß eine Erklärung: Maſſen wird am breißigften September den neuen
Synbilatsvertrag ruhig mitunterfchreiben; denn „ein Kaufangebot ift bisher nicht
eingelaufen”. Das war ſtarker Tabak. Im erften Moment wußte man nicht
recht, was man an dieſer Mittheilung mehr anftaunen jollte: die Unverfroren-
beit, womtt die Berwaltung allen bisher giltigen Begriffen von öffentlidem Anftand
ins Gefiht ſchlug, oder die Dreiftigleit der vorausgeſchickten falſchen Meldungen,
mit denen die Kurſe getrieben und Käufer geködert worden waren. Aber ſchließlich
mochten die Aktionäre jelbft ihr Sinterefie wahrnehmen. Diefen Standpunkt
finde ich nicht Elug gewählt. Heute mir, morgen Dir. An dieſem Auffichtrath
und an diefer Direktion follten die Aktionäre einmal ein Erempel ftatuiren, das
alle anderen Auffichträtde und Direktoren warnen und jchreden würde. Recht
ſchön, denkt Mancher; wo aber giebt das Beleg ung die Möglichkeit, die Schul⸗
digen zu erreichen und zu züchtigen? Die Maſſener haben die Lücken bes Ge⸗
ſetzes offenbar fehr genau ftudirt, bevor fie fich unterfingen, gegen deflen Geiſt
jo fe zu verftoßen. Ich ſchade aljo der guten Sache jchwerlid, wenn ich ver-
tathe, dab man das Gejeh vergebens durchitöbern, vergebens in feinem Wortlaut
die Möglichkeit juchen wird, den Schwindel nad) Gebühr zu jühnen. Ad, diejes
Gefeg! Wie viele kluge Köpfe, die zu anderer Arbeit zu brauchen gewejen
wären, find daran erlahmt! Man ſchuf ein neues Aktiengeſetz und ein neues
Börjengefeb. Bis ins Heinjte Edchen hinein ſollte der Schlechtigkeit heimge-
leudtet, auf jede nur denkbare Qumperei eine Strafe gejeßt werden. Das Gele
jah aus wie cin Eifenbahnmwagen, deflen ſämmtliche Thüren und Fenſter mit
Verboten beflebt und bepinfelt find: Nicht rauchen, nicht Hinauslehnen, feine
Obſtkerne werfen, nicht muthiwillig die Nothleine ziehen, nicht fpuden! Und fiehe
da: die liebe Niedertradht fand doch einen Unterfchlupf, wo fie vor dem harten
Geſetz geborgen bleibt, und eine Lumperei folgt gemächlich der anderen: der viel-
gerühmte Segen des Börlengejeges hat ſich in Fluch verwandelt. Alles Unheil, das
der Terminhandel zu bringen vermochte, fchrumpft ins faum noch Sichtbare zu⸗
jammen, wenn man es dem fyftematifchen Schwindel vergleicht, den das Verbot
bes Terminhandels auf dem Kaſſamarkt gezüchtet Hat. Der Terminhandel Hatte
in fich felbjt wenigjteng ein Heilmittel gegen Betrug; das Kaflagefchäft aber er-
möglicht jeder gewifjenlojen Clique, den Markt zu beherrjchen und den Vetter vom
Lande zu rupfen wie ein junges Huhn. Vom Geſetz haben aljo die Mafjener
Aktionäre nichts zu hoffen. Diejes Gejeg kann fi nicht einmal da immer ſiegreich
behaupten, wo es ausdrüdliche Beftimmungen trifft, und noch weniger natürlid
jeinen Geiſt da zur Geltung bringen, wo fein Buchitabe verjagt.
Der Tall Maſſen ift nicht vereinzelt. Kurz vorher haben wir die Kurse
Mafiener. 45
treiberei in den Aktien der Rheiniſchen Metallmaarenfabrik erlebt. Da wurde
die Sache freilich nicht gar jo grob angepadt; dafür war die Mache um fo dbauer-
bafter. Man fing plöglih zu wilpern an, die Erhardt⸗Geſchütze, bie von der
mit Krupp konkurrirenden Geſellſchaft bergeftellt werden, feten nicht nur von
fremben Regirungen feft erworben, fondern hätten jogar Ausficht, vor den Mugen
unferer Dtilitärverwaltung Gnade zu finden. Woher jtammte dad Gerücht? Zu
und fan es aus Düfleldorf, dem Stammfig der Dtetallmaarenfabrif. Und
aus Düfleldorf kamen fpäter offizielle Meldungen der Gejellichaft, die diefen
Gerüchten entgegentraten. Scließlih war man genau fo Flug wie am Anfang:
nur hatte fich inzwiſchen ber Werth der Aktien beträchtlich verändert. Im Ganzen
wars, ber Wirkung nad), faum anders als bei Mafjen; das Ende war im Grunde
noch ſchlimmer. Daß die düſſeldorfer Berwaltumg in falic gewählter Stunde red-
felig wurde, wird die Aktionäre vielleicht das Geſchäft mit Defterreich often,
das jchon eingefädelt war, als das verfrühte Rellamegetrommel und die dadurch
verurfachte Sturstreiberei die dfterreichiiche Konkurrenz in Harnifch brachte. Auch
in dieſem Fall hat man bis heute nicht gehört, daß bie Aftionäre irgendwie gegen
bie Berwaltung vorgegangen ſeier, um arbeit zu ſchaffen.
Auch ein konſtitutioneller Staat kann freilich nicht von einer permanenten
Bollsverfammlung regirt werden; auch eine Republik Braucht zu ihrer Berwal-
tung Minifter und eine Negirung. Die Auffihträthe und Direktionen unſerer
Altiengefellf haften bergen aber unter republikaniſchen Formen den: nadten Ab-
ſolutismus. Schade nur um die Miethe, die für die Schaupläße der General-
verfammlungen bezahlt wird. Der gutgläubige Aktionär, ber fi aufs Intri⸗
guiren nicht verfteht und nur weiß, daß in dem Unternehmen ein Theil feines
oft ſauer erworbenen Vermögens ftedt, kommt faft niemals zum Wort. Giebt
es eine Debatte oder gar eine Szene, jo wird mit vertheilten Rollen agirt und
nur der Himmel weiß, welche Sonberinterefien da aus den Masken reden. Rafft
fi) aber wirklidh einmal Einer aus der contribuens plebs zu einer wohlbered-
tigten Erkundung ober Veſchwerde auf: wehe ihm! Das fehlte gerade noch, daß
jeder beliebige Theilhaber am Geſchäft wagen dürfte, fih ums Geſchäft zu be-
fümmern! Er wird jo herb abgemtejen, daß ihm die Luſt vergeht, feine Naje
hinfüro in diefe Sachen zu fteden; ober er wirb ind Bureau der Geſellſchaft
eitirt, wo ihm unter vier Augen und unter didftem Siegel der Verſchwiegenheit
die dümmſten Redensarten aufgetiiht werben, fo dumm, wie fie felbft der Herr
Direktor in Öffentlicher Verſammlung nicht vorbringen dürfte, ohne fich lächer-
li zu maden. Der Aktionär aber nidt verftändnißinnig, als Hätte er nun
das erlöjende Wert vernommen, geht mit einem Gefühl der Erleuchtung nad)
Haufe und betet, daß ihm Direktion und Auffichtrath erhalten bleiben, fo rein,
fo jhön, fo Hold. Das Drolligite an der Sache ift, daß ber Aktionär, der über
Auffichtrath und Vorſtand herfiele, wenn es ſchief geht, zu den größten Selten-
beiten gehört. Geflucht wird nur dem Bantlier, der Einem die Aktien verfauft
bat. Die Ehrfurcht vor Auffichtrath und Direktion bleibt unvermindert, felbft
wenn die Welt — und bie Bank — zuſammenkracht ... Un ber Börje geht
wieder einmal Horader um: hinter jedem Buſch lauert das Schredigefpenft ber
„amerilanifchen Gefahr.” Laßt, Ihr Herren, doch eine Weile Horader Horader
jein und jeht, ob Ihr den Aktionär nicht zu einem freten Dienfchen erziehen könnt!
Dis.
5
46 Die Zukunft.
Nietzſche über Seichner.
Dr Richard Wagner-Denfmal-Romitee ift noch in letzter Stunde ein Schrei»
n ben zugegangen, das e8 über die Abfage ber berliner Stadtbehörben und
der von Wahnfried beherrſchten Kreife zu tröften vermag. Das Schreiben iſt an
den Präfidenten des Komitees, den Föniglich-preußifchen Kommerzienrath und Par-
fumeur-Chemifer Herrn 2. Zeichner adreifirt und von dem bekannten Philologen
Profeſſor Dr. Friedrich Nietzſche abgefaßt, der zu den nächſten Freunden des Mei⸗
fter8 von Bayreuth gehörte und daher befler ald mancher heutige Wortführer beur-
tbeilen Tann, in welcher Weiſe Richard Wagner würdig zu ehren ift. Er wendet fih
ſcharf gegen die von intereffirter Seite verbreitete Behauptung, das Denkmal ſelbſt,
bie Perſönlichkeit unſeres Vorfigenden und die Art unferes Feſtplanes ſeien unver-
einbar mit dem Weſen und Werk des genialen Dichter-Romponiften. Wir müfjen
ung, wegen ber Schroffheit einzelner Säße, verjagen, das ganze Schreiben zur öffent»
lichen Kenntniß zu bringen, und begnügen und mit ber Wiedergabe ber fachlich wich⸗
tigften Stellen. Da beißt e8: ‚Richard Wagner war ein unvergleichlicher histrio,
der größte Mime, das erftaunlichfte Theatergenie, das bie Deutſchen gehabt haben.
Er wurde Muſiker, er wurde Dichter, weil der Tyrann tn ihm, fein Schaufpieler-
genie, ihn dazu zwang. Er Bat die Unbedenklichkeit, die jeder Theatermenſch hat.
Man tft Schaujpieler damit, daß man eine Einficht vor dem Reft der Menſchen vor-
aus hat: was als wahr wirken foll, darf nicht wahr fein. Der Sat it von Talma
formulirt: erenthält die ganze Pfychologie des Schaufpielerd; er enthält auch deſſen
Moral. Wagners Mufik ift niemals wahr. Aber man bält fie dafür: und fo ift es
in Ordnung. Auch im Entwerfen der Handlung ift Wagner vor Allem Schaufpieler.
Sn der Gefchichte der Muſik bedeutet Wagner die Herauflunft des Schaufpielers,
Er hat uns die Theatrofratie gebracht, den Glauben an den Vorrang des Theaters,
an ein Recht auf Herrichaft des Theaters Über die Künfte, Über die Kunft. Das
Theater ift eine Form der Demolatrie in Sachen des Geſchmackes, das Theater ift
ein Maflenanfftand, ein PBlebiszit gegen den guten Geſchmack. ‘Dies eben beweift
. der Fall Wagner: er gewann die Dlenge, er verdarb den Geſchmack; er verbarb felbft
fürdie Operunferen Geſchmack. Wagners Schaufpielerpathos wirft jeden Geſchmack,
jeden Widerftand über den Haufen.‘ Aus diefen Feſtſtellungen folgert Wagners
beiter Freund, unfer Wirken fei ganz im Sinne des verewigten Meifters gemwejen.
Er findet, daß ‚unfer Inſtinkt das Rechte traf‘, al3 wir die Ausführung des Dent-
mals dem weltberühmten Profeſſor Eberlein übertrugen, lobt, als vollfommen ſach⸗
gemäß, unfer Programm und richtet jeine fchärfiten Pfeile gegen die Len!e, die bes
bauptet haben, ein für den Theaterbetrieb arbeitender Großinbuftrieller paffe nicht
an die Spibe de8 Wagner-Denkmal⸗-Komitees. Wörtlich ſchreibt er: ‚Hätte ich mit
zu wählengehabt, fo hätte ich meine Stimme feinem Anderen gegeben als bein Liefe⸗
ranten der föniglichen Theater in Berlin und Brüffel, dem E. finder der bemährteften
Fettſchminke.“ Wir glaubten, unferem verehrten Herrn Präſidenten, deſſen außer:
ordentlich jelbitloje Thätigkeit fo vielfach angefeindet worden ift, die Genugthuung
ſchuldig zu fein, die ihm die Veröffentlichung diefes Schreibens bereiten muß und
fehen, nach ſolchem Zeugniß de3 berufenften Richters, getroft dem Urtheil der Nach⸗
welt barüber entgegen, obwir im Geift des unijterblichen Meiftersder Töne gehandelt
‘haben, als wir fein Lebenswerk unter das Patronat des Herrn Leichner ſtellten.“
— — — — — — — — — — — — — — ——
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: D Harden in Zerlin. -- Verlag der Zutunfti in Berlin.
Druck von Albert Damde in Berlin Schöneberg.
Berlin, den 10. Oktober 1905.
111
Bebel und Genoffen.
11.*)
Menacer sans frapper en politique, c’ost se d6couvrir.
B" ich zum Genofjen Bebel zurückkehre, muß ich über die Rechtferti—⸗
gungverfuche der vier Öffentlich von mir der Unmahrhaftigfeit ange
Hagten Genofien ein paar Worte fagen. Genoſſe Bernhard beftritt feinen
irgendwie wefentlichen Punkt der Anllage und führte als mildernden Umftand
nur an, er fei in Dresden „beftürzt” geweſen und habe nicht die Möglichkeit
gefunden, auszusprechen, was er über mich und meine Wochenſchrift auf dem
Herzen hatte. Das Bewußtſein folcher Verſchuldung — die geradeer eigenem
Wollen, nicht den Umftänden zuzuschreiben hatte — hielt ihn aber nicht von
dem unanftändigen Verſuch ab, mic) in Nebenpunften der Lüge zu zeihen.
Der Verfuc blieb freilich erfolglos. Feftgeftellt wurde, daß mein Entſchluß
ihn, wider feinen Wunfch, veranlaßt Hatte, in der Parteitagsmoche hier feinen
Artikel zu veröffentlichen; und ferner, daß ich ihm ſchon im Auguft geraten
hatte, die Mitarbeit an der „Zukunft“, um in der Partei Ruhe zu haben, fo
ſchnell wie möglich aufzugeben und ſich eine eigene Finanzwochenſchrift zu
gründen, für deren erfte und ſchwerſte Lebenszeit ich ihm die Gefchäfts-
räume und den gefammten Upparat meines Verlages unentgeltlid) zur Ber-
fügung ftellte. Diefes Anerbieten beglücte ihn damals. „Dann kann ichs
machen“, rief er, der vorher über Mangel an Kapital geftöhnt hatte, undbat
feine Gattin ins Zimmer, um ihr „Hardens fabelhafte Liebenswürdigkeit“
mitzuteilen. Was er vier Wochen danad) in Dresden that und unterlich,
*) ©. „Bulunft“ vom 26. September und 3. Oftober 1903.
4
Die Zukunft.
babe ich vor vierzehn Tagen erzählt. Genoſſe Braun, der, nebft feiner Frau,
in materiellen und literarijchen Fährniffen eines wirthfchaftlich nicht nur der
Bhiliftermoral wideriprechenden Lebens Jahre lang von mir Hilfe erbeten
und erhalten hatte, fand es jett „unter feiner Würde”, auf meine Anklage
präzis zu erwidern, und glaubte, durch groben und gröbften Schimpf feine
Sache beifern zu koͤnnen. Keine Silbe des in den beiden letzten Heften über ihn
Geſagten ift entträftet worden, konnte entfräftet werden. Doch er ftand auf
verlorenem Bojten, wurbe von den eigenen Parteigenoffen mit Ausdrüden
tiefiter Verachtung überjchüttet: und fo mag man ihm die traurige Taktik
verzeihen. Unverzeihlich aber war undift dns Verhalten des Genoſſen Goehre.
Er, der vor ein paar Jahren noch das Evangelium von der Kanzel her⸗
ab verfündet Hatte, griff nun nad) den ſchäbigſten Mitteln journaliftifcher
Troßknechte. Silbenftecherei und Schimpfwörter follten den Thatbeftand
verdunfeln: daß Genoſſe Göhre Stimmung und Beichluß feines Barteivor-
ftandes kannte, al8 er feinen Artikel in der „Zukunft“ veröffentlichte, und
daß er in feiner Erklärung vom zwanzigften April 1903 wiſſentlich Unwahres
behauptet, in feiner dresdener Rede wiſſentlich Wahres verfchwiegen hat.
Auch andere Lüge wurdeihmnachgewiejen. Das Hinderte ihn, ald er fich zum
Verzicht auf fein Neichstagsmandat gezwungen fah, nicht, wider befjeres
Willen die Behauptung aufzuftellen, er habe meine „Verdächtigungen als
Fälſchungen entlarvt”. Nicht Verdächtigungen, fondern ermweislich wahre
Thatjachen hatteich gegen ihn vorgebracht; undtrog vielfachen Bemühungen
iſt ihm nicht gelungen, eine meiner Angaben in ihrerBemeistraftzuerjchüttern.
Schade, daß der Dann, den einst fo frohe Hoffnung empfing, dem Kampf um
politiſche Macht nicht fern blieb; der firtliche Wilfe war in ihm ſchwächer als
der Ehrgeiz, der jtarfe Verſucher. Klüger als die Drei handelte Genofje
Heine. Ede noch die Anklage gegen ihn erfchienen war, veröffentlichte er im
„Vorwärts“ eine lange Schutzſchrift. Zweck: die Wirkung zu mindern, die
in feiner Partei die Enthüllung der Thatſache haben mußte, daß er den Feld⸗
zug gegen den Genoſſen Mehring als Stratege geleitet hatte. Jeder halb»
wegs erfahrene Vertheidiger räth dem Angeklagten, belaftende Momente, die
in der nädjiten Stunde der Beweisaufnahme ans Licht fommen müjlen,
lieber ſelbſt, als Handle jich3 um unerhebliche Dinge, vorzubringen. Doch
die Schugfchrift trug auch das Merkmal fchlechterer Aovokatenpraxis; fie
war nicht von dem Streben nad) Wahrhaftigkeit diftirt, fondern von dem
Bemühen, durch große und kleine Entjtellungen des Thatbejtandes den Geg-
ner ind Unrecht zu jegen. Ich müßte ganze Seiten füllen, wenn ich alle in-
genauigkeiten des heiniſchen Schriftſatzes nachweiſen wollte. Das ift einft-
Bebel und Genoffen." 49
weilen nicht nöthig. Zwei Proben werden genügen. Er jagt („Vorwärts
Nr. 228): „Ich ſchickte die Briefe (Mehrings) mit Dank zurück ...
In der ſelben Zeit ſchrieb ich Herrn Harden einige Zeilen über eine Theater⸗
aufführung und erhielt bald darauf von ihm feine Brochure Kampf⸗
genoffe Sudermann‘ mit einer Dedilation”. Der Brief, den er meint, ent-
hielt erfteng bieBitte, ihm Gelegenheit zu geben, „die fo angenehme und an-
regende Blauderei (mit mir) fortzufpinnen” ; zweitens Nachrichten und Grüße
von Herrn und Frau von Vollmar; drittens die Aufforderung, über den
Geifteszuftand eines feiner Klienten ein Literarifches Gutachten abzugeben;
viertens eine fpöttifche Erwähnung des Herrn Sudermann, die mir den
Anlaß bot, dem Spötter meine Brochure zu fchiden. Das nennt Heine
„einige Beilen über eine Theateraufführung”. Der Brief ift vom fechsten
Februar 1903 batirt; underft zwei Monate fpäter ſchickte er endlich die von
mir entliehenen Briefe Mehrings zurüd. (Der die verjpätete Rückſendung
entjchuldigende Brief, aus dem im vorigen Heft ein Stüd abgedrucdt wurde,
tft nicht, wie dort Irrthümlich ftand, am fünfzehnten, jondern am fünften
April 1903 gefchrieben.) Zweite Brobe. Herr Rechtsanwalt Heine citirt aus
dem Gedächtniß, er habe mir (nad der neulic) erwähnten „Dedifation“)ge-
Schrieben: „Die politifche Wahrhaftigkeit zeigt jich darin, daß mar den Muth
hat, nicht mehr zuglauben, was man nicht mehr glauben kann, und nicht zu fa-
gen, was man nichtmehr ſagen kann. Diefen Muth haben Siebewiefen.” Das
babe ich, fügter hinzu, aufmeine Haltung in einer ſechzehn Jahre zurückliegen⸗
den Zeit bezogen. Daß ich vor ſechzehn Kahrenan literarijche Thätigkeit noch
nicht dachte und meine erften Apoftata-Artifel im Sommer 1890 erfchienen,
mag hingehen, beleuchtet aber die Genauigleit heinifcher Darftellung. Doc)
was hat er mir in Wirklichkeit gefchrieben? „Das Wefen der politijchen
Wahrhaftigkeit ſteckt tiefer, in dem Muth, Nothmwendiges zu erfennen
und zu vertreten, auch wenn es Einem zumider ift. Es ift wohl nicht
nöthig, zu jagen, daß Sie fich diefen Ruhm vindiziren können; vielleicht
aber hören Sie es gern aud) von Jemand, der im fehr wejentlichen
Punkten, vielleicht den wichtigften der heutigen Tagespolitik, anderer
Meinung als Sie über das Nothwendige iſt.“ Genofje Heine hat alfo falfch
citirt und den Sinn feines langen Briefes (vom zehnten Februar 1903) bis
zur Unkenntlichkeit entftellt; denn diefer Brief lobte nicht meine in ferner
Vergangenheit, fondern meine in „heutiger Tagespolitik“ bewieſene Wahr:
Baftigleit. Und daß der Vertreter des dritten Neichstagsmwahlfreifes mir
ſolches Lob geipendet habe, follte den Parteigenoffen verjchwiegen werden.
4*
50 Die Zukunſt.
Die beiden Proben genügen zunächft wohl; ich koͤnnte Ihnen manche andere
gefellen, will hier aber heute nur wiederholen, was ich im „Vorwärts”“ auf
Heines Schriftſatz geantwortet habe.
Herr Heine druckt Theile aus Briefen ab, die er an mich gerichtet hat,
und meint dann, ich würde mich vielleicht darauf berufen, daß dieſe Briefe
mit „Hochachtungvoll und ergebenſt“ ſchließen. Das iſt fein übler Witz. Die
konventionelle Formel würde freilich nichts beweiſen. Herr Heine aber verſucht,
durch Weglaſſungen ſeinen Briefen den Charakter der Intimität zu nehmen,
den ſie hatten. Der, den er mir nach ſeiner Rede aus Dresden ſchrieb, ſchließt
mit „beiten Grüßen”; ber ſechs Tage vorher aus Tegernſee geſchriebene, intim
eingeleitete, ſchloß mit dem Sat: „Bollmars, bei denen ich zwei Tage zu⸗
‚gebracht habe, und meine Frau laſſen Sie beftens grüßen.” Ich glaube, daß
folde Worte doch etwas mehr beweiſen als Hochachtungvoll und ergebenit”.
Ich babe Herrn Heine Zweierlei vorzuwerfen. Erftens, daß er mich durch
eine Depefche verlodt hat, ihm einige Briefe des Herrn Mehring — bie er
früher zur Anficht erbeten und Donate lang behalten hatte — nad) Dresden
zu ſchicken, und daß er diefe Briefe, die er, wie ich annehmen mußte, aus⸗
fchließlich zur Abwehr gegen mid, auf bem Parteitage durch ein Flugblatt
verbreiteter Unmwahrbeiten benugen wollte, ohne irgend eine Autorilation
Herın Bernhard übergab und von diefem Herrn zu einem Angriff auf Herren
Mehring benußenließ. Ich hätte die Briefe Herrn Bernhard nicht anvertraut,
babe fie ihm, ber dringend darum bat, verweigert und hätte, wenn ich Schoen-
lanks und Mebrings eigene Briefe gegen Mebring benugen wollte, Längft in
meiner Beitfchrift dazu Gelegenheit und Grund gehabt. Herr Heine hat das
ihm anvertraute Eigentum mißbraucht, e8 mir erft nad) zwet ſchroffen De:
peſchen, in denen ich es forderte, zurüdigefandt und, ftatt mich, wie er ange⸗
boten hatte, gegen Unwahrheiten zu ſchützen, mich in den Verdacht gebracht,
ich hätte gegen Herrn Mehring eine Intrigue angezettelt. Sollte die Affaire
Schoenlanf vorgebracdht werden, fo mußte Herr Mebring von diefer Abficht
vorher benachrichtigt werden. Herr Heine, dem allein, deffen Takt und frimi-
naliftischer Anftandspflicht ganz allein, auf feine Bitte, die Briefe anvertraut
waren, hat ſich durch fein Berhalten eines, wir ich finde, ungeheuerlichen Ber-
trauensbruches ſchuldig gemacht. Der zweite Bormurf, den ich ihm made, ift:
daß er in Dresden fein Verhäliniß zumir und ſein Urtheil über mich wifjent-
lich falſch dargeftellt Hat. Dafür bringt meine Wochenschrift ben Beweis... Herr
Heine, der fi), obwohl er allein der Anftifter zum Angriff auf Herrn Mehring
war, tief im Hintergrund hielt, den Objektiven fpielte und mir das Odium
aufbürdete, ich hätte dieſes unfchöne Heldenſtück injzenirt, Herr Heine be-
bauptet in feinem Schriftfaß, ich Hätte „‚vernichtende Enthüllungen’‘ über ihn
in Ausficht geftellt. Die Behauptung ift unwahr. Ich Habe weder die Macht
noch die Neigung, den Herrn zu „vernichten. In der mir aufgezwungenen
Fehde war mein Biel, zu beweifen, baß die Herren Bernhard, Braun, Göhre,
Heine ihre Beziehungen zu mir und ihr Urtheil über mein Wirfen vor der höch⸗
ften Rechtsinftang ihrer Partei wider befferes Wiffen falfch dargeftellt Haben.
Ob diefer Beweis gelungen ift, kann, troß allen Verdrehungen und erbärm-
- —— —
"Tr
Bebel und Genoſſen. 51
lichen Metizenzen, einfach aus bem vorgebradgten und noch vorzubringenben
Material erfannt werden. Wer es unbefangen prüft, wird willen, ob aus den
Neden der vier Herren zu merken war, wie fie zu mir und meiner Wochen:
ſchrift Jahre lang und Bis in die legte Zeit ftanden. War Das aber nicht zu
merken, dann haben fie gegen mich, dem von ihren Genoſſen unüberbietbare
Schimpfreden zugefchleudert worden waren, unehrenhaft gehandelt. Denn
„wer ber Maſſe zu Liebe unterläßt, was Ehre und Pflicht erbeifchen, ift ein
verächtlicher Demagoge.” Das jagt Herr Rechtsanwalt Heine, der mir vor
fünf Wochen Spontan mitteilte, er ſehe eine „Ehrenpflicht“ darin, auf dem
Barteitage offen für mich, für die Reinheit meiner Motive und für die Un-
parteilichkeit meiner Zeitſchrift einzutreten.
Diefer Replif folgte eine Duplif des angellagten Rechtsanwaltes, die
einigermaßen zerknirſcht Hang, doch an vielen Stellen wieder der Wahrheit
ausbog. Das wichtigfte Zugeftändniß: „Herr Harden hat mir in der That
niemals den Wunfch zır erkennen gegeben, gegen Mehring vorzugehen; weder
bat er mich noch habe ich ihn für irgend welche Intrigue benugen wollen.”
Die wichtigfte Ableugnung: unfere Gefpräche feien nicht intim gewefen. Ich
fonnte mich mit Dem Hinweis auf die Thatfache begnügen, daß Heine vorher
auch feinen Briefen den Charakter der Intimität abzuftreiten verfucht hatte,
babe ihn aber öffentlich aufgefordert, mich zu verklagen und fich als beeideten
Zeugen vernehmen zu laffen; ich wolle auf das Rechtsmittel der Widerflage
verzichten und noch zwei oder drei andere Zeigen vorladen: dann werde feft-
zuftellen fein, ob die Meittheilungen, die wir austaujchten, mit Fug als in-
tim zu bezeichnen find. Die jelbe Aufforderung richtete ich an die Herren
Bernhard, Braun, Göhre. Wenn ich in der Nothwehr Briefitellen veröffent>
liche, heißt es in dem Lager, wo die politische Berwerthung eines von Miguel
als Student an Marr gejchriebenen Briefes wie eine Heldenleiftung gefeiert
wurde: Das thut fein Sittfamer. Wenn id) gejprochene Worte anführe, wer-
den fie abgeleugnet. Diefes Gebahren efelt mic) nachgerade an. Jedes hier
über die vier Genoſſen gefagte Wort ift wahr; und ich könnte, wäre ich grau-
fam und rachſüchtig, noch mehr über Einzelne von ihnen jagen. Wollen fie
die Wahrheit meiner Darftellung beftreiten, dann follen fie den Ort auf-
Suchen, woder Eid das Gedächtniß ſchärft und die Zeugnißpflicht feige Zungen
zum Reden zwingt. Thun fie es nicht: zur Entfchleierung folluforifcher Ver»
juche fehlt mir nun endlich der Raum und die Beit. "
Der Abgeordnete Heine hat im „Vorwärts“ erzählt,erhabevoneinem
Brief, den er mir am elften September 1903 aus Tegernſee fchrieb (und
den er, mit Weglaffung aller Intimität verrathenden Stellen, abgedrucdt hat),
eine Abjchrift zurücdbehalten. Warum wohl? Er hat politifch und perjön-
62 Die Zulunft.
lich wichtigere Briefenicht kopirt, troßdem ers ins Berlin, neben feinem An⸗
waltsbureau, bequemer gehabt hätte. Und jest, im Gebirge, in der Hoch⸗
. ftimmung eines von Sonnenglanz und Mondfchein Beglüdten, plagt er
ſich mit Abfchreiberei? Mir war diefe Mittheilung ungemein werthvoll,
weil fie das legte Räthſel diejer politifchen Tragifomoedie löſen half. Der
tegernfeer Brief hatte im Meritorifchen (mie die öfterreichtiche Amtsſprache
jagt) einen gegen den früherer Briefe völlig veränderten Ton; als ich ihn ge»
leſen hatte, jagte ich zu einem Freund: „Heine wird in‘Dresden nicht für mid)
ſprechen.“ Ende Auguft hatte er mirgejchrieben, er werde in die Debatte
über die „Zukunft“ eingreifen. Ein paar Tage danach hatte er feinem Ge⸗
nofjen und Klienten Bernhard ein Plaidoyer fürdie Zukunft“ vorgetragen,
von dem dieſer Genoſſe mir fagte: „Wenn Heine die Rede in Dresden wirk-
lich Hält, werden Sie fich jehr über ihn freuen”. Jetzt Ichrieb er plöglich: „Ich
habe den Wunjch, möglichft wenig in die Debatte einzugreifen,” Dazu aller-
lei bisher nie auch nur angedeutete Vorbehalte. Natürlich traue er mir nicht
„ehrenrührige Beweggründe” zu; natürlich müffe „der Wahrheit gemäß her⸗
vorgehoben werden, daß Sie ſich über die Bedeutung der Sozialdemokratie
- für die Arbeiter auch anerfennend ausgefprochen haben.“ (Natürlich wurde
in Dresden weder das Eine noch das Andere hervorgehoben.) Aber was über
Rußland und über die Sozialdemokratie in der „Zukunft“ geftanden habe,
lei nicht zu rechtfertigen; auch habe er ſchon im Winter einmal die Abficht ge-
habt, ſich mit mir über die Form meiner Bolemif auszufprechen, und hoffe,
dazu noch Gelegenheit zu finden. Diefen Sat läßter, ohne eine Lücke im Brief
anzudeuten, beim Abdrud fort. Warum? Weildiefer Satz an einem Punkt die
Unmahrhaftigfeit feiner dresdener Rede bewiefen hätte, in der e8 hieß: „Ich
habe Harden ausgefprochen, daß ich feinen perfönlich-gehäffigen Ton auf
das Schärffte mißbillige.” Aus dem tegernjeer Brief, der eintraf, als die
von Deine telegraphifch erbetenen Briefe ſchon nach Dresden abgeſchickt fein
mußten, wußte ichalfo, daß der Rechtsanwalt fich jedenfallsnichtin die Schuß:
linie jtellen werde. Die Gründe ſolcher Zurüdhaltung konnte ich nur ahnen.
Jetzt kenne ich fie. In oder bei Tegernjee ift Genoffe Heine, vielleicht nicht
ohne fremde Nachhilfe, zu der Einficht gelangt, daß die Vernichtung Meb-
rings viel wichtiger ſei al3 die Bertheidigung Hardens und daß, wer Mieh-
ring an den Leib wolle, ſich vor dem Verdacht ſchützen müffe, mit Harden
intim zu fein. In oder bei Zegernfee hat ein Fühler Schlaufopf ungefähr fo
geiprochen: „Bebel tobt gegen ung, hat die unbarmberzigfte Abrechnung in
Ausjicht gejtellt und möchte ung am Xiebften aus dem Parteiverbande drän-
Bebel und Genofien. 58
gen. Das iſt, bet der durch Bernfteins Präſidialthorheit bewirkten Erregung,
nicht ungefährlih. Unferen Auguft fennen wir ja aber nicht feit geftern:
wenn er ſich einmal nach Herzensluft ausgetobt hat, wird er ruhig und
läßt mit fich reden. Wir findgeborgen, wenn er den heißeften Zorn gegen die
‚Zukunft‘ auswettert. Wahrfcheinlich tritt er dann furioso für Mehring
ein, den er gern als Vertrauensmann im ‚Vorwärts‘ hätte, und ift ein Bis-
chen blamirt, wenn wir Mehrings Briefe auftauchen laffen. Zwei Fliegen
würden fo mit einer Klappe gejchlagen: ben Mehring wären wir los und
Bebel verlöre an Breftige und müßte fichin der Hauptdebatte zähmen. Dem
Harben aber jchreibt man einen diplomatifchen Brief, der im fchlimmften
Fall jpäter als Rechtfertigung zu benugen ift. Auch ift er ein netter Kerl,
wirds, wenn ihm Alles erklärt ift, nicht übelnehmen, gern wieder mit ung zu-
fammenfiten und unſereStrategie lachend loben.“ So ward es gemachtundein
Ziel wirklich erreicht: Bebels Rede gegen die „Reviſioniſten“ war, nach den
boraufgegangenen Wuthgemittern, eher zahm als wild und dem „Komoedien⸗
jpiel” wurde nicht, wie er verheißen hatte, ein Ende mit Schreden bereitet.
Die Rechnung Hatte aber ein Loch. Die „Zulunft” und ihr Heraus—
geber wurden in Dresden jo über alles Erwarten ſchmählich verleumdet
und die Genofjen Bernhard, Braun, Göhre, Heine zeigten fich in ihrer
Untreue und Unmwahrhaftigfeit auch nod) jo unklug, daß ich, wenn ich mir
Selbftachtung bewahren wollte, nicht ſchweigen durfte. Und das Schlußbild
war: Bebel triumphans. So gehts in der Bolitif Jeden, der, wider La⸗
martines Warnung, droht, ohne zufchlagen zu Fönnen. Mit folchen Mittel⸗
chen werden die Bollmarifchen nicht viel wirken; fie follten jich an das Schick⸗
Sal der Girondiſten erinnern und fragen, ob Thiers nicht Recht hatte, als er
jchrieb: Tout parti modere qui veut arröter unparti violentestdans
un cerele vieieux dont il ne peut jamais sortir... Iſts aber nicht
allerliebjt, an ſolchem Zufallsbeiſpiel zu erkennen, wie Parteikriſen entjtehen,
Parteigejchichte gemacht wird? Genoſſe Mehring fühlt das Bedürfniß, mich
wieder einmal zu verrufen, und juggerirt feine aberwitzige Weisheit dem
@ snoifen Bebel, der in mir zugleich die ſoienſaſſiſcher Kegerei verdächtigen
zenoſſen Braun und Göhre treffen will. Die ſputen fich, jede nähere Be-
ehung zu Zeitſchrift und Herausgeber jfrupellosabzuleugnen, und ihre Hin-
ermänner reiben bie Hände, da Auguft der Schredliche ſich an mir ausraft.
Bon beiden Seiten wird des Schlechten aber allzu viel gethan und das End-
srgehriß ift: offener Schimpffrieg Aller gegen Alle in der Partei, fchlimme
Hwächung des norddeutjichen Fähnleins der nicht mehr blind an Marx
64 | Die” Zunft
Glaubenden, von denen dreiffiziere ſchlapp geworden find, und die Enthül-
lung eines Mangels an Kohäſion, wie er fonft nur anluftförmigen Körpern
beobachtet wird, deren Raumgrenzen die Wucht äußeren Drudes beftimmt.
Das konnte fein der Partei fern Lebender wirken. Das hat mit feinem Flug⸗
blatt Genofje Mehring, mit feiner tegernfeer Taktik Genoſſe Heine vollbracht.
Der Anhalt des Flugblattes wurde zuerft in der vom Genofjen Meh⸗
ring redigirten Leipziger Volkszeitung veröffentlicht; am neunten September
1903. Wenn ich die Abficht gehabt hätte, das Lügengeknäuel fofort zu ent-
wirren, wäre meine Antwort im Heft vom neunzehnten September erjchie-
nen: alſo nach Schluß der Barteitagsdebatte über die „Zukunft“. Das hatte
der Pſeudologe richtig berechnet. Auch lagen die zur Abwehr der luſtigſten
Lügen nöthigen Briefe, auf Wunfch des Genoſſen Heine, vom elften bis zum
zwanzigften September in ‘Dresden. Doch ich wollte damals nicht antworten.
Erſtens, weilder VerfafferMehring hieß; zweitens, weilich, feitim Februar
die Frage der Mitarbeit an der „Zukunft“ erörtert wurde, mir vorgenom⸗
men hatte, jeden Verfuch einer Einwirkung auf den Beſchluß der Partei:
inftanzen zu meiden. Ich ſchwieg aljo auch jest; und das Flugblatt wurde in
vierhundert Exemplaren im Trianonfaal vertheilt. Da lafen die Genoffen
wundervolle Häubergefchichten. Harden ift Mehring „nachgelaufen“, hat
fich für einen Sozialdemokraten ausgegeben und verjchwiegen, daß er für
Bismard ſchwärme, dem er ſich dann ſchlankweg, verkauft“ hat. WeilMehring
dieſe Thatſache erfuhr, Hat er die Aufforderung, für die „Zukunft“ zu ſchrei—
ben, „von vorn herein abgelehnt” und bald danach „auf jeden perjönlichen
Verkehr mit Herrn Harden verzichtet.” (ALL diefe unfauberen Lügen find
hier ſchon am vierten März 1899 sine ira, mit Mehrings eigenen Wor-
ten, widerlegt worden; thut nichts: nach vier Jahren, meint er, find fie
wieder jo gut wie neu.) Die „Zukunft“ ift ein „Klatjchblatt”, deffen Haupt:
aufgabe in der Verleumdung der Sozialdemofratie befteht, und „Ehren
Harden, der aud) nicht über die einfachfte politifche Frage das einfachfte fad)-
liche Wort zu jagen weiß” (deffen recht jugendliche Apoftata- Bücher von
Ehren: Deehring aber 1892 als „glänzende literarijche Broduftionen, als bie
Erzeugniffe eines tiefen und tapferen fozialen nftinftesaußerordentlih hoch
geſchätzt“ wurden), ift fogar von der Hyperfonfervativen Kreuzzeitung, derer
fi) „anbiedern” wollte, Hinausgeworfen worden. (Natürlich habe ich zur
Kreuzzeitung nie aud) nur die loſeſten Beziehungen gehabt oder gejucht.) Und
jo weiter. Citate aus meinen Artikeln, wie der gewifjenlofefte ſpaniſche Pro-
furator fie nicht gegen einen Dynamitanarchiſten dem Gerichtshofe vor:
—Bebel und Genofien. 55
legen würde. Dann der Nothichrei: „ES ift mir unmöglich, den ſchmutzigen
Blödſinn noch weiter abzufchreiben.“ Der Artikel, der in diejem wackeren
Sozialdemokraten fo ftarfe Unluftgefühle weckte, vertheidigte die Sozialde:
mofratie gegen die breSlauer Rede des Kaiſers und enthielt, neben anderen,
die jeden Genoffen freuen mußten, die Sätze: „Die Sozialdemokratie gehört
zu den Dingen, die man erfinden müßte, wenn ſie nicht ſchon beftünden. Ihrer
Keinen, unjichtbaren Drillarbeit, die den Ehrgeiz jpornt und dem Xeben der
Aermiten felbft, der ing Koch geiſtlos monotoner Arbeit Geſpannten einen
Inhalt giebt, ift zum großen Theil der angeftaunte Fortſchritt der deutfchen
Induſtrie zu banken; und der befonderen Art ihrer Agitation die Ruhe, die
jeit einem Halbjahrhundert in Deutfchland herrſcht... Der müthendjte
BourgeoiS müßte zugeben, daß feine uns befannte politifche Organi-
fation je einer Kaffe fo fchnell und jo mwejentlich genügt hat wie den
deutjchen Arbeitern die Sozialdemofratie.” Nach folchen Proben wird der
Leſer begreifen, warum der Fall Mehring mir in den Berufsfreis des
Pſychiaters zugehören ſcheint; nur ein Menſch, deſſen Geiftesthätigkeit krank⸗
haft geſtört iſt, kann ſo kindiſche Fälſchung wagen. Einerlei. In Dresden,
dachte ich, wird man den Armen auslachen. Da ſitzen auch außer den Bern⸗
hard, Braun, Göhre, Heine ja noch Leute, die feit Jahren die „Zukunft“
fennen, und andere, bie eigene wehe Erfahrung gelehrt hat, daß man folcher
Eitatenfammlung, die den Köller weit überföllert, nicht trauen dürfe. Da
wird man die Sache einfach komiſch finden. Komiſch, daß die Liebe zu Bis-
mard wie die ärgite Todfünde von einem Mehring verdammt wird, der als
jech8unddreißigjähriger Mann, nachdem er ſchon einmal Sozialdemofrat ge-
weſen war, ſchwärmend „den genialen Staatsmann Bismarck“ gerühmt hat.
Daß Liebknecht und Bebel gegen fatirifche Kritik von einem Manne verthei-
bigt werden follten, der Bebels Bauernfriegsgeichichte „eben jo albern wie
anmaßlich“ genannt und von Liebfuecht gejagt hat, er ſei „geiftig entartet”,
Schüge die „infamfte Korruption“, habe die Maſſen entjittlicht und greife im
Kampf nad) den „gemeinften Verleumdungen“. Daß jedes Spottwort über
die längjt zur Großmacht erwachfene Partei als fluchwürdiges Verbrechen
von einem Manne denunzirt wird, der in der Zeit hitzigſter Sozialiſten—
verfolgung jchreiben und druden laffen konnte: „Unter den unermeßlich
reihen Gaben, mit welchen das unvergleichliche SXahr 1870 unſer Vater-
land begnadete, war nicht die geringfte die gänzliche Zerjchmetterung der
deutjchen Sozialdemofratie”. Und: „Die Fabrikinſpektoren ſchildern über-
einſtimmend die Arbeiter in allen Gegenden, die ergiebige Werbepläße der
5
56 Die Zukunft.
Sozialdemokratie waren, aldein dumpfes, träges, jederthatfräftigen Selbft-
Hilfe unfähiges &efchlecht”. Und endlich: „Die ſozialdemokratiſche Agitation
war ein fühl berechneter Verfuch ſchlauer Demagogen, die beftehende Ord⸗
nung der Dinge gewaltfam umzuftürzen ... Sid) hiergegen zur Wehr zu
jegen, die Waffe zu zerbrechen, die nach feinem Herzen gezücdt wurde, war
nicht nur ein Recht, ſondern eine Pflicht des Staates." Wer jo — nicht als
Süngling,fondern als einMann,derfich früher felbft zur Sozialdemofratiege-
rechnet, inihrem Namen fünfJahre vorher gegen Treitſchke öffentlich das Wort
geführt Hatte — wer fo über die vom Sozialiftengejeg gefnebelte Partei und
deren Führer urtheilen fonnte, hat das Recht verwirkt, felbft dem Ihlimmften
„Scharfmacher“ heute das Schaffot zu errichten. Das, dachte ich, würde
man auch in Dresden fagen; und das Täppijche Flugblatt zu dem Uebrigen
legen: zu den Alten der Krantengejchichte Mehrings. Es kam anders. Der
beredtefte und angefehenfte Führer der Sozialdemofratie ſprach, ohne auch
nur ein Stündchen an die Fritifche Sichtung des Materials zu wenden, Alles
nad), was der als zuverläffig bewährte Genoſſe Mehring ihm vorgefagt hatte.
Sprach? Brüllte, heulte,jchrie. Und von den dreihundertfechSunddreißig De⸗
legirten fand Feiner eine Silbe für mi. Ein Gaft fogar, der öfterreichiiche
SenofjeDr. Adler, der doch triftigen Grund gehabt hätte, zu ſchweigen, trug
zu dem Scheiterhaufen ſchnell nod) ein Spähnlein herbei.
Der Abgeordnete Bebel hält e8 offenbar für höchft originell, in feinen
Neben, die ich jetzt betrachten muß, mich ftet3 „Herrn Witkowski-Harden“ zu
nennen. Er wußte nicht, daß ich feit dreizehn Jahren den Beitunglejern tau-
jendmal unter dieſem Doppelnamen vorgeführt worden bin, in hundert Bei-
tungen, von der StaatSbürgerin bi$ zum Kleinen Kournal. Solche Bezeich-
nung jollteein vages Mißtrauen gegen mich weden. Konntees auch. Wer feinen
Namen wechjelt, ift, zumal wenn er Wirkung auf öffentliche Angelegenheiten
erftrebt, mit Recht verdächtig; mit um jo größerem Recht, wenn der neue
Name deutjch Elingt, der abgelegte jemitifchen Beiklang hatte. Gewiß, denkt
dann der Lejer, hat diefer Streber den Namen gewechlelt, um die Spur jü-
diſchen Urjprunges zu verwifchen und fich nicht die Karriere zu verderben. Das
Borurtheilift begreiflich. Ich habe darunter gelitten und mußte, fo leicht mir
eine Widerlegung geweſen wäre, ſchweigen, weil eine öffentliche Erörterung
diejer Dinge meiner alten Mutter argen Schmerz bereitet hätte. Syın Früh—⸗
ling habe ich fie verloren; und darf nun reden. Herr Bebel erzählt, er habe
meinen Vater gefannt, einen guten Demofraten, mit dem zu verfehren
ihm eine Ehre gewefen jet; mit dem Sohn zu verkehren, würde er nicht für
Bebel und Genoffen. . . 57
eine Ehre halten. Vielleicht, weil er ihn eben nicht kennt; doch: wie es Euch
gefällt. Die jelbe Gefchichte von Vater und Sohn hat übrigens Knecht Meh⸗
ring Schon mehr als einmal erzählt; aud) er will mit meinem Vater intim -
verfehrt haben. Als Politiker muß ich fragen, was mit diejer Gegenüber-
ftellung denn eigentlich bezweckt werden joll. Einen faßbaren Sinn fünnte -
. fie doch nur haben, wenn der Vater ein Märtyrer feiner Ueberzeugung,
der Sohn ein Streber wäre, der um jeglichen Preis in die Sonne zu font:
men fucht. Hier liegt die Sache anders. Mein Vater war Kaufmann und
hatte niemals Gelegenheit, feinem politiichen Glauben irgend ein Opfer zu
bringen. Und mir, dem viermal wegen politifcher Bergehen Beitraften, über
zwölf Monate Eingeiperrten, von allen herrfchenden Gewalten Bopfottirten,
folite jelbjt Bebel nicht nachſagen, daß ich in die Sonne will undeinder Ueber-
zeugung zu bringendes Opfer ſcheue. ch könnte ihm beweien, daß ich Ver-
fucyungen widerftanden habe, die den Ehrgeiz, die Eitelkeit, die Gewinnſucht
loden und einem Kränkelnden die Gefangenschaft fparen konnten ; und bilde
mir nicht ein, auf ſolche Widerftandsfraft ftolz fein zu dürfen. Als Sohn
muß ich mic) freuen, daß mein Vater gelobt wird, — mags immerhin auf
meine Koften gejchehen. Ich habe ihn nicht gefannt; nicht ingefunden Tagen.
Als ich erwuchs, Hatte eine ſchwere Piychofe ihn heimgefucht und in meinem
Gedächtniß lebt der Unglückliche nur als ein verjtörter Geift, der Tag und
Nacht mit fich felbft laute Ziviefprache hielt und die Seinen mit graufigen
Wahnvorftellungen quälte. Genug... Der leichtfertige Verleumder, der
mich zwingt, hier meine Scham zu entblößen, kann mic) nicht zwingen, diefe
unſäglich traurigen Zuftände bis ins Einzelne zu fchildern. Wer fie ahnen will,
leſe, was Hebbel am achtzehntenSeptember1838 in fein Tagebuch ſchrieb. Diei-
ne arme Mutter jah ſich durch) Gründe, die aud) das Geſetz als zur Löſung des
Ehebundes ausreichend erkannte, genöthigt, das Haus zu verlaffen, indem fie
dreißig Jahre lang nur ihrem Mann und den Kindern gelebt hatte. Ich blieb,
ein Knabe, der feine Kindheit, feinen Strahl alltäglicher Kinderfroheit ge-
fannt hatte, beim Vater, mußte mindeitens bis zur Ehejcheidung bei ihm
bleiben, in dem und für den feine Stimme gemeinfamen Fühlens ſprach.
Eine entſetzliche Zeit, der ich entlief: zur Mutter. Wurbe zurücgeholt und,
troß den Bitten des Gymnaſialdirektors, der den blutjungen Primus der
Sekunda bis zum Beginn der Studentenjahre fortbilden wollte, in ein Kauf:
mannsgejchäft geſteckt. Das war das Letzte. Ich lief davon. Mit zwei, drei
Thalern in der Taſche, ohne warmen Rod, omnia mea mecum portans.
Acht Tage, acht Nächte obdachlos in Berlin. Vier, fünf Stunden bei einer
5
58 Die Zukunft.
Taſſe Kaffee im heißen Raum. Dann fchidte ein Winfelagent den noch nicht
vierzehnjährigen Knaben zu einer jämmerlichen Schaufpielgefellfchaft. Thea-
ter: Das bedeutete mir Freiheit, des Freiſten fogar, und obendrein Kunft.
Den Knabenwahn, der mich in Planwagen und als Baffagier vierter Klaffe ein
Jahr lang durch allerlei Kandftädtchen trieb, habe ic) mit meiner Gefundheit
theuer bezahlt. Waraberfelig. Da der Vater mich durch die Polizei ſuchen ließ,
hatte ich, der lieber untergehen als heimgeichleppt werden wollte, den Namen
angenommen, den ich jeitdem trage; für eineWeile war ic) Jogeborgen, denn mit
wandernden Komoedianten nimmts die Meldebehörde nichtallzu genau. Aus
diefer Zeit ſchon kann ich Herrn Bebel Theaterzettel vorlegen, aufdenen Herr
Maximilian Harden, der dumme Junge, als Darfteller des Muſikus Miller
und ähnlicher Rollen verzeichnet ift. Dem Schredensjahr folgte ein ftilleres.
Der Vater, deſſen Lebenslicht im Erlöjchen war, hatte das Suchen aufge-
geben; der auch körperlich noch unentwidelte Sohn fpielte in einem Haus,
wo in den Pauſen Afrobaten und Gymnaſtiker auftraten, nah bei Berlin den
Marquis Pofa und Mortimer. Meint Auguft Bebel nicht, der Drang nach
Freiheit müſſe recht ſtark in einem Knaben geweſen fein, der täglich ins Nejt -
zurüdfriechen konnte und im Elend blieb, um jich nicht brechen zu laſſen?
Glaubt er, daß proletarifches Empfinden mir nach foldyem Erleben fremder
als ihm fei?... Nach dem Tode des Vaters begann ein neuer Lebensabſchnitt.
Der Kranfe hatte fein Vermögen verloren, aber die Güte eines älteren
Bruders ermöglichte mir, das Allernöthigfte nachzulernen. In dem Kleinen
Kreis, der den Bürger die Welt dünkt, hatte die Familiengefchichte Lärm
gemacht; geräufchvolle Hauskonflikte, Scheidung nad) dreißigjähriger Ehe,
Flucht und Abenteurerleben eines Sohnes: fama creseit eundo. Mutter
und Kinder erbaten und erhielten von der Behörde die Erlaubniß zum Na-
menswechſel; nicht, weil Eins von ihnen fich Etwas vorzumerfen, eine fchlechte
That zu verbergen hatte, ſondern, weil ſie ſich von einer finfteren Vergangens
heit Löfen wollten, die läjtiger Sfandaljucht Anlaß zum Zufcheln bot. Geit-
dem ift ein Vierteljahrhundert verjtrichen. Ich blieb bei dem einmal er-
wählten Namen. Denn mochte ich num zum Schaufpielerberuf zurückkehren
oder ein anderes Ziel zu erreichen fuchen: für die fleine Welt des Nachbar:
klatſches follte meine Familie nicht mit meinen Schickſalen verfettet fein. Ehe
ich eine Zeile fürdie Deffentlichfeit ſchrieb, ehe ich auch nur an literarifche Thä-
tigfeit noch gar an den Schriftftellerberuf dachte — zu den erften Verfuchen
trieb mich, offen geftanden, jpäter die bitterfte Noth —, hatte ich das gefegliche
Necht erworben, den Namen zu führen, den ich jeit den Knabenjahren als
armen
Bebel und Genojjen. 50
Bühnenpfeudonym trug; nur diefen Namen: der meines Vaters gebührt
mir nicht. Und als fechzehnjähriger Knabe war ich, dernieinnere oder äußere
Beziehung zum Glauben Ifraels gehabt hatte und während der Schulzeit
Schon nur in den Lehren neuteftamentlicher Religion unterwiejen worden
war, zum Chriftenthum. übergetreten, das dem jungen Sinn die höherer
Kultur entjprechende Glaubensform ſchien. Das Alles ift traurig, trauriger
noch, als e8 hier Hingt; aber nicht himpflich. Oder will Jemand behaupten,
ber Knirps, der Mime werden wollte, habe Namen und Glauben geändert,
um Karriere zu machen? Behaupten, ich wäre heute nicht der Selbe, der ich
bin, mit Allem, was id) erreicht und nicht erreicht habe, mern ich noch den
Vramen meines Vaters trüge? Zaufendfache Verbächtigung wäre mirerjpart
geblieben ; und hätteich zu ahnen vermocht, wohin meinLebensweg führen wür-
de: nie hätteich miraud) noch diefe Laftaufgebürdet. Denn für die Feinde eines
politiſchen Schriftftellers ift8 garzu bequem, wenn fiedem Gehaßten nachwis⸗
pern können: Der Kerlhieß früher anders, muß alſo ficher ein fauler Kunde fein.
Daß von Moliere und Voltaire bis zu Novalis und Lagarde, big in unfere
Tage hinein mancher Schriftiteller, um fich und jein Geſchick von der fozia-
len Schicht, in die er geboren war, deutlich zu jcheiden, feinen Namen ge-
ändert hat, wird nicht beachtet. Und daß Laffalle, deffen Vater, mie meiner,
ein’jüdifcher Seidenhändler war, feinen Geburtnamen durd) Anhängung
eines e franzöfirt hat, ift Herrn Bebel offenbar fein Aergerniß. Das ift feine
Sache. Ich habe nicht als ftrebfamer Yiterat, Jondern als Kind meinen Na—
men gewechſelt; nicht, um Karriere zu machen, fondern, um mich unerträg>
lichem Drud zu entziehen, der mid) in einem Kaufmannsladen verfümmern
laſſen, zur Feindjchaft gegen die befte Mutter erziehen wollte. Das ift ers
weislich wahr, kann, wann und wo es nothiwendig wird, bewiejen werden.
Bevor ſich noch der leiſeſte literarifche oder gar politische Trieb in mir regte,
ſtand mir nach Geſetz und Kirchenbud) fein anderer Name zu als: Marimilian
Felix Ernft Harden. Machts Bebel Vergnügen, mid) anders zu nennen:
meinetiwegen. . . Daich feinen Schmußfled zu verbergen habe, fann ich ertra⸗
gen, daß mir die letzte Hülle vom Leibe gerijjen wird.
Nichts ift, nichts war jezu verbergen; und ichdarfam Endeverlangen,
nicht nach härterem Necht gerichtet zu werden als andere Menſchen, die auf
gebahnten Normalwegen an die Guellen der Bildung geführt worden find.
Wer als Kind nicht forgenlos Fröhlich war, wird es niemehr. Wer als Knabe
gehungert, gefroren, auch ſeeliſch und geiftig gedarbt hat, behält den bitteren
Nachgeſchmack auch in hellerer Zeit auf der Zunge. Ererbte pſychiſche Be—
— —
— — —
60 Die Zukunft. .
laftung, deren Gefahren durch ganz abnorm verfrühte Selbftändigfeit in
dem unreinen Milten Heinften Komoediantenlebens, dann durch überhaftetes
Lernen gefteigert werben, im Elternhaus täglichen Hader, draußen Ver-
führung der efelften Art: Das ift wahrlich fein heiteres Los. Da es doch eint-
mal fein muß, fpreche ich hier, als hätte ich das abgejchloffene Leben eines
Fremden vor mir. Und fage, ruhig und aufrichtig: Er hat ſichs, unter den
ichwerften Verhältniffen, felbft gezimmert, Stüd vor Stüd; hat Keinen je
jo gequält wie fich jelbft, Keines Fehler Harer als die eigenen erkannt ; auch die
Rieſenlücken in feinem Wiffen; aber er hat, fo gut ers nad) der Verſpätung,
mit wunden Nerven, noch konnte, zu lernen, im Urtheil gerechter zu werden
verfucht ; auch wer ihn nicht ausftehen kann und feine Schreiberei unleidlich
findet, ſollte ihm zubilligen, daß er feinen Willen nie feig beugen ließ, nieſich
ing Frohnjod) dudte und daß er in Fährniſſen der verfchiedenften Formen
ein anftändiger Kerl geblieben iſt. Deshalb wars eigentlich nicht nöthig,
gerabe ihn totzuhetzen ... Doc) wir find ja noch nicht beim Nefrolog. Das
iſt wahrfcheinlich nur Schweningers Berdienft oder Schuld. Ein Stärferer
wäre zufammengebrochen. Jeder Lump, vor einem Jahr mußte ichs dem
täppiichen Falſchmünzer Sudermann zurufen, wiſcht ſich an meinem Kleide
die ſchmutzigen Stiefel ab. Die Freunde — ein paar der berühmteften Nanıen
Europas find darunter — fchweigen. Der beftochene Schreiber, der Spion
findet irgendwo in der Preſſe einen Bertheidiger von Huf; ich nicht. Die Tem:
peramente find eben verschieden. Ich habe nie thatlos zugejehen, wenn neben
mir ein Menfch Äberfallen wurde; zumal einer, der mic) halbwegs werthvoll
dünkte. Andere begnügen ſich in folchen Fällen, dem Opfer der Strolchthat
brieflich ihre Hochſchätzung, Bewunderung, Verehrung zu betheuern. Und
ftehen manchmal nad) einer Weile, um ein fetteres8 Günftchen zu ködern, jelbft
wider mid) auf. Wenn ich, im unbejtrittenen Rechte der Nothwehr, dann
in meinen mit Hochjchäßung, Bewunderung, Verehrung bis oben volige-
ftopften Briefichranf greife und die Lügner an den Pranger ftelle, an den fie ge-
hören, Flingts, ganz wievon der Lippe der von Ibſens Schöpferodem belebten
Heuchlerfippe: So was thut man nicht! Privatbriefe find heilig! Gau—
nermoral, die ohne das heilige Hecht auf Zug und Trug nicht ausfommen
kann. ch brauchte fein fonvenienzwidriges Wehrmittel zu wählen, wenn
die Bewunderer, die Berehrer weniger jchweigfam wären; brauchte an den
Bebelquark höchitens zehn Heilen zur wenden, wenn im Zrianonfaal ein
einziger Tapferer gejagt hätte, was Pflicht ihm zu jagen gebot. Das geſchah
nicht. Das gefchieht mir nie. Und fo iſts nad) Jahren fchuftiger, kaum
—
Bebel und Genoſſen. 61
durch ein vernehmbares Zufallswörtchen karger Anerkennung unterbrochener
Hetze dahin gekommen, daß Herr Auguſt Bebel vor Millionen ſprechen durfte:
„Herr Harden hat die Vergangenheit gewiſſer Mädchen.“ Ich weiß nicht,
was er damit meinen kann, meinen könnte. Ich bringe heute nicht einmal
mehr Zorn gegen den eisgrauen Zribunen auf, den diefes Wort mehr {chän-
det als mich. Doch Aehnliches hat er ja immer gelejen. In den größten,
ſchmutzigſten, aljovornehmften Zeitungen. Und Niemand hat widerjprochen.
Und die heldenhaften Genoſſen haben den Verkehr mit mir, den fie ‚Jahre
lang fuchten, ja wirklich wie den Umgang mit gewiſſen Mädchen verhehlt.
Ich vermuthe, daß Sankt Auguftinus mit feinem Schimpf jagen wollte,
ich hätte Bismard als ein Projtituirter gedient. Denn Bismard, ſprach er,
habe id) eingefangen, weil ich witterte, daß Hunderttaufende an ihn zur ver:
dienen ſeien. Bismarck hat mir „Artifel diktirt“; „und wenn er nicht gejtorben
wäre, fehriebe er heute noch, für die „Zufunft‘.” Merkwürdig. Anno 1890
gabs in Deutjchland doc) viele Zeitjchriften und Zeitungen, gabs, auch wohl
nach Bebels Anficht, doc) manchen vorurtheillofen Verlagsgeichäftsmann:
fein einziger aber faın auf den Gedanken, an dem geftürzten Kanzler jei ein
großes Stüd Geld zu verdienen. Vielleicht glaubten fie, was täglich in jozial-
demofratischen Blättern ſtand: der, Säkularmenſch“, der bornirte Junker, der
Depeſchenfälſcher habe ſo gründlich abgewirthſchaftet, daß kein Hund mehr ein
Stück Brot von ihm nehme. Vielleicht ſagten die Moſſe, Ullſtein, Leſſing & Co.
auch zu ihren Leuten: „An Bismarck wäre zwar ein Mordskapital zu ver-
dienen; daich, Sie wiſſens längjt, aber jtetS nur reinfter Ueberzeugung folge,
wollen wir auch fernerhin für den alten Kanzler die Schmähung, für den jungen
Kaifer den Weihrauch referviren“. Möglich. Wars aber fo, dann weiß ich
nicht, warum die Genoſſen die „bürgerliche Prefie jchelten ; dannijtjie, ein
Produft ſelbſtloſer Meberzeugungtreue, höchjten Ruhmes würdig. Doch wir
wollen ernjthaft reden. ALS ich für Bismarck zu fprechen begann, war an
ihm wahrhaftig nichts zu verdienen. Alles neigte der neuen Sonne zu. Und
ich glaube, fo iſts geblieben. Vielleicht hat der Befiger der Hamburger Nach—
richten an Bismarck Geld verdient. Sicher ifts nicht; und diefes Blatt war
von 1890 big 1898 wirklich la feuille de M. de Bismarck. Erweislid) —
und längft erwieſen — tit aber, daß bie Blätter, die fonjtwo auf Zod und
Leben die bismärckiſche Politik vertraten, die Weftdeutjche Allgemeine, eine
Weile die münchener Allgemeine Zeitung, die Berliner Neuften Nachrichten
und andere, aus der Defizitwirthichaft nie herausfamen;, und fiewurden von
geichiekten, tüchtigen Journaliſten bedient und fämpften für eine der reichen
I
62 Die Zukunft.
Bourgeoiſie wohlgefällige Klafienpolitif. Wenn, zum Beiſpiel, die Leip—
ziger Neuſten Nachrichten beſſere Geſchäftsreſultate erzielten, ſo lags nicht
an Bismarck, ſondern an der von richtigem Inſtinkt geſchaffenen Orga—
niſation und andemfrifchen, forſchen, niemals langweilenden Stil des Leit—
artikelſchreibers Dr. viman. Ich hätte behaglicher gelebt und gewiß auch
mehr Geld verdient, wenn ic) den Ruhm der herrſchenden, nicht der ent-
thronten Macht gejungen hätte. Das mag Herr Bebel glauben oder nicht
glauben; er mag aud) bezweifeln, daß fünf politiiche Strafprozeſſe einen
nicht von Parteianwälten Nertheidigten ein hübfches Stück Geld Foften, daß
der „Zukunft“ durch das Bahnhofsverbot, das ein Schlauer Geſchäftsmann
durd) Wohlverhalten leicht bejeitigen fonnte, die SXahreseinnahme um zwölf—
bis fünfzehntaujend Mark geſchmälert worden ift und daß eine Beitjchrift
vor der Gefahr völligen Ruins fteht, wenn ihr Herausgeber und Haupt:
mitarbeiter, wie mir gejchah, als Kaijerbeleidiger tm Yauf von zwei Jahren
fait dreizehn Monate lang hinter Schloß und Riegel fit. Wies dem Verehr—
ten beliebt. Nun aber ift feit Bismards Zod ein Luſtrum vergangen. Ein
Blatt, das von ihm lebte, müßte bald nad) ihn geftorben fein. Und wenn
Herr Bebel einen Bertrauensmann in die Friedrichſtraße ſchicken will, wird
ihn aus den Büchern bewiejen werden, daß die „Zukunft“ nod) nie fo reichen
Ertrag gebracht hat wie, troß fortwährender Bahnhofsſperre, in ihrem elften
Lebensjahr. Womit zugleich dann beiwiejen wäre, das ich mein Geld — diejes
viel beichwagte Geld, von dem ic) verdammt wenig Genuß habe, das die
meiften Zeitungfchreiber miraber nicht verzeihen können — nicht bismärckiſcher
Gunſt verdanfe. Am Ende bequemt er id), den Boten zu fenden, wenn ich
ihm vorher verrathe, was für ihn, wohl fo ziemlich für ihnallein, nod) immer
Geheimniß ift: daß ich nie die bismärckiſche Klaſſenpolitik vertreten habe,
niemals, und daß in meiner befonderen Yage das Bekenntniß zur Berfönlic):
feit Bismarcks gejchäftlichen Schaden eher als Nuten brachte.
Nach einem Erleben, von dent ich einen Theil hier heute entjchleiern
mußte, nach knapp zweijährigem literarifchen Bemühen wurde ic) von Bis-
marc eingeladen, ihnzu befuchen. Der zweiten Einladung folgte ich. An die
Gründung der „Zukunft“ warnoch nicht zu denfen, wurde noch nicht gedacht.
Der Mann, der jelbft dem Wunfd), dverSehnjucht unerreichbar fchien, ging und
fuhr Stundenlang mit mir durch feine Wälder, hielt mid) Tage lang unter
feinem Dach zurück und fagte dem kaum einem kleinen Kreis befannten Anz
fünger, er werde, als ein Freund des Hauſes, ſtets willkommen fein. Oft
war id) dort; und ſchied nie, ohne von dem Gütigſten zu hören, er bedaure,
Bebel und Genojien. 63
daß ic) abreifen müſſe. Wenn ic) den Riejen blind vergöttert, mit Haut und
Haar mid) ihm verjchrieben hätte, dürfte fein Gerechter mid) ſchelten; denn
es ijt fein Alltagserlebniß, nad) vermwüfteter Kindheit als fnapp Dreigigjähriger
in die Intimität — fehr viel intimere, jehr viel länger dauernde, als nich dem
Genoſſen Heine verband — aufgenommen zumerden, aufSpazirgängen und
. Fahrten fein einziger Begleiter zu fein, auf ausdrüclichen Wunſch den Stein:
berger Kabinetswein des Kaiſers mit ihm zu trinfen, ſich von ihm ‚Freund
nennen zu hören. Es war das große Glück eines armen Lebens; ein Glück,
das viel’und Vieles aufwiegt. Und wenn ich, Herr Bebel, auf Etwas
jtolz fein darf, fo darauf, daß id) felbft gefundenen Glauben nie dem großen
Danne geopfert habe; nicht eine Sefunde lang. In dem Artifel, den ich
nad) meinem erften Bejuch in Friedrichsrun jchrieb, ift gejagt, ich wolle
nicht, könne nicht Bismärcfer sans phrase jein; ift gejagt, Bismarck et
„durch diplomatijche Aufgaben hypnotiſirt“ gemejen und habe dns moderne
deal des Sozialismus verfaunt, aber man folle „ihm gnädig verzeihen, daß
er 1815 ineinem märkiſchen Junkerhauſe geboren ward.” Und fo iftS geblie-
ben; zu Dußenden könnte ich Beijpiele dafür anführen, daß ich Bismarcks So—
zialiftenpolitif ftet3 befämpft habe. Leicht wurde mirs nicht, denn es war jein
eınpfindlichfter Bunft ; aber ich könnte nicht weiter athmen, wenn ich jeanderg
geichrieben Hätte, als ichin der Stunde des Schreibens fühlte und dachte. Das
erjte Heft der „Zukunft“ brachte die Wiedergabe eines Gefpräches mit dem
Erzbiſchof von Stablewski, der die Polen vertheidigte, einen jozialpolitifchen
Aufſatz vom Profeſſor Brentano, einen wilden Artifel gegen die bourgeoije
Prejie: lauter ‘Dinge, die der Fürſt Höchft ungern fehen mußte und jah. Als
ich dann wieder in feinem Zimmer faß, fagte er, namentlich der „polnische
Artikel” ſei ihm nicht unbedenklich erfchienen; aber er maße fich nicht an,
„geicheiten Freunden die Wahl ihres Weges vorzufchreiben”. Er hats nie
gethan, hat mir nie mit einer Silbe angedeutet, was er gejchrieben, was
nicht gejchrieben wünſche. Auch die berühmten „Informationen“ waren in
Friedrichsruh nicht einmal für Reporter zu holen ;der Beſucher, der freilich un—
Ichäßbaren Hiltorienjtoff heimtrug, hatte aus der berliner Zagespolitifmehr
zu erzählen als zu erfahren. Noch heute willen nurWenige, wie abgejperrt,
wie vereinjamt und gemieden der Mann im Sachſenwald lebte, ohne oftaud)
nur ein Echo der Maſchine zu hören, die feine Hand in Gang gebracht hatte.
ALS die „Zukunft“ drei Jahre beitand, kams zum unvermeidlichen Kon—
flift. Der Fürft, der für jedes von mir geichriebene Wort von der Preſſe
und von der Regirung verantivortlid) gemacht wurde, ließ, =als ih Stumm
en”
61 Die Zutunft.
angegriffen hatte, in den Hamburger Nachrichten verkünden, meine Wochen-
Schrift ſei „in die jozialdemofratifche Richtung hineingeglitten". Das offi-
ziöfe Telegraphenbureau trug die Botichaft in alle Winde. Und als ich in
Friedrichsruh anfragte, ob dieBanppulle von dortgefommen ſei, erhielt ich,
in einem fehr höflichen Brief, die Antwort: e8 fei nicht zu vermeiden, daß
„bei vorfommenden Meinungverjchiebenheiten beide Herren ſich aud) öffent-
lich divergirend ausfprechen” ; und der frühere Kanzler könne den Verdacht
nicht zulaffen, daß er „bie Aufreizung der Beſitzloſen gegen die Bejikenden,
der Arbeiter gegen die Unternehmer billige”, wie fie in einzelnen’ meiner
Artikel „zu Tage getreten ſei“. Stiefelleder ;nicjt wahr? Am jechzehnten März
1895 beſprach ich hier das Intermezzo und fagte: „Ich werde der Thatjache,
daß ich in fozialdemofratifchen Blättern ein Stipendiat der Schönhaufener
Stiftung und ein Bravo von Friedrichsruhgenannt und ineinem bismärtfis
chen Blatt als Sozialdemofrat denunzirt werde, die tröftende Gewißheit
entnehmen, daß mein Bemühen, zugleich dergroßen Perſönlichkeit Bismarcks
und dem lebensfräftigen Kern der fozialen Reformgedanken gerecht zu wer-
den, nicht ganz erfolglos geblieben iſt.“ Ein Jahr lang und länger ftodte
aller Verkehr. Diemfturzvorlage war gefommen. Herr von Stumm |chrieb
mir, Herr von Köller lieg mir durch feinen Adjutanten fagen, fie wüßten
genau, daß Bismard meine fozialpolitifche Haltung im höchften Grade miß⸗
billige. Das wußte ic) auch; und fonnte es leider nicht ändern. Gut, ſprach
der Adjutant: dann wird der Fürſt fid) öffentlich Ichroff von Ihnen los⸗
jagen. Das würde mir wehthun; meine politiichen Artikel aber follten nie
mehr fein als der Ausdrud perfönlichen Wollens; und losfagen kann man
jich nur von einem zur Gefolgſchaft Verpflichteten. So weit fams nicht. Und
als ıch fpäter, wiederholter Anregung folgend, nach Friedrichsruh gereift war,
hörte ich bejchämt das milde Wort: „Zrog Ihrem avancirten Sozialismus,
den id), in meinen Jahren und bei meiner Vergangenheit, nicht mitmachen
fann, möchte ich Sie unter meinen Freunden nicht miſſen“. Das alte Ver—
hältniß wer wieder hergeftellt. Den angenehmen Verkehr mit dem zweiten
Fürften Bismard, einem der liebenswürdigften und auf dem Gebiet inter-
nationaler Politik gebildetften Männer, die ic) je fennen gelernt habe, hat
meine angebliche „Vertretung fozialdemofratischer Tendenzen“ mich aber ge⸗
foftet. Und die echten Bismärcker haben mir nie verziehen, daß ich gegen jedes
Ausnahmegefeg war und den Herosdanicht vergötterte, wo er in feinen alten
Tagen mir fterblich fchien. Gegen KRöller und Stumm, für Otto Bismarck, das
märkiſche Wunder, und gegen den Dann, der die Scinen nad) einem So⸗
Bebel und Genojfen. 65
zialiftengefeg rufen ließ, für Getreidezölle und dennoch für eine Kultur, die
zwifchen Lehre und Leben endlich die fefte Brüde ſchlägt, für Kanitz und
Ibſen: folche Politik mag inkonſequent fein, bligdumm, trotzdem fie im mo⸗
dernften Lande von den modernften StaatSmännern fo ungefähr heute ver:
treten wird, — ein Profitgieriger, Genoſſe Bebel, hätte diefes Wageſtück nicht
unternommen. Der hätte fi) vom Ballaft eigener Ueberzeugung früh be-
freit und ſich al8 Wortführer der reichften Klaſſen etablirt, der Klafjen, denen
ich die bitterfte Wahrheit nicht erfpart Habe, wenn fie mich Wahrheit dünkte.
Was mirnnthwendige Wahrheit ſchien, habe ichaud) überdie Sozial-
demofratie gejagt. Nichtiges oder Falſches, mit Fug oder Unfug: eine Partei,
dieden Anfprucherhebt, dem Hoͤchſten das Herbftezu jagen, müßte fich ſchämen,
wenn fie ſolche Kritik nicht geitaften wollte. Ich weiß fchon: der Ton, der
berüchtigte „perfönlich-gehäffige Ton“ ; will aber die Gracchen, die über den
Aufftand Klagen, heute nicht allzu ernft nehmen und hoffen, daß Herr Bebel
nicht mehr für fich heifcht, als ein Reichsfanzler verlangen kann und, wenn
er nicht ganz unklugift, wirklich nur verlangt. Undesift einfach nicht wahr, was
verbreitet wird: daß die Sozialdemokratie Hier „beftändig gemein beſchimpft
worden iſt“; von mir nicht ein einziges Mal. Nicht wahr, daß ich je ge-
ſchrieben Habe, Bebeljei zum Kinderjpottgeworden ; nur: er fei recht gealtert.
Iſt Das ſchon Verbrechen, da man ungeftraft doch ein Jahrzent lang dem
Monarchen jagen durfte,er ſei noch recht jugendlich?.. Was aljo bleibt? Nach
demPrimadonnenartifelhabeichBebelaufgefordert,hier,vor dem felben Bubli-
fum, zu dem ich |preche, über feine Bartei und deren Ziel zu jagen, was ihm
‚beliebe. Er antwortete grob, ich duplizirte noch gröber. Er jchickte mir meinen,
ich ihm jeinen Brief ohne Begleitwort zurüd. Damit war die Sache erledigt;
und als er zum ersten Deal wieder von mir erwähnt wurde, rühmte ich jeine
„ausgezeichnete und darum unbeachtete Rede” zum Kafernirungsgejek. In
allen feitdem erjchienenen Heften wird er kein ihm zugejchleudertes Schimpf-
wort finden. Kein einziges, — bis zum dresdener Parteitag.
... Ich fomme ohne Beroration zum Schluß. Fanatikerwuth möchte
jett die vier ungetreuen Genoſſen am Liebften verbrennen. Das wäre nicht
gerecht. Denn der Hauptſchuldige heißt noch immer : Auguft Bebel. Der hat
Aengftliche eingejchüchert und gegen Einen, deifen Weſen und Wirken er nur
aus grundfalicher Darftellung fannte, die Maſſe entflammt, bis fie bereit
war, jeden Anbersdenkenden niederzubrüllen. Die vier Genofjen waren feine
Helden und haben gegen mich unverzeihlich gefehlt. Die Partei aber Sollte
fie pardonniren. Sie werden die Lehre fo leicht nicht vergeifen. Ind dann
braucht Herr Bebel nur noch dafür zu ſorgen, daß in feiner Partei, wieam Hof
undim Rathguter Könige, auch wider den Wunſch und die Laune des höchſten
66 Die Zufunft.
Autobiographie.
Ein Traum.
Taeronani gehört zu den Worten, bei denen fich mir die Därme im
Leib umdrehen. Wenn die japanifchen Rittersleute fich vor verfammelter
Mannſchaft eigenhändig den Bauch auffchligten, muß ihnen ähnlich zu Muth
gewefen fein.
Neulich träumte mir, ich hätte meine Autobiographie in Geftalt einer
Erbſenſuppe aufgetiicht: Xöffelerbfen mit Sped, in einer goldenen Suppen-
fehüffel. Mein Leben war die Erbfenfuppe; und zugleich faß ich davor und
aß mich gleichfam felbft auf und ließ meine Freunde mitefjen. Im Traum
geht Das befanntlich fehr gut; und manche Leute halten deshalb das Träumen
für die höhere Wirklichfeit. Es klann aber auch die tiefere fein; und das
Höhere mit. dem Tieferen zu vermechfeln, ift nur den naiven Seelen erlaubt,
die mit Bemußtfein fürd Unbewußte ſchwärmen. Die dürfen auch das liebe
Vieh um jenen göttlichen Geifteszuftand beneiden, in dem die Scheingebilde
diefer Welt, von keinerlei Selbftbetrachtung getrübt, ſich noch mit grenzen-
Iofer Klarheit durcheinanderwurfchteln, jo dag man ohne jeden Apparat auf
mindeftens hundert Kilometer Entfernung — oder wo fonft das wahre Jenſeits
beginnt — eine brünftige Hirfchkuh wittern kann. Sie haben freilich fehr
Recht, diefe Herren Unbewußtler: leben läßt fich auch ohne Vernunft, fterben
noch leichter, die Wiſſenſchaft ift „im Grunde nur“ Irrſinn, die Kunft „im
Grunde nur“ höherer Wahnſinn, im Grunde ift überhaupt Alles nur Wahnfinn,
im Grunde ift auch der Wahnfinn vernünftig, im Grunde ift Alles einerlei,
im Grunde ift Gott und der Lehmkloß das Selbe, im Grunde ift nichts als
feelenvoller Dred, im Grunde ift jeder Gründling ein Wunderthier und ...
an Naivetät ift jeder Ochſe dem größten Genius überlegen.
Alfo in jenem göttlichen Seelenzuftand befand ich mich in meinem
Traum. Es war ganz naid, obgleich nicht ganz einfach. Die Erbſenſuppe
war, wie gefagt, mein Leben; fie war aber auch zugleich das Leben ber
Menfchheit. Die einzelnen Exbfen, bie in der Iehmigen Brühe ſchwammen
mit ihren unverdaulichen Hülfen — es waren, wie gejagt, LXöffelerbfen und
die meilten Hülfen waren fchon ziemlich außgefocht, manche fogar ganz leer —,
Das follten natürlich, wie mir fofort ohne Nachdenken Kar war, die einzelnen
Menschen fein; und die Spedbroden waren meine Freunde. Bei näherem
Zuſehen wollte mir allerdings feinen, als feien auch Feinde unter den
Spedbroden. Und vor diefer Brühe ſaßen wir nun, ich mit meinen Freunden
und Feinden — und ringsherum noch viele andere Menfchen — und mußten
fie ausefjen. Aus einer goldenen Schüffel, wie gejagt, mit einem goldenen
Autobiographie. 67
Löffel. Das follte gewiß den Kunftgenuß bedeuten; oder auch blos den
Lebensgenuß. Ich dachte aber im Traum nicht nad) darüber. Denn die
Sache war fo wie fo ſchon genußreich genug; man mußte fi blos auf die
Kunft verftehen, die ſchönſten Broden herauszufiſchen und die leeren Hüljen
den Andern zu lafien.
So faßen wir alfo und verzehren und — uns felber und ung gegen-
feitig — und die Brühe wurde nicht alle. Denn wenn ich den Löffel zurüd-
that und weitergab, dann fhwammen die Erbfen und Spedbroden, bie ich
foeben meinte verfchludt zur haben, ſchon wieder luſtig drin herum; und eben
fo ging e8 den anderen Miteffern. Biele fchnitten ein böfes Geficht dazu
und die Mahlzeit fchien ihnen efelhaft; aber fobald fie den Köffel ergatterten,
fchludten fie gerade am Gierigſten, wie um den Efel zu erjtiden, oder ans
unbewußtem Neid. Die Trigten, weil fie fi) immer bemübten, fo tief wie
möglich vom Grunde zu fehöpfen, natürlich die meiften leeren Hülfen.
Da ſchwamm obendrauf ein herrlicher, merkwürdig rundgerathener
Broden, nach dem faft Jedermann angelte; Das war mein Nachbar Liliencron.
Ich Hatte ihn Schon zahllofe Male zu mir genommen und er- fhmedte mir
immer beffer; der richtige Kernſpeck, kräftig und füß, fehr zart durchwachſen
und derb geräuchert, fo daß ich ihn gerade den armen felheinrichen am
Allerherzlichiten gönnte. Sie fchöpften aber immer daneben, immer zu tief,
und thaten dann, als verfchmähten jie den köſtlichen Broden, der ſich nicht
-untertunfen ließ. Und viele Andere fchöpften zu flach und krigten ihn eben
fo wenig zu fafjen; er wutjchte dann plöglich von-felbft in die Tiefe, kam
aber immer gleich wieder hoch, wie eine Boje in der Brandung, das reine
Wundermännden Stehauf, mit einer riefigen Wupptizität.
Da waren aud) noch zwei fernere Kernbroden, die immer obenauf
ſchwammen und mir vorzüglich mundeten; fie fchillerten in den fublimften
Negenbogenfarben, aber durchaus verfchieden, der eine mehr ind Kometen⸗
fpeftrum, der andere mehr orionnebelhaft, und wurden nur von Wenigen
begehrt. Das kam daher, weil fie den Efelheinrichen leicht in den Löffel
gingen; Die meinten dann, die ewige Seligfeit gefiſcht zu haben, aber ſobald
fie den Nachgeſchmack fpürten, fchnitten fie ein noch übleres Geficht, — und das
fchredte die übrigen Zifchgäfte ab. Der üble Nachgefhmad fam aber gar
nicht von den beiden Spedbroden, fondern blos von der Exbfenfuppe, in
der fie ſchwammen und worin fie felbft fich recht wohl befanden. Denn Das
war ja, wie ich im Traum deutlich fühlte, die große Erbfenfuppe der Menſch⸗
heit; und wenn fie auch manchem Efelheinrich zumider war und meinen übrigen
Säften ziemlich gewöhnlich vorkam, fehmedte fie mir und meinen Freunden
doch ungewöhnlich gut im Traum. Und bie beiden feltfamen Kofthappen,
die biegen Scheerbart und Mombert.
68 Die Zunft.
Ich wollte fie, die fo vereinfamt in der riefigen Schüffel herum⸗
fhwammen, gerade einmal zufammenbugfiren und auch noch Konrad Anforge
und Peter Behrens zum fo und fo vielten Male mitausichöpfen: da kam
mir ein unrechter Broden in den Löffel. Es war ein eigenthämlich dider
Broden, ein förmlicher Kloß von einem Broden, der eine wahre Spedichwarte
hatte, mit einer aufgeſchwemmten Feitſchicht, die Jeden aufs Rojigfte anlachte;
einen Namen will ich hier nicht nennen, denn ich fchreibe feine „Stedbriefe”.
Zwei der grundfäglichiten Efelheinriche, die den Xöffel fo gewaltig bands
babten, daß ich fie ftet3 bewunderte, Strindberg und Przybyszewski, hatten
mid ſchon vor ihm gewarnt; er fei im Grunde felber ein Efelheintich, wenn
auch durchaus kein gewaltiger, und fie mußtens doch eigentlich wiſſen. Aber
ich hielt ihn für meinen Freund; und er war mir auch anfangs glatt ein-
gegangen, bis mir fehlieglich doch übel danach auffließ. Seitdem vermieb ich
ihn; und nun glitt mir der Burfche doch wieder in den Köffel und ich follte
ihn wohl ober übel herumterfchluden. Und Das war doch meine Erbfen-
fuppe, in meiner goldenen Schüſſel, die ich mir felber erträumt hatte! Und
num wollte mir diefer dickſchwartige Fettkloß, der noch dazu mitaß aus meiner
Schäffel und mir in corpore gegenüberfaß und mich immer noch roſig an⸗
lächelte, die ganze Mahlzeit verderben? Ich fand Das empörend und wurde
wüthend. Sch ſchmiß ihm, nun plößlich gleichfalls vom Ekel Abermannt,
mit aller Gewalt den Löffel zu: er folle gefälligft fich ſelbſt aufeſſen —
und fühlte, wie mir die gelbe Tunke mit voller Wirt ind Geficht ſpritzte.
Ich rieb mir die Augen unb machte auf.
Der theofophifch gebildete Leſer möge verzeihen, daß ich mich einiger-
maßen erleichtert fühlte nach diefem Traum. Denn wenn ich auch Löffel:
erbfen mit Sped für einen veritabeln Götterfhmaus halte, war mir die
grenzenlofe Miteſſerei allmählich doch etwas peinlich geworden, was ich erft
jet, als ich wieder wie ein gewöhnlicher Menfch nachdenken konnte, im vollen
Umfang nadhfühlte. ch befann mich mit wahrem Hochgefühl auf meinen
beichränften Unterthanenveritand. Ich erinnerte mich mit Vergnügen, daß
ih am achtzehnten November 1863 geboren war und immer noch lebte, nicht
etwa im Reich der freien Geiſter, fondern im deutfchen Königreich Preußen.
Ih dachte dankbar dem Myſterium nah, daß ich der ältefte Sohn eines
Foörſters bin, nicht etwa eines Föniglichen mit einem vergoldeten Adler am
Dienfthut, fondern blos eines vogelfreien Revierjägers, worauf ich ſtolz bin
wie ein dummer Junge. ch zog mir das Nachthemb aus und wuſch mir
ben Kopf. |
Als ich diefen nachher im Spiegel befah, diefen weltanfchauenden Aus⸗
wuchs von mir, den jeber Hand Narr mir mal abhaden kann, ſchien mir
der Traum mit einem Mal doc wieder gar nicht fo unvernünftig. Nur
über Eins vermochte ich nicht ind Klare zu kommen:
Autobiographie. 69
Ich hatte noch manche anderen Freunde unter-den Spedbroden ſchwimmen
fehen, wahre Freunde, gute Freunde, unglaublich wahre und gute Freunde,
fo zum Beifpiel Franz Servaes und Wilhelm Schäfer, Meier-Graefe und
Marimilion Dauthendey, Yranz Ever8 und Fidus, Johannes Schlaf und
Arno Holz, Franz Oppenheimer umd Karl Ludwig Schleich, die Brüder
Hart und Bruno Wille, Wilhelm Bälſche und Willy Paftor, Papa Heil:
mann und Otto Erid, Signor Rodelfo und Signor Ludovico, auch jenen
naiven Menfchenfreund, der fih mir eines ftürmifchen Tages auf einem
Dampffhiff zwifchen den griechifchen Inſeln vorftellte, fich einen Freund
meines Dichtend und Denkens nannte, wir lategorifch den vernünftigen Willen
als moniftifhen Grund alles Dafeins nachwies und fih dann plöglich um:
drehen mußte, weil ihn bie Seekrankheit anwandelte und feinen vernünftigen
Willen zum Ausbruch brachte. Sie Alle und woch ganz andere Namen,
auch manchen „großen Toten” darunter, hatte ich in der Iehmgelben Brühe
fchwimmen fehen, in diefer Brühe, die mein Leben fein follte —: nur nicht
den Namen jenes Mannes, der mich liebte wie kein anderer Menſch und ber
ih nur den Menfchenfohn nannte. Und auch die Namen meiner alten
Eltern nicht, die doch mit ihren je fiebenzig Jahren mein Leben vielleicht
viel grünblicher Tieben als ich felbft mit meinen Inapp vierzig. Und auch
das Weib nicht, das mid, liebt. Und auch bie Frau nicht, die mich einft
zu lieben glaubte und der ich meine Kinder verdanfe. Und biefe meine brei
Kinder auch nit. Was hatte Das zu bedeuten?
Ob fie „im Grunde“ vielleicht doch Eins mit mir find? Im Grunde
der großen Erbſenſuppe? — Wie fagte doch jener Alte aus Indien, beffen
Name der Menfchheit entfallen it? „Iener Einäugige, der den Weltraum
bewacht im Bodenlofen, Der mag es wiffen; aber vielleicht weiß auch Er es
nicht!“ So fagte er; oder fo ähnlich.
Wers aber etwa nicht glauben will, Dem will ich ein anderes Liedlein
fingen:
O Phantafie,
allwiſſende Lügnerin,
Dich Liebe ich,
ih Menſchengeiſt,
ewig!
Dem Herren Unbewußtlern aber empfehle ich, fich lebenslänglich chloro⸗
formiren zu laflen.
Richard Dehmel.
70 Die Zukunft.
Aus dem Sucdthaus.*)
an neunten Januar 1895 früh am Morgen wurbe ich mit dem gewöhn-
2 lien „Transport” von Hannover nach Celle gebracht, — gefeflelt. Es
war ein bitter Falter Tag, mittags neun Grad unter Null. |
Ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren erzählte mir unterwegs,
daß er wegen Blutfchande zu mehreren Jahren verurtheilt fei. Mich ſchauderte,
nicht nur wegen der Strafthat, fondern noch mehr wegen ber Art des Diannes,
einer ftumpfen, flachen Natur ohne Saft und Kraft. Er leugnete feine Schulb.
Ich babe nachher feine Alten mir angefehen; er war auf das Beugniß jeiner
Frau und daraufhin verurtheilt, daß der Arzt bei ber Tochter, einem „ver⸗
dorbenen“ Mädchen von fechzehn Jahren, wieberholt Spuren des Umganges mit
einem Manne feitgeftellt hatte; und immer dann, wenn die Frau ihren Mann
diefes Umganges beſchuldigt Hatte. Die Tochter hatte nicht ausgefagt. Eine
hohe Wahricheinlichkeit fpricht für die Schuld des Verurtbeilten; für „bewieſen“
kann fie fein Menſch anjehen, der nicht mit kriminaliſtiſchem Vorurtheil ar bieje
Dinge geht, mit jener Anfidht, die ein Staatsanwalt in Hannover in einem
Blaiboyer in die Worte Hleidete: „Bedenken, meine Herren Geſchworenen, tauchen
in faft allen Tsällen auf, wenn ber Ungellagte leugnet. Es würden wenig Per:
urtheilungen ohne Eingeftänbniß erfolgen, wenn nur folche gefällt werden follten,
bie in feinem Stadium Anlaß zu Bedenken gegeben haben. Wenn dem Strafe
richter Bedenken an der Schuld eines Beichuldigten auftauden, fo hat er dieſe
Bedenken zu prüfen, ob fie ſtark und ftichhaltig genug find, die Verurtheilung
zu hindern.” Als ic Das gehört hatte, ging ich nah Celle zurüd mit an-
berem Urtheil über die vielen Gefangenen, die ihre Unſchuld betheuern. Eine
rau, die ihren Mann haßt, tit Fein Beuge, auf den man dieſen Mann ins
Zuchthaus bringen follte, und der Befund des Arztes an einem Mädchen, befien
„Verderbniß“ erwieſen ift, auch nicht. Ich erfuhr fpäter, daß gerade in Pro-
zeflen um geſchlechtliche Verbrechen der Schuldbeweis oft ein fehr bedenklicher
tft. Das ift erflärlich, weil es fi da in den meiſten Fällen um ein einziges
Zeugniß handelt; und jelten um ein einmandfreies.
Das Zuchthaus in Celle birgt etwas mehr als ſechshundert Gefangene.
Es liegt am Flußufer der Aller. Dan fieht es, wenn man mit bem Zuge von
Hamburg nad) Hannover fährt, an der linten Seite de Zuges. Die Front
fieht nach der Allee, die in Celle die Straße zum Bahnhof bildet. Nicht ums
freundlich ift das äußere Bild. Als meine Schwefter mich beſuchte, ſah fie nur
biefen vorderen Theil des furchtbaren Haufes und ich ließ fie bei der Meinung,
daß biefem Eindrud das Ganze entſpreche. Belucher folder Anſtalten werben
eine ähnliche Dieinung nach Haufe bringen, denn auch der Anblid des Inneren
giebt von den Umftänden und ber Verfafjung der Befangenen fein Bilb.
*) So heißt ein Bud, das man viel lejen, von bem man viel reden wird;
und doch ifts ein furchtbar ernſtes Buch und kann, über Modeerfolge hinaus, für
ben Strafvollzug in Deutfchland faft fo wichtig werden wie Doſtojewskijs Meifter-
gedicht für das ruffiiche Strafreht. Ein Buch, aus dem eine Perfönlichkeit in paden-
den Lauten tiefften Menſchenwehs fpricht. Es erfcheint in diefen Tagen bei Johannes
Räde und foll bann befprodhen werben. Als Probe heute bier nur ein Fragment.
Aus dem Zuchthaus. 7
Wir wurden in bie Vorhalle des Vorbaues geführt und in Reihe und
Glied aufgeftellt. Ein Beamter nahm die Perfonalien auf. Der Erfte, ber
befragt wurde, war der Mann, der mir auf der Fahrt feine Geſchichte erzählt
hatte. „Was haft Du gemadt?” Und auf die Antwort hörte ich die Kritik:
„Alſo Schweinigel.” Bei mir genügte die Namensangabe; natürlich waren wir
Alle angemeldet. „Wie Haft Du Dich ins Unglüd geftürzt!" meinte nachher der
felbe Beamte. Das war das einzige milde Wort, das ic} von ihm gehört habe.
Wir wurden num big Nachmittag von Einem zum Anderen geführt. Zu-
nächſt ins Bad. Als ich im heißen Wafler in der Wanne lag, fam der Barbier,
ein Gefangener, ber wegen Mordes angeklagt gewejen, wegen Tobfchlages ver-
urtheilt wor. Wir mußten ung aus bem heißen Waſſer aufrichten, uns auf bie
Kante der Wanne jeben und wurden jo rafitt und über den Kamm geſchoren.
Das verbunftende Wafjer an meinem Leibe verurjachte bei ber Wintertemperatur
eine folche Kälte, daß ich nicht ftillhalten konnte, fondern vor Froft Elapperte
und mich ſchüttelte. Der Barbier ließ mich endlich ins Waller zurüd gehen
und rafirte und fchor mich in diefer Lage. Aus dem Bad ging es zur Ein-
Heidung auf einen falten Boden. Jeder erhielt zwei dunkelbraune Tuchanzüge,
eine hellbraune ade, Handwerkerſchürze, Wäſche, Bettdeden, ein Paar Schube,
ein Baar Pantinen aus Leder, Kamm, Zahnbürfte und ähnliches Geräth. Nach
einigen weiteren Borftellungen — beim Direktor, im Sefretariat, bei dem In⸗
fpeftor für die Arbeiten — ging es zum Arzt. Mich fror in ber mangelhaften
Bekleidung, in der wir auf Kalten Korridoren ftehen mußten. Ehe wir einzeln
zum Arzt bineingeführt wurden, mußten wir uns im Xazareth, in dem geheizt
war, in Gegenwart der in ihren Betten liegenden ober umberfitenden Kranken
entlleiden, wurben gewogen und hatten dann, entkleidet, troß der Heizung ſtark
frierend, zu warten, bis wir an die Reihe kamen. Nadt ging es Über einen
falten Korribor ins Zimmer des Arztes. Der auskultirte mich und ftellte feit:
„Krepitationen in beiden Lungenſpitzen.“ Ich bin erblich nicht belaftet, Hatte
auch nie einen Lungenkatarrh gehabt und kann nicht umbin, ben Strapazen ber
Aufnahme in Celle an dem falten Tage nach den ſchwächenden Wirkungen eines
anfpannenden Prozeßverfahrend die Anfänge des ſchweren Lungenleidens zuzu⸗
ſchreiben, das fi) im Laufe meiner Strafhaft entwidelt bat unb von dem id
noch heute, fünf Jahre nach meiner Entlafjung, nicht geheilt Bin.
Nachdem die widerwärtigen Prozeduren ber Aufnahme erledigt waren,
wies man mir eine Belle an; nachmittags gegen drei Uhr. Sie war gänzlich
ungebeizt, bei nahezu zehn Grad Réaumur Kälte. Ich war in jenen Tagen
gar nicht kritiſch geftimmt und hatte mir ſelbſt verſprochen, mich durch nichts aus
der Faſſung bringen zu laſſen. Aber diefes Hineinftoßen eines eben aus warmer
Wollkleidung in ein Leinenhemd geftedten Menſchen in eine kalte Zelle empörte
mid doch. Meine erfte Probe auf meinen Borfag, durch nichts mich erbittern
zu lafjen, wurbe noch durch den Aufjeher erfchwert. Es war, wie ich fpäter
erfuhr, derjenige, der den Gefangenen von allen am Meiſten verhaßt war, bet
der Behörde aber als der „zuverläffigite” galt, wie mir ein Borgefegter von ihm
fagte. Auf feinem jehr Kleinen Körper jaß ein Kopf, deffen ftarke, aber bittere
Phyſiognomie mit der Hleinheit der Geftalt in einem eigenen Kontraſt wirkte.
Waſſerblaue, helle Augen ohne Tiefe, aber ſtahlhart, von Tyalten umgeben, ähnlich
6
72 Die Zukunft.
denen, bie den jpähenden Seemann Tennzeichnen, aber mit einer feindlichen,
fpürenden Zuthat; tiefe Falten an beiden Seiten des Mundes vollendeten den
Eindrud einer argen Berbitterung. Diefem Manne war ich aljo zunädjft gäny
li anheimgegeben; ich vermeide den Ausdrud preisgegeben, obwohl er zuträfe,
denn der neu anfommende Gefangene würde fich für die ganze Tyolgezeit eine
ſchwere Stellung jchaffen, wenn er mit feinem erften Aufſeher etwa in Streit
oder Zwieſpalt gerietfe. Ich wußte Das noch nit, als ich kam, habe bie
Sitten und Triebfebern bes Lebens in bem Haufe erft nachher durchſchaut. Aber
mir fam mein Entihluß zu Hilfe: nad außen zu Allen zu fchmweigen, foger -
im Inneren vor mir felbft feine Regung von Bitterkeit, feine Empfindung eines
Gekränkten zu dulden. Ale Bewegung in mir febte ich jofort in diefen Ent-
ſchluß um, fo daß ich mich immer gegen mich ſelbſt kehrte. Ohne e8 zu willen,
hatte ich damit die Regel und Vorſchrift getroffen, die für meine Lage im Zudht«
haus eben fo vortheilhaft wurde wie für meine eigene innere Entwidelung.
Wenn man fragt, wie diefer wohlthätige Entichluß entitand, jo kann ich
darauf nur eine unvolllommene Antwort geben. Ich bin Jahre lang befangen
religiös geweſen. Religiöſe Befangenheit nenne ich die Neligiofität, die nicht
wagt, dem Zweifel ins Geficht zu jehen, Kritik einfach ablehnt und im Grunde
mehr oder weniger mit Vorftellungen und Empfindungen zujammenfließt, die
fi vor der Kritif als Aberglauben enthüllen ... ALS ich verurteilt wurde, lag
biefe Befangenheit Hinter mir, doch nur infofern, als das religiöfe Intereſſe in
mir geringer geworden war. Ich war durch das Reben dahin aufgeklärt worden,
daß die Religiofität feinen fittlichen Maßſtab bietet... . Als im Gefängnik in
Hannover Alles um mid zujammenbrad, wußte id, baß ich nicht wieder zu
jener Befangenheit zurüdfehren würde, bie hinter mir lag, — jeit Jahren.
Aber ich ging daran, mein Leben zu muftern und — id war dreiundbreißig
Sabre alt — feine Mängel zu mellen; ich jah, dab meine Auseinanderfegung
mit aller willenichaftliden und politiicden Erkenntniß lüdenbafter Dilettantis-
mus, Spiel des Moments, kurz, gar nichts, daß mein Leben eben damals an
der Schwelle der Einfiht und Weisheit angelangt war. Ich jah aber auch ein,
daß ich mich mit der Religion nur wie ein Flüchtling auseinandergeſetzt hatte,
und Alles in mir verlangte auf allen diefen Gebieten gründlicdere Arbeit.
Noch war ich weit entfernt davon, ein ehrlicher Diann zu fein in dem
Sinn, in dem ich es fpäter wurde, fold ein ehrliher Mann, der fi) nicht ſelbſt
betrügt; wenigitens fich felbjt mißtraut und Fritifirt und deshalb ſeltener durch
fih felbjt betrogen wird als die Menjchen in der Regel. Ungeſondert floffen
bet mir noch die Borjtellungen, Neigungen, Wünſche und Zwecke durdeinander.
Das erſte Ergebniß ber beginnenden Stlärung war der Entſchluß zur Selbit-
kritik, der fich vereinigte mit dem anderem, durch meine Lage gebotenen: mich
duch Niemand und nicht8 erbittern zu laſſen.
Schwer fürwahr Hat es mir der Aufjeher gemacht, defien Aeußeres fchon
eine Dual und aufreizend für mich war, beilen Stimme mir Bein verurjadte.
Uber ich erinnere mich, daß ich am zweiten Tage in Celle abends nad) Einfluß
mir vorbielt: Was mag der Dann erlebt haben! Sicht man nidt die Falten
bes Grames auf feinem Geſicht? Vielleicht, wahrfcheinlich, gewiß ift er weit un⸗
glüdlicher, al3 Du bift! Und ich wurde ruhig und innerlich mild, mitleidig gegen
den Dann. Das befam mir gut, machte mich zufrieden und faft glüdlich.
Aus dem Zuchthaus. 173
Wir waren auf dem „mittleren Zellengang”, wie die „Station“ amtlich
hieß, vierundzwanzig Gefangene. Ich vermied jede Berührung mit ben anderen,
meift jüngeren Leuten. Nach der „Hausordnung“, die in jeder Belle hing, war
jede Unterhaltung der Gefangenen unter einander verboten. Als bald nad
meiner Einlieferung eines Morgens ein junger Mann, der das Efjen tragen
half, mich im Vorbeigehen fragte, ob ich Djtfriefe jei, in diefem Falle fein Lands⸗
mann, gab ih ihm Feine Antwort. In dieſem abjoluten Schweigen jollte nad
der Borjchrift der Tag vergehen, follten auch folche Arbeiten, die gemeinfam zu
erledigen waren, erledigt werden. Ohne daß ein Wort gewechjelt wurde, ver-
richtete der Barbier feine Arbeit an und. Tage gingen hin, an denen die ®e-
jpräde in nichts beftanden als in einigen Worten, die wegen der Wrbeit mit
dem Aufjeher oder dem Werkführer zu mwechjeln waren.
Mir waren Stuhliige aus Rohr zum Flechten übergeben. Das Rohr
wurbe dur Oeſen im Sig gezogen; die entitandenen Quadrate wurden durch⸗
flodten, bis das befannte Geflecht ſolcher Site herausfam. Die Arbeit tit
leicht zu erlernen, aber fie erfordert immerhin llebung, wenn man das vorge⸗
fchriebene Penſum, etwa drei Site täglich, erledigen will. Bei längerer Uebung
läßt fich diefes Penfum übertreffen. Das volle Benjum zu liefern, ift der Ge⸗
fangene erft nach dreimonatiger Lehrzeit verpflichtet. Ich lernte die Arbeit ſchnell,
aber jie wurde mir bald dadurch erjchwert, daß das ſcharfe Rohr mir die Hand
verlegte, wozu noch ſtarke Froſtbeulen famen.
Der Froſt dauerte an: Es war bitter kalt in den Zellen. Die Anitalt
tft eine von dem Älteren; die Räume für gemeinfame Haft überwiegen. Weil
teine Gentralbeizung vorhanden tft, wurden bie Zellen einzeln burch einen kleinen
Ofen vom Korridor aus gehetzt, aber in der Negel nur morgens einmal; die
humaneren Aufjeher Jorgten mit beſonderer Aufmerkfamfeit dafür, Daß wenigftens
vormittags die Kacheln des kleinen Ofens heiß wurden, aber für gewöhnlich
wurde die Temperatur in der Belle nur ganz vorübergehend — etwa eine halbe
Stunde am Tage — erträglich; gegen Abend war ber Ofen längft eifig und bie
Temperatur der Belle jehr froſtig. Mich fror bei ber mangelhaften Kleidung
furdtbar. Die unteren Extremitäten waren in der Negel gefühllos vor Kälte.
Ich erfuhr nachher, daß in einer Zelle ein Thermometer hing und ein befonderes
Bud vorhanden war, um nad jenem Thermometer die Zellentemperatur zu
beitimmten Xageszeiten einzutragen. Aber unter dem Schreibwerk folder An-
ftalten ift fehr viel — darunter auch die Statiftit —, was den meilten Be-
amten als werthloje Schrulle gilt, darunter aud das Thermometerbud. Auf
jeden Fall profitirt nur eine Zelle von dem Meßinfiırument. Noch ſchlechter als
tn den übrigen Zellen wurde in der Regel in den Strafzellen gebeizt, die unter
und — im unteren Zellengang — lagen. Mir wurde nachher mitgetbeilt, daß
einem im Dunfelarreft geſteckten Gefangenen nachts — dieſe Gefangenen müſſen
auf der bloßen Pritſche Ichlafen — ein Fuß erfroren und dadurch eine dauernde
Berfrüppelung herbeigeführt worden war. Auf jeden Fall muß ich die Einzel-
heizung der Bellen anklagen als eine die Geſundheit zerrüttende und ben Ge-
fangenen im älteren Wintern dem gquälendften Froſt ausjebende Einrichtung.
Sie wirkt um fo zerrüttender, als ber Mangel an Fett in der Gefängnißkoſt
den Körper ohnehin ausmergelt, jo daß meine Haut rauh und meine Nägel vor
6°
74 Die Zunft.
Sprödigkeit fo brüdig wurden, daß ich fie mit einem Meſſer nicht ſchneiden
fonnte. Noch jebt habe ich die Wirkungen diejer rabilalen Entfettung — id»
bin ohnehin mager — nicht überwunden. Es ſcheint, daß die völlig verfehlte
Ernährungmethode die Fähigkeit der Berbauungorgane, Fett zu „verfeifen” und
dem Organismus zuzuführen, dauernd gejchädigt Hat.
Es war aljo ein ſchwerer Anfang für mich. Aber ftärker als alle Schwierig«-
feiten waren mein natürlider Muth und mein Wille, mein Entfchluß zum Cr
tragen, zum leberwinden und Weberwältigen der Leiden, äußerer und innerer.
Sch erfuhr nichts von meinen Umgebungen. Das große Haus war mir
nod beinahe jo fremb wie meinen Zefern jet. Ich war felbit von dieſem mit
mir zu gleidem Geſchick verbundenen Leben jo weit entfernt und abgejchloflen,
als follte ich nie dem Schickſal der anderen Gefangenen und dieſen felbit näher
treten. Als an einem Tage bei glinftiger Gelegenheit ein zu zehn Jahren Zucht⸗
haus verurtheilter Paftor fi mir näherte — er war bem Ende der zehn Jahr
nah und hat fie mit unglaublicher Naturkraft überftanden —, lehnte ich den.
Mann ab, der ımir außerdem zumider war.
Der Erfte, der mir ein freundliches Wort jagte, war ein bumaner Auf-
jeher; er nahm eine Gelegenheit wahr, mir Muth zuzufpredden, was nicht ein«
mal nöthig war; aber es that mir dennoch wohl, der Ubjicht wegen, die der
Mann verfolgte, ald er mir fagte, er babe ſchon mehrere gebildete Männer eine
längere Strafe rüftig überjtehen jehen; „es gebt Alles.“
Eines Tages öffnete fi die Thür und herein trat ein Mann, den ich
mit Erftaunen anfehen mußte. Ein hagerer Rieje mit langem, dunklem Bollbart,
großer, aber nicht plumper Nafe, mit feinen, fympathiihen Händen und mit
den Mienen eines echten Heiligen. Er jah nicht wie ein Paftor, auch nicht wie:
ein Schwärmer aus, aber wie ein Diann, defjen Milde jo groß iſt wie die Rüftig-
keit feines Geiftes. Ein Dann, deſſen Aeußeres ſchon unvergeklich ift; wie
viel mehr aber noch feine Seele, die nicht minder klar vor mir fteht als jeine
Beftalt! Der Anftaltpaftor. Wenn ich nicht aus vielen anderen Gründen zu-
frieden fein müßte mit dem Schidfal, das mid aus einer verfehlten Bahn ge-
riffen und die Lücken meines Lebens und Wefens ergänzt bat, fo wäre der Gewinn
der Belanntichaft mit diefem Abgefandten der edelften Menjchlichkeit allein im
Stande, die furchtbarjten Leiden aufzumwiegen, die ich im Lauf der drei Jahre aus-
geftanden habe. Es ift ſchwer, dieſem Manne genug zu thun und gerecht zu werben.
Er lebt nun bald ein halbes Menſchenalter als der Vertraute ber Leidenden im
Budthaufe. Sein mäcdtiges, aber gejundes Gefühl trug den unendlichen Sammer
dieſes Hauſes mit ſich umher. Manchmal, wenn er zu mir kam, redete aus
feinen Augen und Mienen ein Schmerz, wie eines Heilands Leid; ich jah ihm
an, wie viele Elende den felbftfüchtigen Trofi der Ausſprache und des Mitleideng
bet ihm gefucht hatten. Uber er blieb nicht bei Gefühlen und Worten: er war
der Dann der That für die Elenden. Cr jchrieb für fie, wenn fie ihren Familien
Etwas zu fagen Batten, er ſchrieb und forgte für Arbeit und Unterkunft, nicht
— bequem — durch einen Verein für Entlafjene, dem ſich Gefangene nur ungern
anvertrauen, jondern, wenn es irgend anging, felbit. Das thun auch andere
Baftoren; aber es ift ein Unterſchied in diefem Handeln. Wie verfuhr er mit
feinen Freunden! Denn er wurde in Wahrheit der Freund der Gefangenen,
Aus dem Zuchthaus. 75
wenn er fie fennen gelernt hatte. Ohne Vorbehalt öffnete er fi ihnen, nahm
ihr Bertrauen in Anfprud, wie fie das feinige. Obwohl der thätigfte und un⸗
bezahlbarjte von allen Beamten des Haufes, aud vom Standpunkt des Staats-
zweckes weitaus nüßlicher als alle übrigen Beamten der Anftalt zufammen, hatte
er doch nicht3 von einer „Beamtenjeele”; und ich glaube fogar, daß er den
character indelebilis de8 Beamtenthumes im Grunde haßte oder mißachtete.
Fromm, war er doch wunderbar frei, gewillt und fähig, jeder willenfchaftlichen
Wahrheit ins Gejicht zu jehen. Hinter ihm lagen Dogmen und Sagungen und
doch lebte er in dem Idealbilde der Evangelien fo jehr, daß man eben jo wohl
fagen kann, dies Bild lebte in ihm und führte durch ihn eine neue Exiſtenz.
Boltaire wars, der gejagt bat, feit Chriftus habe es nur einen Chriften gegeben:
Franz von Aſſiſi. Auch ich ſchätze diejen Heiligen ſehr hoch, aber fein Gefühls⸗
Teben war troß allen praftifchen, politiichen, ein Jahrhundert die Welt erſchüttern⸗
den und beberrihenden Wirkungen des von ihm gegründeten Franziskanerordens
doch allzu myſtiſch, um ein Abbild der geſünderen Perſönlichkeit zu fein, die ung
die Evangelien ſchildern. Jedenfalls war der Dann, der eines Tages in meine
Belle trat, ein geiftig volllommen gefunder, harmoniſcher Dann, in dem alle
drei Beſtandtheile der geiltigen Perjönlichkeit: Wille, Verſtand und Gefühl, groß
und ſtark ausgeprägt waren.
Bartgefühl durchdrang all feine Borgüge und erhöhte ihre Wirkung. Er
preßte und drückte keinen Menſchen bierhin, dorthin; er „fiſchte“ nicht mit feiner
Liebenswürdigfeit, feiner Tyürforge, ſondern gab fi) ohne Berechnung; er hätte
«3 für eine Anmaßung gehalten, ohne bejondere Herausforderungen fein Urtheil
einem diejer Leute aufzunötbigen, denn er wußte, wie leicht man irrt, und hatte im
Laufe der Jahre gelernt, auch das Urtheil des Nichterd nicht zur Grundlage
des feinen zu machen. Uber echt, wie feine Liebe, war auch fein Zorn, den ich
nur „im Kollegium”, als Hörer feiner Predigten, kennen gelernt Habe; es ging
aber im Haufe die Sage, daß auch in feinem Sprechzimmer diefer Zorn ftark
hervorbrechen fonnte, wenn ihm frecher Cynismus gegenübertrat, den ed aud)
im Budthaufe giebt, wenn auch nicht häufiger als fonft im Leben.
Diefem Mann verbanfe ih mehr ald irgend einem anderen Dienfchen.
Er ift nie darauf ausgegangen, mich zu belehren oder zu „beilern”, fondern hat
wohl gelegentlich gejagt, daß er es fei, der aus meiner Gejellichaft Gewinn ziehe.
Uber eben mit jener tendenzlojen Hergabe feiner echten Perfönlichkeit iſt er mir
zur Hilfe gefommen in meinem Berlangen, „zu mir ſelbſt“ "vorzubringen und
„echt“ zu werden. Ein „orthodorer" Stümper, der ſich ſelbſt täujcht und in
feiner Befangendeit nur ein blinder Blindenführer ift, wirkt bei allem guten
Willen, den auch er bat, in den Gefängnijlen mur wie ein täppilcher Tölpel,
mag er au noch fo viel „Erfolg* haben und Sünder belehren und „beilern”,
ja, mag er auch manches wirklich Gute thun und hervorrufen.
Ich habe meinen Lejern das Licht in diefem dunklen Haufe voriveg gemalt.
Es wirkt um fo ftärfer, als es in der That, wie auf einem Bilde Correggios,
von einer einzigen Perjönlichleit ausgehend, in beftändigem Kampf und Kontraft
war mit Finfterniffen, die feine Nacht fo jchwarz gebiert und denen des Ab⸗
grunds didjter Dampf nicht gleichkommt. Hans Leuß.
s
76 Die Zukunft.
Salfche Propheten.
a3 Schlagwort des Tages ijt wieder einmal: Amerila. Wie Leo XII.,
jo iſt endlid nun aud die amerikaniſche Hochkonjunktur, nachdem fie
Sabre lang totgefagt worden war, gejtırben. Und über den Leichnam des Löwen
beugt fich mit fpöttifchen Mienen bie Zmwergenfippe, deren Weisheit höchiter
Schluß die billige Erfenntnik war, daß nichts auf Erden ewig daure. Wer
einem Wiegenkind propbezeien wollte, es werde eines Tages Sterben müſſen, würbe
ausgelacht werden. Bier aber fpiegelten Kritiker von Beruf fih im Hochgefühl
einer Million, die fie Tag vor Tag verkünden hieß, das Ende fünne nicht auS-
bleiben. Und fiehe: es ift wirklich nicht ausgeblieben. Doch trat e8 erft nad
einem langen Leben ein, das Mühe und Aufwand reichlich gelohnt bat. Des⸗
halb wendet der Berftändige ben Blid von den Totengräbern, die heute laut
frobloden, weil ihnen der erſehnte Sarg nad langem Barren nun body in bie
Hände fiel, und ſchaut nachdenklich auf die entjeelte Hülle, die fie beftatten wollen.
„Bir würden gar Vieles beiler erkennen, wenn wir e8 nicht zu genau
erkennen wollten; wird uns boch ein Gegenftand unter einem Winkel von fünf»
undvierzig Graden erſt faßlich“: die Wahrheit diejes goethiſchen Gedankens ift
wieder einmal dur die Art erwieſen worden, wie in Deutichland die ameri«
kaniſchen Wirthichaftverhältnifle der legten Zeit beurtheilt wurden. Nie ift ein
Ding fo gedanfenlos verworfen, freilich auch nie fo unklug gepriefen worden
wie das raſch aufgeichofjene Amerika von deutſchen Beobadtern. Die Tadler
traten vier Jahre zu früh, die Lobredner vier Jahre zu fpät anf. Beide ſchärften
ihren Blid nad Kräften, um die Oberfläche zu durchdringen und ben Stern zu
erfafien. Und Beide blieben in einem falſchen Geift befangen, der viel von ihrem
eigenen Wefen, aber nichts von Dem verrieth, was den dkonomiſchen Aufſchwung
der Vereinigten Staaten erzeugt hat.
Bezeichnend war don der Umftand, daß Hervorragende Perfönlichkeiten
der deutſchen Kaufmannswelt erjt, ald Amerifa und alles Amerikaniſche Jahre
lang von blindem Haß verunglimpft war, den Muth fanden, über ben Ozean
zu fahren und das Land Veipncecis no einmal zu entdeden. Man hatte fich
allzu lange vor der Berkleinerungfucht gebeugt. ALS die Bosheit fi an der
ehernen Mact der Berhältnilje die Zähne jtumpf gebifjen Hatte, wagte man,
ihr zum Troß, endlich dem Yankeethum offen zu huldigen. Da war es natürlich
gerade zu ſpät. Einſt trieb Deutſchlands Politiker der Zug nad Italien; jegt
fonnte man von einem Zug nad; Amerika reden, der unjere Gejchäftspolitiker
in Bewegung brachte, — leider erjt am Ausgang der Blanzperiode oder mindeſtens
erit, al& der Höhepunkt überfchritten war. Die Liſte der distinguished visitors,
die ſeitdem aus Deutichland über den großen Teich zur Freiheitftatue dampften,
fonnte fich ſehen laffen: ein Prinz aus königlichſtem Seblüt, ein Geheimer
Kommerzienrath, ein Kommerzienrath ohne Geheimniß, Generaldireftoren, Bank⸗
Direftoren, ein inaftiver und jogar ein aftiver preußiicher Staatsminifter. Mehr
als Einer von ihnen hat nach feiner Rückkehr das Bedürfniß empfunden, den
deutichen Mitbürgern feine Impreſſionen zu übermitteln. Was man da Alles
lernen konnte! Herr Doktor juris Salomonfohn, Direktor der Distontogefelle
haft, war, in Goldbergers Fußſtapfen, den Dingen bejonders tief auf den Grund
Falſche Propheten. 77
gegangen. Kein Wunder, daß ihm der Aufjichtrath geſpannt laufchte, al3 der
Direktor bas Bild entrollte, das er von feinem Ausflug mitgebracht hatte. So
wird denn in den Protofollen der Disktontogefellihaft für ewige Zeiten ver-
zeichnet bleiben, daß in Amerika die Pflege der Schönheit unb ber Luxus bei
Männern nicht minder al bei Frauen Alles überfteige, was Herr Doftor juris
Salomonfohn jemals zuvor in Paris oder London gefehen hat. Daß ber Akt
deö Raſirens beim Amerikaner nicht, wie bei und, eine läjtige, möglichit rafch
abgethane, fordern eine funftvolle, ſorgſam gehegte Prozedur tft, die ungefähr
eine halbe Stunde Beit in Anjprud nimmt. Daß aber aud Dies bem wahren
amerifanijchen Dandy nicht genüge, ſondern er ſich noch die Zeit nehme, durch
Manicure, Pebicure, Gefihtsmaffage und ähnliche Künſte ſich verſchönern zu
laſſen. Daß in Amerika die Geſchäfte der Wahrfager blühen wie in feinem
weiten Lande, daß die prädtigften Kirchen in New-York den Gejundbetern gehören
und daß die Amerifaner auch auf dem Gebiete des Theaterwejens mit Energie
Wandel jchaffen. Ipsissima verba. Und diejer reihe Schag an Erfahrungen, die vor
Herrn Doktor juris Salomonjohn Niemand gefammelt hatte, ift noch nicht einmal
das Bedeutendfte, wa3 von feiner Studienreiſe durch das Archiv der Diskontogeſell⸗
ſchaft der Nachwelt erhalten bleibt. Der ftrebfame Gejchäftsinhaber unjeres älteften
Bantinftitutes, das im Geruch fteht, fonfervativ zu fein wie ein Junker, ift viel
weiter gegangen. Er hat fi, wie er mit lobenswerther Gewifjenhaftigleit dem Auf-
ſichtrath berichtete, ernjthafte Mühe gegeben, amerikaniſchen Induſtriellen das Trin⸗
ken am Tage beizubringen, ein Uebel, das ihnen bis zur denkwürdigen Landung
des Herrn Doktor juris Salomonſohn auf dem Bier von New⸗-York fremd geweſen
war. Zum Slüd lächelte jeinem Bemühen fein Erfolg: bie waderen captains of
industry blieben ftandhaft und erfparten jo dem Herrn Doktor jede Verlegenheit, die
iym etwa erwachſen konnte, wenn fpäter ſeine Speſenrechnung von Geheimrath von
Hanjemann geprüft wurde. Daraus, daß es ihm „nicht gelang, jemals einen der
oberen oder der niederen Beamten, welche die Tyreundlichfeit hatten, mich durch
die indujtriellen Etabliffements zur geleiten, dazu zu bringen, beim Frühſtück oder
fonft während des Tages Wein, Bier oder andere alkoholiſche Getränke zu ges
nießen“, hat Herr Doktor juris Salomonfogn ohne Iweifel tiefe Schlüffe auf
den Urgrund bes amerifanifchen Booms gezogen. Er war, jo geitand er, in
ben Glauben ausgezogen, die Yankees jeien nur eine Abart bes Engländer-
thumes. NRüdhaltlos, wie es einem charaktervollen Manne geziemt, hat er nad)
jeiner Rückkehr zu Herrn von Hanjemann gejagt: Pater, peceavi! Denn ber
Amerifaner, wie er fi ihm in der Stunde der Erleuchtung auf amerifanischem
Boden offenbarte, unterjchied fi vom Engländer „beinahe“ jo weſentlich wie
der Staliener vom Deutſchen“ und erinnerte ihn „in ganz frappirender Weife”
an „den mir wohlbefannten Argentinier”. Wenn der Auffichtrath; der Disfonto=
gejellichaft auch bei diefer Stelle nicht unter ber Wucht der ihm zu Theil ge-
wordenen Belehrungen zufammenbrad, dann beſaß er überhaupt keine Nerven...
oder er hörte nicht zu. Der Herr Doktor hat aber feinem Erfennerdrang aud)
nach der eben erwähnten Errungenfchaft noch feine Zügel angelegt. Er wollte
das amerifanijche Xeben bis auf die Neige Eoften. Ihm follte es ſich in den
geheimften Tiefen offenbaren und er war fejt entichlofien, nicht Heimzufehren,
ehe ihm das Yankee⸗Orakel alle Fragen beantwortet hätte, die ein Wallenjtein
78 Die Zutunft.
der Yinanz am Vorabend eines großen Ringens noch zu ftellen dat. So ging
er bin, ergriff eine Laterne und fuchte nach einem amerikaniſchen Peſſimiſten.
Ich nehme an, dab in der Doftorlaterne Petroleum des Standard Dil Truft
brannte; die Beleuchtung wird aljo wohl tadellos gewefen fein. Trotzdem war
das Ergebniß des Forſchungzuges volllommex negativ. „Ih kann fagen, daß
ich wirklich mit der Laterne nad einem Peſſimiſten geſucht babe, ohne ihn zu
finden; zwar wurden mir auch ſolche namhaft gemacht, doch ſtets ‘zeigte ſich
ihon nach kurzer Unterredung, dab diefer Pelfimismus einer Prüfung nicht
Stand hielt.“ Wohl den Aktionären einer Bank, wo ſolche Grünblichleit in
ber Behandlung ber allerwidtigiten Themen zu ben Ueberlieferungen bes Haufes
gehört! Dem Löblichen Eifer, ber fich dabei zeigte, wird wohl auch ber prubeite
Theilbaber des Gejchäftes verzeihen, daß Herr Doktor juris Salomonſohn ſelbſt
por der heiklen, aber bedeutjamen Trage nach den Fortpflanzungverhältniſſen der
Amerikaner nit Halt madte und zu Protokoll erklärte, daß die moberne ame:
rikaniſche Frau eine zunehmende Abneigung befunde, ihren natürlichen Beruf
als Mutter zu erfüllen. Shocking, aber wahr. Wenn die Männer, bie Gelegen-
beit Hatten, den Bericht des Direktor aus erfter Hand entgegenzumehmen, aus
diejer Enthüllung nit das Kapital zu fchlagen verftanden, das börfenmäßig
aus ihr zu holen war, jo beweift diefe Thatſache aufs Neue, daß bei ber Dis⸗
tontogejellichaft ftet8 nur der Sache um der Sade willen, niemals einem auch
noch jo entfernt unlauteren Zwede gedient wird. Wortkarge, projaifche Na⸗
turen wie Herr von Hanjemann haben Herrn Salomonfohn vielleicht übelgenommen,
daß er an einzelnen Stellen — wie da, wo er von ben „hohen Bergen von
Kiiten und SKaften in den Straßen“ oder von den „80000 Schweinen und
80000 Rindern in den Schladhthäufern von Chicago“ ſprach — in einen Stil
verfiel, der an manche jchöne, aber poetilche Seite aus „Soll und Haben’ ge-
mahnte. Aber auch Herr von Hanfemann mußte fi durch die imponirende
Sicherheit reichlich entichädigt und verſöhnt fühlen, womit Direktor Salomon»
fohn aus feiner Amerilareije das Fazit zog, daß „meines Erachtens mit einer
Fortdauer der günftigen Lage der amerikaniſchen Induſtrie für einige Zeit zu
rechnen jet. Das war vor wenigen Monaten. Seitdem iſt der Rückſchlag in
der amerifanijhen Induſtrie allen Augen fihtbar geworden. Das thut aber
nichts zur Sade. Nicht fo fehr auf die Nichtigkeit wie auf die Beſtimmtheit
der Meinung kommt es in wirtbichaftliden Dingen an, wenn man vom finan-
zielen Standpunkt aus an ihre Betrachtung geht. Und an Beftimmtheit, da⸗
neben auch an unbedingt Überzeugendem Lokalkolorit, ließ es Herr Doktor juris
Salomonjohn nicht fehlen: Die ftarfe Hiftorifche Aber, die er bejigt, verbot ihm
zu feinem Glüd übrigens, fein Diktum ohne eine weiſe Einfchränfung zu laſſen.
Aus dem Born diefer Ader jhöpfend, fügte er hinzu: „Daß dieje Situation
nicht ewig dauern kann, lehrt die Geſchichte aller Völker.” Und wenn Herr Salomon⸗
john von der Geſchichte aller Völker fpricht, fo ift Das Leine bloße Redensart.
Er weiß, was er jagt. Das zeigt der Nachſatz: „Die fieben fetten und die fieben
mageren Jahre der biblifden Geſchichte wiederholen ſich allerorten.”
Berichte wie diefer — und feine Art blieb durchaus nicht vereinzelt, wenn
auch andere durch ein ſchweres Aufgebot ſtatiſtiſcher Artillerie der leichten Reiterei
der Gedanken eine befjere Dedung zu geben verjuchten — waren natürlich ge-
Falſche Propheten. 79
eignet, der Welt deutichen Handels und Gewerbes endlich die Augen zu Öffnen.
Set, da man aus dem Munde jo kompetenter Beurtheiler darüber untere
richtet war, was ein amertlanifcher Dandy mit feinen Yingernägeln und Hühner:
augen madt, da der Urgrund der amerikaniſchen Hochkonjunktur in die Be—
leuchtung der Laterne Salomonjohns gerüdt, Die Ueberfüllung der amerikanifchen
Schlachthäuſer mit Rindern und Schweinen und die der Cityſtraßen mit Kiften
und Kaſten als unumftößliche Thatjache feitgeitellt war, — jet erit erfannte
man Amerikas Größe, aber zugleich mit der Größe auch die Unmöglichkeit, daß
ſolche Rieſenmacht in der nächſten Zeit dahinfchwinden fönne. Und faum war
diefe Erfenntniß gereift, da kam das nicht mehr länger Bermeidlicde: die ameri⸗
kaniſche Eijen- und Stahlinduftrie gerietd ganz offen ins Rutſchen.
Ich babe mic in den legten Tagen oft gefragt, ob ſich Hinter den unzeit⸗
gemäßen Berfuchen angejehener Deutichen, die amerikaniſche Projperität zu ver⸗
herrlichen, nicht etwa doch ein tieferer Sinn verberge. Jedenfalls war bie Wirkung:
fo vortHeilhaft für das heimiſche Wirthichaftleben, daß man verſucht fein fünnte,
an eine großangelegte Aktion macchiavelliftiichen Gepräges zu glauben, — wenn
man unter den Betheiligten nicht vergebend nah einem Talent vom Schlag
Macchiavellis ſuchen müßte. Die Thatſache, ba Amerifas Wohlſtand von deutſchen
Autoritäten noch zu einer Zeit gepriefen wurde, wo ſchon der heftige Kursrück⸗
gang aller amerilaniihen Börfenwertde die Furcht vor einem wirthichaftlichen
Bufammenbrud der Union erregen mußte, bat bewirkt, daß unfer Publikum.
gegenüber den erften, faum mehr mißzuverftegenden Meldungen aus Pittsburgh,
durch die der Abjchied von der guten Konjunktur befiegelt wurde, in fait ſtoiſcher
Ruhe verharrte. Diefer erfte Eindrud aber war enticheidend. Das Publikum
Tieß fich nicht nur nicht einſchüchtern — es hielt nicht einmal den Athen an —,
ſondern kaufte und bejtellte weiter, blieb bei feiner Gefchäftöfreudigkeit und Unter:
nehmungluſt und zeigte das vollfte Vertrauen zur Lage des heimiſchen Marktes,
dem, davon war es überzeugt, Fein fremder Einfluß, aud feine amerikaniſche
Krifis Etwas anhaben fünne. In diefem Glauben hat die Bevölkerung, und
zwar ihr konſumirender wie ihr produzirender Theil, nicht geirrt; nad den
Prophezeiungen konnte e8 aber auch anders fommen und zu beklagen wäre ge-
wejen, wenn die unerwartete Erregung das Publikum zunächſt auf einen falichen
Weg gedrängt hätte, von dem e3 erſt nad) großen, überflüſſigen Opfern wieder
zurüdfinden fonnte. Richtig war die Annahme, daß der amerifanijche Rüdgang
das neu erwachte Leben der deutſchen Induſtrie faft gar nicht berühren werde.
Bon der jelben Seite, die den amerikaniſchen Wohlitand der legten Jahre bes
Barrlich als Reporterlüge denunzirte, warb 1900, als in Deutichland die Wendung
zum Scledteren fam, eine Hungerfrift von fieben — jage und jchreibe: fieben —
Jahren für die deutſche Induſtrie in Ausficht geftellt. Diefe altteftamentarijche
Theorie wurde aber jchon im vorigen Herbit durch die Praxis ind Wanken ges
bracht und der Berlauf ber legten zwölf Monate hat ihr endgiltig den Garaus
gemadt. Der Wachsthumsdrang Deutichlands und auch anderer Ränder hat fich
jtärfer erwielen als alle noch jo fein auf dem Papier erflügelten Gegenbe-
rechnungen. Und nun müſſen die Kaflandren, die fich vier Jahre lang die Hälſe
über das Unheil wund geichrien haben, das über Deutfchland hereinbredden müfle,
fobalb die Hocfonjunftur in Amerika auch nur zu weichen beginne, den unjag«
s
80 Die Zukunft.
baren Schmerz erleben, mitanzufehen, daß es der deutſchen Induſtrie und fogar
dem deutfchen Aktienmarkt vortrefflich ergeht. Seit dem Frühling des Jahres
1900 war die Stimmung bei uns niemals fo zuverſichtlich wie gerade jetzt, troß-
dem Amerika ein Stüd nad dem anderen von feinem &lorienmantel verliert
und trotzdem fich an Betriebseinftellungen großer Werke, an Arbeiterentlafjungen,
an Herabjegungen von Löhnen und Preijen zeigt, daß, was imper auch unfere
Geheimräthe und Direktoren von Amerika zu erzählen wußten, die Bereinigten
Staaten bod nur, gleich den europäiſchen Staatsweſen, ein Land mit begrenzten,
nicht mit unbegrenzten Möglichkeiten find.
Die armen Unheilspropheten! Erſt warteten fie Jahre lang auf den Krach,
der nicht fommen wollte. Seht iſt er gelommen und fie fchicten ſich fchon an,
zu triumphiren; denn bie Stleinigkeit, daß fie fi im Zeitpunkt um einige Jähr⸗
chen verrechnet haben, ficht fie nidgt an. Aber fiche da: der Krach will nicht krachen.
Das nennt man Pech. Gehet Hin zu Goethe und lernet betradten! Dis.
u
Ein Brief.
Se geehrter Herr Harden, in der Aera ber „Erklärungen, die unter meinen
Parteigenoſſen nur jo Hin: und herfliegen, will auch ich nicht im Verborgenen
blühen. Ich befleide fein Ehrenamt in der ſozialdemokratiſchen Partei, ich habe als
Akademiker meinen llebergang zu ihr einjt nicht urbi etorbi in Brocduren oder Zei⸗
tungartifeln der ſtaunenden Mitwelt verfündet, ſondern mich als einfachen Mitjtreiter
geräuſchlos in die Schlachtreihen geftellt; ich laſſe mich nichtin dies oderjenes Schub:
fach einfchachteln und bin weder „Marxiſt“ noch, Reviſioniſt“, fondern Sozialdemos
trat. Als folcher ſpreche ich auch an diefer Stelle und erachte es als meine Pflicht,
der Wahrheit zur Ehre, in Nebereinftimmung mit anderen geiftig intereffirten Bars
teigenojjen, zu erflären, daß die Entjchließung des Parteitages in Bezug auf die
Nitarbeiterichaft an bürgerlichen Zeitfchriften, insbefundere der „Zukunft‘‘, als eine
im höchſten Maße verfehlte und darum bedauerliche bezeichnet werden muß. Gerabe
die, Zukunft“, deren Herausgeber mit einer bei temperamentoollen Bubliziften viel-
leicht einzig dajtehenden Toleranz fie zu einem Sprechſaal für die verfchiebenartig«
ften Anfichten mujtergiltig ausgeitaltet Hat, mußte Sozialdemofraten für Dars
legungen ihrer Anſchauungen nach wie vor durchaus willfommen bleiben. Die Ge
noſſen, die in einer Zeitichrift, wie es die, Zukunft“ im Hinblick auf ihre Verbreitung
und die Art ihres Lejerkreijes ift, die Ideen der fozialiftiichen Drafjenbewegung zu
propagiren vermögen, leilten diejer kaum geringere Dienfte als die nur in partei«
amtlich geaichten Blättern fchreibenden. Wie aljo die jogenannte Disziplin, bie in
gewiſſem Grade für eine große Partei unentbehrlid) ift, einen foldhen Bann über
die „Zukunft“ rechtfertigen folle, bleibt unerfindli. Da die Sozialdemokratie von
ihren Jüngern heiſcht, ihre Anfichten an jeder nur möglichen Stätte zum Ausdrud
zu bringen, darf der Beichluß des Parteitages nimmer gutgeheißen werben. Daß
Die rothen Primadonnen. 8l
er aud durch die heftigen Angriffe auf Ihre Perſon nicht beiler wird, braudt ja
nicht erst befonder3 betont zu werben. Es wäre unfchidlich, in dem von Ihnen ges
leiteten Blatte jelbit über diefen Punkt fich näher auszulaffen. Nur fei gefagt, daß
es Sozialdemokraten giebt, die e3 Heilig mit ihrer Parteipflicht nehmen und fi} ba-
bei nicht ſcheuen, auch in fchroffem Gegenſatz zu vielen Ihrer Anſchauungen Ihre
Publiziftenarbeit als eineder wenigen erfreulichen Erſcheinungen unferes öffentlichen
Lebens zu bezeichnen. Das gerabe jeßt franf und frei herauszufagen, ift ber Zwec
dieſer Zufchrift. Da es für die Sozialdemofratie fein ökumeniſches Konzil giebt,
muß aud) der Parteitag der rüdhaltlofen Kritik der einzelnen Genoſſen unterliegen.
Und wenn es ſich jelbjt um einen mit „großer Mehrheit" gefahten Beſchluß handelt,
jo gebietet eben die Wahrheit, zuerflären, daß die Majorität in ſchweren Irrthümern
eine gefährliche Entſcheidung getroffen bat.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
Victor Fraenkl, Rechtsanwalt.
Die rothen Primadonnen.
Piner ber freiſinnigen Rundreiſeredner ſoll, als er eben von einem Wahlfeldzuge
für einen kandidirenden Parteigenoſſen zurückkam, den harrenden Fraktion-
vettern ſtatt anderer Begrüßung die Worte zugerufen haben: „Wie einen König hat
man mich gefeiert!" Vergeſſen war der unglückliche Ausgang der Redeſchlacht, ver⸗
gefjen die Wahl des fonfervativen Gegners; nur an den perjönlicden Triumph be-
wahrte das parlamentariſch geſchulte Gedächtniß Liebendes Erinnern. Die Gefhichte
ift vieleicht nicht wahr, doch ficher gut erfunden; denn fie beleuchtet jehr luſtig die
Birtuofengefühle, die den commis voyageurs der öffentlichen Meinung auf ihren
Saftipielfahrten durh „Stadt und Land“ anerzogen werden. Wie der virtuofe
Schauspieler allmählich jede Rüdficht auf den Dichter, dem er doch dienen foll, ver-
lernt, fo tritt für den virtuofen Agitator jchließlich jedes Intereſſe hinter die Freude
an der befriedigten Eitelkeit zurück: ohne nach dem praftifchen Erfolg viel zu fragen,
läßt er den Jubelſchrei erfchallen: „Wie einen König hat man mich gefeiert!" Dieſe
Erfahrung hat man auch im fozialdemofratijchen Heerbann fchon gemacht und deshalb
wurde auf dem Barteitage ber deutichen Sozialdemokratie das hübſche Wort von den
„Partei-Primadonnen“ mit verftändnißvoller Heiterkeit begrüßt. Hoffentlich nimmt
ein Witzblatt, ber Kladderadatſch oder die Luſtigen Blätter, fi) der Sache an und zeigt
unsLiebknecht al3 beweglich Flagende Mezzoſopraniſtin, Bebel als Dramatifche, Singer
als prächtig gepußte Stoloraturen-Sängerin, benen die Herren Auer, Fiſcher und
Stadthagen ald Bertraute dam zur Seite treten mögen.
Das Star-Syitem, von dem unfere Theater fich zu befreien ſuchen, hat na-
mentlich in den links ftehenden politifchen Parteien recht hübſche Fortſchritte gemacht
und die bewährteften Zugfräfte find ſchon längft nicht mehr in der Lage, allen Gaſt⸗
82 Die Zutunft.
jpielanträgen, die an fie ergehen, Folge leiften zu können. &3 fehlt überall an Ra ch—
wuchs und deshalb bleiben die Alten in ungeſchmälertem Nollenbeits, fo.lange fie
noch einen Ton in ber Kehle haben. Die erite Folge davon ift, baß an bie Stelle
begeijterter Ueberzeugung eine handwerkmäßige Routine tritt; und die zweite, daß
bie Koryphäen in immer bebenklichere Abhängigkeit vom Lieben Publikum geratben.
Beide Erſcheinungen haben ſich auch auf dem Parteitage der deutſchen Sozialde m o⸗
kratie gezeigt, für deſſen langwierige und meiſt langweilige Verhandlungen kaum
ein paſſenderes Motto zu finden fein dürfte als die Sätze, die in Shakeſpeares Heinrich
dem Sechsten Hans Cade zu ſeinen Getreuen ſpricht:
„'s iſt für die Freiheit, zeigt Euch nun als Männer:
Kein Lord, kein Edelmann ſoll übrig bleiben;
Schont nur, die in gelappten Schuhen gehn,
Denn Das find wackre, wirthichaftfiche Leute,
Die, wenn fie dürften, zu uns überträten.“
Die Lohnſchreiber — es giebt auh proletariſche —, die mit aufgeblajenen
Baden dem fozieldemofratiihen Parteitage ſchmetternde Yanfaren vorausjandten,
werden nun doq in einiger Verlegenheit fein, wenn fie erklären follen, was denn gar
jo Großes vollendet wurde. Den Irrthum dürfen fie nicht zugeben, denn das Weien
und die Gefahren der Lohnſchreiberei beitehen ja eben darin, daß unter allen Um«
jtänden der zahlende Auftraggeber gelobt werden und jeinem perjönlichen oder partei=
lichen Intereſſe eine Kerze verbranntwerden muß. Auch die rothen Brimabonnen Haben
ihre Claque, auch ihnen Lügen, fo oft fie die Bretter verlaſſen, eifrig klatſchende Hände
Erfolge vor. Dem von Gunft und Haß nicht getrübten Blid aber muß das Ergebniß
biejes Parteitages außerordentlich gering erjcheinen und es unterliegt feinem Zweifel,
daßdiejes Urtheilinsgeheim auch von den ſozialdemokratiſchen Führern beftätigt wird.
Aber auch dieje Bartei,dieangeblichdocdh von der heutigen &efellichaft nichts erwartet und
nichts wänjcht und die deshalb auch weder Kompromiſſe zu ſchließen, noch „Rechnung
zu tragen brauchte, hat von den Taktiken und Praftilen der Zunftpolitifer ſchon
fo viel angenommen, daß man zwiſchen den Zeilen zu lejen verftehen muß, um ihre
wahren Stimmungen zu erkennen.
Die Fehde, die zwiſchen den Herren Liebknecht und Vollmar über die
Stellung zum Staatsjozialtsmus ausgebrochen war, ift durch eine Refolution bei«
gelegt worden; und eine Rejolution Hat jih auch mit dem Antijemitismus bejchäf-
tigt, der eigentlih in einer Nede Bebels und in einer daran zu Inüpfenden Dis:
kuſſion behandelt werden ſollte. Wer die Pſychologie der Parteien nur einiger
maßen fennt, Der weiß, daß Nefolutionen meijtens von der Verlegenheit einge
gebene Balliativimittel find. Herr von Bollmar ift und bleibt den norddeutſchen Pri⸗
madonnenverhaßt,weil er fich gar zu freimüthig als Boflibiliften befennt und damit
dem durch die Wiühlereien der, ‚Unabhängigen‘‘ erregten Mibtrauen der Maſſen nene
Nahrung giebt; die Größe feines Anhanges innerhalb der Partei nimmt aber ben
führenden Genofjen doch den Muth, offen gegen ihn vorzugehen. Und der Antije-
mitismus bat unter den Sozialdemofraten fo rapide Fortſchritte gemacht, daß
man ernſtlich befürchten mußte, in der Debatte verſchämte oder laute Ahlwarbtereien
zu erleben; deshalb wurde diejer interejlantefte Punkt der Tagesordnung vorfichtig
umgangen. Offiziell wird Das natürlich mit nachdräücklichſter Entſchiedenheit be=
Die rothen Primadonnen. 88
ftritten, in Privatgejprächen aber geben ſelbſt die eifrigften Genoſſen es achſelzuckend
zu. Vollmar bat eben feine Gruppe und Singer, der fein Bermögen der Bartei ver
macht haben foll, ift ein noch viel mädhtigerer Mann; Beide ftügt außerdem noch
bie Befürchtung, durch ihren Sturz könnten die Herren Bebel und Liebtnecht allzu
mädtig werden. In diefem Knäuel perfönlicher Erwägungen und Rivalitäten ift
Tchlieglich für die „Sache” faum nod irgendwo Plab. |
Das größte Auffehen hat die Debatte über den „Vorwärts“ erregt und ber
Ausſpruch des Herrn Liebknecht, die Redakteure müßten vor dem Parteitage ftehen
wie „Indianer am Pfahl“. Wahrjcheinlich wollte Herr Liebknecht fagen, wie die
Weißen am Pfahl ber Indianer. Das mochte ihm aber zu unhöflich Tlingen. Unb
doch iſt die Gereigiheit des alten Herrn fehr begreiflich; denn die Thatſache, daß er
als Leiter des fozialdemofratifchen Gentralorgans ein Sfahresgehalt von 7200 Mark
bezieht, tft jeit Monaten dazu benußt worden, den ergrauten Führer offen und ver
fteckt anzufeinden. Immer wieder famen aus dem Abonnentenfreife Briefe, die
Auskunft darüber verlangten, ob denn wirklich ein ſolches „Miniſtergehalt“ bezahlt
würde, und ein fehlagfertiger Redakteur gab fchließlich einem der Neugierigen im
Brieflaften die Antwort: „Wenn Sie ben Betreffenden etwa anpumpen wollen, find
Sie an den Unrechten gekommen!“ Das thörichte Gerede war durch die veriverfliche
Taktik der Unabhängigen aufgebracht worden, die dabei ganz ſchlau mit den Eigen»
thämlichkeiten der proletarifchen Ethik gerechnet hatten, mit ber Anfchauung, daß der
Verſuch, fi auf unrechtmäßige Weile zu bereichern, eigentlich das einzigeunverzeih-
liche Verbrechen ift. Brutalitäten und Unfittlichfeiten im Sinne des bürgerlichen
Geſetzes werben in diefen Kreifen unendlich viel leichter vergeben als ein unlauteres
Streben nad) Dem, was hier immer und überall fehlt: nad Geld und Gut. Nun
tft e8 ja ar, daß Herrn Liebknecht ein folder Verbacht nicht einmal von fern
treffen Tann; er ift im Vergleich zu feinen Chef: Stollegen fogar ſehr ſchlecht bezahlt,
denn der Freiherr von Hammerjtein erhält 24,000 Marf und Herr Levyſohn
18,000 Mark im Jahr. Aber die fozialdemofratifche Bartei hat dem Unverftänd«
niß der Maffen ſchon zu oft nachgegeben, fie Hat die Lohnſätze für geiftige Arbeit
allzu willfährig herabgeſetzt, ald daß fie über den neuften Anſturm fich verwun⸗
dern dürfte. Wenn ein Mann, der die „Ropfarbeiter” beichimpft, in ben Vorftand
der Freien Volksbühne berufen, wenn den HBöglingen dieſes pädagogijch ge—
planten Unternehmens ſchwarz auf Weiß das Recht zugeſprochen wird, über lite»
rorifhe Werke in legter Inſtanz abzuurtheilen, dann ift es nur jelbftverftänd-
lich, daß die Männer der ſchwieligen Fauſt am Ende glauben, die Arbeit des
Herrn Liebknecht jei „ein Bappenftiel“ und könnte bequem in billigen Tagelohn ver-
geben werben. Anftatt Das nun aber rüdhaltlos auszufpreden, erging Herr Lieb-
knecht fich in den unglüdlichiten Motivirungen; was Coriolan zu thun verfchmähte,
Das that er: vor den gerührten Quiriten führte er feine Wunden fpaziren, ſprach
von der Nothwendigkeit, für feine Söhne zu jorgen, und erklärte endlich, nachdem
er kurz vorher doch die Selbjteinihäßung für geiftigen Kapitalbeſitz verworfen Hatte,
nicht er verdiene an der Partei, ſondern die. Bartei verdiene an ihm.
Da ift nun ein freundlicher Irrthum, den uns das Toben der Claque ver-
ftändli macht. Die Primadonnen erfahren immerzulegt, daß fie Runzeln und Fett⸗
anſatz haben, und Herr Liebknecht weiß ganz gewiß nichts davon, daß auch bie ihm
am Nächten Stehenden mit feiner redaktionellen Thätigfeit äußerft unzufrieden find.
84 Die Zukunft.
Auch ein Gegner der Sozialdemokratie Eonnte früher mitunter feine Freude an der
bandfeften Deutlichteit haben, mit der im ‚Vorwärts“ gegen bourgeoife Heuchelei
und liberale Korruption zu Yelde gezogen wurbe. Durch allerlei perfönliche Einflüſſe
aber und durch die Unkenntniß des journaliſtiſchen Großbetriebes, die ber neue alte
Herr aus Leipzig mitbradhte, ilt das Gentralorgan fo gründlich nad) und nad) ver—
wandelt worden, daß es fich heute den Zorn und die Geringſchätzung der Genoſſen zu⸗
gezogen hat und daß Herr von Bollmar unter beiterem Beifall jagen durfte, alle Vor⸗
würfe, die man dem „Vorwärts“ gemacht Habe, feiern nocd gar nichts im Vergleich
zu denen, die man ihm zu machen berechtigt wäre. In der That unterfcheidet ſich
das Blatt eigentlich nur noch dadurch von anderen ſchlechten Blättern, daß es
feine Nachrichten bat, von den fulturell wichtigen Ereigniffen faum Notiz nimmt,
und in einer rüden und Inotigen Sprache ſchwelgt. Im Uebrigen wird gelogen, ver-
leumdet, entftellt und totgefchiwiegen, ganz wie... .. anderswo. Und Das wiflen Alle,
aber jelten nur wagt Einer, den Parteibann zu brechen und offen das Ding beim
Namen zunennen; verjtohlen nurtufcheln fie einander zu: „Deralte Liebknecht kanns
nicht, ein Ruhegehalt nimmt er nicht an und die Partei muß ihn deshalb im Amte
behalten.” Dan muß jchon die jozialiftifchen Weihen empfangen haben, um für ein
ſolches Catonenthum, das lieber die wichtigfte Agitation jchädigt, als daß es mit
wohlverdienter Benfion ſich zur Ruhe ſetzt, Verſtändniß oder gar Bewunderung auf»
dringen zu fönnen. |
Indeſſen trägt Herr Liebknecht nicht etwa allein die Schuld. Es wandert da
nod eine Preßkommiſſion herum, an deren Spitze natürlich Herr Singer fteht, und
bie ängitlich darüber wacht, dab nur ja jede Bejchwerde jedes Parteigenoſſen proto=
folirt wird und in jedem Streit eined Unternehmers mit feinem Arbeiter dem
Unternehmer ordentlich Eins auf den Kopf gegeben wird. Nun haben bekanntlich
jelbft Unternehmer mitunter Recht; aber Herr Singer ift ein. ftrenger Herr und
ſeufzend müſſen die Redakteure nachgeben, oft genug gegen ihre Ueberzeugung. Eine
Beitung, die nad) perfönlichen oder parteilihen Intereſſen geleitet wirb, kann eben
immer nur jo lange anjtändig und ehrlich fein, wie es die perjönlichen oder partei:
lichen Intereſſen geftatten; ob ein annoncenfüchtiger Verleger oder eine demagogiſch
um den Dtafjenbeifall bublende Kommiſſion den Gewiſſenszwang übt: Das ändert
an dem Refultat nicht das Geringite. Gut jchreiben und mit dem Gefchriebenen
nachhaltigen Eindrud machen kann man nur, wenn man völlig frei ift und von Fall
zu Fall nach beftem Ermeſſen prüfen darf, 9 das Recht ift und wo das Unrecht. Die
foztaldemofratijchen Zeitungjchreiber find aber zum größten Theile gerade folche Kulis
wie ihre bourgeoijen Kollegen; ſyſtematiſch werden fie zurStlopffechterei erzogen, und
wenn fie, mit noch blutigen Händen, vom Morden der Bourgeoiftie fommen, dann
jegen fie fi) mit den VBorfämpfern diefer Bourgeoifie um ben Biertopf herum und
find die beiten Freunde von der Welt. In beiden Lagern fechten Söldner und bie
genarrtenZejernehmen die Geſchichte eruft, während die Wütheriche doch, nach einem
Worte Leſſings, oft genug wie die Fleiſcherknechte reifen.
Die liberalen Ganzklugen haben zu dem Parteitage behaglich geſchmunzelt
und aus dem Gehege ihrer Zähne dann bejonders meije Betrachtungen herausſchickt.
Erfteng, jagten fie, find Das feine Arbeiter, die hier tageır; für den Mancheftermann
ijt ein Arbeiter ohne Hohle Wangen und zerlumpte Kleider überhaupt nicht denkbar;
der Mancheſtermann baut zwar mit beicheidenem Profit Arbeiterwohnungen, aber
Die rothen Primadonnen. 85
er weiß nicht, daß ber Induſtriearbeiter darauf Hält, bei feitlichen Gelegenheiten
ſchmuck und fauber zu erfcgeinen. Darin meinten fie: „Dieſe Leute wollen die Welt
umgeftalten und haben nicht einmal bie nöthigen Kräfte, um eine ordentliche Zeitung
zu machen!” Das ift wieder ein Irrthum, denn mit ganz verihwinbdenden Ausnahmen
find heute alle Kournaliften Sozialdemokraten und in Schaaren würden fie, troß
Singers Preßmaſchine, der Bartei des Umſturzes zulaufen, wenn dieje fie nur aus⸗
kömmlich bezahlen wollte. Drittens fagten die liberalen Herren: „Sieb, fieh, die
einſt fo wilde Sozialdemokratie tft ja ganz janft geworden! Wir haben es ja immer
gejagt, nur keine Gewaltmaßregeln, nur feine Aufregung, laissez faire, laissez
aller, Alles wird fchon gut werden.” Und Das ift der dritte und ſchwerſte Irrthum.
In ber harten Schule des Sozialiftengefeges haben die jeigen Führer einige
Refignation gelernt; fie find alt und müde, möchten Ruhe haben und legen fi, ut
aliquid flat, aufs Prophezeien. Nur bei ganz bejonders feierlichen Gelegenheiten
wird noch die revolutionäre Walze eingelegt und die parifer Commune verberrlicht;
‘ für den Alltag muß ein bequemer Poſſibilismus aushelfen, ber mit dem Möglichen
rechnet und bei Stihwahlen mit Richter, dem Soztaliftentöter, Geſchäfte auf Gegen-
jeitigfeit abichließt. Die Mafien aber, denen man jo lange den Mund wäflerig gemacht
bat, werden ſich auf die Länge mit jo magerer Koft nicht abjpeilen laflen, ſie werden,
wenn ber Worte genug gewechjelt find, aud) endlich Thaten fehen wollen, und da bis
dahin der verjühnliche Saprivismusabgewirthichaftet Haben wird, fo kann ein ſchroffer
Bujammenftoß der feindliden Mächte nicht ausbleiben. Heute herricht in ber Sozial⸗
demofratig vielfach gefällige Routine und demagogiſche Liebedienerei; aberbie rothen
Primadonnen find alt, und wer die Vorgänge hinter den Couliſſen des Parteitages
aufmerkſam beobadjtet hat, kann fich nicht darüber täufchen, daß der Zuſchauer un.
gebuldiges Bilden und Trampeln ſchon bis zu den Sternen dringt und daß die
nächſte Debutantin die alten Lieblinge über den Haufen rennen wird, namentlich,
wenn ſie feine Hände und den trogigen Muth ber Uebertreibung hat.
% *
*
Das ift der fürchterliche Artikel, der auf dein Dresdener Barteitag mit ſolcher
Wonne am rohften Schimpfwort gejcholten wurde und der jeitdem noch immer, wie
die Erinneruug an die größte Todfündeder Apofalypfe, durch die ſozialdemokratiſchen
Blätter ſpukt. Bor elf Jahren ift er hier veröffentlicht worden. Schwere Strafthaten
verjähren in dieſer Zeit; meines Verbrechens Strafbarfeit ſcheint aber ewiglich währen
zu follen. Das Heft iſt einzeln jchon längſt nicht mehr zu faufen; deshalb wollte ich
dieſes Hauptbelaftungmaterial der Trianonanklage hier dem Blid der Betrachter
nod einmal zeigen. Deshalb ; nicht etwa, weil ich den Artikel gut finde Ich würde
in — erwareiner meiner erſten Berfuche aufdem flüftigen Gebiet politifcher Kritik —
heute nicht mehr jchreiben. Erſtens, weil die Sozialdemokratie fich wejentlich ver-
ändert bat und der „Vorwärts“ ganz unvergleichlich beffer geworden ift; zweitens,
weil ih mich in gründlichere Prüfung politifcher Vorgänge gewöhnt und die rothe
Partei näher kennen gelernt habe. Einzelnes aber dünft mich heute noch wahr: und
nicht Unwichtiges. Zum Beifpiel: daß inder Sozialdemofratie „vielfach demagogiiche
Liebedienerei herrſcht.“ Daß die Maffe fich nicht immer mit Worten abfpeifen laſſen
86 | Die Zukunft.
wird. Daß aud) die ſozialdemokratiſchen Zournaliften recht oft nicht jagen dürfen,
was fie benfen, recht oft friedlich und freundlich beim Bier mit den Schreiben der
Artikel zufammenfigen, die fie eben erſt als ſchurkiſche Ausgeburten verfommener
Dourgeoismoral gebrandmarkt haben, daß aljo der gen Himmel lodernde Zorn nicht
jtet8 ganz heilig ernſt zu nehmen ift. Richtig ober falfch : ſicher feine Anſicht, bienach elf
Jahren noch Flüche verdient. Der Primadonnenſcherz war von Sozialdemokraten jelbft
auf dem Parteitag gemacht und belacht worden; und Primadonnen nennt der Sprach⸗
gebrauch nicht, wie Herr Bebel zu wähnen ſcheint, Bänkelſängerinnen, ſondern Künſtle⸗
rinnen, bie wirklich was können, — auch wenn fie ſchon ſacht altern, eitel, herrſchſüchtig
und nach Applaus Lüften find. Im Jahr 1892, nach der Exkommunikation der, Unab-
hängigen“, gehörte Herr Bebel zu den Alten, die ihre Ruhe haben, ihre Glanzrolle be⸗
halten wollten und thörichten Radikalismus verwarfen. In Erfurt hatte er, ein Jahr
vorher, geſagt: „Die Maſſe ſchließt ſich uns nicht an, weil ſie nach reiflichem Nach⸗
denken unſere Ziele als die Ziele der Menſchheit erkennt, ſondern, weil wir die einzige
Partei ſind, die für die Arbeiter in die Schranken tritt und die Ausbeuter an den
Pranger ſtellt.“ Seitdem hat er, vielleicht, um nicht zum alten Eiſen geworfen zu
werden, ſelbſt nach der Rolle gegriffen, in der, wie ich annahm, eine neue Debutantin
die alten Lieblinge überſtrahlen würde, ift er ſelbſt der Radikalfte der Radikalen ge⸗
worden. Und wie redet er nun? Ich will nicht aus ſeinen dresdener Wuthausbrüchen
eitiren, ſondern aus dem Artikel, den er vor dem Parteitag ſchrieb. Bismarck, heißt
es da, würde fi vor Laden den Bauch halten, wenn er Bernftein ſprechen hörte.
Bollmar ift ein Schulmeifter, aber auch ein Geremonienmeifter und ein Salftaff (alfo
ein Prahlhans), der „mit unnachahmlicherWürde vom hohenKothurn herab bozirt. "Die
Fraktion fol aufdie niegezwungen werben. „Bollmar und Benofjen führen kautſchuk⸗
artige Gründe an, die für die Preisgabe aller ®rundfäge angeführt werden können“!
Bollmar, der in Kniehoſen zu Hof geht, ift „ein Töftlicher Stoff für Witzblätter“.
Die Zumuthung, Pflichten der Nepräfentation auf ſich zu nehmen, ift „bie vollen-
dete Würdelofigkeit“ ; und doch ging fievon Barteiführern aus. „Unſere Revifioniften
legen fi immer aufs Leugnen, jobald man Mare Auskunft von ihnen verlangt.”
Sie „Juden die Bartei auf die jchiefe Ebene zu drängen.“ „Man höre endlich ein-
mal in unferen Reihen mit dem Komoedienſpiel auf, immer wieder von Einigkeit
und Einheit in der Partei zu reden." Korruption alfo und Komoedie ringsum.
Wären die Zuftände wirklich jo ſchlimm, dann könnte meine Diagnofe höchſtens als
etwas verfrüht getadelt werden. Ich glaube nicht, daß fie gerade in den von Bebel
gerügten Punkten fo ſchlimm find. Wars aberunfühnbarer Frevel, daß ich, den ber, nad}
des Genoſſen Mehring Meinung, „vom Buben Schoenlank mit jeinem Gift infizirte*
alte Liebfnecht damals gräulich verleumdet hatte, 1892 ausſprach, was mir richtig
ſchien? Daß ich dem erſten Staunen eines ſoeben in die Politik verſchlagenen Kunft-
genießers ſatiriſchen Ausdrud juchte und vielleicht unglimpflicgen fand ? Ich glaube,
der alte Urtifel wird Alle enttäufchen, die Graufiges von ihm erwartet oder wenigftens
vermuthet hatten, er werde an Derbheit und Gehäffigfeit des Tones die Reden ans
deutſche Volk erreichen, die in proletarifhen Blättern täglich zu lefen find, — an
nähernd nurden Schimpffanonaden gleichen, mit denen ſeit Wochen nun fchon, der zu⸗
j ſchauendenBourgeoiſie zurWonne, biegübrer beöProletariates wider einander wũthen.
Gerausgeber und verantu. rilicher Nedatteur: Er yarden in Berti. — "ertagl der Zukunft in Berlin.
Druck von Abert Tamde in Berlin Schöneberg.
Berlin, den 17. Oktober 1903.
77001177
Roc: Dippold.
Seren eines Waaren hauſes iſt Mutter geworden. TrogdemEmil
ihr hundertmal lachend geſchworen hatte, bei ihm habe ſie nichts zu
fürchten; er kenne den Rummel und ſei nicht von geſtern. Als keine Selbſt⸗
tauſchung dann mehr Half, als ſie ihm das füße Geheimniß, wies im Roman-
ſtil Heißt, ins Ohr flüftern mußte, ward der Uebermüthige blaß; ein ftilfer
Abend und eine frühe Trennung. Daß fein Vater in folhen Sachen feinen
Spaß verftand und einftweilen deshalb nichts zu machen war, wußte jie ja.
„Alſo Kopf hoch, Bruſt'raus ... und fo weiter! Faule Kifte; aber wir wers
dens ſchon fingen.” Alles war auch glimpflich abgegangen. Im Mai Hatten die
Mãdel im Rayon die Köpfe zufammengeftedt. Enger ließ das Korſet ſich nicht
ſchnuren; und eines Tages, bei ftarfem&remdenandrang, gabseine kleine Ohn⸗
macht.Die is dran!“ Doch ſie erholte ſich ſchnell, that bis zum Geſchäftsſchluß
ſtramm ihren Dienſt und geſtand, fie habe ſich, zum erſten Mal, verleiten laſſen,
in Halenſee bis nach Ein zu tanzen. Nach und nach kamen dieböfen Zünglein
zur Ruhe. Und Emil hatte einen famoſen Einfall. „Wozu find denn die blöd»
finnigen Reformleiderda? M.W. Fagon Regentonne.“ Sogings; und Ende
Auguft agder vierzehntägige Urlaub geradegünftig. Fünf Tage Berfpätung:
ber gemüthliche alte Doktor hatte dieVerftauchung des linken Fußes gern bes
ſcheinigt. Fräulein war emfig und die Kundfchaft hatte nicht zu Magen. Das
Kind war in dem Randftädtchen geblieben; bei der würdigen Dame, die es
— „Diskretion Ehrenſache!“ — dem Schoß der Mutter entbunden hatte.
Auf Emils Rath. „Sonft vennfte jeden zweiten Tag hin, die Bande riecht
Lunte und Dufliegftaufs Pflafter." Die Haltefrau verpflichtet fich, jeden DIo>
nat mindeftens einmal Bericht zu erftatten. „Sie find doch an keine Engel:
7
88 Die Zukunft.
macherin nic) gelommen.” Der Doltor verfpricht, von Zeit zu Beit nad) dem
Rechten zu jehen. Auch lebt eine Freundin im Drt. Die meldet im OÖftober,
das Kleine fehe nicht befonders aus; fie wolle gewiß nicht hegen, aber das
ewige Wimmern könne Einem das Herz abdrüden und mit der Sauberkeit
jeis nicht allzu weither. Am felben Abend noch muß Emil fich hinfegen und
an den Doktor jchreiben. „Damit die liebe Seele Ruhe hat: eingejchrieben.“
Antwort: Unfinn; mit dem Würmchen fei ja noch nicht viel Staat zumachen,
aber wir Haben ſchon fümmerlichere durchgebracht, und wer von Vernach⸗
läjfigung rede, lüge in feinen Hals; die Freundin habe fich mit der Koſtfrau
verzankt und finde ſeitdem plöglich Leinen guten Faden mehr anihr. „Na
alfo! Wieder mal unnüt alarmirt. Sei friedlich und komm ins Apollo.“
Der Novemberbericht lautet günftig. „Dein Oskar holt jeden Morgen bie
befte Milch ; und überhaupt...” Zwiſchen Weihnachten und Neujahr kommt
die Todesnachricht; auf einer Poſtkarte: „Soeben fanft im Herrn entſchla⸗
fen. Näheres brieflich. Bitten Anweifung für Begräbnißfoften; auch wegen
dem Sarge. Wir find Alle untröftlich.“ Der junge Arzt, der während
der Feſtwochen den alten vertritt, macht mit dem Zotenfchein Schwierig.
keiten. Die Obdultion ergiebt: völlig ungenügende Ernährung, Mangel an
nothdürftigfter Reinlichkeit, Anwendung von Schlafpulvern; unmittelbare
Zodesurfache: Zuführung verdorbener Mil) und als Folge Brechdurch⸗
fall, die der geichwächte Organismus nicht mehr zu überftehen vermochte.
Die Staatsanmwaltfchaft erhebt die Anklage auf Grund des 8 222
SGB: „Wer durd Tahrläffigfeit den Tod eines Menfchen verurfacht,
wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren beftraft. Wenn der Thäter zu der
Aufmerkjamteit, welche er aus den Augen fette, vermöge feines Amtes, Bes
rufes oder Gewerbes bejonders verpflichtet war, fo kann bie Strafe bis
auf fünf Jahre Gefängniß erhöht werden.” Die Haltefrau wird verhaftet.
Senjation im Städtchen. Unter zweihundert Klatſchereien wird der Behörde
auch die Gejhhichte von dem Alarmbrief der Freundin zugetragen. „Sie
haben die unverehelichte Runge aljo gewarnt?" „Jawohl, Herr Richter.”
„Eindringlich?“ „Jawohl, Herr Richter.“ „Mit dem Hinweis auf bie für
Leib und Leben des Kindes drohende Gefahr?” „Jawohl, Herr Richter.”
„Und trogdem hat die Mutter nicht Veranlafjung genommen, ihr Kind in
Sicherheit zu bringen?‘ „Nein, Herr Richter; fiehatmir’nen pilirten Brief
geichrieben.” „Worauf führen Sie dies unmenfchliche Verfahren zurück?“
„Bott, Herr Richter, Die ging mit Einem und da hatte fie wohl mehr ihr
Bergnügen im Kopf; ſchon als Kind war fie immer für Theater und ſo was.“
Koch⸗Dippold. 89
„Da Sie Ihre Pflicht in vollſtem Maß erfüllt haben, brauche ich Sie auf
die Heiligkeit des Eides nicht ausdrücklich hinzuweiſen. Es wird Ihnen, wie
ich ſehe, ſchwer genug, eine Jugendfreundin zu belaſten. Gerichtsſchreiber,
nehmen Sie zu Protokol: Ich kenne die unverehelichte Runge von Kindes⸗
beinen an und wir find bis zu dieſer Stunde befreundet. Doch muß ich
der Wahrheit die Ehre geben und, nachdrücklich auf die Heiligkeit des Zeugen⸗
eides hingewieſen, ausſagen, daß ſie ſchon in der Schulzeit durch boden⸗
loſen Zeichtfinn oft Aergerniß erregte und ich mich nicht wunderte, als ſie ſich
in Berlin fpäter einem lübderlichen Lebenswandel ergab. Als ihre Unzucht
Folgen hatte, kam fie hierher und fand bei der Mohr Aufnahme, einer längft
der Engelmacherei verdächtigen Frauensperfon, die fie, ohne nähere Er⸗
tundigungeinzuzichen, Tediglich auf Grund eines Beitunginjerates, als Koſt⸗
tinderpflegerin wählte. Ich muß hier noch betonen, daß die Runge fich nicht
Ihämte, ſich inunferer Stadt öffentlid) im Zuftande höchſter Schwangerfchaft
mit dem Genoffen ihrer Unzucht zu zeigen. Ihre Kleidung war fo, wie man
fie bei Zuftdirnen finden ſoll. Ste wäre alfo in der Lage geweſen, auskömm⸗
lich für ihr Kind zu forgen. Auf meinen Brief, der ihr meldete, das Kind
jei in größter Gefahr und werde nicht am Reben bleiben, wenn eß nicht ſchleu⸗
nig von ber Mohr weggenommen werde, hat fie mir frech geantwortet: ich
wolle nur wieder Stänlereien machen und ihre Angft einjagen; das Kind
tönne gar nicht beſſer aufgehoben fein. Da ich die Briefe der Runge meinem
Bräutigam verheimlichen mußte, wurben fie gleich verbrannt und kann ich
fie deshalb nicht an Gerichtsftelle ſchaffen. Ich muß aber verfihern, daß fie
auf mich-den denkbar jchlechteften Eindrud machten und ich mir ſchon da—
mals jagte, die Runge müſſe nicht das geringite Muttergefühl haben. Na⸗
mentlich ift mir peinlich aufgefallen, daß fie in der Antwort auf meineWar-
nung weitſchweifig von einem vergnügten Abend erzählte, den fie mit ihrem
Unzuchtgefährten in einem jogenannten Zingeltangel verlebt und in einer
Kneipe befchloffen habe. Ich habe davon auch meiner Tante Mittheilung
gemacht, der Wachtmeifterswitwe Päpfe, die es beichwören kann. Mein Brief
bat, obwohl er in den ftärkften Ausdrücken abgefaßt war und au das Gewiſ⸗
- jen apellirte, nicht die Wirkung gehabt, die Runge zuder Aufmerkſamkeit an⸗
zuhalten, zur welcher fie vermöge ihres Mutterberufes befonders verpflichtet
war. Vielmehr hat fie mir in cyniſch roher Weife geantwortet, ihre Pflicht
auch ferner vernachläfftgt ımd damit, wie ich feft überzeugt bin, aus bloßer
Vergnügungſucht den Tod ihres Kindes verurfacht‘ ... . Einwendungen has
ben Sie natürlich nicht? Schön. Das Protokol ift aljo gemäß 8186 StPO
7"
90 Die Zukunft.
vorgelejen und von der Zeugin unterzeichnetworden. Siefönnengehen." Der
Alleffor bringt dem Staatsanwalt felbftdie Akte. „Habe’ne feine Nummer ab⸗
gezogen und hoffe, im nächſten Bericht Einen ’raufzulommen. Kegeln Ste
abends?" Und erzäͤhlt beim Frühſchoppen ſchmunzelnd, in der Sache Mohr wer-
de es nochUeberraſchungen geben. Am nächſten Tag wird auch die Runge verhaf⸗
tet; vom Ladentiſch weg. Da die Hausordnung für ſolche Fälle ſofortige Entlaſ⸗
ſung vorſieht, weißfie,daß fie nicht zurückkehren und der Grund der Entlaſſung
im Abgangszeugniß vermerkt werben wird. Sie iſt dringend der fahrläſſigen
Tötung, begangen am eigenen Kinde, verdächtig; und aus aftenfundig ge⸗
machten Thatfachen (ihrem unzüchtigen Verhältnig zu dem Buchhalter Emil
Schirmer) ift zu jchließen, daß fie Spuren der That vernichten und Zeugen
zu einer falfehen Ausfage verleiten werde; auch ift Fluchtverdacht vorhans
ben. Gemäß $ 112 StPO war alfo ein Haftbefehl zu erlaffen.
Hauptverhandlung in ber Strafjache wider Mohr und Nunge...
„Selbit diefes verthierte Weibsbild aber, hoher Gerichtshof, kann als ftraf-
mildernd nod) für fich anführen, daß es in drüdender Armuth lebte und
von der Sorge um ſein eigenes Fleiſch und Blut, von der fchweren Arbeit für
Mann und Kinder in Anſpruch genommen war. Wir haben gehört, daß die
Schlafpulver gegeben wurden, weil der Ehemann Mohr, der Ernährer bes
Haufes, fonft um feine Nachtruhe gelommen und nicht im Stande geweſen
wäre, das für den Haushalt Unerläßliche zu verdienen; und ferner ift that-
fächlich feftgeftellt, daß der jüngite Rrnabeder Angefchuldigten Mohr ohne dau⸗
ernde Schädigung mit der felben Milch genährt worden ift wie das Koftlind.
Das entſchuldigt nichts, erllärtaber Manches. Doch wie ſoll ich Worte finden,
um den Leichtſinn, die Gewiſſenloſigkeit, die himmelſchreiend niedrige Ge-
finnung der Runge zu ſchildern, die, um ihr Laſterleben ungeftört fortfeßen zu
fönnen, zur Rettung ihres Kindes nicht einen Finger rührte? Ihres eigenen
Kindes. Dasiftder weſentlichſte Unterfchted. Wir haben gelernt, dag zu den ele-
mentarjten Empfindungen des Weibes das Muttergefühl gehört. Mehrnod):
wir willen, daß jogar im Tierreich die Mutter Blut und Leben freudig für
ihr Junges opfert. Das Geſchöpf, das Hier vor Ihnen fit und — auch
darauf bitte ich zu achten! — im Berlauf diejer Verhandlung noch feine
Thräne vergofjen hat, ift unter die Stufe der Thierheit herabgefunfen. Ent»
fetten Blickes fehenwir das Bild ihres Lebens ſich vor ung entrollen. Ich er⸗
innerean die Ausjage des Fräuleing Erpler, einer Fugendfreundin der Ans
geflagten Runge, und der Witwe Päpfe, einer echten, kernigen Soldatenfrau.
Diele Zeuginnen, die fo offenbar bemüht waren, fo weit es die Eidespflicht
Koch⸗Dippold. 91
irgend geftattete, aus chriftlicher Nächſtenliebe die Runge zu entlaften, haben
im ganzen Gerichtsjaal ohne Zweifel den Eindrud der Treue, ehrenwerther
Zuverläffigkeit und firengfter Wahrhaftigkeit gemacht. Und dennoch ergab
auch ihr Zeugniß, daß die Runge geradezu frevelhaft gehandelt hat. Sie
war gewarnt und ſchlug die Warnung in den Wind. Sie wurde für leichte
Arbeit überreichlich bezahlt, hatte — die Ziffern, die derdurchausglaubwürbige
Zeuge Schirmer ung vortrug, find nicht einmal von der Vertheidigung be-
ftritten worden — von ihrer Unzucht einen Ertrag, der ihr einen weit über
ihre Verhältnijfe gehenden Luxus ermöglichte, und ließ ihr Kind, die Frucht
threr Lüfte, in Schmug und Elend verkommen. Aufgedonnert wie eine öffent-
liche Dirne, fchritt fie, am Arm ihres Buhlen, als habe fie fein Auge zu ſcheuen,
am helfen Tag mit den fichtbaren Zeichen der Mutterfchaft durch die Straßen
eines vom Spülicht der Großſtadt, Sottjei Dank, noch verfchontenDrtes. Und
während ihr Kind fich in Krämpfen wand, faß fte unter anderen Freuden⸗
mädchen und lachte über die pumpen Späße der Clowns, über die Boten be-
malter Jrauenzimmer. Das geſchah, nachdem fie eben erſt von der Freun⸗
din dringend gewarnt und die Yebensgefahr ihres Kindes ihr zur Kenntniß
gebracht worden war. Ich vermuthe wohl nidyt ohne rund, daß fie ſchamlos
in den Armen der Wolluft lag, als der Todesengel dem Heinen Bett nahte.
Wenn jemals, jo hat hier Fahrläffigkeit unter erfchwerenden Umſtänden den
Tod eines menjchlichen Wejens verurſacht. Fahrläſſigkeit ift die pflicht-
widrige N:chtlenntniß der verurjachenden Bedeutung des Thuns oder Unter-
laſſens. Daß die geiftigen Fähigkeiten der Angeklagten hinreichten, um den
Erfolg ald Wirkung des Unterlafjens vorauszufehen, kann nicht bezweifelt
werden. Wir haben nicht ein ftumpffinniges Dienftmädchen vor uns, fon»
bern eine gebildete, ja, raffinirte Berfon, deren Scharfblid einen Mangel
an Raujalitätvorftellung ausfchlicht. Trotzdem ich feljenfeft überzeugt bin,
daß fie gleich nach der Geburt den Vorfat hatte, ihr uneheliches Kind, als
ein Hemmniß ihres Tüderlichen Treibens, aus dem Wege zu räumen, erlaubt
ber Buchftabe des Geſetzes Leider nicht, hier 8 217 StGB anzumenden. Um
fo mehr aber find wir verpflichtet, die volle Strenge des Geſetzes gegen dieſe
unfittliche Perjon walten zu laffen. Giebt e8 einen ernfteren Beruf, ein heili>
geres Amt als das der Dlutter? In meiner langen Praxis ift mir fein Fall
vorgekommen, der fo alle Kriterien de8 8222 StGB, Abſ.2, deckt wie diefer;
feiner, der die mattherzige Unzulänglichfeit unferer von falfcher Humanität
eingegebenen Strafgejege fo deutlic) zeigt. Humanität! Gottes Ebenbildern
wollen wir fie, auch wenn fieirrten, niemals verweigern. Diefesentmenfchte,
92 Die Zutunft.
jeder natürlichen Regung bare Wefen aber...” „Die Straffammer bat,
entiprechend dem Antrag des Herrn Staatsanmaltes, gegen die Angeklagte
Runge auf das hödhfte Strafmaß von fünf Jahren Gefängniß erkannt.“
* %
*
Herr Kommerzienrath Rudolf Koch, Direktor der Deutfchen Bant in
Berlin, ſucht für feine Söhne Heinrich und Joachim, Knaben von dreizehn
und elf Jahren, einen Hauslehrer. Auf dem nicht mehr ungewöhnlichen
Wege des Inſerates. Er würde einem nicht Jahre lang vorher erprobten
Deanne nicht für eine Viertelftunde den Raffenfchlüffel anvertrauen, würde
in die Effeftenabtheilung der Bank felbft zu untergeordneter Arbeit feinen
Menſchen aufnehmen, der nicht klipp und Klar bewiefen hätte, daß er zuver⸗
läffig und in feinem Beruf tüchtig ift. Wenn er feinen Kindern einen Er⸗
zieber fucht, begnügt er fich mit einem Inſerat. Er könnte, mit einen Jahres⸗
einlommen von durdhichnittlich zweihunderttaufend Darf, einen reifen Dann
engagiren, einen Doktor oder Profeſſor gar: er fahndet nach einem Studenten.
Bierzig Offerten laufen ein. Wären in der Annonce etwa „glänzende Be-
dingungen“ verheißen worden, dann hätten ſich, ftatt der vierzig, vierhundert
Bewerber gemeldet. Die Wahl fällt aufden Studioſus Dippold, „weil er die
beften Empfehlungen hat“. Woher? Danach wirdnicht ängftlich gefragt. Dip-
pold bat im erften Semefter wüft gebummelt, die Nächte mit Proftituirten
verbracht, fid) einer Xehrerstochter verlobt, den Vater der Braut um zwei-
tauſendſechshundert Mark angepumpt und das Geld mit gemietheten Weis
bern verlüdert. ALS der Darleiher davon hörte, hob er die Verlobung auf.
Dippold ließ ſich dann in Berlinimmatrifuliren, arbeitete aberauch hier wenig
und war unter den Kommilitonen als ein roher, jähzorniger, größenwahn-
finniger Kümmel verrufen. Nicht fähig, einen lateinifchen Sag ohne grobe
Fehler zu bilden. Berlumpt und verlogen. Dabei ein Frömmler. Des Mor⸗
gens bei dem Branntewein, des Mittags bei dein Bier, des Abends bei den
Mädchen im Nachtquartier; in der Zwifchenzeit fchrich er Briefe über den
gottjeligen Wandel des Chriftenmenfchen. Einzige Leiftung: ein paar Nach»
bilfeftunden, die ihm nicht einmal die Fortfegung des Studiums ermöglich⸗
ten; alfo ohne Doftorhut Kehrt. Aber er hatte „die beften Empfehlungen”
und befam, als er Inapp ein halbes Jahr in der Neichshauptftadt war,
bie Stelle, für die Hunderte reblicher YJünglinge, Hunderte gereifter Päda⸗
gogen zu haben. gewejen wären. Nach kurzer Zeit fchon wird dem Unbe⸗
währten, faft nod) Fremden geftattet, mit den Zöglingen nad) Ziegenberg
bei Ballenftedt überzufiebein. Das tft ein Gut des Herrn Banldireltors und
Koch⸗Dippold. 93
Kommerzienrathes. Da hauft er ohne jede Kontrole mit den Knaben. Papa
tft von Geſchäften zu jehr in Anfpruch genommen und kann fich um die Er»
ziehung der Kinder nicht fümmern. Mama hat nicht dasgeringfte Verftänd-
niß für die Kinderpiyche, nicht die dunfelfte Ahnung von den Grundfäben
moderner, halbwegs moderner Pädagogie und glaubt einfach blind, mas der
Hauslehrer jagt. Ihre Jungen follen lernen, vorwärtslommen, Renommir-
föhne fein. Gehis ohne Prügel nicht, fo muß eben geprügelt werden. Diejes
Eiternpaar, das einen Thiergartenpalaft bewohnt und ein ftattlicheS Land⸗
gut hat, forgt nicht einmal dafür, daß Heinz und Joio — Kofenamen ge-
hören auch in folcher zärtlichen Familie zum Thiergartenſtil — fo gut genährt
werden wie der Sohn ihres Hausdieners oder Pförtners. Die Knaben hun⸗
gern und frieren; eine mit Mus befchmierte Semmel ift für fie ein Leckerbiſſen
und fie werden auf Reiſen in die vierte Wagenklaffe gepfercht. Wie follten
Papa und Mama daran denken, in Ziegenberg jeden Monat mindeſtens re:
vidiren oder fid) etwa gar jede Woche den Küchenzettel vorlegen zu laſſen?
Wozu hat man denn jchließlid) einen Hauslehrer? Und Mama hatte ſich ja
anfangs wirklich felbft nach Ziegenberg bemüht. Dippold berichtet Fürchter⸗
liches. Beide Knaben treiben Tag und Nacht Manuftupration und find durch
feine Ermahnung von diefem Lafter ab zubringen. Sie find ungeberdig, faul,
frech, ohne die leifefte Spur fittlichen Gefühles. ‘Der Aeltefte hat geitohlen;
zuerft im Elternhaus, wo er die Kaffe des Vaters erbrach und Edeljteine bei
Seite brachte, dann in Reftaurationen und Läden. Er hat mit Falſchmünzen
Automaten geplündert, in Kreditvereinen allerlei Waaren gefauft, ohne zu
zahlen, und baserfchwindelte und erſtohlene Geld benugt, um — ein Dreizehn-
jähriger — heimlich mit Proftituirten zu verfehren. Denen hat er Soldringe
geſchenkt und das Luderleben erft aufgegeben, als er von den Frauenzimmern
Iyphilitiich angeftedt war. Das Alles gefteht er ſelbſt. Zweifel? Hier iſt
feine Namengunterfchrift. Papa ift von Gefchäften in Anſpruch genommen.
Und Mama glaubt, „tief erfchüttert”, Alles, was Herr Dippold berichtet.
Sie kennt ihre Kinder fo gut, daß fies glauben fann. Sie erkennt, mit dem
Tallenblid wachſamer Mutterliebe, ben Lehrer fo genau, daß jieihm fchreibt:
„Ich bedaure nur, daß Gott Sie nicht zwei Jahre früher in unfer Haus
geführt Hat; manches Herzeleid wäre uns dann erfpart worden.” Eines
Tages wird ihr gemeldet, Dippold habe die Knaben grauſam gefchlagen.
Er leugnet aud) nicht. Die Züchtigung fei unbedingt nothiwendig geweien;
er werde fie aber nicht wiederholen, denn fie reiche aus, um den Jungen
das ewige Mafturbiren endlich abzugemöhnen. Wenn der Schimme! jid)
v4 Die Zuhnft.
an einer Glasſcherbe verlegt hätte, wäre eine Autoritätgerufen worden. Doch
Kinder muß man ftreng halten. Und Papa, der jet gerade Bilanzfikungen
bat, darf nicht beunruhigt werden. Ich dachte, fagt die Frau Kommerziens
rath, „einen Augenblic daran, die Knaben nach der harten Züchtigung von
einem Arzt unterjucdhen zu lajfen, that e8 aber nicht, weil Herr Dippold da⸗
von abrieth. Ich wollte auch wegen der ‚geheimen Sünden‘ einen Arzt zu
Rath ziehen, unterließ e8 aber, weil Herr Dippoldfagte, er habe felbft Diedi-
zin ftudirt, fei viel in Serankenhäufern gewejen und verftehe die Sache eben
jo gut wie ein anderer Arzt.” Ob diefe Angabe wahr ift, wird nicht geprüft.
In einem Haushalt, ber ſich für Zeit und Ewigkeit gejchändet fühlen würde,
wenn der Kutjcher einmal bei Tiſch mitferpiren müßte, wird die Erziehung,
Ernährung, Körperpflege, ärztliche Behandlung ber Kinder einem ver-
bummelten Studenten anvertraut. Dippold mißhandelt die Knaben. Dippold
wird vernommenund erllärt, die Mißhandlung ſei nöthig gewefen, eineärzt-
Liche Unterfuchungeinzens undJojos würde ein FFehler fein und auf Therapie,
Hygiene und Prophylaxis verſtehe er ſich fo gut wie irgend ein Doktor. Dip»
polds Wort entjcheidet und Mama reift, beruhigt, getröjtet, entzücdt, nach
Berlinzurüd. Durch Gottes Fügung wardein Juwel ihrem Haufegemonnen.
Weihnachten find die Knaben bei den Eltern in Berlin. Papa ift of:
fenbar auch während der Feiertage von den Geſchäften ganz in Anfpruch ges
nommen. Und Mama weiß zwar, daß ‘Dippold ihre Kinder lahmgeprügelt
hat, kommt aber nicht auf den Einfall, fte jet wenigftens vom Hausarzt
unterfuchen zu laſſen; ſieht fich nicht einmal felbft die Heinen Körperchen ah.
Ihre mütterliche Sorge befchränft ſich auf die Nachforjchung, ob die Jungen
wirklich onaniren. Wenn fie Dippold8 Angabe glaubte, war fie zehnfach ver»
pflichtet, eine „Kapazität“ um Rath zu fragen; denn daß Knaben von elf und
dreizehn Jahren täglich zwölfmal, fünfzehnmal oder noch öfter thun, was Ju—
das Sohn Onan (1Moſe, 38, 9, 10) mit dem Leben büßt, iſt am Ende Fein
gleichgiltiger Alltagsvorgang. Frau Rofalie Kodiftanderer Dleinung. Wahr-
ſcheinlich Hält fie fich felbft für eine Kapazität; undfiebringtdem gewählten Bes
ruf Opfer, die faft über die Dienfchenfraftgehen. In einer Nacht, ſpricht fieftolz,
„bin ic) wohl fünfmal in das Schlafzimmer der Knaben gegangen, bin dicht
an ihre Betten herangetreien und habe zu ihnen gefprochen; ich gewann die
Ueberzeugung, daß Beide feſt ſchliefen. Nachher fagte mir Heinz, fie hätten
fich blos verſtellt.“ Das komplizirte den Fall. Entweder log der Hauslehrer
fred) oder die Jungen betrogen die Mutter mit Gaunerlniffen. Frau Kom⸗
merzienrath Koch fand ſich nicht beiwogen, die Sache zu unterjuchen, und
Koch⸗Dippold. 95
ließaucoeurlöger die Kinder mit dem Lehrer wieder gen Ziegenberg ziehen.
Warum nicht? „Unfer Gut ift ſehr idyllifch gelegen.” Neue Warnungen
kommen. Ein Brief: „Dippold ift ein Schweinelerl, denn er frißt das Fleiſch
mit den Händen vom Zeller herunter; er ift ein Sauferl, dern er hat ſich be»
offen; er ift ein gemeiner Kerl, denn er hat umfittlichen Verkehr mit vielen
Brauenzimmern. Dippold ift ein Schuft, ein Spigbube, ein Schurke. Dich,
Mama, nennt er eine hochmüthige Trine, Karl (Kochs Sohn aus erfter Ehe)
nennt er einen hochnäfigen Kerl, der Vaters Geld verpraffe. Heinz Koch.
Geleſen: Jojo Koh.” Wahr oder unwahr: aus diefem Kinderbrief fpricht
jo wilder Haß, fo leidenfchaftliche Rachſucht, daß fein Vater, feine Mutter,
in deren Herzen auch nur ein Funke ernfter, vorjorgender Elternliebe glomm,
fünf Minuten vor dem Entſchluß zaudern durfte, die Kleinen aufzufuchen
und dem unbaltbar gewordenen Buftand ein Ende zu machen. Selbft wenn
Alles erlogen war, was die Knaben fchrieben, war der Erzieher nicht länger zu
brauchen, der fo wenig verftanden Hatte, ihr Kindergefühl an ſich zu Fetten.
Eine Proletarierin hätte nach folher Kunde den Nothpfennig genommen
und fid) in der nächſten Freiſtunde auf die Eiſenbahn gejett. Frau Nofalie
Koch ichreibt einen Brief. Bon Berlin find fünf, ſechs Stunden Fahrt ;auchdie
Koften eines Extrazuges wären in dem Budget des Bankdirektors kaum
wahrnehmbar. Frau Koch fchreibt einen Brief. Antwort, wie zu erwarten
war: Alles erfunden. Heinz ſei überhaupt nicht mehr zurechnungfähig; doch
hoffe der Tehrer, cand. iur. Dippold, ihn zu heilen. „Wir wollen Alles in
die Hand des Allmächtigen legen, der es ficher zum Guten lenken wird.“
Dann folgen Briefe, die melden, die Knaben litten an Schwindelanfälfen,
Folgen der Mafturbation. Traurig, denft Mama; thut aber nichts. Unter
ihrem Zeugen«id hat fie Später ausgeſagt, als fie von der Selbftbefledung der
Knaben gehört habe, ſei ihr erfter Gedanke gewejen, nur der Xehrer könne
Heinz und Jojo zu ſolchem Laſter verleitet Haben. Ihr Tester Gedante fcheint
geweſen zu fein: Was Dippold thut, ift wohlgethan.
Im Januar 1903 war Mama ein Weilchen in Ziegenberg. Sah
nicht8 und hörte nichts. Auch Papa kam; erfuhr, Dippold jei — gerade an
diefem Tag — mit den ungen auf den Broden gellettert, und reifte, ohne
fie gejehen zu haben, vergnügt wieder ab. „Wenn fie ſolche Tour machen
lönnen, müfjen fie ja ferngefund fein.” Ungefähr drei Wochen danach klopft
im Morgengrau auf dem idyllisch gelegenen Gut eine zitternde Kinderhand
an das Fenfter der Gärtnerwohnung. Heinz. Fünf Uhr früh. Eisfälte. Der
Knabe halb angezogen. Wimmert um Hilfe. Der Yehrer habe ihn und ſei⸗
96 Die Zukunft.
nen Heinen Bruder aus tiefem Schlaf gewedt und einen dien Stod an
ihren Leibern zerfchlagen; er werbe fie gewiß noch umbringen. Heinz hatauf
dem Rüden, den Armen große blutige Wunden; Wangen, Augen und Hänbe
find angejchwollen. Das Würmchen bettelt um Hilfe, umeinen Biffen Brot;
denn es ift von Hunger entlräftet. Bald darauf holt Dippold feinen Schtt-
ler zurüd. Der Gärtner führt nach Ballenftebt und erzählt dem Bürger-
meifter das graſſe Erlebniß. Der telegraphirt an den Heren Bankdirektor
und Kommerzienrath Rudolf Koch, Berlin, Thiergartenftraße 74. Und nun
ift8 aus mit der Qual. Nun wirddem Hallunfen das Handwerk, das ſchmaͤh⸗
liche Handwerk gelegt und noch am felben Tag figen die Kinder ficher im
prunlenden Elternhaus und werben mit Liebe gepäppelt. Nicht wahr?
Nein. Herr Rudolf Koch hats nicht fo eilig. Neunundzwanzigſter
Januar. Mitten in der Hochjaifon. Vielleicht Gäfte zu Tiſch. Vielleicht zu
Gwinners Majeftät geladen. Auffichtrathsfigung. Irgend ein neuer Con»
cern zu bilden. Schließlich iſts ja kein Fall, der Eltern zu fofortiger Reife
drängen müßte. Here Rudolf befpricht die Sache mit Frau Roſalie. Das
Beſte wird fein, den Schwiegerjohn hinzuſchicken. Aittmeifter a. D. Hat
alfoimmer Zeit. Famoſer Einfall. Und Frau Rofalie thut noch ein Uebriges.
SiebittetderrnDr. Vogt, einen Gehirnanatomen, SchülerForels und Günſt⸗
ling Krupps, nach Fiegenbergzu fahren. Sagt ihm aber nicht8 von der Toben
Mißhandlung. Mehr kann doch wirklich kein Gerechter verlangen. DerSchwie⸗
gerſohn hats eiliger als der Schwiegerpapa. Er mußſchnell nach Berlin zurück,
ſieht den verſpätet eintreffenden Hirnſchnittmacher nur noch zwei Minuten und
benutzt die Friſt, um ihm zuzurufen: „Der Dippold iſt entweder ein Schuft
oder ein Idealmenſch!“ Dieſe wunderſame Alternative des Reitersmannes
hätte manchen Kontroleur wohl zum Mißtrauen geſtimmt. Herrn Dr. —
jetzt, wie es icheint, auch ſchon Profeſſor — Vogt nicht. Ein Doktor vom Lande
hätte den Jungen befohlen, ſich auszuziehen, und dann die Spur der Miß⸗
handlung, die Wunden und Eiterbeulen, am Leib der Geſchundenen entdeckt.
Mit ſolchen Rückſtändigkeiten giebt der moderne Direktor eine Hirnſchnitt⸗
muſterſammlung ſich nicht ab. Unterſuchung? Veralteter Blödfinn. Herrn
Dr. Vogt genügt ein Geſpräch mit dem Kandidaten Dippold. Der ſagt, eine
ärztliche Unterſuchung würde ſeine Autorität bei den Schülern mindern.
Alles komme von der ewigen Maſturbation. (Was den Arzt nicht etwa vers
anlaßt, ſich wenigſtens mal die Genitalien der Kinder anzufehen.) Züch⸗
tigung jei nöthig, doch werde nur der dafür geeignetfte Körpertheil manch⸗
mal mit einer bünnen Gerte bearbeitet. Der Arzt antwortet, jehr vernünftig,
Koch⸗Dippold. 97
Prügeln nüge nicht und die üble Folge der Onanie werde von Laien beträcht-
lich überjchägt. Läßt ſich Dippolds Erziehungmethobde ſchildern, verfchreibt
ein Schlafpulver, räth, Heinz und Jojo jeden Monat einem Neurologen vor⸗
zuführen, und dampft ab. Gemeinfame Meldung des Ritt: und des Schnitt
meifters: Alles in fchönfter Ordnung. Der Lehrer hält mit den Schülern
fogar weihevolle Andachtübungen und ihr Wohl, er jagt esja felbft, Liegt ihm
Tag und Nacht am Herzen. Herr Dr. Vogt ſchließt feinen Bericht — in
dem weder von Kontrole noch von Neurologie mit einer Silbe die Rede ift —
mit der Frage: „Wie find Sie, Frau Kommerzienrath, nur zu diefem idealen
Menichen gekommen?“ Frau Rofalie ift felig. Wenn ihr Dippold, der neu⸗
lich den Wunſch ausſprach, wie Chriftus am Delberg zu ruhen, nur erhalten
bleibt! Er drohte, den Dienft zu fündigen. Mama jendet ihm „taujend Dank
und fünfhundert Mark Exrtrahonorar als Anerkennung Ihrer großen Auf»
opferung.“ Um dieſes Reſultat zu erreichen, war Heinz früh um Fünf, blu-
tend, halb nadt, balb verhungert, dem Haus entlaufen, der Gärtner nad)
Ballenftedtgefahren, vom Bürgermeifter an die Eltern telegraphirt worden.
Noch mehr wird erreicht. Dippold erklärt, nur bleiben zu wollen,
wenn er mit den Knaben nach Drofendorf, in feine Heimath, überfiedeln
bürfe. In Biegenberg, wo Gärtner und Dienftboten ein Erziehungſyſtem
beſchwatzen, daß fienicht verftehen, fei nichts Rechtes zu machen; namentlich
nicht mit Heinz, der moralifch ganz verfommen fei. Der Lehrer brauche volle
Nude, „die Kontrole durch Herin Dr. Vogt wolle er fichgern gefallen lajjen“
(was man ihm nachfühlen kann). Frau Kommerzienrath willigt ein. Herr
Kommerzienrath fchreibt an jeine Söhne, er billige Alles, was Dippold ans
ordne, der fie zu tüchtigen Menſchen erziehen werde, wenn jie ihm aufs
Wort gehorchten. Alfo auf nad) Drojendorf, das auch „idylliſch liege”. Am
ftebenzehnten Februar 1903 wird die Neife angetreten. Bon Ballenjtedt bis
Hof vierter, von Hof bi8 Nürnberg dritter Klaffe. Acht Tage danach ſchreibt
Frau Rofalie an den „idealen Lehrer“: „Nun ift Alles geichehen, um Ihren
Willen zu erfüllen. Im Drojendorf wird Niemand Sie ftören, am Wenig⸗
ften Jemand aus unferer yamilie”. Worauf Kommerzienraths fröhlichnad)
Nizza reien; denn auch ein unter ber Laſt der Gefchäfte faft zufammens
brechender Bantdirektor, der „die Sorge für die Kinder feiner Frau über:
laffen muß“, hat die Pflicht, den März an der Riviera zu verrepräfentiren.
Am zehnten März liegt Heinz Koch tot im Bett. Der Lehrer hatteden Sterben»
ben, der flehentlich bat, Tiegen bleiben zu dürfen, mit Fußtritten in Bewegung
gebracht, zu Turnübungen und einem eisfalten Bad gezwungen. Als Heinz
98 Die Zukunft.
Schlecht turnte, mußte Joachim ihn mit einem Stod prügeln. Als er zwei⸗
mal ohnmächtig wurde, brüllte Dippold: „Das Xuder verftellt ſich blos!“
Dem B:rröchelnden wird ein Knebel in den Mund geftopft. Beim Entlleiden
und Säubern der Leiche muß Jojo helfen. Dann wird der Bezirksarzt ge-
rufen; „zu einem Schwerkranken“. Dippold jehildert ihm zwei Stunden
lang die Berruchtheit der Familie Koch. Der Arzt will den Kranken jehen.
Iſt ſchon tot. Ergebniß der Xeichenfchau: der ganze Körper zerichlagen; über>
all blutige Striemen und eiternde Wunden; von Syphilis oder onanijtifcher
Ausfchweifung leineSpur. Aud) Joachim wird nun endlich unterfucht. Ge—
fiht, Bruft, Rüden, Beine, Arme mit Blut unterlaufen. Das Kind, Das
vom Scharlad) her ein Obrenleiden bat, ift durch Schläge am Kopf arg ver-
letzt, Tonnte gerettet werden, ftand aber vor der jelben Gefahr, der fein Bruder
erlag. Das war der Befund am zehnten März. Zwölf, dreizehn Tage vor-
ber hatte Mama an den Hauslehrer gefchrieben: „In Drojendorf wird
Niemand Sie ftören, am Wenigften Jemand aus unferer Familie.‘
Unterdemdringenden Verdacht, durd) „Körperverlegung mittels eines
gefährlichen Werkzeuges“ den Tod Heinzens herbeigeführt zu haben, wird
Dippold verhaftet. $226 StGB: Zuchhaus oder Gefängniß nicht unterbrei
Jahren. Der Erfte Staatsanwalt des bayreuther Nandgerichtes verfichert,
die Sektion Babe den entjetlichiten Anblid geboten, den er fich vorftellen fönne.
Schwurgerichtsfache. Vorunterfuhung und Hauptverhandlung bringen
Thatjachen ans Licht, die in einem Pfennigkriminaltoman wie alberne Ueber
treibungen wirken müßten. In mancher Nacht hat der Lehrer ſechs dicke Stöcke
an den Schülern zerprügelt. Die Knaben mußten die Schläge laut zählen;
bis zu fünfzig. Dazu famen Fußtritte und Fauftichlägeauf Geſicht, Schädel,
Genitalien. Nachts mit Striden auf den Tiſch oder die Matrage gebunden.
Oft mußten die Jungen im falten Zimmer Stunden lang nadtvordem Bett
jtehen ;barfuß, mit Froftbeulen, durch den Schnee laufen; einem in raſcheſtem
Tempo fahrenden Wagen nachrennen, bis fie athemlos zufammenbrachen;
mit entblößten Unterlörper turnen oder Herrn Dippold, der fidh auf dem
Sofa räfelte, Küßchen geben; in ihren Betten wurden faft täglich breite Blut:
flecfe gefunden. Der Lehrer legte ſich ſplitternackt zwifchen die Schüler, miß⸗
handelte fie und redete ihnen jo Lange ein, fie hätten Manuſtupration getrie-
ben, daß fies endlich zugaben. Allesgaben fie zu. Onanie, Diebjtahl, Betrug;
am nur ein Bischen Ruhe zu haben. Einmal bedrohte Dippold den älteren
Knaben mit offenem Meſſer; mehr als einmal jchlug er den jüngeren mit
einer Eijenftange. Zwei Schuldfragen: vorfägliche Rörperverlegungmittels
Koch⸗Dippold. 99
gefährlichen Werkzeuges (Joachim), das Selbe mit tötlichem Ausgang (Hein-
rich Koch); beide (Fragen werden von den Geſchworenen bejaht, mildernde
Umftände nicht als vorhanden angenommen. Sämmtliche Sadjverftändige
— zu ihnen gehört, troß der ziegenberger Leiftung, auch Herr. Dr. Bogt —
erklären, „die freieWilfensbeftimmung de8Angeflagten let nicht ausgeſchloſſen
geweſen“. Keine Phantafie vermag einen gräßlicheren Jallzu erträumen. Der
Gerichtsſpruch aber bleibt um ſieben Jahre unterbemhöchften zuläffigenStraf-
maß. Herrn und Frau Kommerzienrath Koch werden vor, während und nach
ihrer Beugenausfage Mitleidsovationen bereitet und Trauerkränze gewunden.
Kein noch ſo ſanft mahnendes, vorwerfendes Wort. Und der Vertreter der
Staatsanwaltſchaft beginnt ſeinen Schlußvortrag mit den Sätzen: „Im
großen Publikum war der Glaube entſtanden, das Ehepaar Koch ſei an dem
Tode des Kindes mindeſtens moraliſch mitſchuldig. Die öffentliche Verhand⸗
lung hat dieſen Glauben gründlich zerftört. Der Angellagte hatte die Frech⸗
heit, zu behaupten, die Eltern fümmerten fich nicht um ihre Kinder. Die Vers
handlung hat ergeben, daß die Eltern nicht die geringſte Schuld trifft."
- * *
*
Der Fall Runge ifterfunden, kann aber morgen in jedem Landgerichts⸗
bezirk Wirktichleit werden. Der Fall Koch-Dippold hat ſich in der erften
Oltoberdekade am Rothen Main vor Alldeutichlands entjegtem Auge abge»
ipielt. Alldentichland hat feitdem wieder einen Oger. Einen wirklichen, der
in der Geſchichte der Scxualpſychopathie fortleben wird. Bald iſt ein Halb⸗
jahrtauſend verftrichen, ſeit Gilles de Rays hingerichtet wurde, der Marſchall
von Frankreich, der achthundert Kinder, hundert in jedem Jahr, geſchändet,
unter wollüſtigen Schauern getötet und die hübſcheſten Köpfchen zum An⸗
denken aufbewahrt hatte. Genau hundert Jahre, feit Donatien Alphonje
François Marquis de Sade auf Bonapartes Befehl nach Charentongejchleppt
und bis an ſein Lebensende in die Irrenzelle geſperrt wurde. Gilles de Rays
hatte ſich an ſuetoniſcher Gräuelmalerei berauſcht. Der célèbro Marquis gab
den Paräſtheten des Geſchlechtsempfindens die Histoire deJustine ou les
malheurs de la vertu und die Histoire de Justine ou les prosperites
du vice, — die berühmteften, berüchtigtjten Xeufelsbibeln ferueller Per—
verfion. De Sade, der Schaffende, war interejjanter al8 De Rays, der Ans
empfinder. Nevolutionär bis ins Mark der Knochen; überzeugtes Mlitglied
des Pikenklubs, wo er dem Angedenfen des unermeßlichen Marat eine Weihe⸗
rede hielt; Tod den Tyrannen und Haß dem Herrgott feine Loſung; feine 5
Weltanſchauung fteht ein amoralijches, von bösartigen Molekeln bewegtes
100 Die Zutunft.
Menfchenmafchtnenreich; fein Hauptvergnügen war, während der Paarung
Frauen dieAdern zu Öffnen oder ſtark blutende Fleiſchwunden beizubringen;
war ſolche Luſt nicht zu haben, jo begnügteer fich, feine Tiichgäfte mit Kantha⸗
riden zu vergiften. Wo Grauſamkeit fich der Wolluft gefelite, jprach die Fran-
zöfifche Literatur ſchon feit dem Jahr 1810 von Sadismus; und nicht denn Na⸗
men zwar, doch die Anomalie hat, von indiſchen Mythologen bis auf Nova⸗
lis, Görres, Kleift, Blumröder, Feuerbach, Kombrofo, mancher Künftler und
Gelehrte gelannt. Richard von Krafft-Ebing gab 1886 dieerfte umfaſſende
Kaſuiſtik und ſchränkte zugleich den Begriff des Sadismus ein, zu deifen Er-
Härung er zwei Tonftitutive Elemente anführt: in überreizbaren Weſen ent⸗
fteht im jeruellen Affelt der Drang, dem Gegenftande der Begierde Schmerz
zu bereiten, um fo die Macht der Einwirkung zu deutlichftem Bewußtfein zu
bringen; die Erobererluft de8 Mannes wird unter pathologijchen Bebin-
gungen zum Verlangen nad) jchrantenlofer Unterwerfung und mitleidlofer
Peinigung des Weibes. Im zweiten Bande von Feuerbachs Sammlung
„Merkwürdiger Kriminalrechtsfälle” fteht die grauſe Gefchichtevon Andreas
Bichel, dem Mädchenſchlächter; und ber „Königlich Bayeriſche Wirfliche
Frequentirende Geheime Rath“, der den Bichel nicht geräbdert, fondern ent-
bauptet jehen wollte, leitet fie mit den Sägen ein: „Eine menschliche Seele
ohne alles menfchliche Gefühl, Verbrechen, die an Grauſamlkeit, Tüde, Kalt-
blütigleit das Höchfte erreicht haben, was des Menſchen Wille zu erreichen
vermag: Dieſe find der Gegenftand dieſes Vortrages. Ich bedarf aller Kräfte
der Selbftüberwindung, um bei dem empörten Gefühl ſchwer beleidigter
Dienjchheit jene Ruhe zu bewahren, welche die Pflicht de3 Amtes von mir
fordert." Faſt beifer noch als auf den von Lombroſo mitgetheilten Fall des
Berzeni, auf den Frauenmörder von Whitechapel und auf Kraffi- Chings
Knabengeißler pafjen diefeWorteauf Dippold, den Bauernjohn und Priefters
zögling, der nad verfrühter, wüfter und langer Ausjchweifung konträre
Serualempfindung fadifcher Neigung vereint. Ein Lehrer, der feine Schüler
jchändet und fie dabei noch, um feinZuftgefühl zu fteigern, langfam zu Tode
martert: Priapos felbjt hat Gräßlicheres am Hellespont niemals erſchaut.
Penthefilen und Mefjalina erröthen ſchamhaft in ſolchem Anblid; und Katha⸗
rina von Medici, die das Auge an den gepeitichten Gliedern ihrer Hofbamen
mweidete, fteht wie ein harmlos Lüfterndes SXüngferchen neben dem Bayern
aus Drofendorf, der in die Gräuelreihe der De Rays und De Sade gehört.
Und dennoch... Trogdem Erjten Staatsanwalt am bayreuther Lands
2 gericht will die Frage noch nicht verſtummen, ob Dippold allein ſchuldig
Koch⸗Dippold. 101
ift. „Wer eine wegen jugendlichen Alters hilfloſe Perſon, die unter feiner
Obhut fteht, in hilflofer Lage vorfäglich verläßt, wird mit Gefängniß nicht
unter drei Monaten beftraft. Wird die Handlung von leiblichen Eltern
gegen ihr Kind begangen, fo tritt Gefängnißftrafe nicht unter drei Monaten
ein. Wenn durch die Handlung der Tod verurfacht worden ift, tritt Zucht-
hausftrafe nicht unter drei Jahren ein.” Unzählige Mütter hat diefer 8221
ſchon ins Zuchthaus gebracht; und nicht immer wards mit dem, Vorſatz“ gar
fo genau genommen. Bon einem Borjat kann in unjerem Fall nicht bte Rede
fein; doch der nächite Paragraph, der nicht nur imfingirten Fall Runge anges
wandt wurde, bedroht Eltern, deren Fahrläſſigkeit den Tod eines Kindes her;
beiführt, mit der Maximalſtrafe von funf Jahren Gefängniß; und auch die fahr-
laͤſſige Körperverletzung wird beſonders ſtreng an Denen geahndet, die, ver⸗
möge ihres Amtes, Berufes oder Gewerbes beſonders zu der Aufmerkſamkeit
verpflichtet waren, welche fie aus den Augen fetten.” Die Nichtanfpannung
der Aufmerkſamkeit, jagt Geheimrath von Lifzt, erfcheint als Willensfchuld;
und er fügt binzu,der Mangel an Borausficht erfcheine auch al8 Verftandes-
ſchuld, wern die Frage nach dem geiftigen Können des Thäters bejaht werben
möäffe. „tahrläffigkeit ift die pflichtwidrige Nichtlenntniß der verurjachenden
- Bedeutung des Thuns oder Unterlaffens; pflichtwidrig ift die Nichtkenntniß,
wenn der Thäter fie hätte erlangen follen und können.“ Nach diefer Norm
werden Leute eingejperrt, die nicht bedacht hatten, daß in der Tafche des Ueber⸗
rodes, den fte in der Theatergarderobe abgaben, eine Schußwaffe jtede, die
fi) entladen und einen Menfchen verlegen könne. Sollte und konnte das
reiche Ehepaar Koch, nad) Allem, was warnend vorausgegangen war, Kennts
niß davon erlangen, daß ihrer Kinder Leben unter der unumjchränlten,
untentrolirten Herrichafteines durch Yüderlichkeit aus dem Gleis geworfenen
Burfchen gefährdet fei? Sollte und konnte das kluge Baar Kenntniß vom
Borleben Dippolds erlangen? Einem frömmelndenHechtsfandidaten die ärzt-
liche Behandlung zweier Kinder anvertrauen, deren pſychiſche und phufifche
Geſundheit e8 zerrüttet wähnte? Sollte, konnte, mußte feftgeftellt werden,
alferfpätefteng nach der Depeiche de8 Bürgermeifterd von Ballenftedt, wie
in Biegenberg und im nicht minder idylliſch gelegenen Drojendorf das große
Wort Hippels gedeutet wurde: „Erziehen heißt: wecken, was ſchläft, fühlen,
was brennt, mit Schnee reiben, was erfroren ift"?... Unſere Rechtspflege
kann in guten Stunden auch mild fein. Wir haben, nur wir, nod) Staat
anmälte und Richter, die an die altmodifche Mär von den bis zu völliger Er:
ſchlaffung überbürdeten Bankdireftoren inniglich glauben und von Hupfa
102 Die Zukunft.
und Borchardt, von den Rogengäften der Qurustheater, von Spielchen und
anderer Klubluft, von den Kleinen und großen Diners nicht mehr gehört haben
als der neue Pharao einft von Joſeph. Und wir haben kein Femgericht, das
ſolche ſpottbillige Ausrede mit TFıiedlofigkeit ftraft und den Sündern wider die
einfachite, kaum fchon als Menjchenpriviteg zu betrachtende Elternpflicht das
Saftrecht auf Waffer und Feuer abjpricht. Aqua et igne interdietus.
Lang iſts her. Nicht einmal das fanftere Recht des Bürgerlichen Gefegbuches
für das Deutjche Reich tritt unbarmberzig ftet8, ohne Anſehen der Perſon,
in Kraft. Da fteht im $ 1666: „Wird das geiftige oder leibliche Wohl des
Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für bie Berfon
des Kindes mißbraucht oder das Kind vernachläjjigt, jo hat das Vormund-
fchaftgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu
treffen.” Das gilt, nad) $ 1686, auch für die elterliche Gewalt der Mutter.
Wo aber wäre Jojo beffer aufgehoben aldunter der Obhut von Papa, ber die
Söhne aus erſter Ehe zu „erſtklaſſigen Menſchen“ erzogen, und von Mama,
die dem Echinder „für feine Aufopferung ein Ertrahonorar von fünfhundert
Mark“ geſchickt hat? Jetzt wird fich im Haufe THiergartenftraße 74 für den
zufällig überlebenden Knaben ja vielleicht ſogar ein Unterrichtszimmer frei»
machen lafjen. Und am Ende entbürdet die Deutfche Bank den allzu ge>
plagten Papa bald beträchtlich ... Wir find Human. Wohin nun das Auge
blickt: Mitleid, Theilnahme, judenchriftliche Dienfchenliebe. Und das Peit>
motiv: Furchtbar, daß eine jo vornehme Familie ohne die Spur eigenen Ver⸗
ſchuldens jo grauſam heimgejucht ward. Es ift eine Luſt, zu leben.
In einer Mußeſtunde follten die Mitleidigen einen Gelehrten fragen,
ob der unverehelichten Runge die Deuttergewalt nicht gefchmälert worden
wäre, wennihr Kleinesden Brechdurchfall überitanden und die Anklage wegen
fahrläjjiger Körperverlegung dennoch Erfolggehabt hätte. Inzwiſchen wollen
wir Ungelehrten uns ausmalen, wie es in Bayreuth gelommen wäre, wenn
ein rauherer Gerichtshof Herrn oder Frau Rod) oder Beide der Fahrläflig-
feitdringend verdächtig gefunden und — wegen Gefahr der Kollujion mit Jojo
und anderen fommerzienräthlicher Macht unterftellten Zeugen — in Unter-
ſuchunghaft genommen hätte. Dann wurden fie nicht beeidet, waren alfo
auchnicht „durchaus glaubwürdig“, hätten gegen allerlei beſchworenen Dienſt⸗
botenklatſch zu kämpfen und vielleicht manches unzärtliche Wort herunter⸗
zuſchlucken gehabt. Und der Vertreter der Anklage hätte dann im Schluß⸗
vortrag wahrſcheinlich von der ao valtigen ſozialen Lehre dieſes Prozeſſes ges
ſprochen, der in blutror'yin 2 ch z.ichen die alie Wahrheit erneue, daß
forgende Elternlicbe allein reichen wie armen Kindern fichere Häufer baut.
*
Ein Gerichtshof Über Weltliteratur. 103
Ein Berichtshof über Weltliteratur.
m Jahre 1753 ftiftete Loviſa Ulrika zu Stodholm ihre Akademie für .
fchöne Literatur; und zur fchönen Literatur wurde damals Geſchichte,
alte Spraden, Alterthumer, Munzenkunde und Uehnliches gerechnet. ALS
Guſtav III. 1786 diefe Zufammenftellung von Wiſſenſchaft und Literatur als
unförmlich erkannte, ftiftete er die Schwedische Alademie für feine Belletriften
und Tieß Archäologen und Archivare in der umgebildeten Akademie bleiben,
bie nun Alademie für Literatur, Gejchichte und Archäologie genannt wurde.
Die Schwediſche Akademie follte „eine Vereinigung von Schwedens hervor:
ragendſten Dichtern fein, ohne Nüdjicht auf ihre gefellihaftlide Stellung“.
Das fcheint ja Harer Befcheid zu fein. Aber wie hat man die Statuten
befolgt, die man unermüdlich als Grundgefeg citirt? Ja, in ber Schwedifchen
Alademie fiten jegt: zwei ReichBardhivare, ein Reichsantiquar, ein Univerfitäte
bibliothefar; außer ihnen Profefforen, Bifchöfe und ein Geſandter; Feiner
bon dieſen Herren ift „literariſch“ in der eigentlichen Bedeutung des Wortes,
Bon der ganzen Geſellſchaft find nur Bier Dichter, aber auch nur in ihren
Mußeſtunden. Kein einziger hat fein Leben ungetheilt der Dichtlunft gewidmet.
Warum die Hiftorifer da figen? Früher war die Geſchichte Lobrede
und wurde zur Literatur gezählt; aber jet ift die Geſchichte Wiſſenſchaft
und darum follten Annerftedt, Ddhner, Hildebrand und Hjärne ruhig in
ihrer Akademie für Gefchichte und Archäologie figen bleiben und ſich nicht
in die Vereinigung für Schwedens hervorragendfte Dichter drängen (bie da
berausgebrängt find). Bon einer Seite ift eingemandt worden, die Gefchicht-
ſchreibung fei Kunft. Gut; aber dann müßten unfere Hiftoriker in die Kunſt⸗
alademie Hineinzulommen fuchen, wo fie wohl mit offenen Armen — vom
Grafen Rofen*) empfangen werden würden. Und Beofeffor Mommſen hätte
die „Lönigliche Medaille* bekommen follen, aber nicht den Nobelpreis.
Darum figen die Bifchöfe da? Weil fie geiftliche Redner find, ant-
wortet man. Sind, fürs Erfte, Billing, Rudin und Nundgren Redner?
Ft es Beredfameit, eine Rede niederzufchreiben, fie auswendig zu lernen und
fie laut zu verlefen? Fürs Zweite: Will ein fo empfindliches Gewiſſen
wie da8 Rudins feine prophetifche Wirkjamfeit unter die Kategorie Dichtung
zählen und meint er, das Wort Gottes, das er verfündet, gehöre zur Schön⸗
fiteratur und werde am felben Tag beurtheilt wie Anatole Frances „Frivo⸗
*) Bei der kürzlich vollzogenen Erſatzwahl für den verftorbenen Lyriker
Grafen Snoilsky wählte die Schwedifche Alademie ben Maler Grafen Rojen, der
fih aber durch die Öffentlide Meinung veranlaßt fah, abzulehnen, worauf der
Hiftoriker Profeffor Hiärne gewählt wurde. (Der Ueberfeger Emil Schering.)
8
104 Die Zukunft.
fitäten“ ober die „Gottlojigfeiten” des Epikuräers Sully: Prudhomme ?*)
Nein: Beredſamkeit ift etwas Anderes und ift eine feltene Gabe im ſchwe⸗
difchen Lande; ift mandmal im Reichstag zu finden, oft in Klubs, niemals
auf der Kanzel. Hört man an einem offenen Grabe geiftliche Beredfamkeit,
fo ift es von einem Laien. Alfo können wir ungeftraft die geiftlichen Reduer
aus der Akademie ftreichen. Gefchriebene Beredſamkeit können alle Schrift-
fteller leiften — und viel beſſer —, aber die wird nicht dazu gerechnet.
Barum figen die Sprachforſcher bort? Sie follen die ſchwediſche
Sprache pflegen und ausbauen, fagt man. Nein, gute Herren! Die Sprache
ift ein Iebenbes Weſen, da8 aus der Zeit hervorwächſt. Die Sprade ent-
ſteht, aber wird nicht gemacht. Bei den Menſchen der Zeit entfteht fie und
die Dichter nehmen fie auf, firiren fie und geben fie gefchliffen und eingefaßt
zurüd. Die Wörterbuchverfafier fammeln und ordnen fie dann aus dem
Schriften der Dichter; und fie find Diener, nicht Herren. Die ſchwediſche
Sprache der Zeit mit ihrem großen Reichthum an Worten und Formen ift nicht
aus dem Wörterverzeichniß der Alademie geholt, jondern fie ift aus den be—
fonderen Sprachen aller Klaffen, der Induflrie und der Berufszweige bereichert
und jängft durch die Mundarten aufgefrifcht. Alfo fort mit den Wortwurzlern!
Warum figen bie Literaturhiftoriler da? Profeſſor Liunggren hat
meines Wiſſens feine Literatur gefchrieben, wohl aber über Literatur. Diefer
Alademietyp wird jegt zu Denen gerechnet, die felbftverfländlich in die Akademie
gehören, und wir haben noch mehr Kandidaten diefer Art. ber die Akademie
follte ja eine repräfentative Verſammlung Derer fein, die die Literatur der
Zeit fchreiben. Nein: die Literaten der Zeit find ausgefchloffen, aber bie
Literaturhiftoriter gehören felbftverftändlich hinein. Das ift Gerechtigkeit und
Bernunft. Zu den Selbftverftändlichen gehörten jüngft auch die Ueberſetzer.
So faß Kullberg da als UWeberfeger Taſſos, Strandberg als Ueberſetzer
Byrons und Rydberg kam nicht als Dichter hinein, fondern als Ueberfeger
von Goethes Fauſt. Wugenblidlich werden wieder zwei Ueberfeger als Kan⸗
didaten genannt. Das ift ja wunderfchön. Wer über Literatur fchreibt und
wer Literatur überfegt, gehört ganz natürlich in die Akademie; ausgeſchlofſen
find aber Alle, die ihrer Zeit die Literatur fchaffen.
Warum figt der Hiftologe Profeffor Regius in ber Vereinigung ber
Kiteraten? Er ſelbſt ftellt wohl nicht fo große literarifche Forderungen ı
fi, wie bie Bosheit behaupten wollte; aber als Wilfenfchaftler figt er
der Akademie der Willenfchaften, — und mit Recht. Das ift doch gen
Warum dann noch in ber Alademie für Literatur?
*) Sully-Prudhomme hat des Materialiften Qucretius „De rerum natura‘
überjegt und im Vorwort feine Zmeifel an ben höchſten Dingen ausgeſproche
Das müßte Profeffor Rudin lejen, fofern er es nicht gelefen hat, ehe die Akadem.
Sully-PBrudhomme den Nobelpreig für Literatur „idealer Richtung” gab.
Ein Gerichtshof über Weltliteratur. 105
Sigt der Staatsrat von Ehrenheim der Literatur wegen da? Das
glaubt man. Früher wurde ein verabfchiedeter Staatsrath Landeshauptmann;
jest wird die Akademie für ihn als Sinekure benugt, wie das Poſtamt früher
für den Major.
Und dann ift da des Befandte B. Kenne ich nicht!
Schließlich die vier Literaten Melin, Nyblom, Gellerftedt, Wirfen: Di-
fettanten und Verfefchntiede, die fich unfinnig durch die Gefellichaft geehrt fühlen.
Das ift die Schwediſche Alademie!
Die Schwedifche Akademie war um 1880 eine lächerliche Einrichtung,
die man in Titerarifchen Kreifen nicht im Geringften beachtete. ALS aber in
den neunziger Jahren biefe Inftitution durch Nobels Stiftung zum Gerichts-
Hof über die moderne Weltliteratur erhoben wurde, da war die Alademie
Etwas. Aber da mußte fie felbft, wenn fie Ehre im Leibe hatte, ſich für
infompetent erffären und ſich als Yorum ablehnen. Denn Richter dürfen
nicht in unbelannter Sache und nicht nach Hörenfagen richten. Wie viele
von den Mitgliedern der Akademie lefen Literatur? Wie viele befuchen Theater?
Hat Profeffor Rudin oder Biſchof Billing Zolas Romane gelefen oder Ibſens
Stüde gejehen? Ich weiß e8 nicht; aber wagt der Profeffor und der Bifchof
in der Jury zu figen, ohne die Alten des Prozeſſes eingefehen zu haben, dann
ift ihr Leichtſinn und ihre Unbedachtſamkeit ftrafbar. Das erſte Urtheil, dag die
Alademie zu Gunften des nicht des großen Preifes würdigen Sully: Prudhomme
fällte, war eine Ungerechtigkeit; das zweite Urtheil zu Gunften Mommfens war
‚ eine Ungefeglichkeit, denn Gefchichte ift Wiflenfchaft und nicht Kiteratur.
Ein Menfchenalter von Ungeredhtigfeiten in ihren Preisverleihungen
Hat die Akademie auf ihrem Gewiffen. Dazu find num Ungefeglichleiten ge-
tommen, da fie ihre Statuten willfürlich auslegt und da fie foeben dem letzten
Willen eines Verſtorbenen Gewalt angethan hat; denn Alfred Nobels Teftas
ment ift nicht refpeftirt worden. Diefe Inſtitution hat der heranwachſenden
Jugend ein fchlechtes Beifpiel gegeben, da fie gezeigt hat, daß Ungefetzlich-
feiten und Umngerechtigleiten den höchſten Schuß genießen, und fie muß zur
Verantwortung gezogen werden, da fie PBarteilichfeit und Willkür übt, fährt
fie aber fort, den literarifchen Nobelpreiß in der felben Art wie bisher zu
vertheilen, dann wird fie Schande über unfer Land bringen.
Alfred Nobels Gedanke war fehön: er wollte unferem unbemerlten.
Baterlande eine Hegemonie in der Literatur fchaffen; aber er fannte weder
die Literatur noch die Akademie. Die Literatur der Zeit ift der Roman und
das Drama; doch unter den vier literarifchen Beiligern der Alademie ift fein
Romancier, fein Dramatifer. Achtzehn unliterarifche Räthe und nicht ein
tompetenter Richter. Das ift kein Gerichtshof! Das ift nichts!
Stodholm, September 1903. * Auguſt Strindberg.
ge
106 Die Zukunft.
2imoralifche Kriegsgeſchichte.
SR Wiffenfhaft wird jemals ausgelernt; am Wenigften die der Gefdichte.
Sie ift von einer Mannichfaltigkeit, einem Reichthum wie Teine zweite,
benn alle Wiſſenſchaften gehören ihr bis zu einem gewiſſen Grad an. Erſchwert ſchon
Das ihren Betrieb, jo gejellt fi) noch Hinzu: die Aufbewahrung und die Art ihres
Materiald. Das pflegt weit verjtreut zu fein in Archiven, Bibliothefen und
Saminlungen und ift ſtets aus den Ereigniffen heraus, unter beitimmten Ver⸗
bältniffen, erwachien, weshalb fi oft der Thatbeftand nur ungenügend, noch
jeltener der genaue Zufammendang und am Seltenften Gründe und Urſachen
feftitellen laflen. Hier ift eine Wechſelwirkung zwilchen dem Dtaterial und dem
Denken und Empfinden bes Forſchers nötdig; denn es kommt nicht nur darauf
an, was, ſondern auch, wie man es ſchildert. Auffafjung und Geftaltung erweifen
fi für den nichtzünftigen Qefer oft wichtiger als die Genauigkeit von Daten
und Bahlen. Ye nad der Denk. und Empfindungmweife kann diefe Auffaflung
nun bei dem felben Gegenſtand weit auseinandberflaffen. Solde Fälle bietet
bie Geſchichte liberall; und oft handelt es fi) dabei um die hervorragendſten Per-
fonen und die wichtigften Ereigniffe. Das ijt beflagenswerth, weil e8 der ganzen
Wiſſenſchaſt einen Zug von Unfertigfeit giebt, ihr den Stempel der Unficherheit
verleiht. Aber bei der allgemeinen Sachlage läßt es fich nicht vermeiden; ver⸗
ſchiedene Menſchen betrachten den felben Gegenftand eben verfchteden. Immerhin
follten bier gewifje Grenzen beftehen. Wird gegen die Gejege der Moral verftoßen,
dann finkt die Geſchichte, troß all ihren Entdedungen, troß ihrer technifhen Höhe,
zur Dirne herab und vergiftet, ftatt zu erziehen.
In vollem Umfang können folche Verirrungen natärlid nur in abge
ſchloſſenen Leiftungen bervortreten; aber fie find auch ſchon in Einzelfällen fühl«
bar, die das Denken und Empfinden des Schreibenden wibderjpiegeln. Bei der
Verwirrung der Geijter, die jet vielfach herrfcht, bietet die neufte Geſchicht⸗
literatur natürlid) zahlreiche Fälle, wo der vorurtheillos Dentende den Kopf
fhütteln muß. Ich will einen folden Fall auswählen und erläutern. Er ift
dem Leben Napoleons entnommen. WUuf feinem egyptilchen Feldzug erſchien
ber damalige General Bonaparte vor Jaffa. Der türkiiche Befehlshaber des
Plaßes verweigerte die Uebergabe, der Ort wurde von den franzöſiſchen Truppen
erjtürmt, die ein entjeßliches Blutbad anrichteten und Alles niedermachten, deſſen
fie Habhaft wurden. Dabei fielen ihnen dreitaufend Gefangene in die Hände. Diele
Kriegsgefangenen ließ Napoleon töten. Den Hergang ſchildert General Keim in
dem von mirherausgegebenen Werk: „Napoleon J., Revolution und und Kaiſerreich“
folgendermaßen: „Der Obergeneral felbjt berichtet: ‚Alles mußte über die Klinge
fpringen; die Stadt, der Plünderung bingegeben, erlitt alle Schreden eines mit
Sturm genommenen Ortes.‘ Aber damit begnügte Bonaparte fi diesmal nidt.
Er befahl, am folgenden Tage dreitaufend Gefangene, die, in Moſcheen ge
flüchtet, die Waffen gejtredt Hatten, an das Meeresufer zu führen und dort zu
töten, ‚dabei aber ſolche Vorfihtmaßregeln zu treffen, daß nicht ein Einziger
von ihnen entrinnen könne‘. Ein Augenzeuge berichtet über ben Vorgang: ‚Es
war Befehl gegeben worden, all diefe Gefangenen mit dem Bajonnette nieder-
Amoralifche Kriegsgeſchichte. 107
zuftoßen, um bie Patronen zu fparen, bie anfingen, fnapp zu werden. Am
Morgen vor den Abmarſch vertheilte man die Unglüdlichen auf die Halbbrigaben.
Es wurden Vierecke gebildet, Front nach innen; dann gingen wir mit dem Ba»
jonnette auf dieſe lebendigen Dlaffen vor. Alle wurden getötet. Die Soldaten
gehorchten dem Befehl mit einem Gemifch von Abſcheu und Schreden.‘ Diefes
Maſſaere von Jaffa ift wohl das dunkelſte Blatt in der Gefchichte napoleonifcher
Sriegführung. Dan hat verfucht, es mit der harten Nothwendigkeit bes Krieges
zu entjchuldigen, weil e8 an Lebensmitteln gefehlt habe, die Gefangenen unter
wegs zu ernähren; fie im Freiheit zu fegen aber unthunlich gewejen wäre, weil
fie doch wieder bie Waffen gegen die Franzoſen ergriffen Haben würden. Diefe
ganze Beweisführung bricht unter den eigenen Berichten Bonapartes zufammen,
in denen er meldet, daß man allein in Jaffa 400000 Nationen Zwiebad und
20.000 Eentner Reis und kurz vorher in Gaza 300000 Rationen Zwieback ſowie
fonftige große Vorräthe an Nebensmitteln erbeutet habe. Der Mangel an Lebens:
mitteln konnte demnad nicht die entfcheidende Urjache der entjeglichen Schlädhterei
fein. Der Obergeneral wollte in crjter Linie ein Exempel jtatuiren, das weit
in den Orient hinein ben Schreden feines Namens verbreiten follte. Daß ihm .
das Diitführen und Bewachen der Gefangenen an fich läftig fein mußte, mag
zugegeben werben. Das Tann aber niemals einen folchen unmenſchlichen Maſſen⸗
nord Wehrlofer entſchuldigen. Es bat mit einer faljchen Sentimentalität nicht
das Geringite zu thun, wenn man dieſes erbarmungloje Hinwegſetzen über die
Geſetze ber Dtenfchlichleit, des Chriftenthumes, des Völkerrechtes und felbft des
Krieges als Das bezeichnet, was e8 war, als einen Alt, würdig eines graufamen
orientalifchen Deipoten.“
Bergleiden wir Hiermit die Darftellung des felben Gegenſtandes, bie
Roloff in feinem Wert „Napoleon I.” giebt: Der europäiſchen Artillerie konnte
Saffa nicht lange Stand halten; e3. wurde erftürmt, geplündert und die ganze
Garniſon getötet. Ein Theil der Truppen, an zweitaufend Mann, batte fid
ergeben, aber ihr Schidfal wendeten fie damit nicht. Napoleon konnte fie aus
Mangel an Provtant nicht ernähren und aus Mangel an Truppen nicht Über
waden: entlaffen konnte er fie nicht, weil fie jogleich die Reihen feiner Tyeinde
verftärkt Hätten; es blieb alſo nichts übrig, als fie Alle, einem Urtheil der
Tranzöfiiden Generale entſprechend, erſchießen zu laſſen. Barbariſch erſcheint
das Borgehen auf den erſten Blick; und mehrere Tage lang bedachte ſich Napoleon,
ehe er ben Spruch feiner Generale vollzog: aber die erfte Nüdficht des Feld⸗
Herrn, das Heil der eigenen Armee, machte die Grauſamkeit unvermeidlich. Sie
äft keineswegs ohne Beilpiel in ber Kriegsgeichichte und widerſpricht humani⸗
tären Anſchauungen nit mehr als die Praxis des achtzehnten Jahrhunderts,
Die Kriegsgefangenen zum Dienft im Heere bed Siegers zu zwingen.“
Wohl jeden Denkenden wird diefe Verjchiebenheit der Anſchauung über
die jelbe Sache befremden, um fo mehr, als bie Rollen gewiſſermaßen vertaufcht
find, als der gediente und erfahrene Solbat der Menjchlichleit, der militäriſch
unerfahrene Hiftorifer der foldatiihen Gewaltthat da8 Wort redet. Suchen
wir uns dieſe befremdliche Erſcheinung zu erflären und prüfen zunächſt die
Darftellung des Gelehrten. Da heißt es: „Napoleon konnte die Gefangenen
aus Mangel an Broviant nicht ernähren.” Längſt ift dieſe von dem Schuldigen
108 Die Zukunft.
und feinen Anhängern verbreitete Mär widerlegt. Wegen bes Nahrungmangels
und aus zwei anderen Gründen joll denr Sieger „nichts übrig“ geblieben fein,
als die Generale um ihr Uxtheil zu befragen und die Leute bann erfchießen zu
lafien. Als ob ein Höchſtkommandirender, nun gar ein Napoleon, an das Urtheil
feiner &enerale gebunden wäre, al8 ob ein Feldherr nicht felbit die volle Ber-
aniwortung trüge, weil nur er zu befehlen hat und Niemand fonft! Es liegt
auf flacher Hand, daß ber fchlaue Korfe feine Gründe hatte, wenn er das Urtheil
feiner Untergebenen einholte; er wollte die Verantwortung und mit ihr die üble
Nachrede von fi ablenken: und wie man fieht, gelang ihm diefer Verſuch bei
gewifien Hiftorifern. Der gutmüthige Napoleon braucht mehrere Tage, um den
Sprud feiner Generale zu überdenken, bevor er ihn vollzieht und nad} der „erſten
Rückſicht des Feldherrn“ die Unglücklichen erſchießen Täßt. Erſchießen? Wir
hörten doch eben, daß er ſie, wie Raubthiere, mit dem Bajonnett ermorden ließ.
Durch den Sprud der Generale, die „erſte Rückſicht“ und das Erſchießen iſt
der fürdterlide Borgang in eine Beleuchtung gerüdt, die ihn dem unkundigen
Leſer als ziemlich harmlos erjcheinen läßt.
Die „erite Rückſicht“ eines Feldherrn — eine Verwäflerung von suprema.
lex — ift nit „das Heil der eigenen Armee“, fondern suprema lex und
ultima ratio find der Sieg, bad Niederwerfen des Feindes. Das Heer ift nicht
Selbftzwed, jondern Mittel zum Zweck; fein Heil kommt deshalb erft in zweiter
Linie und oft ift eine ganze Armee dem Erfolge geopfert worden. Ein Feld⸗
berr von der Sorte des Yürften Schwarzenberg blidte freilich mehr nad hintere
auf jein Heer als vorwärts auf den Feind; aber darum hat er auch fo viel
Unheil, jo viele Halbheiten angerichtet. Alſo der Satz von ber „erften Rück⸗
ſicht“ ift eben fo falſch, eben fo ſchwarzenbergiſch halb wie alles Andere, nur
ganz und gar nicht napoleoniſch.
Bonaparte konnte bie zweitaufend Mann übrigens jehr gut mitführen;
vielleicht als Laftträger von Proviant und Munition unter ftrenger Androhung,
baß jeder Widerftand und jeder Fluchtverſuch den Tod bebeuteten. Die Bwei-
taufend hätten feine Drientalen und überdies nicht meift zum Kriegäbienft ge-
preßte Leute fein müffen, wenn fie nicht blind gehorcht hätten. Napoleon bat
bieje einfache und nächſte Löfung nicht einmal verfucht; augenjcheinlich, weil fie
im, wie Keim richtig jagt, läftig war und er den Mord als Schredimittel
brauchte. Der Mord war demnach thatſächlich nicht Vollzug eines Urtheils ber
Generale, jondern eine Talt berechnete politifhe That, der Gedanke eines der
größten Menſchenverächter, den die Geſchichte kennt.
Die Anficht des Erzählers läuft darauf hinaus: Alles, was einem Feld⸗
beren für feine Armee nothwendig erfcheint, ift nicht nur erlaubt, fonbern ge»
boten. Man vergegenmwärtige ſich aber, wohin folde Annahme führen Tann,
ja, führen muß. Hält.man, wie Ludwig XIV., eine Wüſtenei als Grenze gegen
das Nachbarland für nothwendig, — nun, fo verbrennt man eben bie Dörfer und
Städte; find Einem Gefangene befonders Läftig ober beeinfluffen fie gar bie
ganze SKriegführung ungünstig, wie im Loirefeldzuge 1870, fo jchlägt man fie
einfadh tot; hat man Hunger, jo nimmt man dem Bürger fein Brot ohne Ent-
gelt; und giebt ers nicht gutwillig, dann Hilft Blei und Bajonnett; wird eine
Feſtung vom Feinde belagert und die Einwohner verfürzen bie Nahrung: gut,
Amoraliſche Kriegsgeſchichte. | 109
—8F
ſo läßt man ſie verhungern; und gefällt ihnen Das nicht, ſo macht man ſie kalt.
Dieſe Anſchauung des Hiſtorikers verträgt ſich nicht mit den Grundbegriffen
unſerer Kultur, an der die Welt Jahrtauſende lang gearbeitet hat. Und dann:
was für den Feldherrn „erſte Rückſicht“ iſt, ift es ſchließlich für Jedermann;
ſein „Heil“, das ſeiner Familie, erſcheint jedem Menſchen als „erſte Rückſicht“.
Hungert Jemand, ſo hat er, kraft der Lehre vom „Heil“, das Recht zu Dieb⸗
ſtahl und Mord, zu jeder Gewaltthat, um ſich Nahrung zu verſchaffen; ift er
obdachlos, jo verdrängt er Den, der ein warmes Stübchen bejist. Das wäre
der Krieg Aller gegen Alle. Neben bem „Ich“ aber beitehen Geſellſchaft, Staat
und Menjchheit; ihnen ift das „Ich“ nicht über-, jondern untergeordnet. Für
ben Teldherrn gelten neben dem „Heil“ feiner Armee bie Gefeße der Menſch⸗
Iichfeit und die des Krieges, worauf ſchon Keim hinwies. Moloff jagt, das Ver⸗
Balten Napoleons wideripreche humanitären Anſchauungen nicht mehr als bie
Praxis des achtzehnten Jahrhunderts, die Striegsgefangenen zum Dienft im Heer
des Siegers zu zwingen. Erſtaunt fiegt man: auf der einen Seite werden
Wehrloſe mit Bajonnettftichen abgefchlachtet, auf dex anderen werden Gefangene
dem Heer bes Siegers als ehrliche Soldaten eingereibt, und zwar zu einer Beit,
wo das Nattonalgefühl noch ſchwach enitwidelt war und die Truppen zum großen
Theil aus geworbenen Berufsfoldaten beftanden, bie bald diefem, bald jenem
Landesherrn dienten, wenn er nur zahlte. Und dieſe zwei bimmelfernen Dinge
follen auf gleiden „humanitären Anichauungen‘ beruhen!
Biehen wir die Summe. Ein Rorgang, ber wohl zu erllären, aber nicht
zu entichuldigen ift, wird beſchönigt und gerechtfertigt. Damit berühren wir eine
traurige Seite ber modernen Geſchichtauffaſſung. Sie zeigt geradezu eine Ver-
wirrung ber fittliden Grundbegriffe. Sie predigt die Philofophie der Selbſt⸗
ſucht, den Gotzendienſt des Erfolges. Während bei einem Napoleon und bei
fonftigen ‚großen Männern’ Alles erlaubt erjcheint, Alles mild beurtheilt wird,
verfährt man Außerft ftreng, wo der Erfolg fehlt oder gar das Unglück einzog.
Der Erfolg ift der Gott. Und leider nit nur für viele moderne Hiftorifer,
fondern für einen großen Theil der modernen Menfchheit. Aber es Handelt fich
babet nicht allein um abgeftumpftes Deoralgefühl, fondern — mildernd müflen
wird hinzuſetzen — aud um unflares Denken. Das verräth in unferem Yall
Thon der Stil. Im eriten Sag Roloffs heißt es: Die ganze Garnifon wurde
getötet; unmittelbar darauf find noch zweitaufend Mann am Leben. Wo fommen
diefe zweitaujend Mann plößlich ber, wenn alle niedergemadt waren? Unklarer
Stil beweift unklares Denten, — nur zu oft die Wurzel alles Uebels. So
kommt es, daB ein Berufshiftorifer, ohne mit ber Wimper zu zuden, rechtfertigt,
was ein Dann des Degens rüdhaltlos tadelt.
Beachtenswerth finde ih, daß Männer, die ſolche Anſichten vertreten,
Lehrer an deutihen Hochſchulen find. Wer will fih da wundern, daß der Idea⸗
lismus aus dem Etudentenleben weicht und jErupellojer Selbſtſucht Platz madt?
Brofeflor Dr. Julius von Pflugk⸗-Harttung.
Er
110 Die Zukunft.
Der neue Rirchhof.
SD Totengräber von Petzenhauſen, einem zwifchen ben lebten Bergſchwaden
nordwärts des Harzes gelegenen wohlhäbigen Bauernborf, hatte nad) ge»
zaumer Zeit wieder einmal hart bei ber Kirhmauer ein Grab gegraben unb
beſah nun kopfſchüttelnd die Schädel und Gebeine, bie auf dem friiden Erb:
baufen lagen. Er paßte einige Schenkel zufammen, fuchte die entſprechenden
Knochen und Schädel dazu und fand, daß er die Ueberbleibfel von mindeftens
fünf ehemaligen Bebenbäufern vor fi hatte. Der alte Detje nahm den beft-
erhaltenen Schädel in die Hand, betrachtete ihn eine Weile, ſann und grübelte
und kraute ſich in der grauen Bartkrauſe. Er maß bie hohe Schädelſtirn mit
ben gefpreizten Fingern, nidte lebhaft und rief noch lebhafter: „Dat maut Andreis
Battermann ſien!“ Andreis Battermann, ber alte Dorfphilofopb, wie ihn mal
Einer genannt hatte, Andreis, der bei allem Ungemach feines Qebens nie ein Kopf⸗
bänger war, auch feinen Kopfhänger um fich bulbete, der immer, wenn das Seil
feiner Hoffnung ihm jählings zerriß, die beiden Enden unverdroſſen wieder zu⸗
ſammenbrachte und dabei ſang:
„Wir wollen den Adam nochmal ſchmieren
Und die Kunſt nochmal probiren.“
Detje prüfte und maß den Schädel noch einmal und nickte wieder, wäh⸗
rend ihm eine feine Thräne ins Auge ſchlüpte. So ein ſtarkes, ungewöhnliches
Gehäuſe mit der charakteriſtiſchen Bucht da hinten, — 's litt gar keinen Zweifel:
Das war Andreis Battermann; und Detje konnte es wiſſen, denn er hatte ihn
gut gekannt, auf der Erde und ſozuſagen auch unter der Erde, denn er machte
die Gräber ſchon ſeit mehr als vierzig Jahren und hatte auch dem alten Andreis
dies Grab gegraben.
Wie er den Schädel noch fo ſinnend betrachtete, wars ihm auf einmal,
als würbe er ihm auf der Hand lebendig, als hörte ex wieder Andreis Batter-
manns Stimme:
„Wir wollen den Adam nochmal fchmieren
Und die Kunft nochmal probiren.“
Detje legte den Schädel raſch, aber jehr behutſam Hin und fchüttelte
energiich den Kopf. „Nein, Anbreis Battermann, Das wollen wir nit! Jetzt
nicht mehr und jedenfalls bier nicht mehr. Jenſeits, ja wohl, — aber bier ſollſt
Du Deine ungeftörte Ruhe haben, denn es muß ein neuer Kirchhof angelegt
werden oder ih will nicht mehr Totengräber fein.“
Als die Kirhthurmsglode fchlug und bie Kinder aus der nahen Scdule
ſchreiend daherwirbelten, ſchloß Detje das Kirchhofsthor und warf einige Schuten
voll Erde Über die Knochen. Schon aber drängten fi die Kinder am Xhor,
zwängten die Nafen dur das Bitter und fuchten jchauerluftig die Gebeine zu
erfpähen; etliche Buben Eletterten bereit3 über die hohe Mauer und kamen dem
Grabe fo nah, wie fie e8 vor der manchmal drohend aufgeredten Totengräber⸗
ſchute nur magen fonnten.
Schon feit fünf Jahren redeten fie in Pebenhaufen davon, daß man
endlich einmal mit dem Stnochengerappel aufhören, alfo einen neuen Kirchhof
anſchaffen müffe. Und nod immer war fein endgiltiger Entſchluß zu Stande
Der neue Kirchhof. 111
gelommen. Wie es denn dem Nothmendigen, fpringt es aus bem alten Gleis,
in fol einer Dorfgemeinde einmal fo geht: es wird nicht auf den Schoß, fondern
vor die Hörner genommen.
Zwei Parteien rangen mit einander um das llebergewicht; aber die eine
wor nur fehr Klein. Und diefe Feine Partei fagte: es jei ein Skandal und
ihr Gefühl leide es nicht länger, daß man die Ahnen und Urahnen alle dreißig
Sabre, mandmal auch viel früher, aus ber geheiligten Ruhe beraufhole und
Tage lang nadend und blos in der Sonne liegen lajje; hätten fich doch beim
legten „Haßlabend” gar etliche Burſchen mit den Schenkelknochen der Großväter
geprügelt. Man folle die ehrwürbigen Gebeine endlich ruhig laffen und Dbft:
bäume darauf pflanzen, Dann könnten die Ahnen die Gemeinde noch für alle
Zukunft in den Bäumen fegnen, bemerkte dazu der Geiftliche, ber natürlich zu
biefer Partei bielt. Die große Partei aber fagte: aufs Gefühl fomme es hier
nicht an, ſondern aufs Geld; und jo ein neuer Kirchhof Tofte viel Geld. Wenns
jedoch aufs Gefühl anfäme: warum es dann nicht auch ein ganz ſchönes Gefühl
fein könne, wenn Einer von Beit zu Zeit mal feine Ahnen wiederjehe und
fi die Knochen für den Großvater oder die Großmutter wieder zufammenftellen
könne. Es ſei doch von Alters ber jo geweien, dab immer wieder von vorn
angefangen wurde, wenn man Die Reihe „rum“ war; warum es nun nicht in
Zukunft fo bleiben folle.
Der Großlöiner Hornhart, der das große Wort bei dieſer Partei führte,
erinnerte grobwigig an AnbreiS Battermann, ber immer gejagt babe: „Wir
wollen den Adam nochmal ſchmieren und die Kunſt nochmal probiren.” Hornhart,
befien großer Hof im Oberborf eine ftattliche Breite zwiſchen der langen Dorf:
ftraße und ber biden alten Feldhecke, die das Dorf einfäumte, herriſch ausfüllte,
hätte es nicht nöthtg gehabt, fo fehr aufs Geld zu fehen; denn um den Antheil,
ber auf ihn kam, brauchte er nicht einmal ein Kalb zu verlaufen. Uber die volliten
Säde ftehen am Steifften. Und ift Einer voll von Gold und Geld, Tann er
nicht auch noch voll von Gefühlen fein. Das Eine [chließt, wenn nicht immer,
jo doch allzumeift, da8 Andere aus. Der Eine hats Geld und der Andere dad
Gefühl. Das ift einmal fo in der Welt, und wärs anders, ich meine, fo würde
e3 auch wohl möglich fein, daß an den langen Pappelbäumen jüße Feigen wüchſen,
da fie doch Bla genug Haben.
Der Kirchenvorftand rieth hin und ber und fagte fi: Könnten wir nur
bem Hornhart da8 Horn ausbrechen! Ya, darauf fam e8 in der That an, denn
wie die Dienfchheit Üiberhaupt, fo beitand beſonders die peßenhäujer Gemeinde
in ihrer weitüberiwiegenben Mehrheit aus Heerdenvieh, das nur nach den Hammel:
börnern an der Spige fit. Da man dem Großkötner alfo nicht mit dem
Gefühl beitommen konnte, mußte mans denn mal mit etwas Härterem verfuchen.
Der Kicchenvorftand Flügelte eine Lift aus. Warum fol nicht aud ein Kirchen⸗
vorſtand einmal liftig fein, falls er fih durchaus nicht anders helfen kann?
Man richtete an Hornbart ganz vertraulich die Anfrage, ob er wohl von
feiner überm Dorf gelegenen „Breiten Koppel” ein Stüd für den neuen Kirch—
bof hergeben würde. Gelbitverftändlid, fügte man umjtändlich hinzu, falls es
überhaupt einmal zur ernitlihen Anlage eines neuen Kirchhofes komme. Nun
gehörte Hornhart burchaus nicht zu jenen lofen Bauern, die fich fo leicht einen
112 Die Zuhmft.
Acer abhandeln laflen; er hatte aber längft im Stillen überſchlagen, weld ein
vortheilgaftes Geſchäft jo eine Kirchhofsanlage für den "Aderverläufer werden
könne. Erftens war in biefem ungewöhnlichen alle fider mit einer Berviel-
fachung des ortsüblichen Aderpreifes zu rechnen. Man konnte alfo für den
abzuftehenden Morgen gut drei andere wieder Taufen, zumal feit einiger Zeit
in Petzenhauſen Aecker genug feil waren. Wurde aber — fo überlegte Horn=-
bart weiter — der neue Gottesader in richtiger Weife auf feiner Breiten Koppel
angelegt, fo hatte er die Kirchengemeinde völlig in feiner Hand; bei der gewiß
einmal nöthig werdenden Vergrößerung des Kirchhofes Fonnte fie nur von ihm
kaufen, er mochte fordern, was er wollte. Und er wollte fordern, was er mode.
Freilich war das Sterbenstempo in Petzenhauſen immer ein ſehr lang-
fames gewejen; fonnte aber in Zukunft nicht einmal ein Trab oder Galopp
daraus werden? Konnten nicht allerhand Epidemien hereinbreden? Wie im
vergangenen Jahr in Grofjendorf, wo in wenigen Wochen zehn Alte und fünf-
zehn Junge vom Typhus dahingerafft wurden? Ueberdies galt es als eine
große Ehre, das Land zum Gottesader hergegeben zu haben; man Tonnte fid
bei Gott und den Menfchen angenehm und wichtig maden und befam nod einen
Haufen Geld dazu.
Der Kircdenvorftand hatte gemuthmaßt, daß Hornbart fo ähnlich denken
würde. Und er hatte fich nicht verrechnet, wie fich alsbald Herausftellte.
Hornhart, ein großer, ſtarker Mann mit einer kurzen, aber jehr runden
Stirn, that freilich erft ganz „weithin“. Denn er war ein Diplomat und ließ
fi) nicht in die Stube guden, ehe nicht Alles hübſch zurechtgeitellt war. Alſo
fetne Breite Koppel! He ja! Das ſei eine Koppel, wie fie Seiner im Dorfe
babe, — Keiner! Und eine geeignetere Stelle für den neuen Kirchhof gebe es gewiß
rund um Petzenhauſen herum nicht mehr. Aber fol eine Koppel lafje man
ſich doch nicht zerjchneiden. Zumal, wenn mans nicht nöthig habe.
Ter Kirchenvorfteher, der es übernommen hatte, dem Großkötner auf dem
Bahn zu fühlen, wußte nun fchon, woran er war; dennoch ftellte er fih, als
fönne er drei große Bohnen und fünf Kleine nicht jo auf ber Stelle zuſammen⸗
zählen. Es fei ſchade, bedauerte er, als er fchon über den langen Steinweg
zurückſchritt So ein Stüd aus Hornharts „Breite” hätte ſich gar zu gut für
den neuen Gottesacker gecignet. '
He nun, man [höhe ja doch fein Brot in den ungeheizten Badofen,
meinte Hornhart entgegentommend. Das Sterben wäre ja nun einmal nicht ab»
zuichaffen, und da man mit der Zeit doch um den neuen Kirchhof nicht herum«
käme (Aha! machte der Stirchenvorfteher innerlich), fo könne man die Sache noch
einmal beſprechen. Er jehe ja ein: mit dem fatalen Snochengerappel müſſe es
wirklich ein Ende nehmen. Und wo fo gute Gründe feien, da wolle er lie”
lich kein ſolcher Unmenſch fein, daß er nicht für eine gemeinfame chriſtliche Sad
ein Opfer bräcdte (Aha! machte der Kirchenvorfteher, aber nur wieder ganz bt,
ih). Es Habe eben jedes Ding feine zwei Seiten, ſchloß der Großlötner; man
müſſe e3 nur mal ummwenden. Und er Habe es umgemwandt.
Was fol ich Weiteres fagen?.
Der Kirchenvorjtand hielt den Großlötner bei den Fittichen und der Groß⸗
fötner wieder meinte, er bielte den Sirhenvorftand bei den Fittichen, — und fo
Der neue Kirchhof. 113
kam e3 zwifchen Morgen und Abend zu einer Vereinbarung, wonach ber neue
Kirchhof wirklih auf Hornharts Breiter Koppel überm Dorfe angelegt werden
ſollte. Natürlich gegen eine Summe, die den Sad ſteif und ftrad! machte.
Daß die Obrigfeit den Handel zu beftätigen Hatte, der Kirchenvorſtand
darum einen entjprechenden Vorbehalt maden mußte, ſchlug Hornhart in feiner
plößlicden Begeifterung für den neuen Kirchhof nicht weiter an; an biejer Be:
ftätigung konnte ja aud) gar nicht gezweifelt werben; dazu war der neue Kirch⸗
Hof zu nöthig und Hornharts Gewicht zu gewichtig. So gründlich war jeine
Befinnung umgejchlagen, daß er fogar mit dröhnender Stimme beftritt, über-
haupt je gegen den neuen Kirchhof gewejen zu fein, eben jo wenig wie er gegen
das Sterben felbit jei. Was man braude, braude man; und ein Kirchhof jet
feine Kirmeß, die man feiern oder nicht feiern könne, je nachdem man Luft habe.
&3 war fein Mann und fein Menſch in Pebenhaufen, der es mit dem
Großen und Gewaltigen verderben wollte, der fich erfühnt hätte, auch nur ein-
mal mit der Uchfel zu zuden, wenn Hornhart ihn ins Auge nahm. Sie nidten,
wenn er ſprach, und fagten Ja, wenn er nidte, gaben es ihm aber um fo Träfti-
ger, wenn er nicht dabei war.
Man flug bie erſten Planken um den neuen Gottesader, — und Thon
jagte auch ber Tod ins Dorf, ihm feinen erften Tribut zu bringen.
Die endgiltige Prüfung und Genehmigäng durch die Obrigleit ftand zwar
nod immer aus; Tonnte es aber baran fehlen? Auch geweiht war die neue
Ruheſtätte noch nicht, doch follte Das zugleich mit dem erften Begräbniß ges
fcheben. Alſo ging Detje auf ben neuen Ader und grub das erfte Grab.
Während jonft in Pegenhaufen bie Toten auf dem leßten Gange nur
von den Angehörigen und Nachbarn begleitet murden, betheiligte fih bei dieſem
außergewöhnlichen Begräbniß die ganze Einwohnerſchaft am Gefolge,
Sogar ber Herr Amtshauptmann war aus der Kreisitadt gelommen, um
bei der Einweihung gegenwärtig zu fein. Der vornehme und gefürditete Herr
ſprach vor allem Volt mit Hornhart und lobte und ehrte ihn fo, daß der ohne
bin jchon jehr von fich eingenommene Großkötner dann no einmal fo ftolz in
dem großen Gefolge einherichritt. Jeder Blid, mit dem er um fih warf, ſchien
zu jagen: Habt Ihrs gefehen? Mit mir bat der Amtshauptmann geſprochen!
Sa, wäre ich nicht, fo hättet Ihr noch lange, ha, noch lange feinen neuen
Kirchhof gekriegt!
Der Leichenzug ſchlug einen fehr umftändliden Weg ein, um an bem
alten Kirchhofe vorüber zu kommen. Dean bielt hier einen Augenblick an, fah
und nidte nad den alten Gräbern hinüber, als wärs ein Abſchiednehmen ber
Toten von den Toten. Und die Cypreflen und Tannen, die da und dort auf
en eingefallenen Gräbern ftanden, die wilden Roſenbüſche an der Kirchhofs-
tauer und die ftolzen Schwadronen der Brenneflel, die längd der Mauern und
ı manden Grüften Wade hielten, die Lilien und Nelken zwifchen dem üppig
ıchernden Gras und Kraut, — fie alle hoben fi) und gudten über die Dauer,
rickten wieder und neigten fich, al3 verftänden fies gar wohl, was jegt in Peßen-
aujen vorging, und als wären fies gern zufrieden.
Dem alten Totengräber aber, der der Feierlichkeit wegen mit der blanfen
Schute am Ende des Zuges ſchritt, — dem alten Totengräber wars, als hörte
Andreis Battermann aus dem lebten neuen Hügel rufen:
114 | Die Zukunft.
„Wir wollen den Adam nochmal ſchmieren
Und bie Kunſt nochmal probiren”
Der Alte mochte fih in feinem frommen Xotengräbergemüth gegem bie
Stimme aus der Erde fträuben, wie er wollte: er hörte fie jo deutlich wie vor
dreibig oder vierzig Jahren, hörte fie deutlicher als all die hundert feinen und
groben Stimmen bes langen Leichenzuges, die zufammenjtrebten in dem alten
Sterbelied aus dem Kirhengelangbuth:
„Ale Menſchen müflen jterben,
Alles zleifch vergeht wie Heu!” . . .
Der alte Totengräber ſetzte wiederholt fräftig mit ein, verfiel aber jede3-
mal in Andreis Battermanıs Lied. Er ſchüttelte es in fi ab, machte mit
ber Schute, ald ob ers wie einen Elebrigen Erdkloß darauf hätte, merkte aber,
daß ſichs weder abichütteln noch wegichaufeln ließ, daß es feftfaß wie ein Kobold.
Er empfand diefen ſeltſamen Zuſtand halb wie eine geilterhafte Fopperei, Halb
wie eine Sünde, weil er meinte, daß fein Sinn nicht ernft genug zu dem Herrn
über Leben und Tod gericätet ſei. Und in der Ungemibheit über dad Wahre
in feinem augenblidlihen Zujtande fühlte er fich in feiner Seele gedrängt, dem
Herrn, deſſen ſchrecklichen Ernft er in dem ungewöhnlich langen ſchwarzen Zuge
verförpert fah, um Geduld und Bergebung zu bitten. Aber ſelbſt in diejen
Gebetsfeufzer fang Andreis Battermann:
„Wir wollen den Adam nochmal jchmieren
Und die Kunſt nochmal probiren ...
Berzweifelt fchüttelte Detje fi aufs Neue, daß Alle, die vor und neben
ihm gingen, einander bedenklich anjahen und ein Melodieende zurüdblieben, das
dann auffällig nachdröhnte. Und die Schuljugend, die mit ihrem Lehrer dem
Sarge in geordneten Zuge voranſchritt, begann mit weithin tönenden Bellen
Stimmen ben fechsten Vers des tröftlichen alten Sterbeliedes:
„O Serufalem, Du Schöne,
D wie helle glänzeit Du!
Wie ein lieblich Lobgetöne
Hör ich jetzt in ſtiller Ruh!
O, der großen Freud’ und Wonne!
Seo gehet nuf die Sonne,
Jetzo geht mir an der Tag,
Der kein Ende nehmen mag.“
Der lebte Vers dauerte bis an den Handmeiler, der oben vor dem Dorf
ftebt. Noch drei Strophen mehr: und er hätte bis zu dem neuen Friedhof ge-
reiht. Doch horch! Dig, Lerchen waren ſchon dabei, das Lied fortzufegen; nur
daß fie einen anderen Text und eine andere Melodie wählten.
Ein finnender Bauer am Ende des Zuges ſah ihnen nad, nidte und
fagte zu feinem Nachbar, dem Totengräber: die ins Unendliche aufiteigende Lerche
zeige ihnen, welden Weg die Menſchenſeele nehme, während ber Leib bier zu
Grabe getragen werde, und daß der neue Kirchhof überhaupt nicht unfere bleibende
Stätte ſei. Detje nidte und fagte: „Wir wollen den Adam“ ..., brach aber
topffchüttelnd ab, ſchob Andreis Battermann fanft bei Seite, lauſchte angejtrengt
auf die Lerche und überfegte ihr Lied anftößig laut in: „Nah'n Himmel is’t
wiet, wiet, wiet hen ...“
Der nene Kirchhof. 116
Nah dem Himmel iftS weit, weit, weit bin! Sa, fo fang die Lercde
„wohl; aber wäre der Weg auch noch jo weit, brauchte doch Feine erlöfte Seele
fo viel, in ben Himmel zu fommen, wie eine Lerche braude, um mit ihrem
Liede aus dem grünen Klee in die hohen Lüfte zu fteigen, meinte der Bauer.
Sie wunderten fi) Beide, der Bauer und der Totengräber, daß fie durch
die Lerche auf folche Gedanken gekommen waren. Und es fiel ihnen ein, daß
fie auf dem Wege zum alten Gottesader noch niemals eine Lerche gehört hatten;
auch aus diefem Grunde wäre es gut, meinten fie, daß fie einen neuen Friedhof
im freien Felde befommen hätten, wo bie Lerchen alle Tage ihre Himmelsleitern
binaufftiegen. Da gewöhne fich die Dienfchenjeele um jo eher an den Weg und
an feine Richtung.
Als die Spige bed Zuges den Kirchhof erreichte, trat Hornhart in ge
wichtiger und geräufchvoller Weije aus dem Gliede, um mit rafden Schritten
voranzugehen. Er fühlte fich gewiflermaßen als Gaftgeber des Todes und fchritt
Allen voran als Erfter auf den neuen Kirchhof, um fozufagen die Honneurs zu
machen. Der Herr Paftor gab ihm im Vorbeigehen noch einmal die Hand, um
ihn zu ehren; und wenn auch ber Herr Amtshauptmann die Hand nicht ausitredte,
fo ließ er es do an einem mwohlwollenden Zuniden, das Alle jehen Eonnten,
nicht fehlen. Detje eilte mit feiner Schute an den Rand des Grabes, gudte
hinunter und ſchüttelte leife den Kopf.
Der Paſtor erhob feine Stimme und hielt eine ergreifende Predigt über
das Wort: „Der Menſch tft wie eine Blume auf dem elde; wenn ber Wind
darüber gebt, jo ift fie nimmer ba und ihre Stätte kennet fie nicht mehr.“
Und dann fams, was Detje ſchon vorausgejehen, aber leider — um ben
neuen Friedhof nicht zu gefährden — für fich behalten ober als nicht „der Rede
werth“ bezeichnet hatte: jähe Waſſerſpritzer fchoflen aus dem Grabe empor, als
die Träger den Sarg in dem weißen Laken binunterließen, und ınan hörte ein
klatſchendes und ſchöͤlendes Geräuſch. Das Waller, das fi in dem Grabe an-
gefammelt hatte, war Über dem Sarge zufammengefchlagen. Die Träger ftodten
eine Weile, fahen einander aus fahlen Geſichtern an, zogen die Stride unwill-
fürlich wieder an und mußten den Sarg dod ganz hinunterlaffen, fo daß er
im Waſſer völlig verfhwand. Ein Graufen ging durch alle Reihen. Die Frauen
und Mädchen unter den Angehörigen des Toten verhüllten ihre Gefichter, wandten
fid ab und weinten laut. Der Amtshauptmann, der nun an den Brabesrand
trat, zog eine finftere Miene, jprach leife mit dem Paftor und fchüttelte energifch,
den Kopf. Die am Nächſten Ttanden, hörten, wie er fagte: „Zu hoher Grund»
waflerftand!” Der alte Totengräber aber hörte nur wieder Andreis Battermanns
Stimme: „Wir wollen”... Aber nun fchüttelte und fchaufelte er nicht mehr.
Nun nidte er; nun begriff er, warum ihm das Lied des alten Dorfphilofophen
all die drei Tage lang nicht mehr aus dem Sinn fommen wollte. Faſt hätte
erö dem ftolzen Hornhart laut und triumphirend ind Geficht gerufen:
„Wir wollen den Adam nochmal ſchmieren
Und die Kunft noch einmal probiren!”
Die heillen und für alle Seiten jehr aufregenden Verhandlungen, die
dem unvorjichtigen Begräbniß folgten, um ben Kirchhofshandel wieder rückgängig
zu maden, follen uns bier nicht mehr aufhalten. Auch um das Loch, das Horn.
116 Die Zukunft.
harts Patriotismus auf einmal befommen hatte, wollen wir fchnell herumgehen.
Dean muß einem fo großen, eigenfüchtigen Manne immerhin Einiges zu Gute
halten, meinten die gutwilligen Petzenhäuſer und thatens au; denn fie fehen
nach ihrer Art einmal lieber ins Gleiche als ins Ungleiche.
Dahingegen hielt Hornhart den Pegenhäufern nichts zu SBute Eine
Schlange voll Gift und Grift fraß an feinem Herzen, umwand unb ummidelte
ihn, zifchte und ſtach nach Allen, die in jeine Nähe kamen. Aber was er auch
anftellte, um feinen Vortheil und jeine „Reputation“ zu wahren: e3 half ihm
nichts. Die Breite Koppel mußte den Leichnam wieder herausgeben und mußte
es „von Rechtes wegen“. Der Vorbehalt war es, der vertradte Vorbehalt, der
den Großkotner „unterfriegte”. Hornhart, bis ind innerfte Marl verwundet,
ging Tage lang nicht mehr von feinem Hofe. Er brütete Rache. Ja, Hätte
man noch den Toten wieder auf den alten Kirchhof bringen wollen! Aber nicht!
Nein, wie es in der erlafienen Verfügung von oben herunter ganz kurz und
knurrig hieß: unverzüglich fei ein beſſerer Plab auf grundwaflerfretem Boden
zu ſuchen. Sa, darin fah er nun noch die Hauptlränfung. Als ob es in der
ganzen pegenhäufer Gemarkung einen befferen Pla gäbe! Einen befleren Blag!!
Wie Hatte doch Undreas Battermann gelungen? Hornhart, Du Tannteft
ja das Lied fo gut! Paßte e8 nicht auch auf die jetzige Qage, ba man die Kunſt,
einen neuen Kirchhof zu finden, nochmal probiren mußte?
Ohnmächtig mußte er zufehen. Seine eigene Stimme, mit der er fi
jo energifch für den neuen Kirchhof entichieden Hatte, band ihn, ſchmiedete ihn
an; fie war eine That, die nicht ungelchehen gemacht werben konute, und-wären
Hornharts Hörer noch fiebenmal fo Hart und groß gemwefen, als fie waren.
Nah gründlicher, Tachverftändiger Bodenunterfuhung wurde ber neue
Kirchhof nun unterhalb des Dorfes angelegt, wo überall milder, burchläffiger
Untergrund war. „Wir wollen die Kunſt noch einmal probiren“, fagte der alte
Detje, ald er die Schute wieder zur Hand nahm; denn e3 galt jeßt, bie Leiche
aus Hornhart8 Ader wieber auszugraben und als erite auf dem neuften Fried⸗
bof zu beitatten; womit dann zugleich die Einweihung verbunden werben follte.
Der feierliche Tag rücte heran. Und das erite Grab wurbe gegraben.
Dan ſah nah dem Wafler, fand aber feine Spur. Das Grab war fpröd und
troden wie eine Feldfurche am hellen Sommertag. Als man am anderen Dlorgen
aber wieder an das Grab kam, war es faft bis an den Rand voll lauteren
Waſſers. Der Kirhenvorftand entjegte ſich und beichloß fofort die Aufſchiebung
ber Feier. Doch Hatte fih das Grab noch lange vor Mittag wieder völlig ge-
leert, und als der Abend kam, war es wieder rauh und troden wie eine Feld⸗
furche unter der Sonne. Die Leute fchüttelten die Köpfe, und da es nicht geregnet
hatte, konnte fi Niemand, am Ullerwenigften der Totengräber, erflären, wı
das Wafler gefommen fei. Man wartete auf den Morgen; und fiehe: als ı.
im Näherkommen einen Stein ins Grab warf, fprigte das Wafler hoch em)
Man rief Sachverſtändige herbei; fie gruben und forjchten den ganzen T
zerbrachen fich die Köpfe, riethen bin und ber, konnten aber feine Urjade fin.
und meinten am Ende, da müſſe der Teufel feine Hand im Spiel haben.
Was die Sahverftändigen im Scherz geäußert, ging bald als grauje,
voller Glaube dur Hof und Haus und der Schauder wurde noch größer, ”
Der neue Kirchhof. 117
der Nachtwächter, der zufällig einmal um Mitternacht erwacht war und nad) dem
neuen Friedhof ansgelugt Hatte, mit allen heiligen Verſicherungen erzählte, er
babe einen Mann Über den Kirchhof hinwegſchreiten jehen, der fei fo groß ge-
weien wie ein Pappelbaum und fo breit und ſchwarz wie ein Schornftein und
babe Schritte gemacht, wie wenn zwei große Pappelbäume im Sreuz überein⸗
andergelegt würden. Biele lachten, benn fie wußten, daß ihr Nachtwächter nichts
wußte, wenn er nichts geträumt hatte. Uber Deije nidte, und ald er am
. nädften Morgen früh näher zufab, fand er ganz friiche und ganz eigenthüm-
liche Yubipuren, die hin zum Grabe führten und wieder ber und fo ungewöhn:
lich groß und breit, fo ſeltſam boppelfüßig erfchienen, daß fie unmöglich auf
einen gewöhnlichen Menſchenfuß zurüdzuführen waren.
Den ganzen Tag dauerte das Laufen der Neugierigen nad) dem Grabe.
Nur Hornhart fehien gegen ſolche Neugterde gefeit zu jein; doch fpähte er gar
oft aus dem Eulenlocd feines Haufes nad dem neuen Kirchhof hinaus, grimmig
und böhnifch lachend, wenn er die ab- und zugehenden Menjchengruppen ſah.
Es fiel kein Lit vom Himmel; und ſchon kam der Kirchenvorſtand zu⸗
fanımen, um auch biefen zweiten Kauf wieder rüdgängig zu machen... Es fiel
Tein Licht vom Himmel; aber es ſchoß empor aus der Tiefe der Hölle.
Am achten Dlorgen ward, nachdem man bad Grab gegraben Hatte, als
plöglih ein vielftimmiges, furdtbares Geſchrei ind Dorf bineingellte. Zwei
Fuüße, zwei ganz gewöhnliche Menſchenfüße, die in breitfohligen, biden Stiefeln
ftafen, vagten aus dem Grab und eine Mütze lag am Grabesrande! Barm-
berziger Heiland! Es währte lange, bis man fi überwand und ben Leichnam
beraudzog. Er war fteif und ftrad und bie eine Hand hielt das Tragholz um⸗
klammert, das zwiichen den beiden großen Eicheneimern auf dem Grabesboden
lag... „Horndart! Hornhart!” ſchrien Alle; und wie beſeſſen rannten die Meiſten
som Kirchhof hinweg.
a, nun war das Näthjel gelöft, nun fand fih aud, wie man Alles
durch das Vergrößerungsglas der aufgeregten Phantafie geiehen Hatte. Aber
daß Hornhart eigens das Waller in das Grab bineingetragen habe, um ſich
darin zu ertränfen, konnte man doch nicht gut annehmen. Ohne Zweifel Hatte
er, um fi zu rächen und bie neue Kirchhofsanlage zu hintertreiben, das Wafler
über Nacht in das Grab hineingetragen. Dabei war er ausgeglitten, Topfüber
ins Grab geitürzt und Hatte fih das Genick gebroden.
Biele unter den Alten wollten fich freilich mit dieſer natürlichen Erflä-
zung nicht begnügen. Die Einen meinten, ber Teufel habe ihn binabgeftoßen und
ihm dabei den „Hals umgedreht”; Andere wieder und darunter Detje, der Toten.
gräber, dachten fich8 jo, daß die Toten, die fo oft aus ihrer Ruhe geftört wurden
und jo lange vergeblich auf den neuen Kirchhof warten mußten, an Hornhart
Rache genommen und ihn mitternacht3 zwiſchen Zwölf und Eins mit bürrer
Hand binabgeftößen hätten. Im Reich der Toten gelte eben Andreas Batter-
manns Philojophie nicht mehr, erflärte Detje, der Totengräber, der immer nod)
nicht von dem Sprüdlein loskommen konnte.
&
Heinrih Sohnrey.
118 Die Zukunft.
Ein Sanderziehungheim.
Gemeinfame Erziehung von Knaben und Mädchen. Programm bei
Landerziehfungheims Laubegaſt. Berlin, Gerdes & Hödel.
Ich übergebe der Deffentlichkeit den Plan einer Schulgründung, die im
diejem Herbft in Angriff genommen werden fol. Denn die frage der gemein
famen Erziehung ift in der Theorie wenigitens |pruchreif geworden. An einer
ernsthaften Verwirklichung der Idee fehlt es aber in Deutfchland. Andere länder
find uns längſt in der Ausgeftaltung diejes Gedankens voraufgegangen. Ich
babe nach Profeffor Rein die Zahlen angeführt. Hier genügen zwei Zahlen:
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika folgten im jahre 1895 in dem
größeren Städten 93 Prozent der Öffentlihen Schulen diefem Syitem; in Nor-
wegen ift durch das Schulgeſetz von 1896 die gemeinfame Erziehung für Staat
faulen eingeführt worden. Was über die pädagogiichen Erfolge berichtet wird,
ift geeignet, unjere Hoffnung zu ftärten. Der nächſte Zweck — und barum auch
der nädjfte Angriffspuntt — ift die Möglichkeit gleicher Bildung für Frauen
und Männer. Wenn wir den Streit mit Vertretern einer verblichenen Welt»
anſchauung ablehnen, jo werden alle möglichen Einwände paralyfirt, jobald man
den Begriff „Bildung“ in der Allgemeinheit faßt, die ihm gebührt. Die Aufe
gabe der Schule iſt nicht die Vorbildung für beitimmte Berufsarten. Diefe
elende Auffafjung bat allerdings die rauen von ber Theilnahme an jeder höheren
Bildung ausgeſchloſſen; fie bat aber auch unfer gefammtes Bildungwefen in
ungejunde Bahnen gebracht. Denn fie mußte mit der Differenzirung der Lebens⸗
verhältniſſe zu der Unterjchiedlichkeit der ‚„‚Bilbungideale‘' führen, über der die
Einheitlichkeit unſerer Weltanjhauung verloren zu gehen droht. Da ſchon bie
Lebensintereſſen unjer Volk bedauerlicher Weife in Gruppen theilen, die einander
nicht mehr verftehen: wo foll e8 dann noch einen gemeinfanen Boden geben,
wenn nicht die Bildung ihn ſchafft? Wohl machen fi) Bedenken geltend, die
fih auf phyſiologiſche und piychologiiche Verſchiedenheit der Geſchlechter berufen.
Die Sonderart zu leugnen, ift eine Thorheit; fie aus der Welt ſchaffen zu wollen,
ein nutzloſes und verberbliches Unterfangen. Denn in der Differenzirung bat
das Leben den Reichthum an Motiven zu feiner Fortentwickelung. Wir müflen
diefe Sonderart verftehen und mit ihr rechnen; alle Einrichtungen (kleine Klafſſen,
Bufammenarbeit männlicher und weiblicher Lehrkräfte, jede möglicde Verbindung
von Schule und Leben) müllen von dieſer Nüdjicht geleitet fein. Aber unter
diefem beilfamen Zwang erhält der Unterricht Fülle und Leben. Doc unjere
Hoffnungen gehen weiter. Die Erfahrung lehrt, daß jedes Geſchlecht, für fi
allein erzogen, die Eigenthämlichkeiten feiner Geiſtes- und Gemütbsanlagen
potenzirt, oft über die Grenze hinaus, die gegenjeitiges Verftehen noch möglich
macht. Und wenige Beijpiele genügen, um zu zeigen, daß durd dauernde Be
rührung und Wechſelwirkung auf beiden Seiten Tugenden geftärkt, Härten ges
mildert, Schwächen zurüdgebrängt werden. Wenn nun im Leben überall Männer
und rauen neben einander jtehen müjlen: warum foll dieſe Wechſelwirkung
erſt beginnen, wo die abgejchloffene Entwidelung eine Beeinflufjung erfchwert,
vielleicht unmöglich madt? Wir brauchen für eine neue Zeit auch ein Neues
in den Verhältniß von Mann und Weib: den Begriff echter, freier Kamerad⸗
Ein Landerziehungheim. 114
haft auf der Grundlage gegenjeitigen Verftändnifled und gegenjeitiger Achtung.
Aber dazu genügt gemeinfamer Schulbefuh nicht: dazu gehört das gemeinfame
Ssugenbleben, das fo gefund und fo frei geftaltet jein muß, daß e8 jede Ein-
wirkung gejtattet und jede Entwidelung ermöglidt. Und nun kommt das andere
ichwerwiegende Bedenken: die fittliche Gefährdung. Allen Vorurtheilen und aller
Unfenntniß gegenüber ſage ih: Geſunde und natürliche Lebensweiſe, Zuſammen⸗
fein in einem frohen reinen Kreis mit Erwachſenen, befonnene Yührung und un-
merkliche Aufjicht, Urbeit, die den Körper müde macht und den Geift von unnügen
Phantafien ablenkt, die Achtung, die in dem anderen Geſchlecht Unberes jehen
läßt als das Mittel zum Sinnenreiz, und die natlirlicde Scheu, die dem Verkehr
die Grenzen zieht —: Das find .die Mittel, die Schambaftigkeit ftärker und ge-
fünder zu erhalten als alle Abjperrung, die doch ein Unding und eine Unmög-
lichkeit ift. Die Engländer haben in ber gemeinjamen Erziehung auf Grund
Jahk langer Erfahrungen das befte, vielleicht das einzige Mittel zur Bekämpfung
der moral insanity erfannt.
Was die gemeinfame Erziehung vorausjegt und fordert, find Verhältniſſe
in der Zufammenarbeit von Schule und Haus, die wir heute nicht haben. Soll
aljo der Gedanke verwirklicht werden, fo muß er fich jelbft die Verhältniſſe ſchaffen.
Er kann es durch eine Erziehunganftalt, die Leben und Unterricht als geſchloſſene
Harmonie fo organifirt, wie dieſe Idee am Fruchtbarſten wirken kann. Diele
Möglichkeit ift gegeben in einem Landerziehungheim. Seit 1898 giebt es Land⸗
erziehungheime auf deutidem Boden Name und Organtijation ftammt vom
Dr. Hermann Ließ. Er wollte einen „Schulſtaat“ jchaffen, wo das Leben nad)
dem Grundſatz der Einfachheit, Gejundheit und Natürlichkeit geordnet fein, der
Unterridt ein Theil des Lebens werben, das Leben und der vertraute Umgang
mit den Lehrern, die Meiſter und Führer find, erziehen jollte. Beröffentlihungen
aus diefem Heim haben bie Kunde von der Ausgeſtaltung dieſes Lebens in weite
Sreije verbreitet. Die Idee des Landerziehungheimes ift heute anerkannt als
ein Weg zur Gejundung unjeres Unterrichtö- und Erziehungweſens. In der Uus-
geftaltung diefer Idee ift für uns der Weg gegeben, Das zu erreichen, was wir
dem jungen Geſchlecht, aus der Erkenntniß unferer Mängel heraus, wünfchen:
ein veicheres und edleres Verhältniß der Geſchlechter, das in dem Gefühl echter,
‚ freier Kameradichaft, in gegenfeitigem Verftehen und Achten mwurzelt, und beiden
Kraft und Geſundheit, Leibliche und geiftige Friſche, feiten Willen, Freiheit des
Gedankens und der That, Muth und Freude zum Leben.
Ich babe in einem Abfchnitt meiner Brodure „Unfer Heim und unjer
Leben‘ geichildert; ih Tann natürlich bier die Einzelheiten nicht bringen. Das
Grundſätzliche kann ein lebendiges Bild nicht geben. Zunächſt mußte ich den
Gedanken des „Schulſtaates“ für uns ablehnen, obwohl das Landerziehungheim
immer als ein „Eleiner Wirthichaftitaat‘ charakteriſirt wird. Gedanken Tyichtes
gaben die Anregung dazu, Gedanken, die werthvoll fein mögen, für uns aber
unfrudtbar find. Denn die gemeinfame Erziehung bat ihr natürliches Vorbild,
an das fie in ihrer Ausgeftaltung fih anlehnen muß, nicht im Staat, jondern
in der Familie. Ein Heim fol geichaffen werden. Dieſen Heimcharafter zu
wahren und zu pflegen, tft unfere Aufgabe. Daraus ergiebt fich eine Zahlbe-
ſchränkung, die eine große Ausdehnung des Wirthichaftbetriebes weder ermöglicht
9
120 Tie Zukunft.
noch erfordert (der Schulftaat Haubinda mit feinen ungefähr 1400 Morgen hat in
ſechs Klaſſen etwa 120 Schüler), und dazu gehört das Zuſammenwirken von Män-
nern und Frauen an bem Werk ber Erziehung. Zu einem gefunden und natur
gemäßen, freien und tüchtigen Leben fol die Knaben und Mädchen ein Heim auf
dem Lande vereinen. Einfache ländliche Verhältniffe erhalten ben Geiſt Des
Kindes frifch und aufnahmefähig. Der geiftigen Arbeit hält Törperliche bie Wage,
da die Böglinge an der Arbeit, die bie ländliche Haushaltung erforbert, im
Garten, in der Werkftätte, theilnehmen. Um fo mehr fühlen fie fi dann als
Glieder zu einer lebendigen Gemeinſchaft verbunden, zu der auch Lehrer und
Lehrerinnen mit ihrer ganzen Perjönlichleit gehören. Der Körper wird geübt
und geftählt durh Turnen, Spiel, Lauf, Wandern u. f. w. Uebrigens Hat
Dr. Lahmannn (Weißer Hirſch) es freundlich übernommen, in allen ärztlicdden
und hygieniſchen Dingen uns fachmänniſch zu berathen und zu helfen. Das
Zutrauen zu der Lörperliden QTüchtigkeit erzieht im Kinde gefundes Seldſtver⸗
trauen. Größere Reifen in die Ferne und Fremde erweitern ben Blid und
belfen dem Unterricht, der überhaupt ſtets mit dem Leben in engem Zufammen-
Hang bleibt, aus ihm jchöpft und es wieder durchdringt.
Ein dritter Abſchnitt beipricht „‚Bildung und Schulplan.“ Yud hier
nur einige Grundſätze. Die leitende Erfenntniß ift die, daß die Bildung, im
der fich alle Gebtldeten eines Volkes zufammenfinden follen, das Ergebniß ber
nationalen geiftigen Kultur fein muß. Alle ſprachliche Schulung, logiſche und
äfthetifche, wird an unferer Dtutterfprache erworben. Wir ftellen die Ziele der
ſprachlichen Bildung hoch, denn fie ift das weſentlichſte Stüd aller Bildung.
"Wir lernen denken durch bie Sprade. Die fremde Sprade ift Bildungzweig,
nicht Bildungträger. Mit diefer Anerkenntniß fchaffen wir uns die Möglichkeit,
neben ber für Alle gleichen Allgemeinbildung jede Zufammenjtellung der zu
erlernenden Fremdſprachen der Wahl frei zu lafien. Damit wird aber biefer Unter
richt auch fo entlaftet, daß er weniger Zeit und Arbeit beanfprucht. Wir orönen
den Lehrplan fo, daß wir unferen Schülern die Möglichkeit geben, nad neun-
jährigem Beſuch der Anftalt die Maturitätpräfung entweder an einem Gymnafium
oder einer Dberrealjchule zu beftehen. Ueber die Bedeutung der einzelnen Wiflens-
fächer, über Umfang und Gang des Unterrichtes babe ich in meiner Brochure ge=
ſprochen. Belonders ausführlich Über den deutfchen Unterricht, der, wie nicht erft
beiwiejen zu werben braudt, das Fundament jein muß. Hier will id nur nod
andeuten, daß auch der Kunjt und Literatur bei uns mehr Raum und Beit ge
währt werden fol, als es gewöhnlich in den Schulen geichieht.
Wir find uns ſehr wohl bewußt, daß wir Schwierigkeiten zu erwarten
haben, die in Berhältnilfen und Borurtheilen liegen, aber auch foldhe, bie das
Problem uns bietet. Und wir find uns der vollen Verantwortlichkeit bewußt.
Können wir Halten, was wir verjprecdhen, jo Haben wir das Unjere gethan, einer
Idee zum Siege zu verhelfen. Beitigen wir die erhofften Nefultate nicht, fo
würde vielleicht für lange Zeit das Syftem als untauglich bingeftellt werden.
Wir jehen ohne leichtfertige Illuſionen in die Zufunft, aber do mit dem Muth
und mit dem Glauben, der Alles wagt im Vertrauen auf die gute Sadıe.
Hermann Hoffmann.
Nationales Petrolaum. 121
Nationales Detroleum.
hre der Stadt Köslin! Dort, gan, nah am Strande der Oftfee, haben ſich
ſechsundzwanzig gut beutihe Männer, die in Theer und Delen handeln,
zuſammengethan, um einen Rütliſchwur gegen ben fremden Tyrannen zu leiſten,
der in feiner Yankeeheimath Kohn Rockefeller genannt wird, in die Lande Her-
manns des Cherusfers aber unter der firma der Deutſch Amerikaniſchen Petro⸗
leumgeſellſchaft fih eingeichlichen Hat und von Bremen aus allen Teutonen den
Fuß auf den Naden fegt. Ein unaufhaltfam feinender Siegeslauf trug die
Fahnen des rodefelleriichen Erböltrufts über Deutichland; die That von Kdslin
bat ihn gehemmt. Pie war noch einem beutfchen Induſtriezweig gelungen, was
dem Standard Oil Trust in einem kurzen Jahrzehnt gelang: er vermochte fein
Neg To feit Über alle Städte und Dörfer des Reiches zu fpannen, dab kaum
ein Händler blieb, der fein Petroleum nicht vom Truſt bezog, fo Klein auch der
Nuten war, den ihm der Truft lieh. Da famen die Sechsundzwanzig von
Köslin. In feierlicher Berfammlung beichloffen fie, Mr. Rodefeller, all feinen
Hunbertmillionen zum Trotz, ben Gehorfam zu kündigen, feinen Schergen Teine
Waare mehr abzunehmen, wieder freie Männer zu fein wie einft und lieber das
Leben zu opfern, al8 in das Joch des fremden Eroberers zurüdzufehren. Den
Eiden der Geſchäftsleute giebt erjt die Feſtſetzung hoher Strafen die rechte Weihe;
dern nur noch in Geldjachen hört die Gemüthlichkeit auf. Auf folche Weile ward
alfo auch der Eid befräftigt, ben die fehsundzwanzig Kösliner ſchworen. Bald
nad) dem Rütliſchwur fam ein Sendling von Rodefeller herbei, der den Tapferen
drobte, er wolle neue Gejchäfte aus dem Boden ftampfen, die ihnen in Oelen
und Theer, in Seife und Wachs, furz, in Allem, was ihren Erwerb ausmadt,
einen mörberiihen Konfurrenzlampf bereiten würden, falld fie nicht vorzögen,
fih bei Zeiten dem Truſt Löblich zu unterwerfen. Nun darf man gejpannt fein.
Ganz Köslin hat an bie zwanzigtaufend Seelen. Uber wadere. Auf dem
nahen Gollenberg fteht ein Denkmal für die Pommern, die im Kampf gegen ben
Unterbrüder von 1813 und 1815 fielen. Nodefellers ftarfe Hand lajtet auf den
Sehsundzwanzig, die in Theer und Delen handeln, mindeftens fo fchwer, wie
auf ihren Vätern die Hand Napoleons gelaftet hat. Lieb Vaterland, magft
ruhig fein! Köslin bat die Waffen aufgenommen. Und wenn von den Sechs⸗
undzwanzig auch fein Einziger ben Sieg erringt: ein Denkmal wird dbereinft
verfünden, daß der Beift der Alten aud in den Jungen lebendig war, als es
galt, dem Rodefeller den Herrn zu zeigen.
Vielleicht aber blüht ihnen doch ein Erfolg. Denn fchneller, als man
ahnen Fonnte, ift ihre Saat aufgegangen. Schon weht ein friiher Hauch durchs
Land. Der Unwille gegen den fremden Petroleumkönig fteigt, die Begeifterung
für eine nationale Petroleum-Dynaftie wächſt. Nur die Hymne fehlt nod. Wird
fie gefunden: dann ift der Brand nicht mehr zu Löfchen. Da haben im pſycho—
logiſchen Augenblid nun wieder die großen Banken eingegriffen. Ihrer Weis-
beit ift zu banken, daß bie Bewegung, bie ftürmifch zu werben drohte, in ruhige
Bahnen gelenkt, die Neigung zur Ueberjchwänglichkeit ficher eingebämmt murde.
Nur ihrer Weisheit natürlih. Jede andere Rüdficht als die auf ben nationalen
Wohlſtand bleibt ihren Entſchlüſſen fern. Ueble Nachrede hat zwar behauptet,
9*
122 Die Zuhmft.
eins ber deutſchen Finanzinſtitute, die fich jeßt zur Befreiung Deutſchlands vom
Diktator Nodefeller räften, fei mit dem Freoler Hand in Hand gegangen, als
vor einigen Jahren, unter den Minifterium Carp, der erfte Verſuch gemadt
wurde, die rumäniſchen Betroleumfelber in großem Stil zur internationalen
Berforgung beranzuziehen. Aber ben Belten wird oft das Schlechteſte nad >
gefagt; und jedenfalls ift die beredete Bank inzwilchen ihrer nationalen Pflicht
fi bewußt geworden. Ober wagt Jemand, zu zweifeln, daß bie deutſche Aktion,
die in Rumänien unternommen wird, rein fittlidem, rein nationalem Drange
entipringt? Nein; ſo ruchlos ift Niemand. Die Disfontogefellfcgaft insbeſondere
bat nie eine Gelegenheit verfäumt, die ihr den Beweis geftattete, daß fie das
ethiſche Moment über alle anderen ftellt und in erfter LZinte der Nation, dann
erft den Untbeilbefigern dienen will. Ober? Nie .. Das ift vielleidt ein
Bishen zu viel geſagt. Juſt kommt mir Benezuela in den Sinn. Da,
Eönnte Mancher meinen, hat die Disfontogefellichaft das Reich mehr in Anſpruch
genommen als ihm gedient; und das eigenfinnige Gedächtniß, das gerade dann
wach wird, wenn mans am Liebften verlieren möchte, wählt in Erinnerungen
an die Dortmunder Union mit ihrer chroniſchen Sanitis. Was kann ich ba-
für? Der Abſchluß der Union fürs vorige Jahr ift foeben herausgekommen
und ruft ſolche Gedanken aus tiefem Schlummer. Recht jchön, daß man bies«
mal doch wieder einen Gewinn erlebt, der die Million weit überjteigt; wer mag
da bendrgeln, daß man, um diefen Gewinn zu erzielen, 1800000 Marf den
Nüdftellungen entnehmen mußte? Freilich: von der Bitterniß früherer Jahre
miſcht fi noh immer Etwas in die Betradtung, wenn die Rede auf Dort-
munder fommt. Oder Quther-Majchinen. Auch fo eine widrige Ausnahure, bie
doch nur die Regel bejtätigt. Dieſes Unternehmen, deſſen Aktien vor wenigen
Jahren mit einem Aufgeld von 75 Prozent emittirt wurden, hat nad ben glängenden
Dividenden von 10 bis 12 Prozent, bie der Emiffion vorangingen, nichts mehr
vertheilt und ift nun glüdlid auf dem Punkt ‚angelangt, wo die Dortmunder
Union ſchon drei⸗, vier- oder fünfmal — ich möchte die Zahl vergejfen — vor
den Leidtragenden ftand. Ein Standal bat den an und für fih ſchon unange
nehmen Fall noch bejonbers fihtbar gemadt. Kurz vor dem Jahresabſchluß,
im Juni, Hat die Berwaltung die Lage bes Unternehmens in einem Lichte dar-
geftellt, deffen rofige Strahlen den jchroffiten Gegenjaß zu dem Fiasko ſchufen,
das ber jeßt erſchienene Schlußbericht mit feinen erfchredenden Ziffern bekennen
muß. ntgleifungen, nichts als Entgleifungen, die einer Bank mit fo tiefem
Gefühl für das Gemeinwohl leicht zuftoßen können, wenn fie fi einmal ge
zwungen fiebt, eine Ungelegenheit ausichliegli unter dem leidigen Geſichtspunkte
des Geſchäftes, nur des Geſchäftes zu beurtheilen. Doch Brutus ift ein ehren«
werther Mann; und wenn die Disfontogefellihaft jeßt daran geht, das deutſche
Publikum nad langen Jahren einer argentinierlofen Zeit mit einem von eng⸗
liſchen Herifchaften abgelegten Anleihereft argentiniſcher Eiſenbahn Schuldver⸗
ſchreibungen zu beglücken und zur ſelben Zeit rumäniſche Petroleumquellen zu
erploitiren, die in majorem Germaniao gloriam helfen ſollen, Deutſchland vom
Nockefeller zu befreien, fo thut fie Das im Hochgefühl ihrer Milfion. Die Sucht
nach Dividende ift bei diefem älteften berliner Privatinſtitut chen nie fo ftarf
wie das Bewußtjein der gegen das Vaterland zu erfüllenden Pflicht.
Nationntes Petroleum. 123 _
Und bie Pflicht, dem deutſchen Baterland nationales Petroleum zu fchaffen,
muß endlich erfüllt werden. Der Standard Dil Truft, von deffen Altien fünf
Sechstel John Modefeller gehören, droht, der mit Recht fo beliebten Kultur⸗
menſchheit den Hals zuzuſchnüren. Bor Kurzem erft hat er wieder ben Petroleum
preis gejteigert und uns einen Vorgeſchmack davon gegeben, was er ſich erlauben
würde, wenn feiner Herrſchaft die legten Schranten genommen, der Beſtand
auf immer gefidert wäre. Die Schranken errichtete ihm die Konkurrenz der
Länder, die, außer Amerika, Erböl in folden Maflen erzeugen, daß der Truft
mit ihnen rechnen muß. Mit Rußland, dem größten feiner Konkurrenten, hat
er fih abgefunden. Defterreih und Rumänien find erft viel fpäter auf feine
Lifte gelommen. Nun aber ftebt er mitten im Kampf gegen fie. Das Kampf:
objeft umfaßt Produktion und Konſum. Es handelt fih um die Behauptung
der lokalen Vorherrſchaft ala Abgeber in Deutichland und ber Weltvorherrichaft
al8 Erzeuger. Deutichland bat im Jahr 1902 für mehr als 71'/, Millionen
Mark amerikanifches, für faum 12 Millionen Mark Petroleum aus anderen
Ländern bezogen. Auf folches Webergewicht verzichtet ein Mächtiger wie Mode
feller nicht leichten Herzens; und die Thatſache, daß feit 1899 eine beftändige,
wenn auch abjolut noch unbedeutende Zunahme der Betroleumeinfuhr aus anderen
Ländern auf often der amerikaniſchen zu verzeichnen ift, muß ihm zu denken
wie zu fürchten geben. Um fo mehr zu fürchten, als in biefen anderen Staaten
die Petroleumfelder erft in den Anfängen ihrer Entwidelung ftehen, während
bie amerifanijchen immer beutlichere Spuren ber Erſchöpfung zeigen. Die Tages-
erzeugung des Truſts bleibt gegen den Bedarf ſchon um Tauſende von Fäſſern
zurüd. Seine in den öftlichen Häfen Umerikas angefammelten Borräthe find
innerhalb der le&ten zehn Jahre von 40 auf 5 Millionen, die dev weftlichen
Plätze von 24 auf 16 Millionen Faß zufammengefchrumpft. Das ift faum
genug, um ben fteigenden Bedarf die nächiten zwei Jahre lang zu verlorgen.
Hieraus erwuchs die zweite, noch ſchwerere Sorge Nodefellers, die nämlid, daß
einft ein Tag anbrechen könnte, wo er oder fein Werk, dem er Über feinen Tod
hinaus verknüpft ift, in die zweite Reihe zu rüden hätten. Deshalb der heiße
Streit um die Erdölquellen in Rumänien und Oeſterreich, beren Befiß dem
Sieger zwei Kronen brädte: die Souverainetät im deutſchen und im Weltge—
ſchäft nebſt unumfchränfter Willkür in der Preisbeſtimmung. Was wir dann
erleben würden, tjt an den Erfahrungen zu meſſen, bie mit amerifanifchen Robjtoff-
Corners, zulegt noch mit dem in Baummolle, gemadt worden find.
Deutihe Handelsfammern, die berufenen Organe der nationalen Kauf«
mannſchaft, waren unermüblich in der Belämpfung des Trufts; aber fie fämpften
mit Worten. Deutjche Minifter verichiedener Bundesftaaten haben den Kampfes-
eifer gebilligt; aber Tankanlage um Tankanlage ift dem Truſt, ber in diejen
toftipieligen, von feinem Zweiten fo leicht zu beftreitenden, ben Abſatz wejent:
lich jördernden Röhrenleitungen mit Recht eins feiner wichtigiten Kriegswerk⸗
zeuge fieht, auf deutichem Boden bewilligt worden. Erft die Banken mußten
fommen, die Deutihe Bank, die Distontogefellihaft und das Haus Bleichröder,
um das erlöjende Wort in die erlöjende That zu Überfegen. Die Diekontos
geiellichaft erwarb im Bunde mit Bleichröber „als Kleinen Anfang” einen Theil
der rumäniſchen Xelega» Erdölgefelichaft, die Deutſche Bank einen Theil der
„nn -P____- I
124 Die Zuiunft.
Erbölgefelfhaft vom Rumäniſchen Stern. Bon ber hohen PBatronanz, bie ben
beiden — in England naturalifirtten — Unternehmungen nad mandjerlei Fähr⸗
niffen zu Theil wurde, hat man ihnen an der Wiege nichts gelungen; feit ihnen
aber deutliche Großbanken ihre Gunft zumandten, wurden fie natürlich bewunbert
und umbublt. Den Antheil am Rumänifchen Stern erwirbt bie Deutihe Bank
fozufagen im Ausverkauf. Nach berühmten Muftern.: Direktor Derndurg von
der Darmftädter Bank könnte einen höchſt belehrenden Vortrag über da$ Thema
balten, wie folde Ausverlaufswertfe manchmal nur in gute Gejellihaft zu
tommen brauden, um raſch im Werth zu fteigen. Zum Beilpiel: Oypotbefen-
forderungen, die man im Ramſch von einer verfradhten Pfandbriefbant über-
nimmt, über die man — vor der Lebernahme — nicht abfällig genug urtheilen
tonnte. Während die Disfontogefellichaft fih anfdhidt, ihrem „Leinen Anfang”
im rumänifchen Petroleumgejhäft eine bebeutfame Fortſetzung zu geben, bat Die
Deutfche Bank ihre Hand kühn au ſchon nad) Defterreich ausgeftredt, um ſich
in einer der größten Betroleumgejellfhaften der verbündeten Monarchie, der
Schodnika, feitzufegen. Schodnika! Welche Flüche Hefteten ſich an biefen Namen,
als die Gejellichaft nach glänzenden Anfängen einen ähnlichen Weg ging wie
Luther Majchinen und zugleih mit den fchönen Dividenden die ſchönen Kurſe
auf Nimmerwiederjehen Shwanden! Auch diefem Sünbenfall fol nun im Himmel
der Deutfchen Bank eine Yäuterung folgen. Süd auf den Weg! Kein Bedenken
und feine Erinnerung darf den Verſuch hemmen, eine deutſch notionale Betro-
leuminbuftrie zu fchaffen, die das Land von der Fremdherrſchaft befreien joll.
Dem Yankee wird nur nad Gebühr heimgezahlt, wenn jeßt Rumänien und Oeiter-
reich jeinen Werbungen ſich widerjegen und vorziehen, das idealen Negungen
entftammenbe Angebot des deutichen Kapitals anzunehmen, ftatt der nur von ber
Rückſicht auf Rockefellers Tafche geleiteten Offerte des Standard Dil Truft,
Deutfch:nationales Petroſeum! Da würde ein Traum aller Batrioten
Wirklichkeit. Aller, mit Ausnahme, natürlih, der Hannoveraner. Mit biefen
Hannoveranern hatte ja unfer Imperialismus ftet3 einen jchweren Stand.
Hannover bat nämlich jelbft Petroleumfelder und neuerdings hat fi} ſogar bie
Internationale Bohrgefellichaft zu Erkelenz, deren Name und bohe Bedeutung
jeit den Vorverhandlungen Über das neue Kohleniyndilat allgemein bekannt ge-
worden find, mit biefen hannoverſchen Erbölfeldern zu identifiziren begonnen.
est erhebt Hannover den Anſpruch auf das Privileg, von fih jagen zu dürfen,
dab es aus deutſchem Boden mit deutichem Gelde deutfches Betroleum gewinnen
werde, um das Monopol des Standard Dil Truft zu brechen. Wer unternähme
e3, diefen ftantsrechtlichen Konflilt zu löſen? Ich nidt. Die Hauptfade ift,
daß die deutjchen Verbraucher, denen fpäter Petroleum von der Deutichen Bank
oder von der Diskontogejellichaft geliefert wird, fi in ihrem Patriotenbewußt-
fein geftärkt fühlen. Im Uebrigen fann ich faum erwarten, zu fehen, wie bie
beiden Bantinjtitute die Preife jtellen werden. Bleiben fie dabei, vor Allem
das ethiſche Moment zu berüdfichtigen, dann kann ih nur jagen: Sch wünſche
den Altionären, daß mit Herrn Sorge, ben die eine der Banken als techniichen
Fachmann angeftellt Hat, nicht auch Frau Sorge ihren Einzug halte. Wird
aber aus dem neuen Zweig ihrer Thätigfeit mit der Zeit ein Geſchäft, dann
wird ih am Ende noch mander vom och ber Fremdherrſchaft befreite Deutfche
bereinft nach den Ketten zurüdjehnen, mit deren Röfung er heute beglückt werben fol.
Dis.
Herausgeber und verantwortlicher Medafteur: Di Sarden in Berlin. -- Verlag der Zukunft in Berlin,
Berlin, den 24. Oktober 1905.
ö————————
Die Kaiſerinſel.
or elf oder zwölf Wochen empfing die Redaltion des „Vorwärts“ einen
Brief, den der Schreiber offenbar nicht für das Centralorgan der
fozialdemofratifchen Bartet Deutſchlands beftimmt Hatte. Ein Quartbogen;
das erfte Blatt jo ausgeſchnitten, daß nur Kopf und Rand erhalten war.
Der Kopf trug in gebrudten Leitern das Merkmal der Herkunft: „Mile
tärifcher Begleiter Sr. Raiferlichen Hoheit des Kronprinzen“. Die erften zwei
Worte waren mit Tinte ausgeftrichen und —wieesfhien, vonder felben Kanz⸗
liſtenhand, der auch der Brief diltirtwar — durch da8 Wort „Hofmarichalls
amt“ erjegt. Der Brief mußte alfo aus der Zeit ftammen, wo dem Kron-
pringen, defjen Angelegenheiten vorher ein „militärifcher Begleiter“ erledigt
hatte, ſchon ein eigener Hofſtaat zugewiefen war. Kinder, mag von den Redak⸗
teuren einer gejagt haben, die Sache riecht ſtark nad) Schwindel; wenn wir
von der Beuthſtraße nad; der Lindenſtraße überfiedeln, laſſen wir neue Brief-
bogen druden: und ein Hofmarſchall des Kronpringen ſollte jo philifterhaft
fnauferig fein, daß er, umein paar Darf zu fparen, den alten Bogenvorrath
mit veränderter Kopfinfchrift aufbraucht? Unglaublih!.. Unglaublich?
Ein Schwindler hätte das erfte Blatt nicht abgefchnitten, nicht ausdrüd-
lich am Rand vermerkt, er wolle keine Perfon fompromittiren und habe des⸗
halb Unterfcprift und Adrefje unlejerlich gemacht. Das mußte Verdacht er
regen und konnte die Redakteure, wenn ſie eineKabale witterten, auf den Einfall
- bringen, den Brief faffimilirt zu veröffentlichen; dann wäre der Schwindler
wahrſcheinlich entlarotworden. Und was auf dem zweiten Blattftand, Hang
nicht fo fürchterlich, daß es ein Außerft umftändliches Verfahren rechtfer-
tigen konnte. Dem ungenannten Adreffaten wurde „vertraulich der Vorſchlag
10
126 ' Die Zukunft.
mitgeteilt, im Zuge der in Ausführung begriffenen Heerftraße von Berlin
nad) Töberig auf ber Inſel Pıcheldwerder ein geräumiges Stadtſchloß für
bie ganze kaiferliche Familie zu erbauen und die Inſel, nad) Erpropriation
der bortigen Privatbefiger, für jeden nicht ganz einwandfreien Beſucher abzu-
iperren.” Dadurch folfe „die Örtliche Sicherheit für die Perfon Seiner Maje⸗
ſtät“ für alle Fälle verbürgt werden. Um „die Gefahr zu beſeitigen“, daß der
von der kaiſerlichen Familie bewohnte Wahlkreis durch einen Republikaner
vertreten werde, wolle man aus Bichelswerder, ber Domäne Rubleben,
dem Bezirk der jpandauer Staatswerkftätten, den Gutsbezirten Döberig
“ und Hahneberg einen eigenen Reichſstagswahlkreis bilden, in dem nur Per⸗
fonen aus kaiſerlichem und königlichem Dienft wohnen dürfen: An dieſe
Mittheilung fchloß fich der Sag: „Ihr Vorfchlag, wonach die Garder gi⸗
menter feine direfte Nefrutenaushebung erhalten, ſondern ihren Erfaß durch
einwandfreie Elitemannfchaften ber Linie erhalten follen, ift wohl der Er⸗
wägung werth.” Warum follte diefer Brief nicht gefchrieben und abgefandt
fein? Gewiß ift, unbeftreitbar, daß in der Hofiphäre Herren leben, denen
die Sicherheit der faiferlichen Familie in der fozialdemofratiichen Reſidenz
gefährdet jcheint. Eben fo gewiß, daß in diefen reifen mehr als einmal ſchon
die Frage aufgetaucht ift, ob man in der Stunde folcher Gefährdung auf die
den berliner Bacillen ausgefegten Gardetruppen unbedingtzählen dürfe oder
ob ſich einanderes Rekrutirungſyſtem empfehle, das den rothen Siftftoff dem
Gardecorps ferner halte. Wer daran zweifelt und nicht Gelegenheit hat, die
Berechtigung des Zweifels in Privatgefprächen zu prüfen, braucht blos in
das einft viel gelobte Bud) zu bliden, das der Geheimrath von Maſſow
vor neun Jahren unter dem Titel „Reform oder Revolution!” erfcheinen
ließ. Da find im erften Kapitel die folgenden Säge zu lefen: „Fünfzig⸗
toufend entschloffene Kämpfer in Berlin unter die Waffen zu rufen, denen
ſich weitere fünfzigtaufend nad) dem erften Erfolg anſchließen, ift den fozials
demofratifchen Führern ſchon heute ohne Schwierigfeit möglich; und inzehn
Jahren wird e8 ihnen noch leichter fein, wenn die Verhältniffe nicht anders
werden... In der Nacht, wenn die Offiziere, mit Ausnahmeter Lieutenants,
die in der Kaferne wohnen, in ihren Stadtquartieren find, wird der Aufruhr
plöglich gegen die Kafernen anftürmen umd dabei mit Tynamit arbeiten...
Tie Orfiziere, die in die Kafernen eilen, wird man durch aufgeftellte Poften
rechtzeitig abfangen, fie einzeln mit Uebermacht angreifen und töten. Wäh-
rend die Truppen ihre Kafernen vertheidigen müſſen und der Polizei nicht
zur Hılfe fommen können, führt die Polizei nur einen kurzen Kampf.
Die Kaiferinfel. 127
Bon einem Maffenfchnellfener empfangen, wird fie ſchnell den Play räumen
amüflen. Ein gleicher Empfang wird ber Feuerwehr bereitet werden, wenn
Ste herbeieilt, nachdem die Kafernen in Brand geitedt find... Auf
dem Waſſerwege ließen ſich unter faljcher Deklaration auf Schleppzügen,
Die ja ohne Befchwer mit zuverläfjigen Genoffen bemannt werden könnten,
Gewehre und Diunitioninerforderlicher Dienge einfymuggeln. Und wenn bie
jozialdemofratifche Bewegung unter der Jugend unferer arbeitenden Klaſſen
jo weiter um ſich greift wie bisher: wer fteht uns dafür, daß in zehn Jahren
die jungen Soldaten nicht mit den Aufrührern fraternijtren und ihnen die
Waffen ausliefern? Beieinemgutangelegten und durchgeführten Plan würde
es der Sozialdemokratie nicht ſchwer, ſich beim erſten Anſturm der Reichs⸗
hauptſtadt zu bemächtigen.“ Dann wird geſchildert, wie „faft die geſammte
Infanterie abſorbirt“ würde, um das Schloß, das Generalſtabsgebäude, die
RNeichsbank, das Haupttelegraphenamt und andere Verwaltungcentren zu
ſchützen; „obder Artillerie und Kavallerie allein gelingen wür)e, din Straßen»
Tampf fiegreich durchzuführen, ift mehr als zweifelhaft.” Das wurde vor
zehn Jahren geſchrieben, nach einer Reichstagswahl, dieden Sozialdemokraten
1700000 Stimmengebradht hatte. Von einem gebildeten Mann gejchrieben,
der in dreißigjähriger Verwaltungpraris und als Organifator deutſcher Ar-
Heiterkolonien den Volfscharakter und befonders die Wefenseigenichaften des
Broletariers erkennen gelernt haben konnte; von einem Mahner zu kräftiger
„ſozialer Reform”. Selbſt er wußte nicht, daß die deutſchen Marxiſten von
Straßenaufitänden und Putſchen nichts, von der unwiderftehlichen Gewalt
wirthichaftlicher Entwidelung Aues erwarten und jeden Verfuch, die herr»
Ichende Macht mit Pulver und Dynamit niederzugmwingen, als eine Narren»
poſſe verlachen, als einen Frevel am Lebensrechte des Proletariätesverpönen
würden. Das fchien viel Größeren fogar leerer Wahn. Biemard war nicht
aus dem Slauben zu bringen, alle graue Theorie werde an dem Tage über
Bord geworfen werden, wo die Sozialdemokratie fich ſtark genug fühle, um
einen Hauptjtreich wagen zu dürfen; er fah einen Straßenfampf voraus und
feine Sorgefehrte oft zu der Frage zurüd, ob man an diefem Schidfalstag die
Truppen feſt in der Hand haben werde. Und jetzt, da ſeit 1893 die Zahl der ſozial⸗
demokratiſchen Stimmen ſich faſt verdoppelt hat, nad) den Reden über die
hochverrätheriſche Schaar und die feige Mlörderfippe, — jetzt follte ſolche
Sorge nicht da8 Herz zweier Dugendhöflinge befchleihen? Wer überhaupt
mit der Meöglichkeit eines Straßenaufitandes rechnet, hat auch die Pilicht,
an die Sicherheit der königlichen Familie zu denten; hat doppelt die Prlicht,
10*
128 Die Zukunft.
wenn er zum Haufe des Kuifers gehört. Bis 1910 — und fo lange würde
die Ausführung des Schloßbauplanes dauern — Tann die Sozialdemofratie
auch den erften berliner Heichstagswahlfreis erobert, kann fie, nad) höfifcher
Meinung, das Gardecorps weiter verfeucht haben. Gar nicht unglaublich
alfo, daß zwei Getreue am Hof nach Mitteln fuchen, die unter allen Um⸗
jtänden die Sicherheit der Dynaftie verbürgen ; gar nicht unglaublich, daß
fie bei der erften Erörterung des einjtweilen nur in Umriffen entworfenen
Planes verwaltungrechtliche und fonftitutionelle Bedenken als Zwirnsfäden
betrachten, über die mar, auf dem Wege zu einem großen Ziel, nicht ftolpern
dürfe. Daß auf Pichelswerder der Brivatbefig nicht jo leicht zu expropriiren,
ein neuer, abnorm Heiner Wahlkreis nicht fo Leicht zu jchaffen ift, ficht fie nicht
an: fie ſahen nicht felten ſchlimmere Schwierigkeit jchnell überwunden. Gar
nicht unglaublich ſchien die Sache auch den Redakteuren des „VBorwärtd", die jc
nicht zum erften Mal ein amtliches Schriftftüd aufihrem Tisch fanden. Dieſes
dünkte fie ein ungemein lehrreiches Symptom höfiicher Stimmung. Einer
von ihnen ſetzte fich alfohin und machte aus dem Brief einen Heinen Artikel,
der, unter dem Xıtel „Die Kaiſerinſel“, am jechzehnten Auguft 1903 erfchien.
Darin wurde von, höchſt ſonderbaren Blänen“ gejprochen ‚die „in Hof⸗
kreiſen erörtert werden und auf eben ſo unbegründete wie düſtere Stimm⸗
ungen ſchließen laſſen.“ Der Stizzirung des Planes folgte leichter, nicht krän⸗
fender Epott über „die Hofleute”, „die Herren, die fi) am Hof über die Zu⸗
kunft der Monarchieden Kopf zerbrechen“, und ‚‚allerlei Geiſter, dieein Inter⸗
eife daran haben, durch Erregung Schwarzer VBorftellungen die Geſchaͤfte der
Neaktion und des Junkerthumes ſpekulativ zu fördern.‘ Mit feiner Silbe
war angedeutet, daß der Kaijer den Plan billige oder auch nur kenne; und
der Sat von den fpefulativen Förderern der Junkergeſchäfte ſprach deutlich
gegen den Verdacht, die jozialdemofratifchen Zeitungfchreiber könnten Wils
helm den Zweiten für den Erjinner des Planes gehalten haben. Am näch⸗
ften Tag erllärte die freiwillig oder unfreiwillig offiziöfe Breffe, die Inſel⸗
geichichte fei ein albernes Märchen, ‚eine lächerliche Hundstagephantafie.“
In der Redaktion des „Vorwärts“ aber traf bald danach eine Poſtkarte ein,
die von der felbin Hand gejchrieben ſchien wie der Brief mit dem Torrigirten
Kopf und behauptete, die Gejchichte jei wahr und Näheres darüber vom Hofs
marſchall Ulrid) von Trotha und von dem Reftaurator der Hohfönigeburg,
Herrn Bodo Ebhardt, zu erfahren. Diefes Zeugniß genügte-den Redak⸗
teuren. Bielleicht hatte der Hohn, womit ihre erfte Meldung auf allen Seis
ten empfangen worden war, fie eigenfinnig gemacht; jedenfalls bedachten fie
Die Kaiferinfel. 129
nicht, daß der Architeft Ehhardt einen ernfthaften Auftrag zur Ausarbeitung
eines Projektes nur vom Kaiſer jelbit erhalten haben konute. Siemeinten wohl,
ihnen könne nichts paffiren, weil fie den Kaifer nicht angegriffen hätten, und
waren ihrer Sache fo ficher, daß fie den Hofmarjchallvon Trotha, der feinen
Namen unter die Erklärung feste, er wiſſe nichts von folddem Plan, durch
den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit zur Klage zwangen. Was nun kam,
überrajchte nicht fie allein. Zwei Hausfuchungen in der Redaktion, Exrpedt-
tion, Druderei (natürlic) ohne Refultat); Beſchlagnahme des Artifels vom
fechzehnten Auguft; Verhaftung des Verantwortlichen Redalteurs Stadt-
verordneten Leid, der angellagt wird, gegen $ 95 (Majeftätbeleidigung) und
8 36011 (Grober Unfug) gefündigt zu Haben. (Das Verfahren gegen einen
anderen Redakteur, unter deſſen Verantwortlichkeit Herr von Trotha im, Vor⸗
wärts” der Rügegeziehen worden war, braucht ung hier nicht zu befchäftigen;
wer einen hohen Beamten, wider deſſen mit Namensunterſchrift gedeckte Ver⸗
fiherung, Öffentlich einen Lügner nennt, muß die vom Geſetz vorgefehenen
Folgen tragen.) Herr Leid wird auf Beſchluß der Befchwerdeinftang enthaftet,
de8 Kammergerichtes, deſſen gefürchteter Straffenat in dem inkriminirten
Artikel den Thatbeftand der Majeftätbeleidigung „Teineswegs zweifelftei“
feftgeftellt findet. Für diefe Feſtſtellung bat num die dritte Straflammer
des Randgerichtes I Berlin geforgt: fie hat am fechzehnten Oftober 1903
Herrn Leid von der Anklage, Groben Unfug verübt zu haben, freigefprochen,
wegen Moajeftätbeleidigung aber zu neum Monaten Gefängniß und zum
Berluft der aus Öffentlichen Wahlen herporgegangenen Aemter verurtheilt.
Eine Berurtheilung wegen Groben Unfuges war von vorn herein aus»
geichloffen. Vor fünf Jahren war ich in München angeflagt, durch den am
fechzehnten April 1898 hier veröffentlichten Artikel „König Otto” Groben
Unfug verübt zu haben. Der Artikel hatte inBayern kein fichtbares Aerger-
niß erregt; SYohann Baptift Sigl, der ben Preußen doch nicht hold war, fand
ihn „tief ergreifend‘, im bayerischen Landtag, wo der Fall zweimal aus⸗
führlich erörtert wurde, erhob fich keine Stimme wider den Beichuldigten und
der Gutsherr vonFriedrichsruh nannte die Heine Darftellung Hiftorifch richtig
und fürden Monarchiſten erfreulich. Trogdem Otto Mittelftaedt in der,, Zu⸗
kunft“ den fchöffengerichtlichen Schuldſpruch für unhaltbar erflärte, blieb
es in den folgenden Inſtanzen beider Verurtheilung zu vierzehn Tagen Haft;
die Richter meinten, der Artikel müfje das Publikum „beunruhigen und be»
läſtigen“. Vergebens hatte ich mic) auf die — aus MittelftaedtS Feder
ftammende — Reichögerichtsentfcheidung vom dritten Juni 1889 berufen,
180 Die Zukunft.
wonach 836011StGBnicht etwa als eine allgemeine fubfidiäreStrafbeflimm=
ung anzumenden fei, der Alles untergeordnet werben dürfe, was einem Richter
Unrecht ſcheine, ohne daß es von irgend einer anderen ftrafrechtlichen Norm
getroffenwerde. Vergebens an den legten ‘Chermidorfarren erinnert und den
Gerichtshof aufgefordert, ehe es zu jpätjei,mit einer Spruchpraxis zu brechen,
bie der ſtärkſte Kriminaliſt des Reichegerichtes, abwegig“ genannt habe. Die
Antwort war und blieb: Vierzehn Tage Haft. Doch ich hatte wirklichauf dem
letzten Karren geſeſſen. Noch im ſelben Jahr erging vom Reichsgericht eine
neue Entſcheidung, nach der zum Thatbeſtande des Groben Unfuges die, Ver⸗
letzung oder Gefährdung des äußeren Beftandes der öffentlichen Ordnung“
gehört, die bloße „Beläftigung des Publikums“ nicht ausreicht. Mir half
dieſes Urtheil nicht mehr: ich mußtein den Käfig ;aber e8 endetedieausS3601?
der Preffe drohende Gefahr und hätte genügt, um den Nedalteur Leid vor
Strafe zu ſchützen. Der Erfte Staatsanmalt am Landgericht I Berlin, Herr
Oberftaat£anmwalt Dr. Iſenbiel, fennt die leipziger Judikatur natürlich ges
nau und hat fich über die Ausfichtlofigleit diefes Theiles der Anklage fiher nicht
getäufcht. In der Hauptverhandlung jagte er, al Juriſt fei er ſtets ein Geg⸗
ner allzız weitgehender interpretation des S 36011 geweſen, und ftellte
in diefem Punkte dem Gericht die Entfcheidung anheim ... Warum aber,
wurde gefragt, hat er dann Leid erft Groben Unfuges angeklagt? Ich ver-
muth:: um die Zulaffung des Wahrheitbemeifes zu rechtfertigen. Die Frage,
ob b.i Dajeftätbeleidigung der Wahrheitbeweis zuläffig fei, iſt in der Theo⸗
rie kontrovers; fie wird von Geyer, Hälfchner, Sohn, Liſzt bejaht, von Dicyer,
Merkel, Olshauſen verneint. Für die Praxis ift fie ſeit dreiundzwanzig
Kahrennegativbeantwortet. Das Reichsgericht hat entjchieden, dag „im Falle
de8 8 95 StGB der Beweis der Wahrheit mit dem Grundfag der Unvers
letzlichkeit des Staatsoberhauptes in Wideripruch treten und Erdrterungen
im Gefolge haben würde, die mit der erhabenen Stellung des StaatSobers
hauptes unverträglic, wären.” Dieje Enticheidung duldet feine Ausnahme.
Wenn der Nedafteur bes „Vorwärts“ aber, ohne die Wahrheit feiner An⸗
gaben bemweijen zu dürfen, verurtheilt worden wäre, hätte Jeder gedacht,
Etwas müffe doch wohl an der Sache fein. Das folite vermieden und fünf»
tigen Majeſtätprozeſſen dennoch nicht präjudizirt werden. Daher die deals
fonfurrenz von Dajejtätbeleidigung und Grobem Unfug. 8 3601 hatte
feine Schuldigfeit gethan, fobald er dem Angeklagten die Möglichkeit geges
ben hatte, den Beweis der Wahrheit zu erbringen. Das war juriftijch fein
ausgellügelt und verdient auch von dem Verurtheilten eher Lob als Tadel.
Die Kaiferinfel. 131
Denn nicht des Staatsanwaltes Schuld wars, daß ber Beweisverfuch völlig .
mißlang. Die Herren von Trotha und Ebhardt, Graf Hülfen- Häfeler und
Herr von Lucanus, Graf Eulenburg und Freiherr von Mirbach, Stabs⸗
offiziere, Geheimräthe, Sefretäre, Amtsdiener: Alle fagten unter dem Zeu⸗
geneid aus, von den Schloßbauplan und Allem, was damit zufammenhän»
gen folle, fei ihnen nie das Geringſte bekannt geworden. Feſtgeftellt wurde
- aber, daß im fronprinzlicden Hofmarfchallamt genau ſolche Briefbogen mit
forrigirter Kopfinfchrift benutzt werden, wie einer ben ſozialdemokratiſchen
Redakteuren ins Haus geſchickt worden war. Werden Brief gefcehrieben und
in die Lindenftraße gefchiett Haben mag?... Vermuthungen find jelbft im
neuſten Deutfchland geftattet; unzweideutig wird die Frage vielleicht erft an
dem Tage beantwortet werden, wo das Geheimniß der Xotfa: Briefeentjchleiert
wird, deren Verfaffer Herr Lebrecht von Koge ganz ficher nicht ift.
Schon während der Bemweisaufnahme erregte der fchlechte Stil der
Vertheidigung Aergerniß. Als die Herren von Trotha und Ebhardt, die Chefs
des Civil: und Militärkabinets, allenfalls noch der in alle Sättel gerechte
Freiherr von Mirbach geichworen hatten, fie wüßten nichts von Inſelſchloß—
plänen, mußte man des graufamen Spieles genug fein lafjen, dem Hofmar-
ſchall und dem Architekten einerüchaltlofe Ehrenerflärung geben und auf die
Yortiegung des Zeugenverhöres verzichten. Statt fo zu handeln, ſuchten die
drei Bertheidiger Haafe, Levy und Liebknecht aus den Zeugen um jeden Preis
irgend Etwas herausz upreſſen. Das war ein fchlimmer Fehler; nicht nur,
weil der Verfuch mit untauglichen Mitteln unternommen wurde und in je
dem einzelnen Fall fehlfchlug: auch wenn er zufällig einmal gelungen wäre,
bä’te er aufdas Gericht einen Schlechten Eindruckgemacht. Wer bemeifen will,
daß Herr Müller filberne Löffel geftohlen habe, darf, wenn diejer Beweis
nicht erbracht werden kann, fi) nicht um den Nachweis bemüht zeigen, daß
der Angefchuldigte Müller nur felten bade und manchmal ſchmutzige Nägel
habe, unjauberen Wandels alfo verdächtig jet. Der Ausgang des Prozeſſes
wäre nicht anders gewefen, wenn Graf Hülfen-Häfeler zugegeben hätte, von
einer veränderten Refrutirung der Garde jet irgendwann ſchon die Rede ge»
weſen. Er gabs nicht zu; und die inquifitorische Emfigfeit verrieth, wie un»
fiher die Bertheidigung fich fühlte und wie viel ihr daran lag, von den hart⸗
nädigen Behauptungen des Angeklagten wenigftens einen Feten ins Nebel:
reich der Wahrjcheinlichfeit hinüberzuretten. Im Bann diefer Sorge übers
fahen die Anwälte den wichtigften, den, wie mid) dünft, allein wichtigen Punkt
der Anklage und fochten, wenn der Bericht des,Vorwärts“ nicht trügt, das
132 Die Zukunft.
Hauptargument des Stantdanwaltes gar nicht erft an. Sie durften nicht den
Glauben weden, das Schickſal ihres Mandanten fei an das Gelingen des
Wahrheitbeweiſes gefettet, nad) deſſen Mißlingen befiegelt; durften es um fo
weniger, als, nad) reichSgerichtlicher Entjcheidung, „jeder Angriff, deſſen
Richtung oder thatjächlicher Erfolg die Verächtlichmachung oder Herabwär:
digung des StaatSoberhauptes in der Öffentlichen Dleinung ift, unabhängig
von der Wahrheit oder Unmwahrheit der zu Grunde liegenden Thatfachen,
nothwendig ein widerrechtlicherift."DertaktiicheAufmarjch derVertheidigung
war fchlecht vorbereitet, ihre Verſchanzung ohne die nöthige Vorausſicht aller
Möglichkeiten gewählt. Daß nichts bewieſen werden könne, war nach der
Ausfage der erften Zeugen nicht mehr zweifelhaft. Was blieb noch? Die Ber
hauptung, der infriminirte Artikel habe fi) gar nicht gegen ben Kaiſer ges
richtet. Dafürfprach Viele, doch auch Manches dagegen. Weshalb der große
Apparat eines Wahrheitbeweijes, wenn bie Befchuldigung, den Kaiſer belei-
digt zu haben, unhaltbar jchien, — mochten die angeführten Thatfachen num
wahr oder unmwahr fein? Zwei Eifen im Feuer zu haben, ift immer, beide
boreilig zu zeigen, faft niemals nüglich. Auch hatte der fchreibende Die Lage
des verantwortlich zeichnenden Redakteurs durd) zwei Unbedadhtfamfeiten
verfchlechtert: in feinem Artikel ſtand, durch das Inſelprojekt werde die dö⸗
beriger Heerftraße, „deren Zweck nicht recht erfichtlich war, ihre eigentliche
Beſtimmung erhalten”; und er hatte fpäter angedeutet, Herr Ebhardt fei
bereit8 mit der Ausarbeitung des Plancs beauftragtiworden. Diefen Auftrag
fonnte nur der Raiferertheilenundnur erfonnteder von Berlin nachDoberitz
führenden Straße „ihre eigentliche Beftimmung“ geben. Dieſe Schwierigkeit
ichredtedie drei®ertheidiger nicht. Unermüdlich wiederholten fie, dem Artifel
fehle jede Bezichung auf die Berfon des Kaifers. Der alte Liebknecht hat in
Breslau mit dem Verſuch, zu leugnen, daß feine Parteitagsrede der Abwehr
eines Faiferlichen Angriffes gegolten habe, einft üble Erfahrung gemadjt.
Das hinderte feinen Sohn nicht, als Bertheidiger jetzt die ſelbe unkluge und
muthloje Taktik zu wählen. „Die Sozialdemofratie übt ſtets nur an Inſti⸗
tutionen, nicht an Perſonen Kritik”. (Oktober 1903!) „Diefen Orundfag hat
auch der Vorwärts‘ immer befolgt, der durchaus nicht geneigt ift, den Kaiſer
herunterzureißen.” „Der, Vorwärts' hatnie, wie der Staatsanwalt behaup-
tet, dem Sport gehuldigt, dem Kaijer verſchleiert dieWahrheitzufagen.” „Die
Abficht des Artifelichreibers war, den Kaijer vor den Umtrieben der Kama⸗
rilla zu ſchützen.“ Konnten verftändige Menſchen von ſolchen Sägen irgend
eine Wirfung auf eine berliner Straffammer erhoffen? Mußte nicht Klug⸗
Die Kaiferinfer. 183
Heit und Ehrgefühl im Verein hier zu offenem Bekenntniß repubfifaniicher
Ueberzeugung drängen? Und durfte der Angeflagte Leid redlichen Herzens
ſtaunen, als er ans dem Munde des Vorfitenden, der den Schuldfpruch be-
gründete, die Worte vernahm, der „Vorwärts“ habe nicht die Tendenz, ben
Kaiſer vor der Kamarilla zu ſchützen, fondern juche die Autorität der Krone
zu untergraben? Der Landgerichtsdireftor hätte fich gegen Einwände auf
den Genofjen Bebel zu berufen vermocht, der in ‘Dresden gejagt hat: „Ich
will der Todfeind diefer bürgerlichen Gefellichaft und dieſer Staatsordnung
bleiben, fo lange ich lebe, um ſie in ihren Eriftenzbedingungenzuuntergraben.”
Bur Staatsordnung gehört ſicher das Kaiſerthum. Kein Republikaner, fein
Spzialdeınofrat verdient Tadel oder Schmähung, weil er thut, was ihm
Weberzeugung gebietet; doch jeder follte, was er ift, auch zu fcheinen wagen.
Gegen folches Vertheidigungſyſtem hätte ſelbſt ein Dutzendprokurator
leichtes Spiel gehabt; und Herr Dr. Iſenbiel iſt unter Teſſendorffs Nach—
folgern der beſte Mann. Aus ganz anderem Holz als Arnims Ankläger, der .
mühfam, mit ftammelnder Zunge, die Worte zufammenfuchte, dann aber den
Gegner mit Keulenfchlägen traf und, weil er ſich nur in leidenfchaftlichem
Horn ftarf fühlte, das den Vertreter der Staatsgewalt zierende ruhige Gleich-
maß immer vermiffen ließ. Zeffendorf hätte in rauf wüthender Rede der
Sozialdemokratie ihr ganzes Sündenzegifter vorgehalten, die Nothwendig⸗
Teit betont, den $ 95 gegen.die Umfturz finnende Bartet heutzutage mit un-
barmherziger Strenge anzuwenden, den Angeklagten Leid grob gejcholten,
den Beugen Eisner, weil er ſelbſt ſchon wegen Dlajeftätbeleidigung im Ges
fängniß gefejlen habe, für vollfommen unglaubwürdig erflärt und in den
Saal gemwettert, bis der Briefausdem Hofmarjchallamt vorgelegt werde, fehe
er in der ganzen Gefchichte nureineruchlofe Erfindung boshafter Tintenffed-
fer. Herr Iſenbiel iſt nicht fo ftark, aber gewiffenhafterundnoblerinder Wahl
feiner Mittel. Er bemüht fich, gerecht zu fein, und würde bewußten Willens
wohl nie einen wehrlojen Angeklagten ſchimpfen. Herr Reid fühlte jich durch
den Hinweis auf feine öfonomifche Abhängigkeit beſchwert — der offenbar
doch nur den Zwed hatte, ein geringeres Strafmaß zu rechtfertigen, als nach
der Wucht der Anfhuldigung zu erwarten war —, würde ſich aber wundern,
wenn er andere Staatsanwälte kennen lernte; ich kenne andere und kann ihn
verfichern, daß ich nie jo würdig behandelt worden bin wie er. Kein grelles
Sceltwort gegen die Sozialdemokratie oder deren angeflagte Vertreter; fein
Zweifel an der Eriftenz des Briefes aus dem Hofmarjchallamt, der natürlich
nicht vorgelegt und über den auf wichtige Fragen die Ausfage verweigert
134 Die Zukunft.
wurde; ein Kompliment für Herrn Eisner,der „ben, Vorwärts'gutredigire”
und deffen Vorftrafe unerwähnt blieb; fein Gezeter über die „bodenlofe Fri⸗
volität eines Treibens, das nicht einmal durch den Schatten eines Beweiſes
geſchützt werde”; Feine byzantinische VBerherrlichung des Kaiſers: nur gerade,
was zur Sache unbedingt nöthig ſchien; und jchließlich eine Ueberraſchung,
die unfere Beitungfpradhe fenfationch! nennen fönnte: der Erfie Staatsan⸗
walt befannte fic als einen Gegner des 8 95, den er freilich, als geltendes
Recht, anwenden müſſe, doch lieber aus dem Strafgeſetzbuch verſchwinden
fähe. Das Bekenntniß wurde zwar raſch ein Bischen eingejchränft, aber es
bleibt einetapfere That, die den Kühnen das Zreifenbarrett often fonnte und
die Sicherlich weder den Juſtizminiſter Schönftedt nod) den Oberftaatsanwalt
Wachler zu entzücktem Beifall hingerifjen hat. Daß ein abhängiger Ber-
waltungbeamter,der täglich auf Wartegeld geſetzt werden kann, Solches öffent-
lich Heute zu ſagen wagt, iſt immerhin der Erwähnung werth; und mir ſcheint,
man brauche nicht fervil zu fein, um einen Staatsanwalt, der, ohne gegen den
Schwachen zu wüthen, die Würde des Amtes wahrt und als ein moderner
Europäer angelehen fein möchte, aufricytigen Sinnes zu loben.
Das Lob gilt dem muthigen und taftvollen Dann, dem wir glauben
dürfen, daß er nicht leichten Herzens Menſchen ins Gefängniß ſchickt, gilt
nicht feiner legten forenfifchen Leiſtung. Der Laie, der nurpafjiv Strafrechts⸗
ftudien gemacht hat, und der Politiker muß faft jedem Saß des Herrn Dr. Iſen⸗
biel widerfprechen. Der Staatsanwalt war ſtärker als die Bertheidiger, deren
Blößen er geſchickt ausnügte, und fein Schlußvortrag hob fich beträchtlich
über die Durchſchnittshöhe profuratorijcher Dialektik. So fam er and Biel:
jein Strafuntrag wurde von der Kammer als gerecht befunden. Vielen aber
Scheint der Bau, in dem Ankläger und Richter ſich zufammenfanden, auf
recht morjchem Gebälf zu ruhen. Die Bertheidigung hatte behauptet, der
infriminirte Artikel könne nicht auf den Kaiſer bezogen werden. Der Staats»
anmalt antwortete, ſolche Beziehung fei ſehr wohl möglich und diefe Möglich.
feit genüge, wenn überhaupt eine ftrafbare Handlung als vorhanden ange»
nommen werde, zum Thatbeſtande der Majeftätbeleisigung. Dagegen ift,
troß der Kuppeltante Voß und ihren noch dümmeren Bafen, nichts zu jagen;
man braucht gar nicht an die ausichweifende Anwendung des dolus even-
tualis zu denfen, der ja an ſich auch fein kindiſcher Nonſens tft: felbft die
modernften Kriminaliften finden die Begriffsmerkmale des Vorſatzes erfüllt,
wenn der Thäter den Erfolg für möglich hielt. Die in der Prefje verfochtene
Meinung, der Erfolg müjfe als ficher, nicht nur als möglich vorausgejchen
Die Kaiſerinſel. 135
fein, wird weder von der Theorie noch von der Praxis gededt. Hat der Re⸗
dakteur Leid in fein Bemußtfein die Möglichfeitaufgenommen, daß der Artikel
auf den Kaiſer bezogen werden könne, fowird er, vorausgeſetzt, daß der Artikel
überhauptdenThatbeftandderMajeftätbeleidigung erfüllt, nicht dadurch ſtraf⸗
frei, daß dieBeziehung nicht unbedingt nöthig war. Wodurchaber war in dieſem
bejonderenzzalldieMöglichkeit ftrafbarer Bezichung gegeben? DerOberſtaats⸗
anwaltfagt: Wenn man von, Hofkreiſen ſpricht, kann Seine Majeſtät, al8 das
HauptdesHofes,nichtausgefchloffen ſein.“ Beiſpiel:, Wer davon ſpricht, daß, in
Theaterfreifen‘ die Aufführung eines verbotenen Stückes geplant werde, denkt
nicht an Projekte irgend welcher Schaufpicler, ſondern an die mapgebenden
Kreife der Theaterleiter und Regiffeure.” Schon diefes Beiſpiel fteht auf
Schwachen Füßen. Wenn ein Theatertyrann die Aufführung plant, heißts
im Börjencourier: „Direktor Schulze (oder Cohn) will das Stüd den lites
rarischen Feinschmedern der Metropole in einer Sondervorftellung zugängs
Lich machen” ; redet unfer Allerhalter Landau, unjer Univerjalgenie Holz»
bod aber von „Theaterkreiſen“, dann weiß der Kundige, daß ehrgeizige oder
Schlecht beichäftigte Schaufpieler fid) zufammenthun wollen, um die Aufs
führung zu ermöglichen. Noch falfcher ift, nad) allgemein giltigem Sprach»
gebrauch, Iſenbiels Hauptjag. Niemals, beinahe niemals wirdanden König
gedacht, wenn von „Hofkreiſen“ geiprodhen wird. Der Monach gehört eben
jo wenig zum Hof wie — mein Beifpiel hat den Borzug allerhödjjter Yoyali-
tät — der liebe Gott zu den himmlijchen Heerſchaaren. Schillers Philipp,
der auf itrengfte Befolgung des &ermonialgefetes hielt, ladet feinen „ganzen
Hof" zum Blutgericht; und feine Frau ruft dem ftürmijchen Knaben Karlzu:
„MeinHof iſt in der Nähe!" Hundert, taufendBeijpielelichen fid) für die That:
ſache anführen, daß faftimmer und überall zwifchen Herricher und Hof unter:
ſchieden ward. Wer, fragt Moliere,Sahan Höfen je Einen, der nichtdeneigenen
Vortheilfuchte? On voit partout que l’art des courtisans ne tendqu’&
profiter des faiblesses des grands. Voltaire: A mesure que les pays
sont barbaresouquelescourssontfaibles, le cer&monial est plus en
vogue. Boffuet: La cour veut toujours unir les plaisirs avec les af-
faires. a Bruyere: La cour estcomme unedifice bäti demarbre; je
veux direqu’elle est composee d’hommes fort durs, mais fort polis.
Heine: „Die Kunftder Höfe beiteht darin, die fanften Fürften fo zu Härten, daß
fie eine Keule in der Hand des Höflings werden, und die wilden Fürftenfozu
jänftigen, daß fie fich willig zu jedem Spiel, zu allen Bofituren und Aktionen
hergeben." Brougham: „Der Hoferzeugt, wie der Bater das Kind, ſelbſt feine
186 Die Zukunft.
Tyrannen.“ Shelley: „Im Sonnenfhein des Hofes, von feiner Fäulniß
‚nähren fid) die Drohnen der Gefellichaft." Abraham a Santa Klara: „Du
wirft zu Hof jehen, daß allda wenig Metall, aber viel Erz: viel Erz- Dieb, Erz⸗
Scelmen, Erz-Betrüger”. Die Liſte fönnte nad) Belieben verlängert wer:
den. Daß die drei Vertheidiger Fein einziges Beiſpiel bereit hatten, zeigte,
wie Schlecht fie gerüiftet waren. Sie fanden aud) fein armes Wörtchen der
Abwehr, als der Staatsanwalt von einer „Angelegenheit der ganzen Taifer-
lichen Familic” Sprach: und das deutiche Staatsrecht kennt doch Feine „Euifer-
liche Zyamilie”. Das Alles mochte hingehen. Viel Schlimmer war, ganz uns
verzeihlich, daß fie den Hauptitoß des Anklägers gar nicht erſt zu pariren
verfuchten. Herr Leid ift verurtheilt worden, weil er dem Kaiſer Mangel an
perfönlichem Muth angedichtet habe. Das wäre fo ungefähr die ſchwerſte Be-
leidigung, die zu erdenken ift; und deshalb durfte ich fagen, nach der unge⸗
heuren Wucht der Anfchuldigung erfcheine das Strafmaß relativ noch gering.
Auch ein Wald: und Wiejenvertheidiger mußte, ſpäteſtens aus dem Plaidoyer
des StaatSanwaltes, merken, daß hier die Gefahr der Sache lag, hier allein;
und gegen dieje Anflage die ganze Kraft aufbieten. In Moabit wurde der
wichtigfte Punkt von den Vertheidigern kaum mit einer Silbe geftreift.
Bor fünfundfünfzig Jahren rief ein König von Preußen: „Ich muß
nad) Potsdam! Hier in Berlin zwingt man mir eine Konzejjion nach der
anderen ab.“ Leopold von Gerlad), der den Ausſpruch des Verzweifelnden auf:
gezeichnet hat, erzählt, nur die Mahnung eines Arnim, der daran erinnerte,
daß eine vom Herrfcher verlafjene Refidenz felten zurüdgemonnen worden
ſei, habe den König einftweilen noch von der Fluchtabgehalten. War ried-
rich Wilhelm der Vierte deshalb feig? Wars fein jüngerer Bruder, der um
die jelbe Zeit vor Thau und Tag aus Berlin in diefpandauer Eitadelle und
nad) zweitägigem Aufenthalt von dort vermummting Ausland floh? Er hat
vorher und nachher bewieſen, daß perjönlicher Muthihmnicht fehlte, und Heißt
in der offiziellen Reichsiprache heute Wilhelmder Große. An das Schidial
des Ahnen dachteder Enfel,alder 190 1Ldieneue Kaferne des Gardegrenadier⸗
regimentes Kaifer Alerander einmweihte und in der Feierrede jagte, er brauche
in feiner Nähe eine „fefte Burg” und eine zuverläffige Leibwache, „die Tag
und Nacht bereit fein muß, für den König ihr Blut zu verfprigen”;
denn „wenn die Stadt Berlin nod) einmal, wie im Jahr 48, ſich mit Frech—
heit und Unbotmäßigfeit gegen den König erheben jollte, dann ſeid Ihr,
meine Grenadiere, berufen, mit der Spige Eurer Bajonnette die Frechen
nnd Unbotmäßigen zu Bıaren zu treiben”. Kein Bürger hat nad) unjerem
Die Kaiferinfel. 187
Geſetz das Recht, den Muth feines Randesherrn mit ehrfurchtloſem Zweifel
anzutaften. Eben jo wenig aber, Herr OberftaatSanwalt Iſenbiel, hat ein
König das Recht, fein Leben leichten Sinnes aufs Spiel zu ſetzen. Das wäre
Muthwille, nicht Muth. Denn diefes eben gehört den Yand und dem Vollk.
Der gefrönte VBertrauensmann der Nation hat die Pflicht, fich) dem Bürger-
frieg undder Herrengewalt des fremden Eroberers zuentziehen, Attentateund
feindlichen Kugelregen, fo lange er$irgend vermag, zu meiden. Wellington war
nicht Preußens Freund; wie der Brite aber, als ihm die Märzoperationen des
Generals von Prittwig gemeldet wurden,haben 1848 tauſend treue Patrioten,
jeder in feiner Mundart, gefragt: Mais pourquoi ce brave general n'a-
t-il pas commence par &loigner le roi? Gegen die Uebermacht nügt
fein noch jo hoher perfönlicher Muth; und ein Herricher, der in der Schick⸗
Salsftunde flüchtend fein Xeben rettet, kann feinem Lande einen-wichtigeren
Dienft leijten als einer, der fich in heroifcher Poſe megeln läßt. Nach diejem
Grundſatz handeln heute alle Kronenträger: der Weiße Bar, der die Bahn
gleije von Koſaken bewachen heißt, der Koburger Ferdinand, den jedes Ges
witterzeichen an oderüberdie Örenze treibt, undder Deutjche Kaiſer, der durch
Schutzmannſchaftſpaliere fährt. Deshalb war der Artikel des „Borwärts",
felbft wenn er direkt auf den Kaijer bezogen werden mußte, nicht beleidigend.
Auch der tapferſte Fürft hat, wenn er mit der Möglichkeit einer bewaffneten
Maſſenerhebung rechnet, das Recht nicht nur, nem: hat die Pflicht, früh für eine
fihere Stättezu forgen, wo er ungefährdet warten fann, bisder Sturm ver-
brauſt ift und durch Schwarze Wolfen wieder ein Sonnenftrahl bricht.
„Wenn teid Glüd hat, Hebtder dritte Strafjenat in Leipzig das Urtheil
des Kandgerichtes auf. Dann follte der Genoſſe ohne Verteidiger vor feinen
Nichter treten und alſo jprechen: „Ich bin Republikaner und gebe mich nicht
für Einen, den Neigung oder Beruf treibt, den König vor Hoffabalen zu
ſchützen. Ich bin Sozialdemofrat und habe gern nad) einem vom Glanz
amtlicher Weihe unleuchteten Blättchen gegriffen, das zu beweijen jchien,
wie völlig man auf unnahbarer Höhe unfer Hoffen und Streben verfennt.
Aber ich habe nie, nicht eine Sekunde, für möglid) gehalten, der Deutſche
Kaiſer könne dadurd) beleidigt fein, daß ich ihm die Abficht zufchrich, fich, feine
Frau und Kinder vor übermächtigem Aufruhr in einer Inſelfeſte zu fidhern.
Dein Irrthum kann lehren, daß die organifirte Maffe nicht das Leben des
Kaiſers bedroht, der Kaiſer ihr in ruhigen Stunden fein böſes Trachten
zuttaut. Solche Lehre ift nüglid). Meinen Leichtjinn habe id) im Gefängniß
und durch Erregungen aller Art nicht zu gelind gebüßt. Jetzt darf id) den
Hohen Gerichtshof mit gutem Gewiffen um Freiſprechung bitten.’
>
138 Die Zukunft,
ISmpreffioniftiijche Weltanfchauung.
Se Kunft, die allen Bedürfniffen großer Gemeinfchaften genfzt und
darüber hinaus der allgemeinen Eehnfucht Antworten zu finden weiß,
kann mit Erfolg äjthetifch betrachtet werden. Denn alle Lebensinſtinkte und Welts
begriffe, die das Fünftlerifh Formale entfcheidend determiniren, find damı Ge
meinbelig, werden überall unbewußt vorauögefegt und innerhalb des Kolleltiv-
empfindens wird die äfthetifch prüfende und genießende Betrachtungweiſe mög»
lid. Anders ift e8, wenn in einer Epoche verfchiedene Kunftauffaffungen ein=
ander fremdartig, ja, feindlich gegenüberftehen. Dann verfagt die Aeſthetik,
weil der Streit des Artiftifchen im Grunde auf einen Kampf der Lebensideen
zurüdzuführen if. Bor Werfen folchen zwiejpältigen Wollend fagen die
Menſchen: Diefes ift fchön und Jenes ift häßlich. Sie meinen aber: Diefes
ift wahr und Jenes unwahr; fie fehen die Wahrheit durch verfchieden ge=
färbte Ueberzeugungen und ihrer Anfchauungform entfpricht immer das deal,
das aus verwandten Weltbegriffen konftruirt worden iſt. Es zeigt fidh, da
die Aefthetil nicht einen abjoluten Maßſtab darbieten kann.
Wo 68, innerhalb Fonfequenter Kulturentwidelungen, fünftlerifche Zwie⸗
fpältigfeiten giebt, iſt es ficher, daß das Höchſte in der Kunſt nirgends er
reicht ift; denn auf dem Gipfel Laufen alle Entwidelunglinien in einem Punkt
zulammen. Trotz diefer theoretifchen Gewißheit muß, wer zwifchen den hete
rogenen Sunfterfcheinungen der Gegenwart fteht, ein Verhältniß zu den thäs
tigen Kräften zu gewinnen traten. Dan kann e3 in verfchiedener Weiſe.
Scheut man fid, die ruhigen Gebiete der Aeſthetik zu verlaffen, fo fchließe
man fi innig der Kunftform an, die den eigenen ficher umfchriebenen Ueber
zeugungen ent|pricht, und fuche in diefer Befchränkung Entzüdungen intimer
Art: dann gehört man zur Partei. Dder man fpüre Schönheitelemente
verfchiedenfter Art in allen Aeußerungen des antagoniftifchen Sunftgeiftes auf,
beachte überall mit ſpitzem Geift, was leife oder lauter im Gefühl wider⸗
Hingt, und kofte immer nur die Nuance: dann ift man ein äftdetifcher Gourmet.
Wer aber die verfchiedenen Richtungen der Kunſt in ihren geiftigen und artiſti⸗
fhen Weſenszügen erfennen und diefe Erkenntniß zu einer höheren Ent-
widelungidee ausreifen laffen möchte, fommt mit der Aeftgetif nicht aus.
Er muß ben Geiſt aller Parteien in jich wirken laffen, durch die Weltgefühle,
woraus die fo verichieden gearteten -Blüthen der Schönheit hervorwachſen,
als Erlebender hindurchſchreiten und ji über feine Erlebniffe dann erheben.
Denn er es nur um ein Geringes kann, ift ein Beweis von der Uns
zulänglichkeit der Kanſt, die er betrachtet, geliefert. Denn eine vollkommene
Kunft läßt nur Unterfuchungen innerhalb ihrer Grenzen zu und erlaubt
Impreſſioniſtiſche Weitanſchanung. 139
nichts über ſich, weil ſie höher ſteht und nach jeder Richtung weiter greift
als der kühnſte Verſtand.
- Die charakteriftifche Kunſterſcheinung der Gegenwart, bie Impreſſio⸗
nismus genannt wird, fordert, mehr als eine andere, neben der äfthetifchen
die Aulturphilofophifche Betrachtung. Die Erbitterung, der diefe Malerei
begegnet, wäre nicht: zu erflären, wenn es fih nur um ragen des Geſchmackes
handelte. In Wahrheit ftehen Dinge in Trage, die mehr oder weniger jeden
modern Empfindenden, au außerhalb der Kunft, angehen und zu denen ein
lebhaftes Verhäftnif der Bejahung oder Verneinung nöthig if. Welche Unter-
firömungen zur beachten find, wird verftändlich, wenn man bie geographifche
Grenze des Impreſſionismus fucht. Es zeigt ſich, daß dieſe Grenzlinie fehr
genau einer anderen entfpricht, die Gebiete religiöfer Borftellungen trennt.
Geboren im revolutionären parifer Geift, ber ſich ſchon wor mehr als hundert
Fahren nicht fcheute, den katholiſch chriftlihen Gott offiziell abzufegen, hat
fi) der Impreſſionismus nach Belgien gewandt, ind Land des Induſtrialismus,
der Sozialen Noth und der konfeſſionellen Spaltungen, hat in Deutichland
überall da eine Heimath gefunden, wo der fühle, zweifelnde, präntheiftifche
Proteftantismns die Gemüther lenkt, ji Skandinavien und Finland, bie
Länder nüchterner Myſtik, erobert und ift im Begriff, fich dem großſtädtiſchen
Nihilismus Rußlands anzufhliefen. Münden und Düffeldorf, die katho⸗
liſchen Städte, weiſen die impreſſioniſtiſche Kunft ab, in der romanijchen
Welt Italiens, Südfrankreichs und Spaniens kann fie nicht Fuß faffen, das
puritanische England bleibt ihr gegenüber gleichgiltig und nur das ſchwankende
wiener Temperament fpielt ängftlih und frech mit ihren gefährlichen Reizen.
Und noch ein Charalteriſtikum: die fpirituelle jüdifche Natur neigt fich ent-
fchieden diefer Kunft zu. So ftellt fi. der Impreſſionismus als eine Anz
fhauungform des Atheismus dar. Nicht um die Malerei handelt es fich in
erfter Linie, jondern um die Anfchaunngform und dieje ift Produkt eines
über große Bollögemeinfchaften Europas verbreiteten fataliftifchen Weltgefühles.
Wer es erlebt, nicht nur gedacht Hit, mit ehrlichem Schmerz, unerträglich
kalter Verzweiflung und in müder Reiignation, daß fih ihm die Welt unter
dem Wirken der neuen Saufalitätlehren entgötterte, wer in dem gemaltigen,
aber graufam gleichgiltigen Spiel von Urſache und Wirkung, als das ber
moderne Menfh, im eriten Stadium jungen wiſſenſchaftlichen Erkennens, die
Natur begreifen zu müfjen glaubt, Hoffnung und Vertrauen auf füttliche End-
ziele des Lebens verloren hat, wem ber prüfende, zerfegende Verſtand, zu plötz⸗
lich bereichert von neuen erafien Wahrheiten, den Weg auf die Höhe gemwiefen
bat, wo das zagende Herz hoffnunglos ins Nichis ftarrt und entweder ver-
zweifeln oder kalt werden muß, vor Deffen Augen hat fi das Bild der
Welt verwandelt. Denn dieſes Bild ift nie draußen, fondern immer im
-
140 Die Zukuuft.
Menfhen. Wo fonft Hoffnungen das Frühlingshlühen verflärten, die lebens-
frohe Phantafie alle Natur mit einem Götterleben bevölferte, wo das Ber:
trauen auf eine ewige Güte fi Antworten auf jauchzende Fragen erfand,
da gloßt dem Ernüchterten nun der unbejeelte Weltenwille in feinem blinden
Walten entgegen. Der Wald ift nicht mehr das trauliche Heim fchöner
Träume und Verheißungen, fondern eine Unfammlung unheimlich pilzartiger
Gewähfe. Die Wollen ballen ſich nicht mehr zu heldifchen Gebilden, zu
luftig bunten Gleichniffen, fondern find nichts als Nebel, die in formlofen
Schwaben ewig zerfliegen und fi erneuen. Der Menſch ericheint nicht
länger vom Odem des Schöpfer befeelt, fondern ift ein willenlofes Probuft
einer ziellofen Nothwendigfeit, in Allem beterminixt; und feine ſchönen Ge⸗
fühle find auf phyfifalifche und chemifche Vorgänge im Organismus zuräd-
zuführen. Das Schönheitgefühl ftirbt und eine Zroftloligfeit, der nichts
groß und nichts Hein, Alles gleich wichtig und unwichtig ſcheint, Lacht des
Ideals. Doch das Leben geht weiter; der Wille zum Dafein ruht nicht einen
Augenblid, arbeitet jelbft unter bem Eis der Verneinung und ber Berzweifelte
muß ſich mit feiner Weltfiimmung, fo gut es gehen will, abfinden. Die
fritifche, rein fpiritualiftifche Betrachtungmweife wird zur Gewohnheit und in
ihr geht Alles unter, was an Religion, Ethik und Aeſthetik der Seele über
liefert worden ift. Doc da, in dem Augenblid, wo alle idealen Werthe ver
nichtet fcheinen, ftellt ſich unmerklich eine neue Art von religiöſer Poeſie ein;
denn fein Menſch kann dauernd ganz ohne Eymbol des Ewigen fein. “Der
auf öden Berftandeshöhen Weilende blidt fühl auf feine Erde, die ihm nur
eine mit wucherndem Schimmel bededte riejige Blanetenmaffe it; und da ers
weckt ihm dieſer Augenblid plöglih Gefühle, denen ähnlich, die wir als
Kinder vor den Hypothetifchen Urweltbildern der Steinfohlenperiode hatten.
Die unbegreifliche, nie raftende Zwedlojigfeit des millionenfachen Lebens, das
Werden und Sterben und über Allem das mefenlofe, bunte Spiel des in
immer neuen Stimmungen mechfelnden Lichtes: das Alles wächft unmerklich
wieder, von neuen PVorausjegungen aus, ind Myſtiſche hinein. Der Be
tradhter wundert ji nicht mehr darüber, daß das Einzelne ift, wie es ift,
fondern darüber, dag das Ganze überhaupt vorhanden ift. Die legten facet⸗
tirenden Endgefühle fpiegeln ich in urfprünglichen Empfindungen. Und wenn
der Geift ih an diefe Empfindungen gewöhnt und eine Denkrichtung ge
funden hat, die dem Alltag von folden Standpunften genug zu thun weiß,
fo findet er fih im Beliß einer optifchen Anſchauungform, die in keiner
anderen Weiſe als in diefer geiftig-feelifchen entjtehen Tonnte. Der auf Um⸗
wegen und Srrpfaden zur Primitivität Gelangte phantajirt num nicht mehr
das Ideal in die Natur hinein, fondern in feinem von feiner heißen Hoff:
nung mehr abgeblendeten Auge fpiegeln fich die Naturbilder mit einer Ob:
Smpreffioniftifche Weltanfi; ng. 141
jektivität und Präzifion, die nur dadurch möglich jind, daß die Phantafle in
die Anſchauung nicht hineinredet. Dieſe durchaus geiftig gewordene Anfchau-
ung, im die die überlieferten Schönheitformen nur noch als Erinnerungen hin-
einspielen, bringt einen ungeahnten Reichthum optifcher Erſcheinungen; das
Auge erlebt Jmpreffionen und Ueberrafhungen und fieht die Wahrheit von
einer Seite, von der fie noch nie gefehen worden if. Das Individuum ift
den optijchen Reizen gegenüber durchaus im Zuftande der Paflivität, e8 glaubt
allein noch den Erlebniffen des Auges und lernt, weil die Seele nad) Inhalt
dungert, genau auf die Empfindungen und Regungen achten, die don ben
optifchen Reizen ermwedt werden. So dringen die automatifch empfangenen
Reize in die Seele und gewinnen dort Bedeutung, werden zu Symbolen fitr
die Empfindungen und Stimmungen, die fie erwedt haben, und die Erhöhung
der Anſchauung beginnt: die Stilbildung. Mit diefem Reichthum, der aus
der Berzweiflung eines ehrlichen Gemüthes hervorgegangen ift, baut fich der
Nefignirende eine neue Hoffnung und Freude; aus dem Nihilismus wachen
die Keime einer Schönheit empor.
Die Künftler, die al Das — wenn nicht bewußt, fo doc tief und
reich und mit der vollen Kraft einer ſtarken Sinnlichkeit — erleben, haben
mit den jo gewonnenen Schönheitformen ihr artiftifches Spiel getrieben und
fie Den vermählt, was fih an Traditionen, trog der großen Reinigung,
fiegreich erhalten hat. Was ihre Malerei groß macht, ift die Wahrheit, was
fie beengt, ift die Nüchternheit des Urfprunges. Ihre neue Anfchauungform
bat die Malerei mit Wahrheit und Schönheit bereichert, Entdedungen ermög-
licht, die unverlierbarer Bejig der Menfchheit werden müſſen, Züge des Lebens
jehen gelehrt, denen nun nicht mehr auszuweichen ift, und dem Auge Möglich-
keiten gezeigt, die e8 noch nicht fannte; ihren Urfprung aber, der die refig-
nirende Verzweiflung ift, kann fie ganz erft überwinden, wenn die Verneinung
überwunden worden ijt, wenn Sie hinter dem Spiel der Saufalitäten und
über die Myſtik hinweg von Neuen das Antlig einer Göttlichfeit entdeden
zu können meint; einer Göttlichkeit, die das fieghafte Glücksgefühl, das der
HZuverfiht bedarf, ernenert und damit die Phantafie freigiebt.
In diefem Sinn ift der Impreffionismus die Malerei des Atheismus,
Die parifer Künitler, die Kinder, der Revolutionen, machten zuerft die Ent-
defung. Denn ihre Kunft ift im Wichtigften mehr eine Entdedung als eine
Geniethat; erft in der Ausbeutung des Gefundenen entwidelten fie Genie.
Darum tritt der Impreſſionismus auch al8 Schule auf, die nicht an bie
That eines Einzelnen gebunden ift, fondern an die Anfchauungform "eines
Künftlergefchlechtes. Es giebt in ihr feine ganz überragenden Perfönlichkeiten,
fondern nur ftarfe Talente, die nach gemeinfamem, nicht verabrebetem Plan
arbeiten. Diefe Kunſt iſt ein Schidfal.
11
142 Die Zukunft.
Menſchen, deren Empfindungleben an irgend einen religiöfen Inſtinſt,
und beruhe er felbft auf der Ueberzeugung vom Sategorifchen Imperativ,
gefeflelt ift, verftehen diefe Malerei äußerfter Nelativität nicht. Freilich hat
die MWiffenfchaft auch auf fie gewirkt und einen Umfhmwung der Meinungen
erzeugt; doch ift ihnen die Skepſis nicht Erlebniß, nit Schidfal geworben.
Diefen leichter entzünbbaren, aber meift weniger ernften Temperamenten ift
das Bertrauen zu den leiten Urfachen aller Dinge nicht im Tiefſten er-
fhüttert worden. Der Gottbegriff Liegt ihnen, vermöge einer Träftig nadh-
wirkenden Tradition, fo feit im Blut, daß er den biblifchen Chriſtengott
überdauert. In der impreffioniftifhen Anfchauungform ift das Wefentliche,
daß die Natur als eine große, bunte Relativität betrachtet und darum ganz,
objektiv empfunden wird, während fie fich in der Anfchauungform der Ver-
trauenden abfolut und deshalb ſubjektiv verflärt darftellt. Der impreflioniftifche
Künftler Tiebt die einzelnen Objekte nicht, weil fie ihm nur Produfte des
kauſalen Kräftefpieles find, und richtet den ftaunenden Blid immer aufs Ganze;
der religiöfe SUnfionift aber verehrt da8 Einzelne, ihm ift dag Echöpfung-
wunder in jedem Objekt. Dieſes Wunder individualifirt fih ihm und fordert
zur Symbolifirung auf, zur Wiedergabe der fchönen Linien und Farben, die
am plaftifchen Objekt gebunden find: ber Künftler wird Stilift, Idealiſt und
Individualiſt, ift der ewige Jüngling, der im Hoffnungraufch burch8 Xeben geht.
Unmerflih aber verkehrt fich das Verhältniß. Der Werdeprozeß bes
imprejltoniftifchen Kunſtlers bedingt ein ſtarkes fittliche® Verantwortlichkeit⸗
gefühl. Um über die felbft vollzogene Entgötterung des Lebens zu ver-
zweifeln, muß man Gott fehr lieben und ein großes Verehrungbedürfniß
haben. Diefe Eigenichaft kann den Gegenftand wechſeln, unterdrüdt, aber
nie vernichtet werden; in dem Augenblid, wo aus der Anfchauungform eine
Kunft geworden ift, wird fie wieder jchöpferifch, bemächtigt fich der neuen
Wahrheiten und Schönheiten und übt entjcheidenden Einfluß anf deren
artiftifche Entwidelungen. So fehen wir eine geradezu fanatifche Wahrhaftig-
feit, fo Eonjequent, daß fie nur aus lange gehemmtem Verehrungdrang zu er=
klären ift, jih im Impreſſionismus bethätigen; der verlorene Glaube an ein
Ideal ift Wille zur Wahrheit geworden. Bei den Künftlern der anderen Richt-
ung aber rächt fich der Mangel an Eigenleben, der darin befteht, daß fie Das
nicht erleben wollen, dem fie doch nicht widerfprechen können, den Himmel
der Schönheit fuchen, aber den nothwendigen Weg durchs Fegefeuer fcheuen.
Diefe halbe Untreue, die aus zu egoiltifcher Lebensluſt und rüdjichtlofem
Slüdverlangen entfpringt, unterhöhlt die ftolzen Gebäude ihrer Romantif
und des repräfentirenden Idealismus. Da eine eigene, gelebte Anfchauung
fehlt, greift der Stilfünftler zu dem artiftifchen Rüſtzeug vergangener Ge:
Schlechter, derem Geiſt er fich verwandt glaubt, benugt Kunſtformen, die einft
Impreſſioniſtiſche Weltanſchauung. 143
aus einem Erleben entſtanden ſind, als träger Erbe, der den überkommenen
Schatz nicht zu erwerben verſteht. Denn was er an Eigenem hinzufügt, iſt
auch nur halb erlebt, weil eine Halbheit die andere bedingt. So erſcheint
der Idealismus, der mit großen Anſprüchen auftritt, oft gefälſcht, die Romantik
wird zur Phraſe und die Sittlichkeit entſcheidet wieder einmal über Dinge
der Kunſt. Trotzdem liegt in der epigoniſchen Stilkunſt Etwas, das ſich den
Wahrhaftigfeiten des Impreſſionismus gegenüber behauptet: das Element
der Zuverſicht, der Bejahung. In der Bejahung allein — freilich nur
in einer, die vom Lebensgefühl der Mannheit wieder erworben, nicht vom
Erhaltungtrieb der Kindheit inſtinktmäßig geübt wird — kann die Kunſt
Sprache der Seele zu allen Seelen werden, eine Majoritätlunft, in dem
hohen Sinn der Antike oder der Gothif.
Aus folchen Rebensgründen, die man in einzelnen Bildern freilich nicht
leicht erfennt, fondern nur in der Gefammtheit der Werke, wachſen die indivi-
duell verjchiedenen Kunſtleiſtungen. Bei den Imprejfioniften beftimmt die
Anfhauungform der Schule das von der Perfönlichleit Gewollte fo ſtark und
gleihmäßig, daß dem Laien zuerft kaum unterfcheidende Merkmale auffallen.
Es geht dem noch nicht geübten Auge vor diefer Malerei eben wie vor ber
japanifchen Kunſt. Das Stilgepräge dominirt jo ſtark, daß die perfönlichen
Sonderzüge zurüdtreten. Hierin liegt ein Beweis, daß man es mit einer
organifch gewordenen Form zu thun hat. Die Stillünftleer — Englands
oder Münchens etwa — unterfcheiden fi dem erften Blick viel deutlicher.
Über nicht, weil fie fiarke Individwalitäten find, fondern, weil fie fi durch
befonder8 gearteten Archaismus die Originalität fichern und vermeiden,
. einander ins Gehege zu kommen. Doch auch hier kehrt ſich das Verhältniß
wieder um. Denn je näher man mit den Ymprefjioniften befannt wird, defto
klarer unterfcheiden fich die einzelnen Maler, in Zügen, die zuerft unwefentlich
erfcheinen und im Grunde doch die wichtigften find, weil jie auf erlebter An⸗
fhauung beruhen. In den Werken der Stilfunft aber erfennt man, je länger
man binfieht, defto weniger lebendige Originalität und findet, daß die Künſtler
in Allem, was fie felbit dem Archaismus hinzufügen, leicht akademiſch uniform
werden. Dieſe Stilkunft redet in Berjen, der eigentlichen Sprache der Kunft,
aber fie tönen und rollen nur, ohne Wahrheit und Anfchauung zu ver:
mitteln; der Impreſſionismus giebt in Fultivirter Profanfpracdhe lebendig an—
geihaute Wahrheiten. Jene bringt das Ideal in Verruf; diefer dient ihm,
ohne es je laut anzurufen.
Den Werth des artiftifchen Zemperamentes, mit deffen Hilfe der Künftler
eine Anfchauungform äſthetiſch organifirt, erfennt man im Vergleich Deſſen,
was die franzöfifchen und die deutjchen Dialer bei gleichen Tendenzen leiten;
der Unterfchied befteht nicht nur darin, daß die Deutfchen die Schüler der
11*
. 144 Die Zutimft. |
Tranzofen find. Diefe geben ſich, vermöge einer freieren Anjhauungsfraft,
inniger, naiver und finnlicher al8 ihre deutſche Gefolgſchaft. Es iſt ihnen
gelungen, mit einem Deonumentalmaterial intime Kunſt zu machen und eine
neue Art von Heimathkunſt zu fchaffen. Freilich nicht in dem engen Sinn,
der dem Wort heute anhafte. Trotz dem peſſimiſtiſchen Grundton ihrer
Kunft wiſſen fie die Kleinen wechfelnden Freuden des Lebens ſehr temperament⸗
voll zu erfaſſen; ihr Geift wird in der Refignation nicht ſtumpf, fondern
bervahrt ſich Geſchmeidigkeit, Interefje und Liebe. So find fie dahin ge—
fommen, die Gegenstände ihrer Gewohnheiten, die Pläge ihrer Tagesinter-
efien in einer neuen und feltfamen Weife zu ſchildern. Gie malen die
Seinelandſchaften bei Saint Denis und Argentenil, das Treiben der Ruderer
mit ihren Mädchen, die Gartenlolale mit einer fonntäglihen Menge, die
winmelnden Boulevard und die triften Montmartreftraßen, geben Szenen
aus Ballkokalen und der Souliffenwelt, zeigen das Treiben auf den Renn—
plägen, das Innere Öffentlicher Häufer und Kleiner Werkftätten, erzählen vom
Tagesleben der Armuth und vom Nachtleben des Reichthumes. Aber al
Das ift ihnen nie Selbftzwed. Was ſie fuchen und oft auch finden, jind
Ewigfeitzüge, die an Objeft und Heimath nicht gebunden jind, Zarbe und
Form jenfeits vom Stoff, das Typifche einer Naturflimmung ober einer
pſychiſch malenden Gefte, Züge des Lebens, die daS verwandte Temperament
in der ganzen Welt wiederfinden kann. Es leuchtet ein, daß für ſolche vom
Zufälligen abftrahirende Sinnlichkeit nur der groge Stil taugt, der erreicht
ift, wenn Form und Stoff auf gleicher Höhe ftehen. Weil den Barifern diefer
Stil fehlt und fie für eine große Form nicht den pafjenden Stoff finden, ver-
Ichwenden fie ein großes Kunftprinzip an Dinge des Alltags und fchaffen eine
intime Heimathfunft, malen vertraute Dinge der täglichen Umgebung, um das
Ewige, wovon diefe Dinge nur zufällige Objeftivationen find, zu ſchildern.
In ähnlicher Weiſe benugt Ibſen die nahe norwegische Umgebung, um Dienfch-
heitprobleme zu zeichnen. Hier wie dort hat man Einmalige und Typifches
neben einander; die Wahrheit ijt zugleich umfaffend und fpezififch.
Die deutfchen Impreſſioniſten gehen im SHeimathgefühl leicht unter.
Maler wie die Worpsweder haben zu viel Zärtlichkeit für die befondere Lands
ihaft ihrer MWohnfige, ihre Seele ift zu ehr vom Gegenftand eingenommen
und doch nicht frei von einer anderen Anfchauung, der der Gegenftand gleic
giltig ift. Ihre Liebe ift immer ein Bischen philifterhaft. Sie dürfte es fei
wenn fie fich ganz auf fich felbft befchränfte; dann wäre die produzirte Kunfl
eng und kleinlich, aber in jich ftilvol. Diefe Heimathliebe fteht aber ir
Dienft höherer Anfchauung und ift doch ftärker: der Diener beherrſcht dei
Herrn, die Nebenfache wird zur Hauptfache. So kommt e8, daß man in ber
Bildern diefer Dialer gerade die Werthe vermißt, die das Gegenftändliche zımm
Impreſſioniſtiſche Weltanfchauung. 145
Gemeingut machen, die abftrahirende Sinnlichkeit, die der parifer Malerei kosmo—
politifche Geltung giebt und dadurch auch das nebenbei Gefchilderte international
verftändlich macht. Wie die Worpsweder, arbeiten auch die impreffioniftifchen
Maler in Hamburg, Weimar, Karlsruhe und Dresden. Bei Allen vermißt
man den philofophifchen Muth ber Franzofen, die eine Wahrheit, wenigfteng
nad einer Seite, ganz ausfchöpfen und fie dadurch zum Weltbefig machen.
Anders verfahren die modernen berliner Maler. Bon den Yehlern
der deutfchen Heimathfünftfer halten fie jich frei; aber auch von den Vor⸗
zügen der Franzofen. Wenn Diefe ihre Reſignationkunſt am geliebten
Gegenftand meſſen, jo meflen die Berliner fie am abfolut Gleichgiltigen.
Auch geht e3 ihnen wie Allen, die eine Idee nicht organifch im eigenen Geift
entwideln Yönnen, nur eine Dispofition dafür haben und die Erfüllung von
ftärferen QTemperamenten, die ihnen ihr eigenes Wünfchen und Wollen erft
erflären, empfangen: die Fülle finnlichen Lebensgefühles fehlt und dieſe
Empfindungarmuth läßt feine Initiative zu. Die berliner Maler find Mit-
glieder einer Schule, von.deren Wahrheiten große und Heine Geifter leben
fünnen; doch muß dieſe Wahrheit jich in einer Perfönlichkeit fpiegeln, wenn
der Künftler nicht zum Parteimann herabſinken fol. Aber jelbft dann ift
es möglich, daß folche mittelmäßige Parteiintelligenz einem geiftvollen Stils
fünftler gegenüber Recht behält. Die beffere Wahrheit, die er vertritt, ftärkt
das Nüdgrat und giebt den PHiliftergefühlen ein gewiffes Relief. Darum
machen die berliner Smprefjioniften im Durchfchnitt beffere Dlalerei als bie
münchener Stilfünftfer, trogdem jie ihnen als Perfönlichkeiten in manchem
Zug nadjftehen. Wenn der Idealiſt vom blaffen Gedanken ausgeht, fett
der Smprefjionift ji vor die Natur. Er weiß nie vorher, was er malen
wird; aus einer Anſchauung gewinnt er die optifchen und aus diefen dann
erit die äfthetifchen und bie geiftigen Elemente feiner Kunſt. Der Stilift
erbeuft fein Bild, empfindet im Bett, beim Wein oder fonftwo die Grund:
ſtimmung dafür. Er tritt alfo präoffupirt vor die Natur und fieht nur, was
feiner Abficht gemäß ift. Bei ihm entjcheiden allein die Fülle und Wahrhaftig-
feit der aufgenommenen Natureindrüde, die artiftifche Erinnerungsfraft dar⸗
über, ob fein Werk lebendig wird. Hier herricht der Traum, dort die Empirie.
In beiden Arbeitweifen läßt fih Großes fchaffen; die Namen Bödlin und
Manet beweifen es. Dem Einen verklärte fich die Anjchauung, der Andere
wußte feine Träume zu naturalifiren. Daran fehlt e3 den mittleren Talenten.
Die Impreſſioniſten verlieren fich leicht in Technik und Experiment und die
Stilfünftler fommen in die Gefahr, Phrafen zu machen, weil ihr anfprud):
voller Apparat nur von ftarfen Geiftern frei und felbftändig regirt werden kann.
Welche Schwierigkeiten daS große univerfale Wollen in der Malerei
zu bewältigen bat, wenn die natürliche Entwidelung der Kunft nicht die
146 Die Zukunft.
Form darbietet, der fih Alle, die Großen und Kleinen, bedienen können,
bemweift Böcklins Werk, das als höchſte Aeußerung des malerifchen Idealismus
der Gegenwart gelten kann. Nach einem langen Aufenthalt im berliner
Rembrandtjaal ging ich neulich ins Böcklinkabinet. Die Farben de3 großen
Träumers erfchienen nun, wo die des Niederländers noch im Auge flimmerten,
hart, gewaltfam und ohne Tiefe; Das heißt: ohne innerfte Wahrheit. Ich
war nicht voreingenommen, denn diefe Beobachtung, die ein Ausweichen nicht
geftattete, erfchredte mich. An einem andren Tage bin ich von Rembrandt
zu der Sommerlandichaft Monets gegangen, die in der Nationalgalerie unter
dem Dach hängt. Diefes Bild verlor in feinen farbigen Werthen nit an
Eindringlichkeit. Nun ift daraus gewiß nicht die Lehre zu ziehen, Monet
fei größer als Bödlin. Der Schweizer hat Qualitäten, die dem Franzoien
ganz abgehen. Ob dieſe zeichneriich, Foloriftiich oder ſonſtwelcher Art ind,
gilt gleich, wenn fie nur als Kunſt die Seele berühren. Aber die Tiefe der
Kunftwirkung iſt doch abhängig vom Grade diefer Qualitäten; und die Farbe
ift in einer Malerei nicht das Letzte. Bon Vöcklin ftamınt dad Wort von
der imaginären Palette, die der Dialer, gegenüber der Unmöglichkeit, das
Licht mit Farben — die doch vom Kicht erft hervorgebracht werden — wieder:
zugeben, fi bilden nur. Wer zu fehen verfteht, wird erfennen, wie gut
gerxde die franzöſiſchen Impreſſioniſten die Naturtöne umzumerthen und eine
Skala zu Schaffen willen, die den äußerſten Meöglichfeiten nad) oben und unten
durchaus fern bleibt, ſich nur in Mittellagen bewegt und doch jeder Abjiht
genügt. Das ift ihre feinfte, vein artittiiche Thantafiethat, die nur vom
Unwiſſenden unterfhägt werden kann. Böcklins Skala reicht über alle Höhen
und Tiefen und verlagt doch oft, weil feiner Palette die wahrften Farbenwerthe
fehlen. Ceine Stärke liegt gar nicht in der Farbe, fondern in der Veran—
ſchaulichung eines großartigen Traumlebens, wofür die vorzüglicde Rep: o-
dultionfühigfeit feiner Bılder ein überzeugender Beweis ift. Die gemaltfamen
und lauten Mittel braucht er, weil er viel mehr will ald irgend ein Im—
preifion’st: uad diefes Wollen zeichnet ihm den formalen Weg vor. Die Nache
folge Böcklins aber beweiſt, wie abſchließend die Arbeitweife der modernen
E tilfünftler iſt; nicht einer feiner Schüler fommt über die brutale Dekora—
tion, über das Kunſtgewerbe (Diitnchen iſt die Hauptftadt des Kunſtgewerbes!)
hinaus. Die Münchener verfirchen nicht, eine Heimathkunft in irgend einen
Sinn zu mahen Daß ſie Höheres wollen, wäre lobenswerth, wenn fie dem
Wollen da8 Können anzupaffen ſuchten. Denn gewiß ift ber höchſte Punkt
ter Kunſt erreicht, wenn die Anſchauung ſich folcher Objekte bedient, die ihr
graduell entjprechen, wenn die Arbeit des Vereinfachens den bdargeftellten
Segenftand in feiner menfhlidhen wie in feiner malerifchen Bedeutung zu:
gleich umfaßt. Beffer: wenn malerifche und poetifche Gedanken untrennbar
Eüdweftafrikanifche Skizzen. 147
geworden find. Jetzt aber fehlt jeder Richtung unferer Malerei immer, was
die andere ihr Eigen nennt. Die Stilfünftler vergöttlichen den dargeftellten
Stoff; aber fie thun e8 mit erborgter Anfchauungform und unwahrer Aeſthetik;
die Impreffioniften find in ihrer Aeſthetik urfprünglich und frei, den Stoff
aber humanifiren, fozialiiiren und proletarifiren fie. Im diefem Unterfchieb
zeigt fich, wie die beiden Schulen von verfchiedenen Weltbegriffen ausgehen.
Darum haffen Fürften und Priefter den Impreſſionismus in allen feinen
Aeußerungen und NReflexerfcheinungen; in ihm wittern fie die Mlalerei der ab-
foluten Geiftesfreiheit, des religidfen Nihilismius,
Der nad) Eelbftüberwindung ftrebende Menſch wird in ſolchem Nihi—
lismus nicht beharren; aber er muß hindurch und darf ihn nicht umgehen.
Den Impreſſionismus darf nur fchelten und verneinen, wer Alles, was an
Melibegriffen mit ihn zufammenhängt, in Erfenntnigfchmerzen und fauftifchen
Sorgen erlebt hat. Wer dann gelernt hat, im Sinn diefer Künftler die
Natur zu fehen, wer fih im ganzen fihtbaren Leben Bilder von eben folcher
Wahrheit und Schönheit, wie die Franzofen fie uns gemalt haben, auffuchen
kann: Der allein hat ein Recht, Höheres zu verlangen, als diefe Kunſt zu
bieten vermag, eine Minlerei zu e:jehnen, in der Empirie und Traum einen
Scöpferband Schließen und Werke hervorbringen, die höher flehen als jeder
Wunſch des Laien und de Xheoretiferd. Aber auch er rede nicht viel von
ſolchem Wunſch, wenn er nicht von der Entwidelung, die ihre eigenen Wege
geht, verleugnet werden will; vielmehr ſuche er der Kunſt feiner Zeit, wie
fie num einmal ift, von feiner Gedankenhöhe aus, zu dienen. Denn die Fleine
That ift ſtets noch mehr als der große Gedante.
Triedenan. Karl Scheffler.
Südweftafrifanifhe Sfuzen.”)
Ejdnozofo; Ort und Begriff.
ESF inopoto beißt unjer Ort.* „Sforpionenplaß”, weil diefer unangenehme
XS Pſeudokrebs bier nur felten vorfommt. Auch „Bitterwaſſer“ — der
Hereroname drüdt ſtets einen Begriff oder Vorgang aus —, weil dad Waſſer
bier nicht bitterer ald anderswo ſchmeckt. Das polizeilihe Melderegiſter —
jamohl, jo was giebt es! — belchrt mid, day Ejdnozoko vierundjechzig Weiße,
einichließglich der Kinder, zählt Dazu fommt die Stationbefagung und eine
größere Zahl Cingeborener. Das hinmelwärts gefehrte Inftitut der Miffion
wird duch — fage nnd fchreibe — ſechs mweltzugewandte Kneipen paralylirt.
Nicht etwa umgekehrt! Zwei Eleine Wagenbauereien bilden den Webergang zur
Snduftrieftabt. An den Tagen, an denen er nicht betrunfen it, badt ung ein
*) S. „Zukunft“ vom 3. Oktober 1903.
148 Die Zukunft.
Bäder Semmeln. Draußen vor dem Thor fteht eine vereinzelte nagelnene
„Billa“. Ste ift unfer „Vorort. Da bauen zwei Anfänger (O:ptimijten) in
einem Garten am Rivier jo viel Kohl, wie ihnen die Heuldireden übrig laflen.
Schräg gegenüber, etwas weiter hinaus, haben fich zwei ehemalige „Schuß
truppler“, in dieſem Jahr mit befierem Erfolg, auf den Kartoffelbau geworfen.
Gentner 45 Mark loco. Der Umfang der von ihnen gezogenen Erbfrücdhte läßt
weitgehende Schlüfle auf ihre Intelligenz zu.
Hüben vom Rivier wohnen die ſchwarzen Ehriften — sit venia verbo! —,
drüben die Heiden, bie Ehrlichen.
Bormittag. Aus der Schmiede ertönen Arbeitlaute. Ein dider Staub
ſchwaden quillt die Dorfftraße entlang. Hinter einem bewegliden Wald von
Hörnern quält fih unhörbar ein plumper Ochſenwagen durd den mablenden
Sand. Phlegmatiſch wälzen fi im legten Augenblid die ſchwarzen Rangen
aus ber Fahrbahn. Bor dem store lungert eine Gruppe NegergigerIn herum.
„Ale Reune! ruft der Kaffernjunge aus der nahen Kegelbahn. Becherklirren
antwortet ihm. Hinter der Sneipe thürmt fi ein Flaſchenhaufe riefiger Dimen⸗
fion auf. Böje Zungen behaupten, die Flaſchen feien einft voll gewejen. Längs
dem Waſſerfaden im gelben Rivierſande hockt eine Reihe plappernber Wald»
weiber. Ein junges Ding bat fih mit geſchürztem Rod breitipurig aufgerichtet
und blickt wohlgefällig auf ein Paar ftrammer, vom Wafjer überperlter Waden
berab. Ein Reiter der Schußtruppe, der vorbeiichlendert, theilt mit ihr Be
fihtigungobjeft und Wohlgefallen. Als er, Hinter dem Gartenzaun verborgen,
den Miifionar erblidtt, wendet er fchnell den Kopf, fängt den „Kleinen Kohn“
zu pfeifen an und marlirt den Harmlofen.
Zwei Stunden darauf rührte fih nichts mehr in Ejdnozoko, das ber volle
Strahlentegel des über ihm jchwebenden Riefenbrennglajes traf.
Als Begriff iſt Ejdnozoko vieljeitiger denn als Ort.
„Ein ganz hübſcher Plab”, jagt der Eingefeflene und drüdt bamit une
bewußt das Relative aller Dinge aus.
„Ejdnozoko ift auch nicht viel befier al3 der Übrige Bimmet“, quatidt
der SKolonialnörgler und beweilt damit, daß Befangenheit des Urtheiles für
feine Spezies typiſch ift.
„Kern von Ejdnozoko will ich leben“, brüllt der Ochfe, der hier nämlid
nichts zu frefien findet.
„Mein Ejdnozofo ift ein lein-Paris und bildet feine Leute“, ſchmunzelt
der Kaufmann, während er die ſchwarzen Schönen mit theurem Flitterſchund behängt.
„Ejdnozoko ift ein Sündenbabel”, groflt es dumpf über die Lippen des
Milfionars hinweg, wenn die Släfer an einander Elingen und „Schwarz“ und
„Weiß“ eine preußiiche Farbenverbindung eingehen.
„Und die Regirung hat body ihr Gutes“, denft der Häuptling des Ort
als er die ihm von mir gejtiftete Flaſche Rum entkorkt.
Das Seltſamſte an der Sache ift aber, daß diejes Ejdnozoko gar nicht exiftir
Um eine Löwenhaut.
Eines Tages verirrte fi) ein richtiger Löwe nach Ehabmoko. Am Kaoko
wald fingen die Paviane an, etwas knapp zu werden. Hunger aber thut w
Südweſtafrikaniſche Skizzen. 140
und macht dreiſt. In Ehabmoko gab es ſchöne Ziegen. Leider auch böſe Men⸗
ſchen, die fie bewachten. Die ſchlugen Lärm und kamen in höchſter Aufregung
zu den beiden Weißen des Ortes geftürzt. Konkurrenten natürlich!
„Löwenjagd!“ Das kommt nicht alle Tage vor in Sühmeltafrifa. Hinz
fowohl wie Kunz rüften aljo Feder für fi eine Zagderpedition aus und machen
fi) unverzügli auf die Sude. Hinz hat Glück unb trifft nah bei dem Ort
zuerft auf die Beftie, der es, im Didicht verborgen, vor ben Stonjequenzen ihres
Vorwitzes zu bangen beginnt. Das Gejchrei der Kaffern, die den Buſch um«
ftellen, macht fie vollends nervds. Sie ſpringt — das Dümmfte, was fie thun
tonnte — aufs Gerathewohl ins Freie. Das Verhängnig will, daß in dem
felben Augenblid aud Kunz mit feiner Schaar auf dem Plan erſcheint. Sofort
hebt unter betäubendem Lärm ein wildes Sreuzfeuer an.
Bon einem Dutzend Kugeln getroffen, bricht der Räuber zufammen. Ein
frenetifches Triumphgebrüll begleitet feine legten Zudungen. Dann ftürzt man
fih auf den Kadaver und beginnt, das Tell Über die Ohren zu ziehen. Hinz
und Kunz ftehen, auf die Büchſe gelehnt, in den feltenen Anblick verſunken,
einander gegenüber. Ein Jeder benft für ih: „Na, Den hätten wir!” Pluralis
majestatis, wohl verftanden. Hinz, der verheirathet ift, hält es nicht länger
zurüd. Er eilt nad Haufe, feiner Yrau die große Mär zu künden. Er war
der Erfte am Platz geweien und feine Leute hatten das Teuer eröffnet. Wer
fonnte ihm da den Beſitz der Haut ftreitig maden?
Als die blutige Arbeit des Abhäutens beendet ift, formirt fi der Zug
zum Einmarfd in den Ort. Auf einem Spieß trägt cin Kaffer den Kopf des
Löwen voran; ein zweiter wirft fi) bie Haut über die Schultern. So wälzt
fi, unter dem Jubel ber mobilifirten Einmohnerjchaft, der ausgelafiene Haufe
in wilden Sarnevalstaumel gen Ehabmoko. Der Zug geht geraden Weges auf
Kunzens Haus zu. Athemlos kommt Hinz in banger Ahnung berbeigeftürzt.
Bu fpät; denn ſchwer fällt Kunzens Thür Hinter der glüdlich gelandeten Löwen⸗
baut ins Schloß.
„So 'ne Gemeinheit von dem Kerl!” ſchnaubt Hinz, gebt nach Haufe
und fchreibt eine grimme Klage an die Polizei: „Mein ift die Haut und mir
gehört fie an!" Als der Brief in meine Hände gelangt, ftelle ich mit der in
jolden Fällen ftetS empfundenen Genugthuung feft, daß ich nicht „zuſtändig“
bin, und weile den Kläger an den Kadi. Der belegt die Löwenhaut mit Be:
ihlag und fängt an, die fchwarzen Zeugen zu vernehmen. Hier kann nur der
Kenner mitempfinden.... Se mehr das Altenheft anjchwillt, defto verworrener
wird die Sache, deſto ſchwindliger aber auch dem Kadi. Er rafft feine lebte
Ueberredungskunſt zufammen und bringt fchließlich einen Vergleich zu Stande,
dur den Herrn Hinz gegen Erlegung von fieben Mark und fünfzig Pfennig
Gerichtsfoften die Haut zugeiprodden wird.
Nach einiger Zeit juchte ih Hinz in feinem Heim auf. An ber Wand
prangte, ganz leidlich präparirt, die viel umftrittene Zöwenhaut. Darunter war
auf einem Täfelchen zu lefen:
„Erlegt Ehabmoko, den vierzehnten Juni 19..
Hinz.“
150 Die Zukunft.
Bierzehnter Juni... Das war das Datum, an dem er bie ficben Marl
und fünfzig Pfennig bezahlt hatte.
Der Wunderdoktor.
Heute ift der Wunderdoftor eingetroffen. Er fol gegen Rinderpeſt impfen.
Sein Ruf ging ihm voraus und feine Thaten folgten ihm nad. Er fam frijſch
aus dem blauweiß geftreiften Lande des Gerftenjaftes. Kein Menjch vertan
feinen Dialekt. Er ſah aus wie ein unten eingeferbter Rettich mit einem Um:
bängebart. Xoilettengeheimniffe hatte er nicht. Beim Eſſen ſorgte er bafür,
daß ihm die Mundwinkel nicht zuſammenwüchſen. Das Fehlen eines oberbaye
rifchen Wirthshauſes auf je fünfundzwanzig Kilometer ſah er als eine perſön—
liche Nüdfichtlofigkeit des Landes gegen feine Perfon an. Zuerſt wollte et
teformiren. Das will Jeder, der nad Südweſtafrika fommt, bis er fi bie
aldeutichen Hörner an den Felſenkanten abgeftoßen bat.
Bu Haufe Hatte man dem Wunderdoktor Goldene Berge in Ausſicht ge
ftellt, die fi bier rafch in nadte Slippenhaufen vermandelten. Das konnte ft
nicht verwinden und befchloß daher, wieder abzubampfen. Er liebte als Baner
einen guten Trunk. Nah dem fünften Seidel hatte er unfehlbar „Kurzſchluß“
mit feinem Nachbar. In einer Kneipe in Ururamo bat man ihm demonftritt,
daß Gewalt vor Skandal gehe. Mad dem dritten Kurzichluß flog er in einer
für fein Körpergewicht ziemlich gefrimmten Kurve zur Thür hinaus auf eine
alte Konſervenbüchſe. Mit blutender Stirn erſchien er wieder im Lofal und
forderte ein Glas Bier. Damit die Herren fähen, daß er aud Spaß verſtehen
önne. Das Bier wird ihm verweigert. „Dann will ich zahlen”, rujt er. Er
hatte acht Tage lang auf Stredit gelebt. „Das ſchenke ih Ahnen‘, entgegnete
der Wirth, der das Stonto längft in den Schornftein gefchrieben hatte. „Die
Herren habens gehört‘; fchreit der Wunderdoftor triumphirend. „Das fit bie
Quittung!“ Dabei deutet er auf jeine aufgebeulte Stirn. Und raus war el.
Als ich eben nah Haufe gefommen war, rollte er wie ein Biermagen
in den Überwölbten Thormeg ein. In feiner Stube begann er dann, den Mittel:
punkt der Erde zu juchen. Dabei erihien ihm, wie id aus feinen Phantajien
entnahm, der „geſalzene“ Bulle, der auf zwanzig chem Rinderpejtblut nicht
reagirt hatte, in der Apotheoſe.
Mit einer Bitte um Vorſchuß verabſchiedete ſich der Wunderdoktor von
mir. Vorher Hatte er, ſich vergeblich bemüht, das Letzte, was er beſaß, ſeine
Tricor-Reithofe, zu verſetzen. Mutter hatte fie ihm eigenhändig zur Afrika—
fahrt geftridt.
Sch bin fonft fehr gut mit ihm ausgefommen. In Briefen habe id nie
das „Hochwohlgeboren“ vergeffen. Das fonnte der Mann verlangen.
Nach zwei Monaten traf eine vergnügte Anfihtkarte aus dem münchener
Hofbräuhans don ihm ein. Wir haben ihm ein treue Andenken bemahtt.
Afrika „lag“ diefem Wunderdoltor num einmal nit.
Fritz Trekker.
Partei und Gewerkſchaft. 151
Partei und Gewerkſchaft.
SI: Neubelebung der Induſtrie fteht diesmal mehr denn je unter dem Beichen
n der Organtjation. Der privatlapitaliftiihen Spekulation zieht das die
Produktion beftimmende Kartell immer engere Schranken, um fie allmählich in
die Monopolfeftung ber Induftrie, das Syndikat, zu drängen. Das gierige
Haſten des Proletarierd nad) perfönlidem Wohlſtand und individuellen Glüd
wird mehr und mehr durch da3 Germeinftreben der den Yohn und die Urbeitzeit
regelnden Gewerkſchaft disziplinirt und fo der geſammten Arbeiterſchaft nußbar
gemacht. Trotzdem iſt die Anſchauung noch weit verbreitet, die Gewerkſchaften
und Gewerkvereine ſeien nichts weiter als an ſich bedeutungloſe Anhängſel der
jeweiligen politiſchen Parteien. Ein oberflächlicher Blick auf unſere Arbeiter⸗
organiſationen rechtfertigt dies ſchnell gefällte Urtheil allerdings. Denn Das,
was die Grundbedingung zur Erfüllung eines einheitlichen Zweckes iſt, Das,
was die Unternehmerverbände von Anfang an als Baſis ihrer Organiſationen
anerkannten, die Einigkeit, die parteipolitiſche und religiöſe Neutralität, fehlt
ihnen in den meiften Fällen noch. E3 dürfte daher nüßlid) fein, das Verhältniß der
verschiedenen Gewerkichaftgruppen zu den Parteien einen Augenblid zu betrachten.
Das Aufiteigen jeder Klaſſe ſetzt Selbftändigfeit in der Vertretung der
in Trage kommenden Intereſſen voraus. Diefe längit banal gewordene Wahr:
heit findet, auf die Arbeiterjchaft angewandt, ihren extremen Ausdrud in dem
Sag: „Die Befreiung ber Arbeiterklajje fann nur das Werf der Arbeiterklaffe
felbit fein.” Faſt wie eine Ironie eınpfinden wir es im erften Augenblid, daß
dieje Worte dem WBroletariat von Männern zugerufen wurden, die felbjt der
atademifchen Bourgeoijie entſtammten. Die jcheinbare Ironie wird aber durch ihre
beharrliche Wiederholung zur ernten hiſtoriſchen Thatſache. Wieder wird hier ge-
zeigt, wie eine aufſtrebende, aber bisher unterdrüdte Kulturmacht das intellektuelle
Arfenal der bevorzugten Geſellſchaftklaſſen Iprengt oder wie ihr — in den meilten
Fällen — die geijtigen Waffen von ihren Klaſſengegnern bewußt oder unbewußt
geliefert werden. Die feindliden Klaſſen treffen ſich da, wo fich die fpeziali:
firten Standesbeftrebungen in allgemeine Ideale auflöjen, alſo auf dem neu—
tralen Gebiet einer alle Intereſſengruppen umfaſſenden aflgemeinen Bolitif.
Als im Jahr 1848 die Forderungen unjered deutſchen Biürgerthumes
ihre Berallgemeinerung im demofratiidy-liberaien Verfaſſungideal fanden, begann
die intelligente Arbeiterichaft, vor Allen die Buchdrucker, Tabakarbeiter, Hand»
ſchuhmacher u. A., die Konſequenzen der feierlich proflamirten Grundſätze auch
für ihre Klaſſe zu ziehen; und Vorkämpfer der bürgerlichen Demofratie, wie bei
den Buchdrudern Robert Blum und Born, waren e3, die damals die erwachende
Arbeiterbewegung vor utopijtiichen Irrgängen zu ſchützen und in die Bahnen
einer bemußten Demofratijirung des mwirthichaftliden und jozialen Lebens zu
lenken ſuchten. Zum Beleg diejer Auffaſſung citire ih au3 dem Cirkular, das
die erite Nationalverjammlung deutiher Buchdruder im Juni 1848 an bie
Prinzipale ergehen ließ: ‚Seit den glorreihen Tagen de3 Monats März, an
welchen der Zeitgeift feine Schwingen mächtig ausbreitete, an welchen, gteihlam
gemahnt durch die Poſaune des Weltgerichtes, die Wölfer Europas fich erhoben,
um die ihnen vorenthaltenern Menfchenrechte zurückzufordern, an melden der
N
152 Die Zutunft.
Kampf der Intelligenz gegen Vorrechte der Geburt begann, erhebt fi der in
diefem Jahrhundert bejonders gedrüdte Stand ber arbeitenden Klaſſe gegen die
Unterdrüdung dur das Kapital; gerechte Ausgleihung zwifchen Kapital und
Arbeitkraft iſt der überall ertönende Auf, im Norden und Süden, im Ofte
und Weiten Deutfchlands. Nicht die politifche Freiheit allein ift es, welche der
Arbeiter fo ſchmerzlich entbehren mußte; wie. weit mächtiger noch ift jein Ruf
nad Brot und Obdach! ES gilt nicht allein feiner politifhen, fondern weit mehr
jeiner materiellen Eriftenz. Warum, fragt man vielleiht, hört man erſt jegt
diefen Nothruf? Warum auf einmal in allen Bauen Deutſchlands? Antwort:
Der Mangel an politifcher Freiheit machte e8 dem Arbeiter unmöglich, jeine
Klagen laut werben zu laſſen; bei Erhebung ganzer Werkſtätten für Verbeſſerung
ber Lage der Arbeiter fchritt die Bolizeigewalt ein; die allgemeine Verftändigung
durch die Preſſe war buch die Cenſur unmöglich.“
So ift denn unjere Gewerkſchaftbewegung ein Sind der politifchen Rev“
lution, fie trägt die Merkmale ihrer Zeit und unterfcheidet fih von den erften
Gewerkvereinsgebilden Englands gerade durch die Eigenthümlichkeiten, bie mir
al8 allgemeine Wejengzüge der renolutionären Epoche bezeichnen können. Der
unnatürlich frühzeitige Drang nad Centralifirung, der in Großbritanien erit
nad) Jahrzehnte langen inneren Kämpfen über den partikulariſtiſchen Geift fiegte,
ſpiegelt die zoll- und wirthichaftpolitifchen Cinigungbeftrebungen wider. Die
mit dem Kampf um die Berfaflung und das allgemeine Wahlrecht verbundene
Proflamirung der Gleichberechtigung -aller Stände und einer allumfafienden
Brübderlichkeit findet ihre praftifche Anwendung in der gemeinfamen Organijation
von Prinzipalen und Gehilfen. Es iſt eigentlich jelbjtverftändlich, daß bie junge
Gewerkſchaftbewegung heimathlos wurde und auf dunkle Irrwege gerieth, als
das auf den Barrifaden angefnüpfte Solidaritätverhältnig zwiſchen Bürgerthum
und Arbeiterklaſſe, dem die Berufeorganifation entſproſſen war, ein rafches Ende fand.
Die Legitimirung des verlaffenen Kindes wurde am Ende der fechziger
Sabre von Mar Hirſch und anderen Anhängern der Volkspartei durch eine künſt⸗
liche Wiederverbindung bes Kleinbürgertfumes und bes Snduftrieprofetariate?
verfucht. Inter dem Barmer der Gleichberechtigung der Stände traten auch die
beutfchen Gewerkvereine in Thätigfeit, vereinigten fortfchrittlicge Arbeitgeber und
Arbeitnehmer und ließen noch einmal in abgetönteren Yarbennuancen die ſchöne
Illuſion von ber präftabilirtien Harmonie zwiſchen Kapital und Urbeit aufleben.
Deutlich offenbart ſich bier der ftarfe Einfluß, den politifgde Strömungen auf
unfere Arbeiterbewegung übten. Die deutſchen Gewerkvereine waren eine Kopie
ber englijchen Trade-Unions; Alles, ſelbſt deren Unarten, hatten fie übernommen,
nur in einem Punkt waren fie originell: Das war die im nüchternen England
mit Hohnlachen zurüdgemwiefene Aufnahme von Arbeitgebern in die Organijatior
ber Arbeiter. Es wäre nicht nur Heinlich, fondern auch unhiſtoriſch, wollte m
dem verdienftvollen Gründer der Gewerkvereine den Vorwurf maden, daß
trog der im Statut feitgelegten Neutralität feine Organijationen: abfichtlich t
das Schlepptau feiner Partei gebracht babe. Die politifche Abhängigkeit de
Gewerkſchaften liegt tiefer und ift nicht auf heuchleriſche oder gewaltthätige Br
ftrebungen einzelner Berfonen zurüdzuführen, die ihren politifchen Syreumden di
Gefolgſchaft der Arbeitermafjen fidern wollten. Die Macht, die berborragen'
Partei und Gewerkſchaft. 153
PVerjönlichleiten des Bürgertgumes oder der Artftolratie in die Reihen der Ar
beiter drängt, ift in den meiften Fällen ein allgemeines Kulturſtreben, das jeinen
vollkommenſten Ausdruck in einem politiichen Staat3ideal findet und aud) dann
noch entſcheidend wirkt, wenn der Deklajfirte jein neugewähltes Arbeitfeld be—
treten bat. So lange alfo die geiftige und damit auch politifche Unfelbjtändigfeit
die Arbeiter unter die meijt gut gemeinte, aber oft fehr fchädliche Zeitung klaſſen⸗
fremder Führer zwingt, kann von wahrer Neutralität nicht die Rede fein.
Was hier vom Liberalismus gejagt it, gilt in entiprechend anderer Farben⸗
abtönung auch für den Sozialismus. Laſſalle und Marz, die Beide die Kultur
entwidelung nicht von der Hebung der Arbeiterklafje innerhalb ber beitehenden
Geſellſchaft, ſondern won der Aufhebung der Lohnarbeit, von ber enbgiltigen
Beireiung der Gejelihaft vom Drud des Kapitalismus abhängig madten, hatten
eben jo gut wie ihre demokratiſchen Borläufer ein alle Stände umfaljendes
Staatsibeal, die „Aufhebung der Klaſſen dur den Sozialismus”, im Auge.
Ihr Einfluß mußte, obgleich er ſich faft ausfchließlich auf die Arbeiterfchaft er-
ſtreckte, doch ein allgemein politifcher fein und ihr Streben mußte in der Grün.
dung einer Partei gipfeln, die, den politifchen &epflogenheiten folgend, nur eine
allgemeine, aljo alle Stände umfaffende fein konnte. Daß die laffallifden und
die internationalen marxiſchen Gewerkſchaften die Stützen diefer Partei und
damit die Träger der fozialiftiichen Weltanſchauung wurden, iſt jelbitverftänd-
lich. Eben fo erklärlich ift aber, daB jeit der Geburt beider Gewerkſchaftgruppen,
der ſozialiſtiſchen und der liberalen, die madhtraubenden Bruderlänpfe ins Lager
der organifirten Arbeiterfchaft getragen wurden. Die Folgen einer ſolchen Spal-
tung find zu bedauern, weil durch die unverjtändige Zerſplitterung der finanziellen
und geiftigen Kräfte, durch den häßlichen Konkurrenzkampf bei der Agitation
und durch die unvermeidlichen Eiferfüchteleien bei gemeinjamen Lohnbewegungen
die planmäßige Akion der Arbeiter gehemmt wird. Zu dieſen rein praftifchen
Nachtheilen gejellen fich aber für den aufmerkfamen Beobachter noch Mißver⸗
bältnifie, die zwar zunächſt rein theoretijch-ethiicher Natur find, aber den Keim
großer praftifchen Gefahren in fich bergen. Der Stampf um den Vorrang im
wirthichaftpolitifchen Wirken innerhalb der Urbeiterfchaft treibt die Urganifationen,
Das bejonders zu betonen, was fie von den Gegnern ſcheidet. So muß der
Hak und das Mißtrauen fortzeugend Hab und Mißtrauen gebären. Die im-
manente Unduldjamkeit trat in der Annahıne des berüchtigten Reverſes, durch
ben die Gemwerkvereine im Jahre 1876 die Sozialdeinofraten von ihrer Orga
nifation ausfchloffen, befonders täppiich zu Tage, fie offenbarte ſich aber nicht
minder gemeinihädlich in der hochmüthigen Herablajlung, ja, Verachtung, mit
der jozialiftiiche Arbeiter ihre andersgläubigen Berufsgenoifen oft behandelten.
Das Gefühl der Selbftzufriedenheit, das unter ungünjtigen VBorausfeßungen bis
zum Wahn der Unfehlbarfeit geiteigert werden kann, iſt auch unferen Arbeiter
verbänden nicht unbekannt geblieben. Bergegenwärtigt man ji dazu noch, daß
mangelhafte Vorbildung den Eigenfinn in doftrinären Tragen erhöht, jo wird
man ruhig jagen dürfen, daß gerade die Verbindungen von Arbeitern diejem
unglädjeligen Gefühl noch öfter zum Opfer gefallen find und vielleicht nody zum
Opfer fallen werben als die Drganijationen anderer Intereſſengruppen. Daß fich -
die Unduldfamfeit gegen den äußeren Feind auch gelegentlich mit ihrer ganzen
154 Die Zukunft.
Wucht gegen eine innere Oppofition kehrt, bedarf kaum der Erwähnung. Als
ber Teffentlichleit am Meiften belannt, ift, zum Beweis für die dogmatiſche Ber-
Inöcherung einzelner Urganifationen, der zähe Kampf zu erwähnen, den bie fort-
jhrittliden jugendlichen Elemente der beutfchen Gewerfvereine gegen ben Beamten:
bureaufratismus ihrer berliner Gentralleitung führen müflen. Aehnliche Konflikte
haben natürlich auch die fozialiftiichen Gewerkſchaften beſonders während des Aus-
nahmegeſetzes erſchüttert. Daß e3 in ihren Reihen feltener zu offenen Gefechten
gekommen ift, erklärt fich zum Xheil wohl aus ber den fozialütiichen Arbeitern
anerzogenen Disziplin und Unterordnung unter die Majoritätbeihlüffe, zum
anderen, ich glaube: zum mwefentlichen Theil aus der größeren Unpafiungfähigfeit
der freien Gewerkſchaften an bie neuzeitlichen Bebürfniffe.
Noch deutlicher als die Meinungverfchiebenheit über Grundſätze weilt bie
abweichende Auffaflung der praktiſchen Gewerkſchaftarbeit auf eine verfchieden-
artige Beeinfluffung der beiden Organifationen bin. Bis zur Aufhebung des
Sozialiſtengeſetzes konnte man die Taktik der Mehrzahl der freien Gewerffchaften
eine revolutionär-fozialiftiiche, das Wirken ber Gewerfvereine, mit der nötbigen
Anerkennung weniger Ausnahmen, ein Meinbürgerlic}-opportuniftifches nennen.
Auf den Lohnkampf Übertragen, maden biefe allgemeinen und daher unvoll⸗
fommenen Bezeihnungen die Thatjache verftändlich, daß die Gewerkvereine Alles
zur Bermeidung von ausfichtlofen, vielleicht da und dort auch zur Verhinderung
bon hoffnungvollen Strikes aufboten, während bie Gewerkſchaften in jedem Kampf,
ohne Rückſicht auf feine Wirkungen auf die gegenwärtigen Verhältniſſe, eine will-
fommene Gelegenheit begrüßten, das Klaffenbewußtjein der Proletarier zu weden.
Auch auf dem Gebiete ber gegenfeitigen Hilfeleiftung Tönnen wir die Spuren
der verfchiedenen Taktik-Maximen verfolgen. Die Gewerkvereine fonzentrirten
faft ihre ganze Kraft auf den Ausbau des Unterftüßungweiens und bevorzugten
fogar unter den vielen Verfiherungzweigen die ausfchlieglic den Charakter der
Wohlthätigkeit tragenden, wie die Stranfen-, Sterbe- und Invalidenverſicherung:
die Gewerkſchaften dagegen befämpften fo ziemlich jede genoſſenſchaftliche Selbſt⸗
hilfe als untaugliches Flickwerk an einer unverbeſſerlichen Geſellſchaft. Theo—
retiſch wurde diefe Antipathie gegen heilfame innere Reformen mit der minbeitens
in nicht wiſſenſchaftlichen Kreiſen ſehr ſchematiſch aufgefaßten Verelendungtheorie
gerechtfertigt; praktiſch hielten wohl die kindlichen Illuſionen von der Allmacht
des Parlamentarismus und der unendlichen Leiſtungfähigkeit des Staates die
Sozialiſten von der Pflege des Unterſtützungweſens zurück: ſie erklärten dieſe,
wenn ſie ſich überhaupt um ſie bekümmerten, rundweg für eine Pflicht des Reiches.
Der 1866 neu konſtituirte Buchdruckerverband, der von Anfang an ver—⸗
ftanden hatte, fi) von den verſchiedenen parteipolitiichen Einflüflen frei zu Halten,
fand zwilchen den von den beiden Organifationgruppen gewählten Ummegen die
gerade Mittelftraße. In Eräftiger Vertretung der Arbeiterintereilen ging er un⸗
vermeidlihen Kämpfen gefaßt und vorbereitet entgegen und errang — Man
fönnte faſt jagen: erzwang — jich ſchließlich durch feine jtreitbare Macht den
gewerblichen Frieden, die Tarifgemeinfchaft mit den PBrinzipalen. Was die
ſchwachen Gewerfvereine feit der Zeit ihrer Gründung herbeifehnten, wa3 die
Gewerkichaften mit den Radikalismus ber Unfähigkeit verabjcheuten: die frieblich
tarifarijche Regelung der Lohn: und Arbeitbedingungen, haben die Buchbruder
Partei und Gewerffchaft. 155
zuerst praftiich durchgeführt. Die Angriffe, die alle alten Verfechter der Ver
elendungtdeorie und bes gewerkichaftlichen Nevolutionarismus gegen die buch-
druderlichen „Harmonieduſeler“ fchleuberten, find befannt. Die konſequenteſten
Anbänger der alten revolutionär-fozialiftiiden Richtung unterftügten ſogar, troß
ihren ſonſt ftreng centraliftifchen Tendenzen und troß der ftarfen Betonung ber
demofratifchen Unterordnung der Minderheit, eine Abjplitterung, die fih, als
die Tarifgemeinichaft erreicht war, 1896 vom Bucddruderverband unter dem
Namen Gewerkicaft losſagte. Der Kampf zwiſchen diefem Sonderbund und
dem legitimen neutralen Berbande*) ift zu einem heißen Gefecht um bie partei:
politifhe Unabhängigkeit der Berufsorganifationen geworden. Das Ende war
der Triumph des Berbandes. Die Gewerkſchaft hat fi in Erkenntniß ihrer
Bebeutunglofigfeit wieder unter die fiegreiden ahnen der Neutralen geftellt.
Und mit dem Berband triumphirte bald auch die neue Auffaffung der gewerk⸗
ſchaftlichen Taktik.
Die Werthſchätzung bes Unterſtützungweſens hatte ſich längft in aller Stille
Bahn gebrochen und es iſt äußerſt bezeichnend für dieſe Thatſache, daß ſogar
die radikale Buchdruckergewerkſchaft mit einem ganzen Ballaſt von Verſicherung⸗
zweigen ins Leben getreten war. Wenige Jahre, nachdem man ſich mit der
Tarifgemeinſchaft der „Harmonieapoſtel“ abgefunden hatte, gaben die bis auf die
Knochen ſozialdemokratiſchen Maurer ihre Unterſchrift zu kollektiven Arbeitver⸗
trägen. Damit haben die Revolutionäre ſelbſt den Boden ihrer Doktrin ver⸗
laſſen. Dieſe Entwickelung konnten auch die Lokaliſten, ein ſeltſames Gemiſch
von anarchiſtiſch individualiſtiſchen und kleinbürgerlich ſozialdemokratiſchen Ele-
menten, nicht hindern. Dieſe Gewerkſchaftgruppe hat bis zum heutigen Tage
mit harmloſem Biertiſchradikalismus, inſpirirt durch einflußreiche Inhaber von
Arbeiterwirthſchaften, gegen die „Verſumpfung“ der Centralverbände gekämpft.
Für dieſen Heiligen Krieg ſuchten fie die Mithilfe der Sozialdemokratie, zu der
fih die Lofaliften laut Statut befennen, zu werben. Die offizielle Partei hat
allerdings in der leßten Zeit faum mehr als das Entgegentommen gezeigt, bag
fi) mit der neutral vermittelnden Rolle einer politiichen Körperfchaft verträgt,
die beitrebt fein muß, ihre Anhänger nad Kräften zuſammenzuhalten, und alfo
nirgends ganz verlegend auftreten darf. Es giebt faum einen deutlicheren Beweis
für das allmähliche Anwachſen der Macht und bamit auch bes Einfluffes der
freten Gewerkſchaften auf die Sozialdemofratie als diefe Thatſache.
Was am der Lofaliltifchen Bewegung interejfirt, ift übrigens nicht ihr
Nadilalismus, fondern ihre decentraliftifhe Richtung. Völlige Autonomie der
einzelnen Ortsvereine und in dieſen wieder jedem Mitglied möglichit ungehemmte
Bemwegungfreiheit, fein Einſpruchsrecht eines ‚‚ortsunfundigen Centralvorſtandes“,
feine Einordnung der lokalen und individuellen Beftrebungen in ein einheitliches
nattonales Gefammtwirken: mit diefen engherzigen und kindlichen Anfchauungen
erffärte dieje Vereinigung den „‚centralverbändleriichen Päpften” den Serieg. Und
doch hat unjtreitig der Anarchismus in der Gewerkſchaftbewegung reinigend und
erfriichend gewirft. Ich habe fchon erwähnt, wie leicht die Organijationen dem
— —
*) Die der Centralkommiſſion der deutſchen Gewerkſchaften angeſchloſſenen
Verbände nennen ſich legitime Verbände.
*
156 Die Zukunft.
Bureaufratismus verfallen, und muß binzufüigen, daß ein allzu ſchematiſcher
Centralismus in den Berufsorganifationen eben jo verberblid werden Tann we
im Staatsleben. Der oft raffinirten Wühlarbeit der Lokaliſten ift es num om
ihr Wollen gelungen, die Verbände zu einer vorbeugenden Taktik zu veranlafen
Sie fuchten Örtliche Abjplitterungen durch die Anftellung von Vertramensleuten
und Agitationleitern an den verjchiedenften Orten im Reich zu vermeiden un
tragen fo den berechtigten föderaliftiihen Anſprüchen Rechnung.
Ohne fih Illuſionen hinzugeben, Tann man heute jagen, daß die beiden
eingebürgerten alten Gewerkſchaftgruppen Deutichlands, bie liberalen und bie
jozialiftifchen, in ihrem praftiihen Wirken und in ihren Grundanfchauungen
einander ſchon fehr nah gekommen find. Ach will nicht nachrechnen, wer mehr
nach rechts, wer mehr nad) links gewichen ift; der Zwang der Entwicdelung het
beide Organifationen auf den Punft gedrängt, wo fie Arbeiterintereffen ein
heitlich vertreten müfjen: auf das wirthfchaftlicde Gebiet. Damit tft allerdings
weder eine baldige Verſchmelzung beider Gruppen noch die Durchführung de
parteipolitiiden Neutralität verbürgt. Die Gewerkſchaften müſſen Politik treiben,
bis ihre fozialpolitifchen forderungen erfüllt find; alfo wohl immer. Die Ar
beiter werden aber fo lange in geiftiger Abhängigkeit von klaſſenfremden Ström:
ungen bleiben, bis fie vom Fonds der eigenen Erfahrung, des eigerren Wiſſen⸗
und der eigenen Ideale zehren können. Daraus folgt, daß fi) auch die Gewerk⸗
haften um die Gunft der politifchen Parteien bemühen müſſen, bis fie fi aus
eigener Kraft eine parlamentarifche Bertretung jchaffen können,
Während ſich die alten Gewerkichaftgruppen von der parteipolitiichen Bor-
mundſchaft langiam befreiten, fammelte fi eine Kleine, aber raſch wachſende
Arbeiterichaar un das Banner der dhrijtlihen Demokratie. Um die Dritte ber
neunziger Jahre gelang es einigen Sozialpolititern und warmherzigen katholi⸗
ſchen Pfarrern, die in Vergeſſenheit gerathenen Gedanken des tapferen Biſchofs
Ketteler new zu beleben und ihnen durch die Gründung der driftlichen Gewerk
haften zu praftifcher Anwendung zu verhelfen. Wie einft die VBerjüngung der
liberalen Partei durch die Arbeiter erhofft wurde, ſuchten nun tiefer blidende
und wohl auch ernftere Aırhänger des Centrums ihre innerlich durch die Standes⸗
gegenfäge zerflüftete Partei unter Mithilfe der ‘Proletarier wieder zu einen umd
zu demofratijiten. Das Chriftenthum, das fo lange den Intereſſen der Be
figenden dienen und deren politifche und wirthichaftlide Kämpfe unterftügen
mußte, wurde zum allgemeinen Volksideal gemadt. Aus dieſer Berallgemeinerung
fhälte fih dann allınäylid die Religion der Enterbten, das Chriſtenthum der
Gewerfichaften heraus. Steine Arbeitergruppe hat fich mit fo wenig Originalität
und mit fo großem Geſchick bereit anerkannten Erfahrungen und Gepflogen⸗
heiten angepaßt und Feine Bat fi jo Schnell die Einrichtungen ihrer Gegner ""
geeignet wie die chriſtliche. Es dürfte ſchwer fallen, die unterfcheidenden M f
male zmwijchen der rijtlichen und der freien Gewerfichaftbewegung zu extent 1:
alle Gegenjäge verflüchtigen fih in die Schemen ungreifbarer Weltanſchauun N.
Und dennoch das unleugbare Gedeihen ber riftlichen Gewerkſchaften? Vielle }t
gerade deshalb. Das religiöfe Empfinden ift im beiten Hal von den Äbri N
Berufsorganifationen ignorirt, im ſchlimmſten Falle aber gröblich von ih
verlegt worden; und doc bildet es die einzige Brücke, über bie ber glär' I
Partei und Gewerkſchaft. 167
Arbeiter ins neutrale Wirthſchaftgebiet ſchreiten kann. Wir brauchen alſo in
dem Entfiehen der chriſtlichen Gewerkſchaften keinen Rückſchritt zu beklagen, trotz⸗
dem ihr Auftreten die leidige Arbeiterzerſplitterung noch verſchlimmert hat.
Wenn auch die Förderung dieſer Organiſationen vielleicht vielfach nur dem Zweck
dienen mag, dem alten Centrum neue Kraft zuzuführen: die chriſtliche Gewerk⸗
ſchaftbewegung hat einem Theil der indifferenten Arbeiterſchaft ſo viel an bleiben⸗
den Idealen gegeben wie die ſozialiſtiſche der Mehrzahl unſerer organiſirten
Proletarier. Chriſtenthum und Sozialismus müſſen im Dienſte der Arbeiter⸗
bewegung zu den ſelben praktiſchen Konſequenzen im wirthſchaftpolitiſchen Wirken
führen und können daher auf die Geſammtaktion einen einheitlichen Einfluß aus⸗
üben, ſobald jede klaſſenfremde und parteipolitiſche Einmiſchung unterbleiben muß.
Wer das Berhältniß der Berufsorganiſationen zu den politiſchen Parteien
fennen lernen will, darf ſich nicht bei Aeußerlichkeiten aufhalten, fondern muß
den Geiſt erfafien,; er darf nicht bei ber Betrachtung der verjchiedenen Banner
und Abzeichen die einheitliche Vorwärtsbewegung ber Armee überfehen und fein
Ohr darf dur die Feſtphraſeologie der Kongreſſe nicht taub gemacht werden
gegen die forderungen des Alltagslebens, die alle Organijationen übereinftim-
mend erheben und gemeinfam erringen. Grundfäße, mit benen bie Praxis viel-
leicht ſchon längft gebrochen hat, leben im Volksbewußtſein noch fort; und noch
tonfervativer als der Intellekt ift das Gefühl. Wie es zweifellos ift, daß ber
politiiche Befreiungsfampf der Gewerkichaften fi vorbereitet, jo klar ift es auch,
daß Tiebgewordene Traditionen nicht mit einem Ruck aus den Herzen der Ar-
beiter gerifjen werben können. Uns genüge aber einftweilen die unleugbare
Thatfache, daß der bisherige Kampf unferer Arbeiterorganifationen nit nur
ein planmäßiges Ringen nach wirthichaftlider Macht, nicht nur unerjchrodener
Streit um die Berallgemeinerung der Kulturgüter, ſondern auch ein unaufhalts
fames Streben nach Ueberwindung der eigenen Schwäche gewejen ift. Die
Gewerkſchaften werden fi ihrer hohen Verantwortung für das Wohlergehen der
ganzen Arbeiterklaſſe und das Gebeihen der ganzen Nation mehr und mehr be
wußt und ihre wirthichaftlichen Funktignen dehnen fi auf immer weitere Gebiete .
aus. In taftiichen und wirthichaftlicden Fragen haben fie bereit ihren eigenen
Weg gefunden; fie werden früher oder jpäter gezwungen fein, ihre fozial- und
wirthichaftpolitifche Aktion der Eigenthümlichkeit ihres öfonomifchen Wirkens an⸗
zupajlen. Ob eine ber beitehenden Parteien fich zur parlamentarifchen Exekutive
der Arbeiterorganifationen maden, alfo auf ihren allgemein politifchen Charakter
zu Gunsten einer Stlafjenvertretung verzichten oder ob eine politifche Neuorgani-
fation im Sinn einer Gewerkichaftpartei erjtehen wird: Das gehört ins Reid)
der Prophezeiungen. Uber daß unfere organifirten Arbeiter in und außerhalb
der Parlamente ihre eigene Politik treiben müfjen, wenn fie mit der Neutralität
die Beeinflufjung der Gejeßgebung verbinden wollen, wird fchon heute kaum mehr
angezweifelt. Die Gründe der Abhängigkeit der Berufsorganifationen liegen in
der intellektuellen Unſelbſtändigkeit der körperlich überanftrengten und geiftig ver-
nadjläffigten Arbeiter. Wer es ernjt nimmt mit der Neutralität, Der helfe die
Ürbeitverhältniffe beflern und die Volfshildung heben. Hier wäre auch für unfere
Regtrung, die ſich durch die aufdringlichen ſozialdemokratiſchen Dekorationen auf
Gewerkſchaftkongreſſen jo abgeftoßen fühlte, ein Tyeld zur Reformarbeit.
Düfleldorf. Fanny Imle.
ð 12
158 Die Zukunft.
Selbitanzeigen.
Meine Haide. Gedichte. Mar Hefles Bollsbücherei. Leipzig. 20 Pfennig.
Ich möchte, daß diefe Gedichte auf Den, der fie lieft, wie ein Sommer
wirken, wie ein Sommer voll Glanz und Gluth, voll Schwüle und Schwere,
voll Ruhe und Reife, wie ein Sommer, verlebt in der einfamen norbbeurfchen
Haide. Wer aus der Welt, aus Kampf und Leben, Lieben und Haffen, in bie
Haibe entfließt, ber ift fich felbft und ber Natur, wie ein Kind der Mutter, preis
gegeben. An all ihren Freuden wird fie ihn theilnehmen laffen und den Be-
fangenen wieder hellfehend machen wie ein Kind; aber auch all ihre Schauer
werden jein von einfamen Gedanken und von ber Phantafie erhigtes Blut durch⸗
jagen und burchpeitihen. Der Zauber der Stimmungen wird ihn immer inten-
fiver, das Leben auffteigender Traumgeftalten immer greifbarer und wirklicher
umgeben, fein Fühlen, Glauben-und Wiflen wird immer tiefer und reicher werben,
bis es ganz eins wird mit der Natur, feiner Heimath, feiner Mutter... Das
tft der Zauber der Haide: ein füßes, jeliges Gliederlöfen, nur Träumen, nur
Laufen und Sehen...
Wie dunkle Träumeraugen glähn
verſchwiegne Weiher bier und dort,
Leuchtläfer in ben Lüften ſprühn,
die Grillen fingen fort und fort.
Wie Silber glänzt der Haideſand,
die Hummeln läuten burch das Kraut,
ſtill übers flache Hügelland
ſchwimmt ein verworrner Slodenlaut...
Die Romantik mit all ihrem Bellen Zauber erwadt. Da hört man den
bumpfen Huffchlag jagender Roſſe, das leife Klirren von Waffen, das hetzende
Athemholen muthiger, fchnellfüßiger Braden; da raufcht e8 von Sammet und
Seide und zu Harfenzupfen Klingt das Lied heiß fordernder Minne. Lichte Ge—
ftalten erjcheinen dem Träumer auf der noch frühlinghaften Haide.
Mädchenträume.
Sie faß und ſtickte emfig fort,
fie jang das ſchwere Lied vom Konigsmord,
von Lilien ſang ſie, die verblühn,
von Liebesgluthen, die verglühn,
vom Schiffer, fern in Nacht und Wind,
von Mädchen, die verlaſſen ſind.
Site ſang, bis daß der Abend fam...
Als fie dad Tüchlein von den Brüften nahm,
legt fie ein Blättchen Wegebreit,
das gegen Sudt und Sehnſucht feit,
in ihren Gürtel ſtill hinein
und ſchlief mit einem Seufzer ein...
Selbftangeigen. 159
Mit friebvoflen Gefängen, wie file nur Der fingen Tann, der fi eins
mit der Natur fühlt und dem fie die Ruhe des Herzens wiebergab, klingt ber
erite Theil des Buches: „Selige Sommertage" aus. Aber e8 bleibt nicht fo.
Mit der Sommerfonnenwende und ihrer Schwüle, mit den Tobesahnungen der
Natur, mit Sommerfturm und Gewitter erwachen all die dunklen Regungen in
der Menfchenfeele, das Gefühl des Berlafienjeins, die Furcht vor der Natur,
die Furcht vor dem Tode. Das Totenvöglein fingt um Mitternadt, der apoka⸗
(gptifhe Reiter erfcheint im Abendnebel, die dunkle Sehnfucht nach einer Früh⸗
verftorbenen wird wad, ber müde Wanderer fucht das Grab feiner Mutter:
Alles tft Uufion, Liebe und Haß, Glaube und Willen, — wir find unrettbar
dem Walten ber Naturkräfte bingegeben. Was tröftet und, wenn die Seele,
da8 Bewußtſein, die Individualität für immer mit dem Tode erlifht? Der
Ergründung dieſes furchtbarſten Problems, das erft dem Dann, der bie Sommer-
ſonnenwende be3 Lebens überfchritten hat, mit allen feinen Schrednifien ericheint,
ift der zweite Theil des Buches: „Sommerjonnenwende“ gewibmet. Bis zur
Berzweiflung werden dieſe Stimmungen burchlebt und gewiffermaßen zur Kataſtrophe
in der Gefpenfterballade: „Die Heimkehr“ und in den Bifionen „Der Bauer
‚und ber Tod“, „Chriftus beruhigt das Meer“ und „Traum“ geführt und aud
überwunden. Die Leitmotive des erften Thetles werden nun wieder aufgenommen.
Der Herbit naht.
" Reiter im Herbit.
Bier wilde Gänfe ſchrecken fen empor —
Wer reitet noch zum Abend übers Moor?
Der dide Nebel theilt ſich ſchwer und träg —
Ein rotbraun Nößlein klappert übern Weg.
Ein Rittersmann! Sein Fähnlein ſchwimmt in Than,
Schwarz tft die Rüftung und fein Auge grau
Blickt ftarr und ftill wie in ein weites Grab.
Sein Rößlein nagt am Weg die Kräuter ab.
Er reitet wie verbroffen, wie im Traum,
Wohin er blidt, erjhauern Bujh und Baum,
Und was er ftreift mit feiner Eifenhond,
Riedgras und Rohr, ſinkt nieder wie verbrannt.
So taudt er langjfam in das Nebelmeerr —
Dicht fallen welke Blätter hinterher.
Mit folden Herbjtimmungen, mit Bauernballaden und Schwänfen, mit
Liedern von Herdglüd und Kinderluſt fchließt das Bud).
Uebrigens wurde mit diefem etwa hundert Seiten ftarfen Büchlein, jo
viel ich weiß, ber erſte Verſuch gemacht, ein modernes Gedichtwerk durch eine
Volksausgabe weiteren Volkskreiſen zugänglich zu maden.
Wilmersdorf. Hans Benzmann.
*
12*
1860 Die Zukunft.
Tantoccini (Vers und Proſa). Pierfon 1902. 4 Matt.
Ich ſchlage — manchmal in bürrem Zorn, öfter in genußfähigem Humor —
von einem nach ernfteftenm Suchen endlich gefundenen ftandfeften Mittelpunkt
nad allen Seiten um mid. Treffe ich, halb wider meinen Willen, einen Arno
Holz: dann babe ich die Narzenpritiche in der Hand; denn ich liebe den ftolzen,
tapferen Arno. Uber den Wuthlnüppel oder das ironiſche Stilet gebraude id
gegen das Banauſenthum verfchiedenfter Vermummung: gegen täppifche Willen“
knechte oder dlige Glüdjeligfeitphilifter, gegen alle Gut: und Schönmeierei, gegen
frampfige Brutalität eben jo wie gegen verlogene Zärtelei. Wenn mans nicht laut
binausfchreit, verwehts im Winde, Mas thuts, ob eine zarte Seele Ohrenſchmerzen
davon bekommt? Dr. Otto zur Linde
*
Stunden und Sterne, Neue Gedichte. Oeſterreichiſche Verlagsanſtalt in Wien,
Neue Gedichte jelbft anzuzeigen, ift nicht fo leicht; denn wie joll man
von Lyrik fagen, was man mit ihr „gewollt“ Hat? Ich darf höchſtens anbenten,
daß ich mein Dichten bier als eine Poeſie der feelifchen Unterſtrömungen, des
Unbewußten bezeichnen möchte, auch als Poefie der landſchaftlichen Hintergründe:
denn Landſchaft iſt Lyrik. Wird man die Muſik zwiſchen den Zeilen hören?
Die AUbtheilung „Heimat und Jugend“ enthält Manches, was ich vor langer
Beit, ganz am Anfang ber achtziger Zahre, als Jüngling gefchrieben babe; ih
nahm es auf, um zu zeigen, daß ich damals, ehe es noch eine moderne deutſche
Stimmunglyrit gab, ihre Töne ahnte, — leider zu früh! Die „Stunden und
Sterne" find meine zweite Gedichtiammlung. Ihnen gingen 1897 „Helldunkle
Lieder“ vorans. Bodo Wildberg.
$
Die Zuftändigfeit des Preußiſchen Heroldsamtes. Archiv für öffent
liches Recht. Tübingen, J. C. B. Mohr.
Die Schrift behandelt einen Gegenſtand, der bisher zwar mehrfach in
richterlichen Entſcheidungen zur Sprache gekommen, aber noch nicht im Zuſammen
hang in wiſſenſchaftlicher Weiſe behandelt worden iſt. Ich habe verſucht, ihn
nicht nur wiſſenſchaftlich erfchöpfend zu erörtern, ſondern auch Allen, die mit dem
Heroldsamt zu thun bekommen, die wünjdhenswerthen Aufflärungen zu geben.
Großlichterfelde. Dr. Stephan Kekule von Stradonitz
$
Walt Whitman: Grashalme. Eugen Diederichs, Leipzig.
Eine Auswahl der Dichtungen Whitmans, mit einer Einleitung, auf die
hier ſtatt aller weiteren Erläuterung hingewieſen ſei. Möchte der Menſch Whitman,
der nie den Ehrgeiz hatte, ein Literat oder Reimſchmied ſein zu wollen, auch
in Deutſchland die Beachtung finden, die ihm gebührt. Vielleicht kann er Manchem
von uns zur verlorenen ſeeliſchen Geſundheit und Freude — bie höher ift alb
alle Vernunft — zurückverbelfen.
Kiel. - Wilhelm Schölermann.
Der Sklavenboom. 161
Oskar Bilde: Die Ballade vom Zuchthauſe zu Reading. In einer numerirten
Auflage von 200 Exemplaren, ohne Buhihmud. Inſel-Verlag. Leipzig.
Diefer Berfuch einer Uebertragung der „Ballad of Reading Gaol* in
der fechszeiligen Strophe des Originals entfprang einem zufälligen Antrieb,
nicht dichterifchem Ehrgeiz. Die Aufgabe des Ueberſetzers ſchien mir darin zu
beftehen, Inhalt und Stimmung in der gegebenen Bersforn feitzubalten, alfo
der Form zu Liebe ben genauen Wortlaut vereinzelt zu opfern. Die Mängel
der Uebertragung wird man um fo nachfichtiger beurteilen, je mehr aus ihnen
die Vorzüge bes Originals zu erfennen find.
Kiel, Wilhelm Schdlermann.
BR
Der Sklavenboom.
ch, Abraham Lincoln, Präfident der Vereinigten Staaten, befräftige und
FOX erkläre, daß alle Sklaven frei find und Hinfüro. fein follen und daß bie
Erefutive der Bereinigten Staaten, mit Einjhluß der Armee- und Marine⸗
behdrden, die Freiheit diejer Perfonen anerkennen und verbürgen wird. Und
für diefen aufridtigen Akt der Gerechtigkeit rufe ich das ruhige Urtbeil der
Menſchen und die gütige Gnade bes allmächtigen Gottes an.” So geſchehen am
erften Tage des Jahres 1868. England jubelte Lincoln zu, denn damals gefiel
es fich noch in ber erhabenen Rolle des milden Sänftigerd der Sitten, der die
Menfchheit auf den Weg zum Guten führt: sceptra tenens mollitque animos
et temperat iras. Andere Zeiten, andere Lieder. Vierzig Jahre nad} der Eman-
zipation der unterm Sternenbanner baufenden Neger läßt die engliſche Regirung
in Sübafrifa die Sklaverei wieder aufleben. Nur in einer anderen Gonleur:
gelb ftatt Schwarz. Und den Börfen entringt fi ein Freudenſchrei. Die Jobber
fpringen vor Luft. Direftoren umarmen einander. Liane de Pougy befommt
das theuerite Automobil. Der Boom ift da. Europa beglüdt von China! Das
Meich des Himmelsjohnes wird die hohe Ehre, fo rajch nach der Züchtigung von
Taku, hoffentlich zu ſchätzen wiſſen. Wenn das erfte chinefifche Kulifchiff von
Shanghai nah dem Kap ausläuft, wird, denke ich, der englifhe Konful den
hinefifchen Gouverneur zu einer Flaſche Sekt einladen, fein Glas erheben und
iprechen: „Laſſen Sie ung, Excellenz, auf eine Bölfergemeinfchaft trinken, die ihre
edelfte Blüthe in dem Beftreben zeitigt, einander beizuſtehen!“ Und die dinefilche
Ercellenz wird in ehrerbietiger Rührung den füßen Inhalt des Kelches leeren.
Bon den vielen Schändlichkeiten, die, feit Law das Werthpapier erfand,
einer Aktienhauſſe als Leiter dienten, iſt dieſe Einfuhr von Chinefen nad Süpd-
afrika -die ſchändlichſte. Die Verträge zur Beihaffung des Menjchenmateriales
ſchließt man mit cdinefilchen Lieferanten ab. Der Preis für das Stüd zwei—
beinigen Viehs verſteht ſich franko Sübafrifa. Das Rififo der Sachbeſchädigung
bi8 zur Ankunft am Beftimmungorte trägt der Verlader.. Jede Sendung wird
nach drei Jahren retournirt, um der Gefahr zu fteuern, daß das Vieh etwa zu
jehr von der Kultur beledt und am Ende gar von Menſchenwürde durchdrungen
werden fünne. In der Heimath muß fi das zurückbeförderte „Material” zu-
”
162 Die Zukunft.
näcdft erft wieder zerftampfen laffen, um zum zweiten Mal auf das Robitofi-
niveau binabzufinten, auf dem es allein verwendbar if. Schönheitfehler ſchaden
nicht. Und zu den Schönheitfehlern zählt auch Yues. Man forgt ja baflir, daß
das Vieh hübſch ifolirt Bleibt. Drei Jahre lang — Das heißt: bis der Kon-
traft mit dem Großunternefmer, recte Sflavenhänbler, zu Ende gebt — führt
der Weg vom Stall zur Arbeit und von ber Arbeit zum Stall Das Futter
liefern die Minenmagnaten. Jedem Stüd der Heerde wird am Ende feiner
Beit dann ein Keiner Beutel mit Golbftäden umgehängt. Das iſt bie Löohnung
und hauptſächlich dazu beftimmt, das noch intakte Brubdervieh aus China anzu
loden. Selbft die Kaffirneger haben dielen Lohn zu karg gefunden und der
größte Theil Derer, die fi in Bitterfter Noth verdingen müſſen, lehrt ſo raſch
wie möglich der Arbeit wieder ben Rüden. Die Engländer legten bei Aus:
bruch des Krieges Werth darauf, fich bes Wohlwollens ber eingeborenen Schwarzen
zu verfichern, und garantirten ihmen deshalb volle Freiheit und Gleichheit mit
den Weißen. Nie wieber follte der Bur fie mit dem Stod ſchinden, nie wieber
ihren verwehren dürfen, wie hellerfarbiger Leute Kind den Bürgerjfteig zu benützen.
Nah dem Krieg war das Erfte, mas man dem Neger bot, eine Kürzung feiner
. ohnehin nicht zu fetten Töhne. Das war nicht die Freiheit, bie ber Kaffer meinte.
Es war die freiheit, zu verhungern, bie leider in England überhaupt die ficherfte
aller Freiheiten ift. Das hat die Kaffern abgeichredt. Sie find aus ihren Hütten
nicht mehr berborzuloden und bungern lieber auf eigenen Tyüßen ald im Frohn
dienst wuchernber Magnaten. Noch aber lebt Kohn Ehinaman. Den fennt Sohn
Bull als ein frommes Thier, faſt ohne menſchliches Bedurfniß, ſchon feit vielen
Jahren. Der ift der Richtige. Den kann man Tag vor Tag in Wagenladumngen
haben; und auf Taufend, die Erepiren, fommen Tauſend, bie noch gut drei Jahre
in den Minen unter ftrenger Aufficht fchuften können, ehe fie kreptren. Indien
läge zwar näher und der Inder frißt nicht mehr als der Chinefe, ift fogar noch
hündiſcher. Da aber fei der Stern von Großbritanien vor! Was würde bie
Welt jagen, wenn England Rotten indiſcher Kulis, feiner eigenen Untertbanen,
offen in die Sklaverei abführen liege? Seiner Selbſtachtung als Großmacht
und feiner traditionellen Begeifterung für die Gleichheit aller Bürger — honny |
soit qui mal y pense! — ift man immerhin Etwas jchuldig, wenn auch nidht
viel. China tft ſchließlich doch nur China; und daß man dem Ueberfhuß ber
chineſiſchen Bevölkerung die Gelegenheit bietet, fih in den Dienft ber erften
Firmen der City von London zu ftellen, iſt eine Leiftung, die der Betroffene
als eine ſchmeichelnde Ehrung zu betrachten Bat.
Die Zöpfe werden alfo fommen und ber Ertrag ber Minen wird fid
heben, weil der Preis der Arbeit auf ein Minimum berabgebrüdt ift, das z
Himmel jchreit. Die Kurfe fteigen. Die Hauffe bläht fih. Wer aber wc
bier von einer „Errungenschaft“ zu reden? Wenn das ungeheure Kapital, d
in den Goldminen (in den Minen jelbft, nicht in ihren Akltien) angelegt :
durch eine höhere Lohnſtufe gefährdet wäre, dann gäbe es wenigften® noch voı
rein volkswirthſchaftlichen Standpunkt aus, der jede trrationelle Werthvernichtun
verpönt, eine theoretiihe Entſchuldigung für das Vorgehen der Magnaten, dx
jeder Gelittung, jedem menjhliden Empfinden Hohn fpridt. So aber liegt 5’
der Fall niht. Der Lärm, mit dem die Magnaten und ihre verblenbete 2
bantenjchaar, dag Minenpublilum, die Welt feit Jahr und Tag zu ef
%
Der Sklavenboom. 163
verfteht, Hat die meiſten Menſchen zu der falfchen Annahme verleitet, das Wohl
einer riefigen Induſtrie ftee auf dem Spiel, dad Wohl eined Landes, das
Wohl der Noteninftitute in allen Großftaaten, die des Metallzuwachſes aus
dem Xransvaal dringend bebürften und ihn doch nicht erhalten könnten, ohne
daß die chmefifche AUbjcheulichfeit mit in den Kauf genommen wird. Wie jehen
bie Dinge aber in Wirklichkeit aus? Das in die transvaaler Minen hineingeftedte
SRapital bedarf zu feiner Rentabilität nicht erſt der chinefilden Sflaverei. Es
trägt fünfzig und hundert Prozent und darüber, alfo das BVielfahe Deſſen,
was man fonjt von einer Anlage beansprucht, felbit wenn fie etwas riß-
kanter Natur ift. Und all diefe Nominalfapitalien afritanifcher Minen find
doch ſchon eine Berwäflerung des Objektes, .die den Gründern auch ohne
ein Agio der Aktien geradezu fabelhafte Gewinne in den Schoß geworfen hat.
Die Gründer alfo erfcheinen, felbft reichlich gemeflen, vollauf befriedigt. Der
Nennwerth bes Kapitales verzinit fi) ungemein hoch. Was will man aljo nod
und wozu wird aus den Löhnen der legte Pfennig herausgepreßt? Die Ant-
ort ift leicht gefunden: weil die nimmerfatten Bründer die Altien dem Pnbli«
tum mit vielhundertprogentigem Agio angehängt und weil die Magnaten nod
Berge von Aktien haben, die fie mit enormem Aufgeld loswerden wollen, ob⸗
gleich fie jelbft daran nur das Bapier und den Drud zu bezahlen hatten. Wer
fi die Mühe giebt, einen Blick auf den Kurszettel zu werfen, wird, wenn er
fi vorher von dem wüften Geſchrei über die Arbeiternotb betäuben ließ, feinen
Augen nicht trauen. Da ſieht er faft all die „entwertheten” Minenaktien mit
einem Agio notirt, das ſich bis zu Höhen verfteigt, wie fie eine deutfche Induſtrie⸗
aftie oder ein amerikaniſches Bahnenpapier niemals auch nur annähernd erlebt
bat, das aber auch mit feiner Tiefgrenze im Vergleich mit heimifchen Ziffern
noch Reſpekt einflößt. Wgiotage, nichts als Agiotage, und zwar der wildeften
Urt, auf ein ohnehin ſchon riejenhaftes Agio gepfropft: Das tft der einzige
Bwed der wilden Ugitation, bie jeßt die Einfuhr von Chinejenfklaven nad dem
Trandvaal durchſetzen fol. Man darf getroft fagen, daß noch niemals ein fo
verruchtes, die ganze Menjchheit erniedrigendes Mittel gebraucht wurbe, um ber
unjauberften Geldmacherei die Wege zu ebnen.
England mag den Niedergang feiner politiihden Moral, der fich in der
Beihilfe der Negirung zur Beihaffung chineſiſcher Kulis ausdrüdt, felbft be»
trauern. Doch die Minenmagnaten erfreuen fi .in Großbritanien der Gunft
der Mächtigſten; und gegen einen foldden Wall hätte felbit ein ftärkerer fittlicher
Wille, ald er Heute in England fühlbar ift, fchweres Spiel. Traurig aber ift,
daß wir und nicht verbehlen dürfen: mit diefem ruchlofen Werk find mehr
deutſche als andere Namen verknüpft. Das fcheint der Schande noch nicht genug.
Auch die in Deutichland heimifche Hochfinanz hat ſich an der transvaaler Miinen-
agiotage fo eifrig betheiligt, daß unfer deutiches Publikum in das widrige Lügen⸗
neg mitperwidelt worden ift. Der Einfall, die Minenagiotage zur Verbefferung
deutſcher Bankbilanzen zu benußen, ſtammt nicht gerade von den erlaudteften Per:
fönlichfeiten unferer Handelswelt; und felbjt wenn man mit Sfidor Lechat findet,
daß les affaires sont les affaires, müßte man immer no wünfchen, Deutid)-
land wäre vor ben Genies bewahrt geblieben, deren Gewinngier im papiernen
Reich der Boldminen ein Feld zu ffrupellojfer Thätigkeit fuchte und fand.
Dis,
ð
164 Die Zukunft.
Dippold.
5] er Fall Dippold eignet ſich dazu, mit ihm die Srrationabilität (TFrembiörte
find mitunter nügfich) des Anftitutes ein Wenig zu beleuchten, das mar
Juſtiz nennt. Zwar ſcheint der blinden Göttin diesmal leidlich Genüge geſchehen
zu fein: Richter Publikum hat die acht Jahre Zuchthaus mit Beifall begrüßt. Aber
ber Piychologe läßt fich daburch in der Lleberzeugung nicht beirren, daß das Strafen
eine unbaltbare Einrichtung ift, weil der Dienjch weder eines anderen Menſchen ſub⸗
jektive Berfchuldung zu ermeffen noch bie beiden Objekte: das vom Verbrecher um
gerichtete Unheil und das Strafübel, gegen einander abzumägen vermag. Bon der
baltbaren Sweden des Anititutes entfällt ber eine: die in integrum restitutio der
Geſchädigten, auf den erjten Blid; Heinz kann nicht mehr zum Leben erweckt werben,
und wenn Jojo feinen Tebenslänglichen Leibes- und Seelenfhaben davonträgt, iv
bat er nicht den Herren Richtern dafür zu danken. Beſſerung oder Erziehung de
Döfewichtes würde ein Wiſſender auch dann nicht erwarten, wenn bas Zudthaut
eine Beflerung- und Erziehung Anftalt wäre. Jugendlicher Fanatismus kann burg
Belehrung zu erleuchteter Begeijterung geläutert werden, abnorme Sexualität kann
fofratifch veredelt und außerdem fo gut gezügelt werden wie die normale, die ja alk
Menſchen His zu einem gewiſſen Grade beherrichen müſſen und thatſächlich beherrſchen.
Uber der hervorftechendite Zug in Dippolds Naturell iſt Grauſamkeit. Meit der läßt
fich nichts anfangen. Wenn ein Menic einmal fo konſtruirt ift, daß ihm nicht das
Glück, fondern die Dual lebendiger Wefen Genuß bereitet, fo läßt fi) Dar nidt
ändern. Damit ift auch der Hauptzweck des Inſtitutes, ber Schug der Geſellſchaft.
vereitelt. Den Kerl nach acht Jahren, wo er noch ein fräftiger junger Mann iſt,
auf die Gefellfchaft wieder loslaſſen, ift ſchlimmer, viel ſchlimmer als einen tollen
Hund frei laufen laffen. Trotz Polizeiaufjicht kann er noch ein Dutzend umb meh
Menfchen langjam zu Tode quälen, ohne daß er, der nun Gewitzigte, noch einmal
dem Strafrichter verfällt. Nur wenn das Zuchthaus feine Energie volftändig brädk,
trüge die Verurtheilung zur Erfüllung diefes Zweckes einigermaßen bei. Das ilt,
wie das hier neulich angezeigte Buch von Leuß wieder lehrt, eine gewöhnliche, in ben
meiften Fällen zu beflagende Wirkung der Zuchthaushaft. Doch was würde ed nüßen,
die Schaar der Energielofen — Das heist, praktiſch geſprochen: der Bagabunden —
um Einen zu vermehren? Wirklich erfüllt wird der Zweck nur durch lebenslänglide
Einfperrung oder Tötung. Jene nun ift unvernünftig. Ein ſchönes Raubthier füttern
man im Käfig, zur Befriedigung der Schauluft; eine menfchliche Mißgeburt zeig!
man — abjicheuliche Barbarei! — für Geld; einen Verbrecher ftellt man nicht zu!
Schau; was wäre auch an ihm zu chen? So bleibt Tötung das einzige wirflid
Bernünftige; Tötung, nicht Hinrichtung, nicht Todesitrafe! Die Tötung wäre 3°
gleich eine Wohlthat für das moralifhe Monſtrum, denn ein foldhes bat, gleich
einer Mißgeburt, in feinem ganzen Leben feinen glücklichen Tag. Will man abtt
dem Monftrum feine Wohlthat erweifen, weil man aller Vernunft zuwider auf der
Einbildung beharrt, der menschliche Richter könne und müffe das geftörte Gleichgewicht
der Gerechtigkeit wiederherſtellen, ſo würde in Fällen wie dem vorliegenden nichts
übrig bleiben, als zur qualifizirten X odesitrafe zurüdfzufehren.
Neiſſe. Karl Zentld.
u —
— — —
Herausgeber und verautwortlicher Rirdalteur: M. Harden in Berlin. — Werlag der Zukunft in Berlis-
Trud von Albert Tanıde in Berlin⸗Schöneberg.
Berlin, den 31. Oktober 1905.
7 —— —
Geſchäftsmann und Sturmgeſelle.
ſidor Lechat hat ein großes Vermögen gemacht; groß nicht nur in den
Augen der Heinen Leute. Orundftüdipefulationen, Gründereien, old-
ſhares: was fid) gerade bot. Wähleriſch war er nie; aber fchlau genug, um
die Mausfallen des Strafgefeges zu meiden. Einmal bildeten täppiſche Pro⸗
turatoren ſich ein, fie Hätten die Zibetfage im Käfig. Doc die Familie der
viverridae ift flint: Herrn Lechat war nichts zu beweifen und der Gerichts-
hof mußte ihn freifprechen. Von der Anklage blieb nichts übrig als Stank.
Laßt ſich ertragen und, wenn man will, mit extraits d’odeur überduften.
Auch lieben manche Menfchen den Zibetgeruch. Nur nicht zimperlich fein.
Die Hauptjache ift, daß man Geld hat; dann kommen die Ehren von felbft
und man kann ſich jeden Tag eine neue ausjuchen. Iſidor ruht nicht, biß er
den Ruhm erreicht hat, in Paris der größte Gefchäftsmann zu heißen. Er
ſchatzt ſich auf fünfzig Millionen. Vielleicht ift8 ein Bischen weniger; wer
auf zwanzig Löchern zugleich kocht, kann nie genau willen, wie es in jedem
Topf ausficht. Immerhin genügts für den Hausgebraud. HerrLedjat kauft
ein Schloß und eine Zeitung. Im Schloß werden die Säle und Zimmer
nad) den Königen von Frankreich und Navarra genannt und im Stil des
mojeftätifchen Pathen eingerichtet. In der Zeitung wird der Treiberdienftfür
die Gefchäfte des Verlegers beforgt. Mit dem Verkehr haperts freilich noch.
Da ift die dumme Kriminalgefehichte; die frische Erinnerung aneinen Selbſt⸗
mord, den der Millionär hindern fonnte und nicht gehindert Hat; und allerlei
böfes Geraun. Den Kleinwucher fönnteder Mann jetzt wirklich Bedürftigeren
überlafjen; feine Mittel erlauben ihm, den Schein der Wohlanſtändigkeit
18
166 Die Zunft.
zu wahren. Iſidor lacht. Ya, wenn ers nicht weiter bringen wollte! Doch
was find fünfzig Millionen in der Zeit der Großbanken und Kontiuental-
truft8? Wer heute mitreden will, muß die Arme rühren und darf fich das
Hirn nicht mit fentimentalem Krimskrams befradgten. Den Nächfien Tieben,
mit Philanthropie anf die Thränendrüfen wirken? Blödfinn. SYeder Stand
bat feine eigene Moral. Ein Feldherr, ein Fürft fragt nicht erft larıge, wie
viele Zeute hinter ihm beim Sturmangriff fallen, und freutfich, wenn er die
Saat des Gegners zertrampeln, die SJungmannfchaft des Feindes nieder-
mähen fann. Ein Narr, wer im Kapitaliftenkfrieg anders handelt. Den
Lurus, ein guter Kerl zu fein oder wenigftens zu fcheinen, mag Jeder ſich nach
Geſchäftsſchluß gönnen. Iſidor gönnt ihn ſich. Wo fein Profit nicht ge-
fährdet ift, macht er Keinem das Xeben ſchwer. Seine Kleine, irgend ein
Theatermädchen, das er möblirt hat, darbt ficher nicht. Seine Frau wird
höchfteng freundlid) gejcholten, weil fie, die der Spießbürgerenge nicht ent-
wachlen will, nicht bei Paquinarbeiten läßt undzehnmal überlegt, ehe fieſich
entschließt, zum Mittagefjen ein Huhn zu ſchlachten. Seine Tochter darf den
ganzen Tag Muffet, Ramartine und Hugo lefen und wird wohlwollend bes
lächelt, wenn fie vom Rechte der Enterbten Spricht und bie Ausbeuter ver-
dammt. Und fein Junge gar ift Papas Wonne. Ein famofer Bengel. Bei-
nahe feudal. Die theuerften Weiber, daS modernfte Automobil, den feinften
Cercle. Das Toftet hübſche Summen. Herr Xavier Lechat ift beim Baccarat
und Bridge fo gut wie bares Geld. Doch der Alte hats ja und läßt ſich nicht
lumpen. Die Beziehungen, die fid) im Klub, in Maxims Bar und im Salon
der Horizontalen Tnüpfen, find nicht zu verachten; und die Yamilie Lechat
muß nachgerade an eine Verbefierung ihres Gefellichaftranges denfen. Daß
fie als Kaftellan einen entgleiften Vicomte hat, den der Schloßherr duzt und
in Schlechter Stimmung anſchnauzt, ift recht nett, reicht aber nicht; man
müßte manchmal ein paar nicht allzu fledige VBicomtes oder Marquis mit
ihren Ehehälften an der Tafel haben. Einftweilen fchleppt Bapa heran, mag
er irgend aufzugreifen vermag. Staat ift damit nicht zu machen; aber man
ſitzt nicht allein bei der Suppe und hat da8 Vergnügen, zu jehen, mit welcher
Gier die armen Teufel ihr Futter fchlingen. Iſidor ift wirklich ein guter Kerl.
Ganz ungebildet und unfultivirt; eigentlich aud) ganz dumm; ein Prahler,
eitel, wie nur je ein Parvenu im Bud) ftand, und von unerjättlicher Luſt an
kindiſchem Spaß. Wer ihn zu Haus ober bei Nachtmäbchen fieht, muß ihn
. für einen gutmütbhigen Flachkopf halten. Schlauheit, Brutalität, Naubthiers
u un inſtinkt zeigen fich nur im Geſchäft. Der Typus ift nicht felten. Nur ei
«*
Geſchäftsmann und Sturmgefelte. 167
Tropf beurtheilt Großinduftrielle, Bankdirektoren und Jobber nach dem Zu⸗
fallsftand ihrer allgemeinen Bildung; gerade die jtärkften unterihnen haben
nur ein Intereſſe, denken immer nur an ihr Geſchäft und ſchämen fich gar
nicht, den Aejtheten, Dilettanten und anderen Müßizgängern als Banaufen
zugelten. Herr Lechatift, wo ers fein will, beliebt und, wo ers braucht, gefürchtet.
Die Kleinen, bieer nochnicht ganz ausgewuchert bat, jubeln ihm zu und dag
Kontorgefinde, die Konkurrenz jelbft blickt in ſcheuer Ehrfurcht zu ihm empor.
Jetzt wittert er eine Konjunktur. Sein Nachbar, der Marquis von
Porcelet, iſt reif. Schlechte Wirthfchaft, nie ordentlich meliorirt, überſchuldet:
der Mann muß ihm bald fommen. Nechat, der feinen Größenwahn gern an
abenteurrlichen Plänen weidet, in Frankreich tropifche Kulturen ſchaffen will,
in einem unzulänglichen Gutslaboratorium fpielerifch herumerperimentirt
und feinen fünftigen Latifundienbeſitz mit bunter Tinte auf der Landkarte
abgrenzt, wärmt das Bibetfell ſchon an der Gewißheit des nahen Triumphes.
Dod auch das Tigerthier regt fi in ihm. Das Opfer mit einem Biß töten?
Allzu kurze Freude. Lieberträgtmans im Maulfort, zähmtes durch Schrecken
und ſparts für ſpätere Bedürfniſſe auf. Der Marquis iſt für mindeſtens drei
Projekte zu brauchen. Erſtens kann er einer neuen Gründung, die zwei Mittel⸗
gauner eben dem Stärkeren apportiren, die Gunſt des Kriegsminiſters werben,
ohne die mit dem Militärfiskus nichts Rechtes zu machen iſt. Zweitens kann
er Herrn Iſidor, der als Radikaler kandidirt, zum erſehnten Mandat ver⸗
helfen. Drittens kann, ſoll und muß ſein Sohn ſo ſchnell wie möglich Lechats
Eidam werden. DieſKonjunktur allerKonjunkturen. Le dé putè Lechat:Das
klingt. Ein Elektrizitätwerk unter hohem Patronat: da ſpringen Millionen
heraus, beſonders, wenn die Zeitung für die nöthige Reklame ſorgt und die
Konkurrenten verſchreit und wenn der Meinungmacher in der Deputirten⸗
kammer offene Hände zudrücken kann. Und ein Schwiegerſohn von äl—
teftem Adel: dann wird der in der Hochfinanz noch immer verachtete Spe⸗
kulant endlich vom Bann gelöft und Niemand fcheut noch den Wildgeruch
des lange Gemiedenen. Der Marquis muß ihm fommen. Er kommt auch;
röftet jich aber an allerlei altmodiſchen Ehrbegriffen, die in der Aſche einer
verfladerten Exiftenz fortglimmen. Dit dem Minifter wird er, wenns fein
muß, reden, ihn wahrjcheinlich auch angeln. Doch einen gottlos Radikılen
Tann er, als guter Katholik und Legitimift, den Wählern nicht empfehlen. Und
ein Ehebund zwijchen dem Marquis von Porcelet und dem Fräulein Lechat
ift undenfbar. ‘Der unbefledte Name, die Ehre des Haufes Porcelet ...
Chouette! Iſidor ſpricht ungefähr wie Falftaff im Lager bei Shrewsburn.
13°
168 Die Zukunft.
Kann Ehre ein Bein anjegen? Nein. Kann fie den Schmerz ftillen? Nein.
Und er hat Argumente, die den Standhafteften Eirren fönnten. Wollen Sie
nicht, Herr Marquis: fhön; dann aber ziehe ich die Schlinge zu, Sie
mäffen als Bettler von Ihrer Scholle wandern, — und mas danach auster
Ehre des Haufes Porcelet wird, brauche ich Ihnen nicht erft zur Jagen. Seien
Sie doch vernünftig! Ihr feudaler Hochmuth lodt keinen Hund mehr vom
Dfen weg. Längſt ſchon hat unfere Stunde gefchlagen. Kampf ums Dafein.
Ausfefe der Tüchtigften. Sieger bleibt, wer fich ben Grundbedingungen des
mobernen Rebens am Beften anpaßt. Gottlos foll ich fein? Warum denn?
Weil ich unterm Schirm der Radikalen Stimmen ſammle? Laffen Sie mid
einen Sig haben: und Sie werben eine fefte Stüte des Altars in mir finden.
Reiche Rente find ftets fürOrdnung und den lieben Gott; Yrömmigfeit und
Patriotismus wachlen mit der Vermögensziffer. ragen Sie mal Ihren
Beichtvater, ob ic) ihm al8 Abgeordneter nicht willlommener bin als irgend
ein ruinirter Edelmann, der für den Wahlkreis nichts thun und für die Kirche
nur beten kann. Die Kircheiftvielmoderner als Sie und macht ihre Geſchäfte,
geiftliche und weltliche, mitgenau ben felben Kniffen wiewir. Der Klerus liegt
nie auf der falfchen Seite. L’Eglise est dans lemouvement! Hat die Mo—
narchie aufgegeben, agitirt in Zeitungen und ftraftwibderfpenftige Miniſterien
durch Kreditentziehung. JederFromme wird Ihnen beftätigen, daß die Inter⸗
eſſen der Kirche nicht beſſer vertreten ſein können als durch Iſidor Lechat.
Und Ihr Junge ſoll froh fein, wenn er meine Tochter bekommt; fie lann ſich
ſehen laſſen und paßt mit ihrer romantischen Uebergeſchnapptheit im Ihte
Kreiſe. An der Mitgift und Rente werde ich nicht knauſern; alſo los!... |
Der Marquis ift mürb. Was hülfe auch längeres Sträuben? Er wird den
Wahlaufruf unterzeichnen und wirbt im Namen feines Sohnes um da?
Fräulein Lechat. Ein Glüdstag für Iſidor. Den beiden Banditen, die ihm
bie Eleftrizitätgründung brachten, hat er das Fell über die Ohren gezogen;
und num ift auch dem fteifen Grandfeigneur das Rückgrat gebrochen. Da,
dicht vor dem Ziel feiner Wünſche, äfft das Schickſal den Schlauen. Sei |
Tochter will nicht Marquiſe von Borcelet heißen, brüftet fi) ohne Shım
mit dem Verluft ihrer Magdſchaft und läuft mit einem Habenichts von Chr. |
miler davon, demfiejauchzendeinftdie Yungfräufichleitgab. Und &Eavierfeht
ift auf der Automobilfahrt verunglückt und wirdfterbend ins Schloß gebracht.
Das iſt ſelbſt für Iſidors Haut zu viel. Die Wildkatze ftögnt, als hätte ein Schuß |
fie mitten ins Herz getroffen. Da jchleichen die ſpitzbübiſchen Eiektrotechnifer
herbei; fie wollen den Bufammenbruch ausnügen und legen dem fafjun |
Geſchäftsmann und Sturmogeſelle. 169
loſen, vergreiſten Vater einen gefälſchten Konſortialvertrag zur Unterſchrift
vor. Lallend lieſt er, lieſt wieder, ſucht mit feuchtem Blick und kreiſcht auf:
„Halunken! Lumpengeſindel! Ihr habt den wichtigſten Paragraphen weg⸗
gelaſſen und hofftet, ich würde in meiner Trauer nichts merlen!“ Der tote
Leib des Sohnes iſt vor der Thür. „Ich komme in fünf Minuten.“ Nicht
eher, als bis die Beiden geſchrieben und unterzeichnet haben, was er diktirt.
So. Das Geſchäft iſt gemacht, der Löwentheil ihm gefichert. Jetzt Tann er
ſeinen einzigen Sohn, ſeinen Liebling auf der Bahre ſehen und weiterweinen.
Und morgen mag der Marquis von Porcelet ſeine ſieben Sachen packen,
wenn er nicht Alles thut, was der Nachbar noch von ihm zu heiſchen hat.
Das iſt der Inhalt eines Theaterſtückes, das Herr Octave Mirbeau
geſchrieben und, mit dem Titel Les affaires sont les affaires, ins näch-
tige Land der Leinwände geſchickt hat. Als Drama lebt e8 von groben Markt⸗
effelten, greifen Kontraften und Zufalisereignifien, die nicht aus bem Weſens⸗
fern der handelnden und leidenden Menſchen hervorwachſen; als Satire kann
es nur auf Weltfremdlinge wirken. Einen großen Geihäftsmann will e8
jchildern, einen gegen Menſchenwallung dreifach gepanzerten Geldmacher, der
früh und ſpät nichts im Sinn hat als feinen Erwerb und über Reichen, faft
immer lachend, zum Sieg fchreitet; einen Geſchäftsmann, dem fogar ber Tod
des auf feine Weije geliebten Sohnes nicht für eine Biertelftunde den Spelu-
lantenblid trübt. Das wäre ein guter Mlodeftoff, von dem die Neporter mit _
Recht jagen könnten, er habe „in der Luft gelegen”. Der Komoebie des Herrn
Mirbeau, der nteftark, doch oft fein und, bis er ſich des Erwerbes wegenzu den
billigen Boten des Journal d’une femme de chambre herabließ, litera⸗
riſch unbejcholten war, dürfte man höchſtens nachfagen, fie jei aus der Luft
gegriffen ; und nichteinmalaus weltftädtifcher Luft. Alles Gefchäftliche ift in
diefem Geſchäftsſtück falſch gejehen oder mindeſtens grundfalſch dargeftellt.
Mitder Technik Iſidors Lechat fämevielleichtein Dugendjobber aus, abernicht
ein Mann, dem die parijer Börfe als ihrem König Huldigt. Wie ein Märchen
aus rasch vergangener Zeit Elingt uns heute jchon die Kunde von der Gold
zeugenden Kraft der Efektrizitätinduftrie; wir hören ja täglich, daß dieje In⸗
duftriezuläftigen Bündnikverträgengezwungen ift, umihre Preifeund Kurſe
vor dem Brödeln zu ſchützen. Der Wafferfalf bei Grenoble wird dem Aus-
beuter feine Millionen in den Schoß fprudeln, wird einen Gründer, der nur
Heine Schliche und Schwindeleien im Kopf hat, vielleicht von der Börfen-
bildfläche wegichweınmen. Mit Winzigkeiten, wie fie das Trachten Lechats
ausfüllen, giebt ein Spefulant großen Stils ſich überhaupt nicht ab und
170 . Die Zukunft.
marodirende Knirpfe vom Schlag Derer, die hier das Vorkaufsrecht auf den
Waſſerfall ergaunert haben, dringen in der Alltagswirflichleit kaum bis zu
einem Profuriften vor; und wären fie je aud) nur fo weit gefommen, dann
wäßten fie ganz ficher, daß fie in Paris, wo für jede halbwegs gute Grün⸗
dung franzdfifches oder fremdes Geld leicht zu haben tft, fich nicht willenlos
den frechen Näuberlaunen eines Lechat zu fügen brauchen. Iſidor felbft ſteht
alsein Zwerg aus dem Wunderreich Suesvor ung. Wirglauben nicht an feine
fünfzig Millionen, glauben nicht, daß er jemals ein großes Geſchäft gemadht
bat, halten ihn gar nicht für tanti, mit einem ausgewachfenen Sinanzınanz
fertig zu werden. Doch er amufirt und paßt aufs Haar an den Ort, für den
er beftimmt war. Der ſchlaue HerrMirbeau, der ſich gern einen Anarchiften
nennt, jchrieb fein Stüd für tie Comedie-Frangaise; und der genius
loci forderte gerade diefen Spefulantentypus und hätte einen moderneren,
der Lebenswahrheit näheren nicht geduldet. Im Haufe Molieres giebt das
Faubourg Saint-®ermain den Ton an; aud) die armen Marquis, die Por-
celet und Standesgenofien erfchwingen nod) das Geld für ein Abonnement.
Und ihnen mußte, Reichen und Armen, Herr Lechat gefallen. So Hatten fie
fich den neuen Tyrannen gedacht, der ihre Schlöffer und ihre Söhne kauft
und feinen fchlecht gepflegten Plebejerlceib zwiichen ihren Ahnenbilbern ſpa⸗
ziren führt. Ein Radikaler natürlich, der in Wählerverfammlungen das
Heer und die Priejterfchaft ſchimpft, doch ohne Ueberzeugung und immer bes
reit, vor der Kirche zu dienern, die feiner Macht nicht die Weihe verfagt. Ein
mit allen Salben gefchmierter &auner, mit dem ein Blaublütiger von einiger
Selbſtachtung und Sauberfeit fich gar nicht erſt in einen Wettlampfeinläßt.
Er Hat dag Geld, wir haben die Ehre; 1853 fchon, in Ponſards Tagen, trö-
ftete man ſich mit diefer Loſung. Damals war Balzacs Mercabet,lefaiseur,
noch jung, Augiers Charrier noch nicht geboren. Seitdem hatFrankreich Hirfch
und Bontoux, Herz und Reinach erlebt. Aus den Transvaalminen ift über
Nacht ein Millionärſchwarm aufgetaucht, der kaum Muße hatte, ſich noth⸗
dürftig zu ſäubern. Auch im Gallierland ſteigt der Adel mählich von ſeinen
alten Burgen und zieht ing dritte Stodwerf der Häufer, deren Prunfgr
mädher die Sproffen der nouvellescouches bewohnen. Und ſchließlich kau
die Affaire Dreyfus, der Kampf gegen die Armee und die Kongregation...
Die Zeit war erfüllt: Mercadet mußte im Modefrad wiederfehren. Bolas
Saccard und Lavedans Baron Horn waren, mit all ihren Schmußfpuren,
nicht Schwarz genug. Ein Schredbild war nöthig, ein vom Wirbel bis zu
Zehe ruchlofer Schuft: jofinddiefe Leute. Das Faubourg jubelte ;undtrüffel®
Geſchäftsmaun und Sturnigefelle. 171
ſeine Freude mit der Erinnerung, daß der Mann, dem es Herrn Iſidor dankte,
ſich einen Anarchiſten nennen ließ und im erſten Gliede der Dreyfustruppe
gefochten hatte. Der mußte feine Bundesgenojjen ja kennen. Herr Mirbeau
Scheint von Strupeln nicht geplagt worden zu fein. Wahrfcheinlich Dachte er
iſidoriſch: L’ Affaire est l’Affaire; et les affaires sont les affaires.
In Berlin fam das Stüd ins Deutſche Theater, allmo das fchärffte
Glas nicht viele Herzoge, Grafen und Junker entdecken wird; aus dem Haufe
Molieres in den Runftpalaft Brahms, der den Abendbedarf der hohen und
mittleren Finanz mit onfehnlichem Agio befriedigt. Wer den Blick über die
theuren Plätze hinſchweifen ließ, mußte für Herren Lechat zittern; die hier
Berjammelten wilfen ja, wie man Geſchäfte macht: ſie werden Iſidor als eine
plumpe Karikatur verhöhnen und wũthen, wenn fie merken, daß der Gauner
die Gattung der großen Spekulanten vertreten fol. Doch die Furcht erwies
ſich als grundlos. Bank und Börfe ftimmte für Porcelet gegen Lechat. Kein
Wuthausbruch, an feiner Stelle auch nur eine Regung des Aergers. Der
Marquis, der die heiligften Güter der Händlerdemofratie in ben Staub zerrt
— fo jagt man ja wohl? —, wurde ftürmifch beklatſcht; und gerade ihn mußte
dieſes Publikum auszifchen, jelbft wenn es Lechat unähnlic) und deshalb un-
gefährlich fand. Iſt unfere liebe liberale Bourgeoifte ſo kraftlos geworden, daß
jienichteinmalmehr den MuthihresKlaſſenbewußtſeins hat? Einft war es an⸗
ders. Vor zweihundert Jahren, als Le Sage feinen Turcaret, Iſidors Urahnen,
auf die Bühne bringen wollte, ſtieß er auf hartnäckigen Widerſtand. Ein
Händler, un traitant ſollte öffentlich an den Schaupranger geſtellt werden?
Das durfte fein ehrenwerther Bürger dulden. Prosper Boitepin berichtet:
„Die ſchamloſe Goldgier, das die Epoche beherrſchende Laſter, war vor allen
ernithaften Angriffen bisher bewahrt geblieben und mußte fi) um jeden
Preis weiter davor ſchützen. Schon die erfte Nachricht vom Anhalt der neuen
Komoedie ſcheuchte die Händlerwelt auf; große und Kleine Finanzleute ſchrien
entſetzt um Hilfe: Parisdurftenicht aufihre Koftenlachen. Sie waren mächtig
und ihr Einfluß reichte fo weit, daß ein einfamer Komoedienfchreiber dagegen
nicht aufkommen konnte. Das ſah LeSage baldein. ErvermochteTurcaret nicht
auf die Bühne zu bringen und begnügte ſich einſtweilen damit, ihm unter
den Feinden der Finanzleute Helfer zu werben. Mit ſeinem Manufkript zog
er durch die Salons des Adels. Man drängte ſich zu feinen Vorlefungen und
Leder, der das Werk kennen gelernt hatte, fagte, es fei eine Schande, daß diefer
ernften Arbeit die Theaterthür gefperrtwerbe, Die Händler verloren nach und
nach die Hoffnung, ihren Willen durchjegen zulönnen, und boten dem Dichter
172 Die Zukunft,
hunderttaufend Francs, die er abheben dürfe, fobald er fich verpflichtet habe,
fein Stüd nicht aufführen zu laſſen. Alain Rene YeSage war arm undjagte
troßdem ohne Zaudern: Nein. Endlid) fpradj der Dauphin, der Sohn Lud⸗
wigs des VBierzehnten, cin Machtwort und Turcaret, le financier, durfte
die Bretter befteigen.“ Aljo gejchehen zu Paris im Jahr 1709. Und 1903
wurde Lechatin Berlingeduldct, fein feudaler Gegner mit Beifall überfchüttet.
Wills im Bürgerreich wirklich ſchon Abend werden?... Als Frankreichs Adel
fi) an Figaros Bosheit beraufchte, z0g das Unwetter herauf, das bald da-
nach mit Donner und Blig die Privilegien aller Almavivas zerftörte.
So ſchlimm wirds diesmal nicht werden. Einen Lechat läßt man fid
gefallen. Hintertreppenfinang. Schließlich doch nur der berüchtigte Wurcherer
aus der Fabel, den der Zorn eines Rachegottes jchlägt. Schon Strousberg und
Geber fahen anders aus; und wie weit wars von ihnen nody big zu Beit,
Schwab und Bierpont Morgan! Die Zibetkatze kann paffiren. Wehe Jedem
aber, der heiliges Bürgergut antaftet, mit Frevlerhand nach dem Krüglein
preift, in bem feit einem Menjchenalter und länger das „demokratische Del”
für die ftetS nahe, ftetS feine Weiheftunde bewahrt wird! Das darf unge
ftraft nicht einmal ein Liebling wagen. Herr Sudermann hats erfahren,
dertreueBürgergardift, der jo oft gelobt ward, weil er aus roftiger Bflichtflinte
auf böfe Junkerlichkeit euer gab. Das war echte Heldenleiftung und nur
der Neid konnte da von leicht erfchmeichelten Tendenzerfolgen reden. Jetzt
hat der Mann, auf deffen Zuverläffigkeit der Thiergartenfreifinn geſchworen
hätte, ein paar Achtundvierziger zu höhnen verſucht: und der Scheiterhaufe
ſchien Vielen der ſolcher Schandthat gebührende Yohn. Dümmeres war nicht
zu erſinnen. Zwar hörte cin feines Ohr aus dem Gewinſel den Vorwurf her-
aus: Haben wir Dich dazu ein Jahrzehnt lang großgepäppelt und wider
befferes Fühlen einen Tichter genannt, Undanfbarer, damit Du ung Dieſes
thueſt? Das war nützlich undamufant, faft alfo, nad) Horaz und Scherer, poe⸗
tijch. Dennod) blieb8 dumm. Das neue Stüd des Herrn Sudermann — 8
trägtden Biertitel „Der Sturmgefelle Sokrates“ — konnte nicht gefallen, weil
es langweilig iſt. Nicht ſo aufreizend ſchlecht wie andere Werke des Verarmen⸗
den, doch ſo dünn, daß ſelbſt die reichliche Zotenzuthat es nicht ſchmackhaft
machen konnte. Einzelne derbe Späßchen, manche nette Dialogſtelle; das Ganze
auch für den wohlwollenden Beurtheiler nur eine Schnurre, die ein witziger
Kopf in drei Tagen für die Fidelitas eines Kneipabends zu liefern vermöchte.
Das ſollte nun ernſtgenommen werden; als Tragikomoedie. Ernſt der Zahn⸗
arzt, der ſeinen Söhnen flucht, weil der eine nicht Burſchenſchafter, ſondern
Sehhäftsmann und Sturmgefelle. 173
Eorpsftudent geworden ift, der andere, des Bater8 Gehilfe, dem Hund eines
durchreifenden Prinzen ein Zahngeſchwür aufgeitochen hat. Ernſt ein Rabbi
und ſudermänniſcher Nathan, der mit feinem SöhnchenFeuilletons austaufcht,
lauter Brillanten, undein preußiicher Landrath, der dem alten Zahnarzteinen
Orden erwirkt, weil der junge den Prinzenhund furirt hat. Früher führten
folche Sachen den Efelnamen „Humoresken“ und wurden von befferen Zei⸗
tunglefern überfchlagen. Das mußtegejagt werden, ruhig und höflich; denn der
Irrthum eines begabten Theaterſchreibers ift fein Verbrechen. Aber Herr
Sudermann hatjelbftin feiner ſchwächften Stunde noch Gluck. Gute Menſchen
und ſchlechte Mufikanten geriethen in Wuth. Schändung der Heroenzeit des
Bürgerthumes in Stadt und Land! Das glorreiche Martyrium von 48 be⸗
ſudelt! Schnöber Verrath! Die Sturmgeſellen, die unter normalen Verhält⸗
niſſen keinen zweiten Mond gejehen hätten, wurden beinahe wieder inter-
eſſant und Herr Sudermann konnte zwei Artifelwider feine Ankläger ſchreiben.
Zwei rechtſchaffene Leitartikel mit langen, meiftverftändlichen Schachtelfägen;
nurganz wenige Fremdwörter waren falſchangewandt. Der Sinn ungefähr:
Ich kein Demokrat? Ich bin ja aus Rickerts Schule gelaufen, weil ich das
für einen freiſinnigen Zeitungmann „nölhige Quantum monarchiſchen Ge⸗
fühles beim beſten Willen nicht aufbringen konnte“, und ſchaͤtze auch jetzt nur
„die ſchlichtmenſchliche Nobleſſe des höchften Reichsbeamten“, der mich zu
feinen Abendgeſellſchaften lud. Kann ein Demokrat anders denken und han-
dein? Ich bin einer vom älteſten Schrot und Korn und wäre ſogar zu den Nöthe-
ften gegangen, wenn die Leute in Dresden nicht fo unfanft geredet hätten.
Ihr aber ... Darauf folgt, im „Tag“, nicht bei Moſſe, dann die Frage, was
rum wohldem liberalen Gedanken diewerbende Kraftentjchwunden fein mag.
Herr Sudermann ift reizbar, aber fein vates. Er bejammert das
Schwinden des freien Bürgerfinnes und merkt nicht, daß ihn ein Verfalls⸗
ſymptom dünkt, was in gemeinerWirklichkeit ein Beweis ftrogender&ejundpeit
ift. Für Freiheit ſchwärmt jede Klaſſe, bis fieam Ziel des Begehrens ſteht; dann
mußſie den Nachdrängenden ein paar kleine, ganz kleine Freiheiten weigern, um
ungeſtört ſchmauſen zu können. Die Tragikomoedie der Sturmgeſellen fing da⸗
mit an, daß ſie zu Geld kamen, ſich behaglich im Vaterland fühlten und gegen
die Begehrlichkeit des Proletariates die berühmten ſittlichen Mächte anrufen
mußten. Und die Tragikomoedie des „entſchiedenen Liberalismus“ wird erſt
enden, wenn er aus der Vermummung ſchlüpft und zugiebt, daß er heut:
zutage mehr zu fonferviren hat als der konſervativſte Junker. Keine andere
Klaſſe ift auf die Erhaltung des Beftehenden jo angemwiejen wie die Bour-
geoifie. Das wird noch beftritten. Im verdunlelten Schaufpielhaus aber
wacht der Klaſſeninſtinkt und ftimmt gegen Techat jogar für einen Marquis,
174 Die Zutkunft.
Dolitifche Anthropologie.
DI von Zuriften gepflegte „Allgemeine Staatslehre“ als Theil des „Al:
gemeinen Staatsrechtes“ hat abgewirthfchaftet. : Kein Menſch fuck
mehr in ihr Belehrung über den Staat. Man weiß, dag fie juriftifche Kon:
firuftionen und fcholaftische Spiegelfechtereien enthält. Kein Wunder darum,
daß neben diefen ausschließlich dem „alabemifchen Gebrauch“ dienenden Werfen
das Bedürfniß, fi über Natur und Weſen des Staates Klarheit zu ver-
ſchaffen, dazu geführt hat, von anderen Ausgangspunften als dem juriſtiſchen
das große Problem in Angriff zu nehmen. Das verfuchte zunächſt die So:
ziologie. Sie fahte den Staat auf als ein Produkt des Kampfes fozialer
Gruppen, erklärte daraus da8 Entftehen bes Rechtes und aller Rechtsinſtitute.
Das ift die „Soziologifche Staatsidee“; ihr vornehmfter Vertreter ift heute
Guſtav Ragenhofer. Neben der Soziologie hat die von Friebrich Hagel be
gründete Anthropo- Geographie und Politiſche Geographie den erfolgreichen
Berfuch gemacht, den Staat als einen „bodenbeftändigen Organismus“, aß
ein Produkt der natürlichen geographifchen Bedingungen zu erweifen. Nagel
Werke enthalten mehr und wichtigere Erlenntniſſe über den Staat, ald die
gefammte „allgemein: ftaatSrechtliche“ Literatur feit hundert Jahren fich träumen
ließ. Nagel nimmt die Refultate der Soziologie infofern in feine Geſammt⸗
anjicht vom Staate auf, als er „die legten Elemente des ftaatlichen Orga
nismus“ in den „geſellſchaftlichen Gruppen” anerkennt. Doc ergänzt tt
die foziologifche Staatsidee, indem er ihr feine „politifch:geographifche“ Staats
anficht zu Grunde legt. Dean kann fagen: Die Soziologie ſchwebte in ber
Luft und erft Nagel gab ihr den Unterbau, bie tief im Boden wurzelnden
Fundanıente. Erft durch Kagel ift die Soziologie unerfchütterlich gefeftigt,
weil er „den geiftigen Zuſammenhang“ der gefellfchaftlichen Gruppen mit dem
Boden nachwies.
Damit feheint die neufte Entwidelung der Staatswiffenfchaft noch
nicht vollendet zu fein. Zur foziologifhen und zur politiſch-geographiſchen
gejellt fich nämlich noch eine dritte: die „politifch:anthropologifche” Staat
idee, die in die Wilfenfchaft vom Staat ein ganz neues Element einführt und
in die Natur des Staates neue Einblicke gewähren will. Ich meine bie Anf:
fafiung, wonach der Staat ein Prodult der „Raſſen“ ift, wobei angenom⸗
men wird, daß die „edelfte” Raſſe obenauf und die gemeinfte ganz unten
zu ftehen fommt. Dieſe politiich:anthropologifche Staatsidee ift zuerft von
Gobineau angeregt worden, der meinte, daß alle höhere Kultur immer und
überall von der „weißen“ Raſſe gefchaffen werde. Wie diefe Theorie von
Politiſche Anthropologie. 175
Houfton Stewart Chamberlain angewandt wurde, bei dem die „weiße“ Kaffe
der „germanifchen” Plag macht, ift befannt: er weift den civilifatorifchen Ein-
fluß der „Germanen“ in der ganzen Weltgefchichte nach und verfichert ung,
daß, wo immer etwas Großes und ivilifatorifches gefchehen fei, flet3 und
überall die germanifche Initiative am Werke war. Chriftus war Germane,
Dante au; und fo weiter. Diefe neue Staatdidee wiſſenſchaftlich zu for:
muliren und zu begründen, unternimmt Ludwig Woltmann in feiner „Poli-
tifchen Anthropologie”. Er geht von der Annahme aus, daß „eine genetifche
Analogie zwifhen Organismus und Gefellfchaft“ beftehe und daß in dem
„Tozialen Organismus die jelben biologifchen Grundgefege wirkſam find wie
in dem (phylifchen) Organismus". Nun könnte man glauben, daß Wolt-
mann uns da die Lehrer der „Organiker“ (Schaeffle, Lilienfeld, Worms u. U.)
wieber auftifcht. Das ift nicht der Fall: Woltmann unterfucht vielmehr die
phnfiologische Befchaffenheit des Menſchen als Sozialen Elementes, infofern fie
ein Produft der Vererbung ift und fi in der ‚Raſſe“ zu einem gefellichaft-
lichen Faktor ſummirt.
Seine Anfiht wird am Beſten durch die folgenden Säge dargelegt:
„Das Wachsthum der Gefellfchaft nimmt von einem Paar menjchlicher In-
dividuen feinen Urfprung, das mit feinen Kindern, Kindeskindern, Ber:
wandten und Nachkommen eine foziale Einheit bildet. Iſt diefe größer
geworben, fo ftößt fie einzelne Gruppen von ſich ab, die anderswo ein ähn-
liches ſoziales Gebilde hervorrufen. Die Entftehfung von Bruderflämmen,
Kolonien ift der Ausdruck diefes Wachsthumes der Gefellfchaft über ſich ſelbſt
hinaus." Innerhalb diefer Geſellſchaften vollzieht fi eine Arbeitstheilung
auf Grund natürlicher Differenzen und Differenzirungen. „Die primitivfte
Arbeitstheilung ift die zwifchen Dann und Weib.“ Dann folgt die Arbeit-
theilung, die „in höher entwidelten Geſellſchaften zur Bildung von Staften
und Ständen führt“. Zwiſchen diefen „Theilen der Geſellſchaft befteht eine
Wechſelwirkung, inſofern die eine Gruppe ohne die andere nicht exiſtiren
kann“. Zugleich ift „eine Ueberordnung von Gruppen und Perfonen vor-
handen, des Vaters in der Familie, des Führers in der Horde, der Arijto-
kratie im Feudalſtaate“. Im Folge diefer Differenzirung der Berufe entiteht
Gegenſatz von nterefien und ein fozialer Kampf. Trotz diefen inneren
Spannungen tritt die Gefellfchaft nach außen als ein Ganzes auf. Nur
fo weit, aber ja nicht weiter, darf in der Gefellfchaft „Organiſches“ gejehen
werden. Denn die Gefelichaft ift nicht ein Organismus, fondern eine
Mehrheit von Organismen, die in einem „fpezififchen Verhältniß zu einander
ſtehen“; und „die phyfiologifche Grundlage“ dieſes Verhältniffes, alfo „des
fozialen Lebens“, ift nichts Anderes als die Raſſe. Das ift die neue Lehre,
die Woltmann (nad) dem. Borgange früherer, minder fcharf gefaßten Anlichten
176 Die Zukunft.
ber felben Richtung) verkündet. Das ift die neue „politifch:anthropologifche“
Staatsidee. Tas foziale Leben, das ein fpezifiiches Verhältnig vieler natür:
lichen, biologifchen Organismen zu einander ift, beruht auf der Raffe. „Erf
diefer Begriff macht die Problemftellung und Problemlöfung volljtändig klar“,
die den Organifern und Soziologen, „die Organismus und Gefellfchaft im
einen realen Vergleich brachten, dunkel vorfchwebte". Euprxa! ruft Wolt-
mann aus! Die Rafje its, die die Geſellſchaft und den Staat erzeugt.
Deshalb muß die „Soziologie biologifch fein“. Das heißt: „fie muß Nafle
und Geſellſchaft in ihrem gefegmäßigen Zufammenhang und den Raſſeprozeß
als natürliche Grundlage des Sozialprozeſſes begreifen”.
Das thut nun Woltmann. Während die Defzendenztheorie den „Ent:
widelungprozeß der fozialen und politifchen Yormationen als einen biologi-
fhen Vorgang auffaßt, der im Dienfte der phyfiologifchen Zucht und intellel-
tuellen Entfaltung des Menfchengefchlechtes fteht“, hebt Woltmann neben
diefer biologifchen Seite der Menfchheitgefchichte die anthropologifche hervor,
die jich „in der phyftologifchen Eigenart und Ueberlegenheit einzelner Raſſen
und Perfönlichkeiten bemerkbar macht“. Diefe „Raffen find Naturfaltoren,
bie in die Bilanz der geſchichtlichen Ereigniffe al gegebene Urfachen und
Mächte einzufegen find“ (mie e8 fchon Gobineau und Chamberlain madıten).
Diefe „Einftellung in die Bilanz der geſchichtlichen Ereigniffe” kann natür-
ih nur in dem Sinn gefchehen, daß eritens, da jeder Staat aus mindeſtens
zwei Raſſen befteht, die tüchtigere herrfcht und die minderwerthige unterliegt,
und zweitens, daß alle Grofthaten der Kultur auf das Credit der ebleren
Raſſe gebucht werden müflen.
Das foziale Credo diefer neuften Staatswiſſenſchaft enthält folgende
Thefe, die ung in jüngfter Zeit oft gepredigt wurde: „Alle foziale Gliederung
und Ordnung ift phyftologifch bedingt. Der foziale Werth des Einzelnen
wird nicht allein durch feine individuelle Organifation, fondern auch durch
feine Rafje beftimmt. Niemand kann aus feinen organischen Zeugung- und
Abitammungbedingungen heraußtreten: denn er ift da8 Produkt einer langen
Kette von Vorfahren, in denen fich gleiche und ungleichartige Elemente ge
mifcht haben.” Da e8 nun höhere und niedere, edlere und ordinärere Raflen
giebt, fo erklärt fi daraus nicht nur da8 Inſtitut der Sklaverei, ſondern auch
die Erfeheinung der Herrfchaft der höheren Raſſen über die niederen. „Bei all
diefen Völkern (Griechen, Römern, Galliern, Indern und Germanen) find bie
Sklaven urfprünglich Menfchen anderer Raffe geweſen.“ In den tropifchen
Ländern wird der Weiße „immer nur die Herrenraſſe bilden, von der die
Dispolitionen und Initiativen ausgehen." In diefen Raffenunterfchieden Liegt
der Schlüffel zur Erklärung des Ganges der Welt» und Kulturgefchichte.
„Die volle Ausbildung des Aderbaues und der Gewerbe, welche die öfono-
Politiſche Anthropologie. 177
mifchen Grundlagen aller höheren Civilifation bilden, iſt faft nie ohne
Sklaverei fremder Waffen möglich gewejen.* Die Griechen alfo hätten be-
reits die richtige Erkenntniß der Wahrheit gewonnen, die der modernen
Menjchheit offenbar durch das femitifche Chriſtenthum abhanden gelommen
if. Denn „Euripides hielt es für gerecht, daß die Griechen über Barbaren
berrfchen, da Barbar fein und Sklave fein das Selbe bedeute.” „Nach
Ariftoteles ift der Sklave ein lebendiges Werkzeug. Die Sklaverei fei in
der Natur der Menfchen begründet.” Und wie e8 von je ber war, fo ift es
noch heute. Raffenunterfchiede, feien es primäre oder felundäre, find die
Urſachen fozialer Schihtung. „Die Arbeiterflaffe der modernen Induſtrie⸗
ftaaten ift da8 Ergebniß eine ſozialen Zuchtwahlprozeſſes, der durch eine
Reihe von Generationen hindurch den Grundftod der Urbeiterbevölferung
berangebildet hat und die Läden immer wieder ausfüllen muß.“ Ueberhaupt
faßt die Politifche Anthropologie die ganze Meenfchheitgefchichte als einen
Raffenzüchtungprozeh auf; und alle Vorgänge, die wir biöher als öfonomifche,
foziale, politifche betrachtet haben, find nach ihr rein anthropologifche mit
ausſchließlich anthropologiſchen Zielen. Die Kulturrefultate aber, die wir
als Erfolge diefer Hiftorifchen Vorgänge bewundern und feiern, find nur bes
wirkt duch diefe anthropologiihen Wandlungen, find nur die Außenfeiten
dieſer intimen Raſſenzüchtungvorgänge, die fi) demnach als die eigentliche
Seele aller gefchichtlichen Vorgänge entpuppen.
„Die Differenzirung zwifchenLand: und Stadtbevölferung, Auswanderung
und Kolonifation, die Eintheilung in Kaften und Stände ift aus rein fozio:
Logifchen, ökonomischen oder geographifchen Urfachen nicht zu erklären, fondern
iſt urfprünglich ein Prozeß der anthropologifchen Gruppen= und Individual-
ausleſe, die auf der Macht von individuellen oder Raffenunterfchieden beruhen.
Umgelehrt können die veränderten Rebensbedingungen in Stadt, Kolonie und
Kafte auf den anthropologiichen Typus zurüdwirken, fei es, daß neue und
abweichende Eigenschaften herangezüchtet werden oder organifche Entartungen
auftreten.” Damit wären Inhalt und Umfang der neuen Staatdidee im
Umriß angedeutet.
Wie jede Wiſſenſchaft nah Erfchliegung der Erkenntniß des Thatjäd-
lichen zu gewiffen Forderungen behufs Anwendung ihrer Erkenntniſſe auf das
Seinfollende gelangt; wie die Rechtswiſſenſchaft fich nicht damit begnügt, de lege
lata zu raifonniren, fondern nah Erkenntniß des gewordenen und bes
ftehenden Rechtes zu Vorfchlägen de lege ferenda übergeht: fo gelangt
auch die Bolitifche Anthropologie zu gewiſſen Nuganwendungen ihrer Erkenntniſſe.
Wenn von dem Adel der Raſſe die Höhe der Kultur abhängt, jo muß ge⸗
trachtet werben, biefen Adel zu erhalten, ihn von allen fchädlichen Einflüffen
(Beimifchungen) zu bewahren, ihn durch geeignete „Reinzucht“ zu einer
178 Die Zufimft.
größeren Bolllommenheit zu erheben, die „Hochzucht“ der Raſſe zu fördern.
An die Erlenntniffe der Politifhen Anthropologie wird fi deshalb eine
„angewandte“ politifche Anthropologie fchließen, die alle Refultate der Inzucht
und Reinzucht unterfuchen wird (was ſchon Neibmayer in feinem Werte
„Inzucht und Vermifhung beim Menſchen“ in fehr fcharfiinniger Weife be
gonnen bat) und fchlieplih mu eine „Raſſenhygiene“ gefchaffen werden,
wie es Thon Plötz („Geſundheit unferer Raſſe“) verfuchte.
Auch Woltmann bleibt bei den Thatfachen nicht ftehen, fondern giebt
Rathſchläge, die auf der Erkenntniß diefer Thatfachen berufen. Allerdings
ift die Berechtigung zu ſolchem Rathſchlage von einer Vorausfegung ab-
hängig: davon, daß die Naffen nicht nur wandlungfähig find, fondern bag
auch der Menſch ſolche Wandlungen herbeiführen kann. Nach der Theorie
Meismanns von der „Unfterblichleit und Unmanbelbarfeit des Keimplagmas”
wäre man geneigt, bier jede „Züchtungarbeit” für vergeblich zu halten. Und
diefe Meinung fcheinen ja Lapouge und Chamberlain eigentlich zu vertreten.
Woltmann theilt diefe Anficht nicht. Zwar liegt nad) ihm „die Entftehfung der
Raffebegabungen jenfeits der eigentlichen Gefchichte im engeren Sinn. Gie
ift ein Stud organischer Vorgefchichte der Kulturgefchichte*, woraus man
Schließen follte, daß die Raſſen Dauertgpen find. Dennoch meint Woltmann,
daß „troß der Beharrung der fundamentalen Raffenunterfchiede ... . eine
geriffe Umwandlung der menfchlihen Natur in der Gefchichte ftattfindet.“
„Was den gefchichtlichen Veränderungen zu Grunde liegt, ift ein fortwährender
Raſſenwechſel, eine Wandlung in der anthropologifchen Struftur ber Ge:
ſellſchaft“. „Die phyſiologiſchen Ummandlungen gefchehen entweder durch
eine einfeitige pojitive Auslefe mit nachfolgender Inzucht, wodurch beſtimmte,
von Natur gegebene Eigenfchaften einer Raſſe oder Gruppe von Individuen
befonder8 hoch gezüchtet wurden, oder durch einfeitige negative Auslefe, die
die organifchen Träger beitiminter Charaktere durch Auswanderung, Kinder:
Lofigfeit, Ehelofigfeit oder direfte Ausrottung aus dem Raſſeprozeß außfcheibet,
oder endlich durch Raffemifchungen, die entweder günftig oder ungünftig bie
Entwidelung der phyſiſchen und geiftigen Merkmale beeinfluffen können.“
Das find Mittel, deren ſich auch der Menſch bewußt bedienen könnte, bie
er, wenn er das Weſen des anthropologiichen Geſchichtprozeſſes erft erkannt
und deffen Ziele fi zu klarem Bewußtſein gebracht hat, anwenden fann,
um eine immer eblere Kaffe heranzuzüchten. Da ftänden wir nun allerdings
vor der wicdhtigften aller Wiffenfchaften, vor der, die und die „Hochzüchtung“
der Menfchheit, alfo den wichtigften aller Fortjchritte ermöglichen würde.
Die Politifche Anthropologie würde uns durch Erkenntniffe, die fie ung
erfchließt, die Mittel geben, eine immer edlere Kaffe Heranzuzüchten und bie
gemeinen durch verfchiedene Mittel „aus dem Raſſeprozeß auszufcheiden.“
j mes
Politiſche Anthropotogie. 179
Diefe Mittel find zwar nicht gerade idylliſch: Auswanderung (wenn nöthig:
Austreibung), Kinderlofigleit (eventuell alfo Kinderausfegung), Ehelofigkeit
(eventuell Eheverbote oder noch etwas Schlinmeres), endlich „birelte Aus-
rottung“. Doc follte nicht auch hier der Zweck die Mittel heiligen? Freilich:
das Bischen femitifch-hriftliher Moral, auf die wir fo ftolz find, müßten
wir opfern; auch einige andere „fortfchrittliche und humane“ Schrullen, wie
Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, müßten preißgegeben werden. Docd was
verfchlägts? Das find Velleitäten, mit denen ja fchon Nietzſche aufgeräumt
bat. Und dann hätten ja thatfächlidh diefe etwas barbarifhen Mafregeln
ihre volle Rechtfertigung und vielleicht gar Berechtigung, wo es ſich darum
handelt, die Menfchheit zu veredeln. Leider aber merken wir bei Woltmann,
was uns fchon aus Nietzſche, Chamberlain, Lapouge befannt ift: daß dieſe
neue Staatswiffenfchaft ſich nicht in den Dienft der Menſchheit ftellt, fonbern
in den Dienft der nordgermanifchen Raffe, die nach der Anficht diefer Schrift-
fteller die „edelfte“ ift. „Die nordifche Raſſe“, jagt Woltman, „ift die ge⸗
borene Trägerin der Weltcivilifation“. Und ähnlih wie Gobineau von der
„weißen Raſſe“ behauptet, daß fie durch ihren Bluteinfluß überall die Civili-
. fation fördere, meint auch Woltmann, daß die nordifche Raſſe „dur Ber:
miſchung mit anderen Raſſen diefe phyfiologifch auf ein höheres Niveau
gehoben“ hat, „ſowohl Mlittelländer wie Mongolen und Neger”. Er ift
davon fo feft überzeugt, daß er überall, in allen Welttheilen, wo immer er
nur eine höhere Kultur findet, den Bluteinfluß der „nordifchen“ oder mindefteng
der „kaukaſiſchen“ Rafle mwittert. „Was die amerikanifchen Kulturen betrifft,
fo find die Inkas ohne Zweifel eine fremde Raſſe geweſen, deren morpho-
logifche Merkmale auf die faufafifche Raſſe hinweiſen“. Woltmann meint
fogar, „nicht allzu fern liege die Hypotheſe, daß europäifches Erobererblut
bis Tahiti gelangte, auch die Weſtküſte Amerikas erreichte.“ Diefe Raſſe,
die „indogermanifche“, ift in „nordifchen Bezirken entitanden*, wie neuer-
dings nachgewiefen fein fol. Skandinavien ift „dad Urfprungsland diefer
arifchen oder indogermanifchen Raſſe“; und was allüberal in Alterthum,
Mittelalter und Neuzeit Großes irgendwo fich zugetragen hat, ift auf das Konto
diefer „edelften Kaffe” zu buchen. „Die Büften Caeſars zeigen echtgermanifche
Schädel: und Geiftesbildung“. Eben fo hatte Alerander der Große „ger:
manifche Schädel: und Gefichtsbildung, röthliche Haare und tiefblane Augen.“
Daß Ehriftus und Dante Germanen waren, lehrte uns ſchon Chamberlain.
Woltmann fügt noch Bonaparte hinzu. „Die ganze enropäifche Civilifation
auch in ſlaviſchen und romanifchen Ländern ift eine Leiftung germanifchen
Geiftes". „Das Papſtthum, die Renaiſſance, die franzöfifche Revolution
und die napoleonifche Weltherrfchaft find Großthaten des germanifchen Geiftes
gewejen”. „Das Papſtthum und das Kaiferthum find germanifche Schöpfungen,
180 Die Zukunft.
Beide germanifche Herifchaftorganifationen, dazu beftimmt, die Welt zu unter
jochen. Die germaniſche Raſſe ift berufen, die Erde mit ihrer Herrſchaft
zu umfpannen, die Schäge der Natur und der Arbeitkräfte auszubeuten und
die pafjiven Raffen als dienendes Glied ihrer Kulturentwidelung einzufügen.“
Das alfo ift des Pudels Kern. Iſts aber noch Wiffenfhaft? Hat
Woltmann diefe Beſtimmung der germanifchen Raſſe aus phyſiologiſchen
Unterfuchungen erfaunt? Doc) gelegt, e8 wäre fo: was werden die anderen
Raſſen dazu fagen? Sollten die Brünetten und Kleinen fi der Herrfchaft
der Blonden und Großen fügen? Das werden fie offenbar nicht tun. Da
ziehen fie vor, zu fämpfen. Der „politifch:anthropologifche* Nachweis, daß
alle nicht blonden Raſſen der blonden zu dienen haben, wirb den Nichtblonden
offenbar nicht imponiren; fie werden diefen Anspruch nicht anerfennen, — und
bie Totjchlägerei kann beginnen. Iſt denn aber die Schlußfolgerung von
dem abfolug höheren Werthe der germanifchen Raffe wirklich wilfenfchaftlich
begründet und die an diefe Schlußfolgerung gelnüpfte Prophezeiung Wolt:
manns von ber „erdumfpannenden Herrſchaft“ diefer Raſſe berechtigt? Ich
fann bier feine eingehende Kritik diefes ganzen wiflenfchaftliden Syftems
geben; aber ein paar gewichtige Bedenken mögen mir geftattet fein.
Iſt „Raſſe“ der Grundbegriff, der ung die Räthſel des Staates und
der Geſellſchaft Löfen fol, fo muß vor Allem Kar befinirt werden: Was ift
Raſſe? Es find nad) Woltmann „VBerfchiedenheiten”, die „bei ber Verbreitung
des einheitlichen Deenfchengefchlechteß über die Erdoberfläche entitanden find,
durch eine auslefende Anpaffung an die ungleichartigen Eriftenzbedingungen.“
Zugegeben. Sol nun in der Welt eine Raffe berrfchen, foll jie in den
einzelnen Staaten die VBorherrichaft genießen, fo müßte fie mindeftend eine
genealogifche Kontinuität bilden. Das heißt: gleichrafjige Elternpaare müften
mindeſtens gleichrafiige Nachkommen erzeugen. Nicht einmal Das ijt ver:
bürgt. -Denn wie. der bei Woltmann citirte Ausfpruch Luſchans richtig be
tont, fommt e8 häufig vor, daß ein großer, blonder, blauäugiger Menſch
einen Heinen, dunfeläugigen, [hwarzhaarigen Bruder bat, wobei nicht ausge:
fchlofien ift, dat der Erſte ein Rindvieh, der Zweite ein genialer Menſch if.
Was ſoll nun da geſchehen? Soll der Blonde den Schwarzen als ander3-
rafjig und minderwerthig betrachten und fi die Herrfchaft Aber ihn anmaßen?
Da wird es wohl Bruderkrieg und Beudermord geben. Will uns die neue
Staatswiſſenſchaft eine ſolche Periode bringen und fanktioniren? Obendrein
find Heutzutage alle Völker ohne Ausnahme gemifchtraffig und eben fo bie
Ehepaare; woraus fich die vorherrfchende Verfchiedenrafjigkeit der Familien
erflärt. Denn wie der von Woltmann citirte Luſchan ganz richtig erflärt,
„vererben fich die einmal feft erworbenen phyfifchen Eigenfchaften immer und
immer wieder auf die Kinder“, und zwar fo, „daß fie auch allen Raſſe⸗
Politiſche Anthropologie. | 181
mifchungen mit der größten Energie wiberftehen und daß fie immer und
immer wieder zum Borfchein kommen, wobei e8 beinahe einerlei ift, ob jebt
die Raſſemiſchung durch die Eltern und Großeltern oder vor Hunderten von
Generationen erfolgt if.“ Das ift num eine fatale Sache für bie Lehre von
dem Borrang der blonden germanifchen Rafſe und ihrer Vorherrſchaft in
der Zukunft; denn felbft wenn man von nun an Ehen zwifchen Blonden
und Brünetten verböte, fo entfprießen ja auch den Ehen blonder Eltern brü⸗
nette und brünetter Eltern blonde Kinder. Wie will man Das verhüten,
wenn bie diefe Verfchiedenraffigkeit der Kinder verurfaddenden Umftände vor
„Hunderten von Generationen“ fich ereignet haben konnten? Num, da die
Rofienfanatiler in den Mitteln, die reinrafjige Hochzucht zu fördern, nicht
wählerifch find und vor „Eliminirung“ der mindermerthigen, alfo ber nicht»
Hlonden, ungermanifchen Raſſen nicht zurüdichreden, könnte vielleicht eine
„direfte Ausrottung“ aller andersraffigen Gefchwifter und Familienmitglieder
ans Ziel führen. Leider belehrt uns aber Woltmann, daß für das Erkennen
der Raſſe die äußeren Merkmale, der Typus, nicht ausfchlaggebend find. Denn’
die Verichiedenheit der Rafle „muß fich keineswegs in einem beftimmten Typus
offenbaren.“ „Der Typus ift ein morphologifcher, die Raffe ein genenlogifcher
Begriff. Rafle ımd Typus brauchen nicht genau übereinzuftimmen.* Aus
„dem Typus allein ift es faft unmöglich, auf die Raſſe zu fchließen, fo daß
nur eine genealogifche Unterfuchung die organische Verwandtfchaft feftitellen
Tann.“ Unter folden Umftänden wäre eine „direfte Ausrottung“ gefährlich;
denn es Fönnte leicht gefchehen, daß man einen brünetten Germanen tot-
ſchlüge und einen blauäugigen, blonden Juden am Leben ließe. Woltmann
empfiehlt eine genaue „genealogifche Unterfuchung“ der Abftammung. Was
nügt aber eine ſolche, wenn, wie wir wifien, eine Bermifchung don „vor
Hunderten von Generationen” noch immer ihre Wirkung äußeren und die Rein=
raffigkeit der Familien nach Jahrhunderten trog aller Inzucht trüben kann?
Wenn nun die Neinrafjigkeit eine Utopie und die Mifchraffigleit die Wirk—
lichkeit ift, fo fehlt der ganzen Theorie bie feſte Grundlage. Die Reinraflig-
teit auch nur der weißen Menfchen ſcheint ſchon vor Sahrhunderttaufenden
gründlich verpfufcht worden zu fein, — vielleiht für immer.
Das wäre ein anthropologifches Bedenken gegen die politifch = anthro-
pologifche Theorie; num aber ein foziologifches. Diefe ganze von Woltmann
ins Auge gefaßte Neinzüchterei der germanifchen Waffe follte den Zweck
haben, die Welt mit folhen „Großthaten des germanifchen Geiftes“, wie
Papſtthum und Kaifertfum es find, zu begläden? Ich weiß nicht, ob das
beutige Deutfchland fich für das Papſtthum begeiftert; oder müßte es dazu
erft einer germanifchen Reinzucht unterworfen werden? Und au für das
Kaiſerthum (das proteftantifche?) ift die Begeifterung nicht überall allzu groß;
14
182 Die Zukunft.
jedenfalls find die germanischen Römlinge nicht Anhänger des deutfchen Kaijer:
thumes. Wo fledt alſo ber germanifche Geift? Bei Welfen oder Ghibellinen?
Denn bie Raſſe erzeugt ja den Geift.
Nah den anthropologifchen und foziologifhen Bedenken möge ein bics
logifches noch hier Platz finden. Es ift wohl richtig, daß norbgermanifcher
Einfluß faft überall in europäiſchen Staaten feit dem früheften Mittelalter
zur Geltung fommt; aber geftattet die Logik, ba von „germaniſchen“ Echäpf-
ungen zu fprehen? Dan kann doch logifch höchftens fagen, daß die Ger:
manen an biefen Schöpfungen mitwickten. Wenn in Rom da8 Bapfttfum
entitand, jo entftand es doch offenbar unter altiver Mitwirfung des alten
römifchen Blutes und Geiftes. Wer will und wer kann behaupten, daß es
nur Germanen waren, die diefe allerdings ſtaunenswerthe Weltherrichaft-
Drganifation ind Xeben riefen? Iſt das Papſtthum nicht offenbar eine
Fortfegung der römifchen Weltherrfchaft mit feineren, geiftigen Mitteln?
Und kann man aus dem Papftıhum ganz das femitifche Element löfen, das
uns ifolirt, fozufagen in Reinkultur, in oftgafizifhen Wunderrabbiß entgegen-
tritt, die ausfchlieglich mit Hilfe ihrer Wunderthaten und Segenfpenden weit
und breit die Lande beherrfchen, Pilgerzüge empfangen und reichliche „ Peters⸗
pfennige“ einfammeln? Wer kann abftreiten, dag im Vapſtthum all dieſe
Elemente vereinigt find, orientalifche, römifche und germanifche? Und darf man
es dann eine außfchlieglich germanifche Rafjen-Schöpfung nennen? Man könnte
ja einfach fragen: Warum haben die Nordgermanen nicht von ihrer Heimath,
etwa von Upfala aus eine päpftliche Weltherrfchaft gegründet? Tas wäre
dann eher eine Schöpfung der germanifchen Raſſe. Warum haben fie erft
die weite Neife nad) Rom gemacht und fi) allerlei Strapazen ausgefegt?
Iſt es denn nicht Har, daß es zuerft eine römische weltliche Herrfchaft gegeben
haben, daß erſt orientalifche Seelenverfnechtung vorhergegangen fein mußte,
ehe aus all diefen Elementen unter Hinzutritt normannifchen Piraten⸗ und
Banditengeijtes die großartige Weltherrfchaft: Drganifation des Papftthumes
entftehen konnte? Der Irrthum der modernen Naffentheoretifer fcheint alfo
darin zu liegen, daß fie für eine einzelne mitwirkende Raſſe reflamiren, was
nur aus dem Zuſammenwirken einer Vielheit von Raſſen erklärt werden
kann. Es ift, al3 ob man die Wirkung eine Drchefterfongertes nur für
die darin mitwirfende große Paufe reklamiren wollte.
Die Wahrheit fcheint mir zu fein, daß alle „Großthaten“ Orcheſter⸗
konzerte find, bei denen die unzähligen vielen Raſſen die verjchiedenen Inſtru⸗
mente fpielen, aus deren Zuſammenwirken jene „Großthaten“ und „Schöpf:
ungen“ entitehen: fie jind eben foziale und nationale Großthaten und
Schöpfungen und dürfen nicht auf das Konto einer einzigen mitwirfenden
Raſſe gebucht werden.
Politiſche Anthropologie. 183
Mit ſolchen Organiſationen wie Papſtthum, Kaiſerthum und Staat
überhaupt verhält es ſich ſo wie mit der Sprache. Auch fie iſt eine foziale
umd nationale und keine Raffenjchöpfung. Die Normannen des frühen Mittel-
alter3 hatten eine äufßerft bürftige, an Begriffen arme Sprache, die faum für
das Leben eines Piratenvolkes ausreichte. Was war fie gegen die Sprache des
Hohen Liedes, gegen die Sprache der Pindar und Aeschylos, Vergils und
Ciceros? In jener reingermanifchen, von allerlei fpäteren Beimifchungen noch
nicht „verumreinigten* Sprache hätten Schiller und Goethe ihre unfterblichen
Werke nicht zu fchaffen vermocht. Es bedurfte erſt Jahrhunderte langer gründ⸗
licher „Verunreinigung“ der germaniſchen Urſprache, um fie fähig zu machen,
folche dichterifchen Werke hervorzubringen. Und dabei vergefie man nicht,
daß bie Sprache nicht nur durch fremde Lehnworte bereichert wird, fondern
noch viel mehr durch fremde Lehnbegriffe, aus denen heimifche Worte hervor-
getrieben werden. Nur in einer auf ſolche Weiſe entftandenen „Sprad-
pfüge* — um im Sinne der Naflenreinzüchter zu fprechen — konnten bie
unfterblichen Meiſterwerke wachfen. Da kommt nun ein Chamberlain und wirft
fich ftolz in die Bruft: Das find Werke germanifchen Geiftes! Die Welt der
Sprachen ift aber ein getreues Spiegelbild der Welt der Raſſen. Wie «8
unter den Kulturſprachen Feine reine mehr giebt, fo giebt e8 unter den Kultur⸗
völfern keine reine Rafſe mehr. Vielleicht finden wir im Innern Afrikas und
im Feuerland noch reine Raflen mit reinen Sprachen.
Woltmanns Werk hat das Verdienft, eine in Frankreich und Deutſch-
land feit einigen Jahrzehnten aufgefommene Theorie in ein wiſſenſchaftliches
Syitem- gebracht zu haben. Die politifch-anthropologifche Staatsidee tritt in
voller Rüftung auf den Plan. Nun kann der Kampf beginnen. Sie findet
bier nicht viele Gegner. Die theologifhe Staatsidee geht nur noch als ſchwarzes
Gefpenft um, die juriftifche Liegt maufetot im Sande, die fozialiftifche giebt noch
Rebenszeichen, wird aber nicht mehr auflommen. Was bleibt? Die fozio:
logifche und die anthropo-geographifche Staatsidee. Wird der Kampf für eine
von ihnen tötlich enden? Wer weiß? Nicht ausgefchlofien ift, daß die Kämpfen-
den einander verfühnlich die Hand reichen und einen ehrenvollen Frieden fchließen.
Das ift um fo mehr zu hoffen, als die zwei hervorragendften Vertreter der
joziologifchen und der anthropo:geographifchen Staatsidee, Ragenhofer und
Nagel, in ihren Syſtemen das Raſſenmoment gebührend berüdjichtigen.
Graz. Profeſſor Ludwig Gumplowicz.
Sr
184 Die Zuhmft.
George Moore.
on den vier lebenden Romandichtern Englands: George Meredith
— den vor Kurzem Federn den Lefern der „Zulunft” in Echmeite
rüdte —, Thomas Hardy, Rudyard Kipling und George Moore, die ganz
Europa angehören jollten und früher oder fpäter auch werden, ift Meredith
der ältefte und, trog Kipling, der den größeren Leferfreis hat, am Höchften
geachtet. George Moore, den ich den bdeutfchen Leſern näher bringen möchte,
ift der jüngfte, auch drüben am Wenigften gelefen, aber gerade deshalb ver-
vehmt. Das englifche Publilum nimmt ihm gegenüber etwa bie Stellung
ein, die deutſche Philifter Ibſen gegenüber Ende der achtziger Jahre einnahmen.
Uns bietet er wohl neben Hardy am Meiften von den vier Genannten. Rotizen
über feinen äußeren Lebenslauf und feine Perfönlichkeit habe ich faſt gar
nicht erhalten. Der Name verräth, daß er trifcher Abkunft if, wie Wilde
und Shaw. Der Datirung bed Briefes, mit dem er die Tauchnigausgabe
feines legten Novellenbandes The untilled field, wie er Irland ſchön nennt,
einem Freunde zueignet, entnehme ich, daß er in Dublin lebt. Der Original:
ausgabe von Sister Teresa ift fein Bild nad einer wohl nit allzu
ftarfen Zeichnung beigegeben. Danach ift er ein Mann von etwa vierzig
Jahren. Das Geficht rundlich, mit Fräftiger, Leicht gebogener Nafe. Der
obere Theil des Mundes von einem ſtarken Schnaugbart bebedt, mur bie
Unterlippe, bie fi voll ein Wenig vorfchieht, fichtbar. Die ſcharfen Linien,
bie fich bereit8 in das Geſicht eingegraben haben, zeigen, daß «8, leichten
Mienenfpieles fähig, häufig der Spiegel ftarfer innerer Erregung ward. Die
Augen feſſeln fofort, fie verrathen die Grundſtimmung: Ernſt aus Theil⸗
nahme an allem Geſchehen mit feiner Traurigkeit. Nur der vorgefchobene
Mund fcheint manchmal über eigene und allgemeine Menfchenthorheit be-
baglich lächeln zu können. Die Augen haben fehr viel Trübes gefehen.
Moores Romane verrathen mehr von feinem Entwidelungsgang. London
it in ihm am LXebendigften. Er hat jeden Reiz von London, ber nie trivialen,
felten heiteren, immer grandiofen — da8 deutſche „großartig" giebt nicht alle
Dbertöne — Stadt, in fi) aufgenommen. Paris übte auf ihn feine Reize
aus und im Yufammenleben mit der Boheme in Barbizon konnte er auch
bei Anderen als fich felbft fünftlerifches QTemperament beobachten. SYtalieı
ift ihm nicht fremd, Die ftärkten Schwingungen erregte Bayreuth in ihm.
Deutfchland fcheint ihm überhaupt viel gegeben zu haben, mehr als feine
eigene Kultur; Deutfchland war es wohl auch, das ihn die ber morbifchen
Völker vermittelte. Moores Weg war weit. Anregungen hat er viele und
mannichfach gewonnen; aber London und Irland find der Mutterboden, bei
deſſen Berührung ihm urfprünglichite Kraft zuftrömt. Die Technik feine-
George Moore. 185
Erzählung fteht auf ber Höhe der Turgeniew, Flaubert, Maupaflant; die Rede
weife feiner PBerfonen gewinnt oft Fontanes Herzlichkeit. Er bat von ben
Meiftern gelernt, abhängig ift er nicht von ihmen geworden. Er hat eigen
Gefehenes zu fagen und fagt e8 auf feine Weife. Ich habe auch — abge-
fehen vom Erſtling — bei feinem feiner Werke den Eindrud gehabt, daß
es ohne Borgänger nicht hätte entfliehen können. Wohl find aber zwei be-
deutende deutfche Erfcheinungen ohne feine beiden großen Romane undenkbar:
„Renate Fuchs“ trägt wefentliche Züge von „Evelyn Innes“ und „Das
tägliche Brot” enthält ganze Auftritte aus „Efther Waters”. Moores Dar:
ftellung felbft giebt ausnahmlos englifches und iriſches Weſen. Dabei ift
er nicht etwa Nationaljchriftfieller; er ift Dichter und giebt Menfchliches in
feiner Dürftigfeit und in feiner tragifchen Größe; aber er giebt es, wie es
fih äußert, wie e8 fich zu äußern gezwungen ift unter den befonderen Lebens⸗
verhältniffen Englands und Irlands. Er giebt immer den Menjchen und
die Tiefen des Menfchen. Charalteriftifh für ihn find die Beweggründe,
aus denen er, wie er in dem Widmungbrief feines neuften Novellenbanbes
The untilled field fagt, zwei Gefchichten wegläßt: They seemed to be
less deep rooted in the fundamental instincts of life than some of
the others. Des Lebens Grundtriebe erfchaut er klar umd tief, wie nur
einer unferer großen feftländifchen Pfychologen. Aber nicht nur die Fähig:
feit eindringlichfter Beobachtung ift ihm gegeben: mich dünft, er ift auch einer
der reichiten KHünftler. Der Ereignifie find bei ihm nicht viel, ihr Knäuel
it nicht fo romanhaft verworren, wie es der englifhe Geſchmack liebt, dem
hierin fogar Meredith und Hardy allzu willfährig find. Seine Handlung
beiteht, faft immer ohne Knalleffekte, Graßheiten und Ueberrafhungen, aus
alltäglichen Gefchehnifien. Wie fie Herr Jedermann, nur mit weniger tiefem
Erfaflen, durchmacht, die der Standesbeamte von Amtes wegen gleichgiltig
notirt, von denen fi aber feine Spuren in den Polizeiakten finden. Aber
bei Moore werden jie Menfchenerlebnig und daher Menfchenfchidjal. Sie
verlieren ihre Gleichgiltigkeit durch feine Kunſt.
Ein Hausmädchen auf der Stellungfuche ift trivial genug. Nicht aus
Menfchenliebe folgen wir der Heinen tapferen Eſther Waters auf ihrer Suche
mit der jelben angftvollen Spannung, die fie durch den zur Hochſommerzeit
entvölferten Weften Londons treibt. Wir wiffen, dag Hunderttaufende von
Mädchenmüttern von Stellenvermittlerin zu Stellenvermittlerin laufen, daß
wir eine Entfcheidung, ſchwerwiegend wie eine vom Reichsgericht, fällen, wenn
wir das demüthig ung überreichte Dienftbuh annehmen oder zurüdgeben,
eine Darf Monatslohn mehr bieten oder verweigern. Es ift Maflenlos,
das ſolches darbende Hausmädchen trifft und das fühl anzufehen wir uns
längft gewöhnten. Moore ruft ung nicht zum Mitleid; er ift kein beredter
186 Die Zukunft.
Agititor wie Björnfon, Tolftoi, der Hauptmann ber „Weber“. Er it ein
Schöpfer; er bildet aus Erlebnifien Menſchen. Jede Thür, die mit dröhnenden
Schall eine Hoffnung auf auskömmliche Stellung für Efther und ihr Kind ver:
nichtet, entwirft — wie Goethe das Wort ſchön geprägt hat — ihr Sein. Weil
Moore die Kraft befigt, uns erfühlen zu laflen, wie die unbedeutenbiten Er:
eigniffe in der Seele Furchen ziehen und hinwieder das Wefen des Menſchen
bie Erlebniſſe bewirkt, die an jie herantreten, wächft die Trivialität zur Tragil.
Die Kraft, da Ereigniß aus der Sphäre des Zufalles, des Unbe
deutenden herauszuheben und uns zum Glauben an feine allgewaltige Rott:
wendigkeit, der auch wir eingefügt find, zu zwingen, ift wohl das Zeichen
des Kunftwerles. Des idealiftifchen mie des naturaliffiichen. Der Unter:
fchied befteht nur in der Wahl der von ihnen dargeftellten Ereigniſſe. Zum
Erlebnig muß fie jede Kunftwerk und jeder Stil für ung geftaften.
Bei Moore wird Alles zum Erlebnif, die Landfchaft und das Kunf:
wert; feldft die fofjilen Dogmen erſtarrter Glaubensbelenntniffe treten wieder
flaffig in den Blutkreislauf feiner Menfchen. ch weiß nicht, ob Moore
Leſſings Laokoon Tennt; jedenfalls gelingt ihm, in Worten Landſchafien
wiederzugeben. Er fchildert fie nicht: er erzählt die Empfindungen feine
Menſchen vor ihnen. Er giebt das Entſtehen ihres Bildes im menfchlicen
Auge und die Bewegungen, die fie im feinem Herzen auslöfen. Aber er
läßt feine Menſchen nicht über diefe Gefühle reden: ihre Entſchlüſſe, ihre
Handlungen allein Sprechen von biefen Empfindungen. Schon der Novellen
band „Celibates“, der nicht nad allen Seiten Hin erfreulich‘ ift, weil hier
der Künftler noch nicht zu dem reiniten Geſchmack vorgebrungen war, wird von
diefer Fähigkeit durchleuchtet. Regentpark und die Wälder von Fontainebleon
und Barbizon jehen wir in den Augen Mildred Lawſons.
Zu dem Schönften, das Gabriele d’Annunzios von Schönheit truntene
Seele geichaffen, gehören feine Analyfen fremder Kunſtwerke, vor Allem
die Nachempfindungen der Mufitdramen Wagners in Trionfo della morte
und in Fuoco. Über mit welcher bezaubernden Sprachgemalt feine Be:
geifterung auch ihren Ausdruck fand: für die Erzählung find biefe Stellm
tote Punkte; das Kunftwert des Romans überladen fie häufig mit Prunl.
An überzeugender Wärme, Tiefe und Schönheit ftehen die Kunſtbetrachtungen
Moores namentlich in „Evelyn Innes* und „Mildred Lawſon“ nicht hinter
denen des Italieners zurück. Bei ihm jind fie aber nicht Ornamente, fon:
dern konſtruktive Träger, find ein Theil der Handlung. Wenn Evelyn [id
in Iſolde wandelt und die Bedeutung der Motive erfühlt, bie dem Liebes⸗
trank umfpielen, wird jie ihrer Sehnſucht nad dem Bezwinger ihrer Weib:
lichkeit gewahr: fie fpricht mit Ulid über Triftan. In der Muſik der Sprache,
mit der Moore das Paar umkleidet, hören wir feines Lebens innerften Rhyth⸗
George Moore. 187
mus, fühlen wir unfer eigenes Selbft, wie wenn Wagners fluthendes Töne-
meer an unſeres Seins innerfte Pforte heranraufchte.
Denn Moores Sprache ift Muſik. Sie ift wunderſam Iyrifche Melodie
in der Wiedergabe von Naturempfindungen, wandelt ſich zu reizvollen charakte⸗
riſirenden Rezitativen im Geſpräch und ſchrillt zum machtvollen Allegro,
wenn Leidenfchaft feine Menſchen in ihren Wirbel reißt. Hat Oskar Wilde
fich die englifche Sprache zum fchmiegfamften Inftrument für entzüidende Plaude⸗
rei gefchaffen, wie man fie nur im Idiom Mufjet möglich halten follte, fo
gab ihr Moore nie geahnten Slarg von Herzlichleit und ſuüßem Wohllaut.
Es ift nicht in unferer Sprade, was nicht vorher in unferen Em⸗
Pfindungen wäre. Wirklihe Höhe der Sprad: und Erzählungtechnik ift
immer das Ergebniß tieffier Aufnahmefähigkeit für künftlerifche Eindrüde.
Man kann fie nicht Anderen abfchauen, höchſtens die eigene im Vergleich
wit der Anderer fchärfen. Oberflächlich reden wir wohl von einer glänzenden
Made, aber die Anwendung diejes Wortes verräth eben, daß auch die größte,
Meiftern abgelaufchte äußere Gejchidlichkeit die innere Dürftigkeit bes Hand»
werkers nicht zu verdeden vermag. Das Gewand, das die Körperpracht des
Riefen nur hervorhob, nicht verhüllte, fchlottert um den Leib des Pygmäen;
am Ende ftolpert er ficher über das allzu lange Gewand, das er fich mit frecher
Hand anmaßte. Kunſt ift der gefteigerte Ausbrud eigenen Erlebend. Die Aus:
drüde lernt jeder Betriebfame; das Erlebniß giebt nur eigene Perfönlichkeit.
Eine Kunft der Erzählung wie die Moores hat Werthvolles zu bes
richten. Ein folder Erzähler hat tief ind Leben geblict; ihm verriethen die
Geſichtszuge der Menſchen die Scidfale, die fie bildeten. Er las ihren
Gefichtern die Fragen ab, die ihnen das Leben ftellte, die Antwort, bie fie
fanden, und was es fie Eoftete, diefe Antwort zu finden. Problemdichter ift
George Moore, mie jeder echte Dichter. Nicht in dem falfchen Sinn, den
tritifche Unzulänglicgkeit dem Wort angeheftet hat. Er ift weber Pädagoge,
der zu billigen Marktweisheiten Beifpiele erfänne, noch Agitator, der politifche
oder religiöfe Ideen der Menge durch förperliche Geftaltung faßlicher vor
Augen bringt. Zwar rüdt auch Moore die Probleme, die den beflen Theil
unſeres Lebens bilden, in unfere Sehmeite. Aber nicht, um für die Löfung,
die er etwa gefunden, Anhänger zu werben; wir erfahren auch faum mittel«
bar, wie er über fie dentt. Wir fühlen nur das Gewicht, womit lie feine
Menfchen belaften, wie fie an der Aufgabe wachſen oder, von ihr zu Boden
gedrückt, brechen. Bielleicht, weil die Frageſtellung falſch ift, vielleicht, weil
fie die Frage nicht richtig verftehen. Außerdem wird oft genug der Unterjchied
zwiichen des Dafeins Grundfragen, die die wirkende Natur ftumm in unferem
Blut ftellte, ftellt und ftellen wird, und die die Menfchheit, die fprechen ges
lernt Bat, nicht beantwortet, denen höchftens hier und da ein Einzelner wort:
188 Die Zukunft.
108 wiederum mit feinem Wirken, feinem Xeben, Genüge thut, und den
Bilderräthfeln verwifcht, die die Völfer nicht müde werden aus ihren jemeiligen
— feine Scheu vor der Tantologie! — Idolen fich zufammenzuftellen. Ihre
Macht erlifcht, fobald die Bedeutung einmal erlannt ift oder die Fdole unver⸗
fändlich geworden find. Kunftwerke, die ſich mit ihnen befchäftigen, werben
unausbleiblih zu Tendenzwerlen und verlieren zufammen mit ihnen ihren
Werth. Gutzkows, Spielhagens Romane, „Jena oder Sedan“.
Die Fragen bleiben; und die Menſchen, auf deren Antlitz wir leſen,
daß auch ſie, wie wir, von ihnen gequält werden, bis ſie dahingehen, wo es
entweder die Antwort oder auch nur die Ruhe giebt, verlieren nie unſere
Theilnahme. Und in den Menſchen Moores pocht und hämmert unermüd⸗
lich das Weshalb, Wozu, Wohin.
Dresden. Dr. Herman Facobfon.
&
In der Hölle.*)
SD: Böirliche Komoedie ift noch nicht ausgefpielt, wird niemals ausgejpielt
werden.
Heutzutage würde man die Hölle vielleicht anders barftellen; aber ben
Himmel? Dem ſcheinen wir ſeit Dantes Beiten nicht näher gekommen, ſondern
immer gleich fern geblieben zu fein. Woran liegt Das wohl? Sind wir Ber
urtheilte, die den Himmel niemals jchauen dürfen, außer in der Todesſtunde,
— die wir Tobesftunde nennen, weil wir nicht wilfen, was dann ift? Die Erde
iſt ein zweifelhafter Aufenthaltsort, denn fie ift auf lauter Angft aufgebaut, auf
gegenſeitiges Bertilgen der Individuen, zur Erhaltung bes Leibes, der bei Allen
gleidermaßen früher oder fpäter dem vollfommenen Verfall, dem Uebergehen in
ihm ganz ungleiche Stoffe beitimmt ijt. Und diejes Erhalten des Leibes erfcheint
allen Erdenbewohnern von fo ungeheurer Wichtigkeit, daß fie fich nicht ſcheuen,
die größten Grauſamkeiten an Ihresgleichen zu begehen, nur um ihren Leib zu
erhalten. Und doc iſt es eben der Leib, der alle jogenannte „Sünde“ enthält
oder zu Dem, was wir Sünde nennen, verleitet. Auch Krankheiten find nur
Sade des Leibes; denn was man früher irrthümlich. Geiftesfranfheit nannte,
erweift ſich heute als Gehirnkrankheit, als eine Störung der Verkehrsmittel
zwilden dem Kranken und der Außenwelt, feineswegs aber ald eine Xrübung
der Seele, die fi unjerer Beobachtung in ben meiften Fällen, bier aber gänzlich,
entzieht. Alle Berfuchungen, die das Veben verdunfeln, alles Leib, das yner:
träglich werben kann, hängt mehr mit dem Körper zufammen als mit Dem, was
wir Seele nennen.
Der Tod ift körperlich; denn wir wiflen durchaus nicht, ob die Seele
*) Der Wunſch, diefe Gedanken und Phantafien der gefrönten Verfajlerin,
die in einer jüddeutichen Zeitung veröffentlicht wurden, auch anderen Europäern
zugänglich gemacht zu jehen, wird bier gern erfüllt.
In der Hölle. 189
vom Tode erreichbar iſt. Daß Krankſein körperlich ift, beweiſen ums bie un«
zähligen Geiſteshelden, die, mit einem elenden Körper ausgeſtattet, wahre Meiſter⸗
werfe geliefert und den Spruch Mens sana in corpore sano fchon lange wider-
legt haben. Wir haben im Gegentheil oft die Erfahrung gemacht: je geringer an
Kraft und Schönheit der Körper, um fo beller leuchtet der Geiſt. Abgeklärt jteht
er da und befiegt die ſchwächliche Hülle wie ein Trtumphator feine Feinde. Biele
wollten fogar in der vollftändigen Abtötung des Fleiſches das Heil jeden und
find bamit auf neue Irrwege gerathen; denn fie Hatten das nothwendigſte In⸗
ftrument willfürlich zerftört und madten es unfähig zu rechter Leiftung. |
Die fchwerften Verſuchungen entipringen dem Körper, die ſchwerſten Ver⸗
breden Tommen daher, daß man dem Körper zu viel Gewalt einräumt, daß
man fi an jeinem eigenen Blute berauſcht. Darum ift auch fein Menſch ganz
fiher davor, ein Berbreden zu begehen, — weil ihm fein eigenes Blut einen
Streich ſpielen kann. Der Hunger, der Born find zwei Dinge, die den Körper
willenlos maden und den unglüdlichen Menfchen den furdhtbarften Qualen preis»
geben. Wäre der Körper immer in unferer Gewalt, jo würden wir nicht bis '
zum Verbrechen fommen, felbft wenn die Gedanken böje wären; oft aber führt
eine einzige Blutwelle das Unglüd herbei.
Nun möchte man auch beftändig fragen, warum die Erde fo eingerichtet
ift, warum wir einen jo ganz beſtimmten und deutlichen Begriff von Gut und
Bdje Haben oder zu haben glauben. Denn aud Gut und Böſe ift Sache des
Klimas und der Rafje; Seinesgleichen zu verzehren, ift in gewiflen Zonen ein
Menſchenrecht; und ein Mädchen rühmt fih der vielen Gatten, deren Zahl es
an einer gelnüpften Schnur um den Hals trägt. Warum ed MWejen giebt, die
wir mit vollem Recht „Wilde” nennen zu dürfen glauben, während wir uns
bereit3 für civilifirt Halten und nicht denken, daß vollfommenere Geſchöpfe ung
wahrjcheinlih mit Grauen für „Halbwilde“ anjehen würden, die einander tote
ſchlagen und totſchießen, ja, alljägrlich immer graufigere Mordwaffen erfinden
und Den belohnen, der jein Ebenbild am Beſten totſchießen fann.
Sit e8 nicht ein Meer von Räthſeln, in dem wir uns bewegen?.. Nun
fommt es uns öfters jo vor, als feien wir einfach Verurtheilte: zu einer Art
Gefangenschaft, zu unerhörten Verſuchungen, denen wir, unjerem Weſen nad),
faum entrinnen fönnen, und zu einem ficheren, oft qualvollen Tode. Darum
drängt fih mandmal die Frage auf, ob die Erde nicht am Ende wirklich ein
Ort der Strafe, eine der vielen Höllen iſt, deren Bezirke Dante ſo wunderbar
eintheilte; wohl mit Recht hielt er die eiſigen Gegenden für die fürchterlichſten.
Unſere Erde iſt noch lange nicht eine der denkbar ſchlimmſten Höllen;
denn wir haben noch Sonnenlicht, wenigftens ein mäßiges, uns angemeflenes;
eins, dem wir angemeflen find, follten wir lieber fagen. Wir haben noch Grün
und liebliche Gegenden, — oder was uns als lieblich erjcheint, da unfere Augen
dafür gefchaffen find. Aber wozu all die unbegreifliden Geſchöpfe, die ung Ents
fegen einflößen? Wozu all die Krankheiten, deren Zahl fo groß iſt, daß fie die
Wiſſenſchaft in Hunderten von Jahren noch nicht annäheınd ergründet haben
wird? Wozu? Dit ed nicht oft, als jollten wir ein Verbrechen büßen, deſſen
Begehung man uns aus Gnade und Barmherzigkeit verhüllt? Denn wüßten
wir, wer wir find, jo könnten wir nicht mehr zujammenleben, jo würde das
190 Die Zukunft.
Kind in der Wiege jchon verurtheilt umd der Weg zum Heil ihm dur das allge
meine Uebelmollen abgejchnitten, das feine Fremdheit und jeine lieblidde Elein⸗
heit ihm gewähren.
Die Einen find vielleicht Berbredder, bie man erlöjen oder denen man
wenigftens die Möglichkeit geben will, höher zu fteigen und fich zu vervolllommnen;
die Anderen find vielleicht Engel des Lichtes, die fich willfürlih für eine Zeit
auf die Erde verbannen lafjen, in der Hoffnung, den Brüdern zu helfen unb
Einigen den Weg zu zeigen, hinaus, fort aus diefer Hölle.
j Warum der GSelbftmord fo verpönt ift und von ber felben menjchlichen
Geſellſchaft jo bitter gerügt, an den Nachkommen nocd gerät wird, während
dieſe menſchliche Geſellſchaft allein daran die Schuld trägt — denn rechtzeitige
Hilfe hätte dieſes Aeußerſte oft verhindert —: Das willen wir wiederum nidht.
Haben wir die Empfindung, daß wir die Zeit der Strafe nicht abfürzen dürfen
und dann wieder anfangen oder noch ſchwerer geftraft werden müflen, um zu
erreichen, was wir erreichen ſollen? Wer jagt es uns?
Wir taften umber, wie die Thiere der tiefen Höhlen, die feine Augen
haben, weil fie feiner Augen bedürfen. Wir haben überall dichte Nebel vor
und Warum, da wir do bie Sehnfucht haben, die Schleier zu läften und
klar zu jehen? Unjer ganzes Streben ift nur auf Licht und Klarheit gerichtet
und Jeder, der einen Strahl erfindet, wird von uns gepriefen, wie Prometheus,
der den Menfchen das euer bradte und dafür in ewiger Qual ſchmachtete.
Warum jchmachtete er denn in ewiger Dual? Hatten die Menſchen das Gefühl,
daß fie des Feuers nicht werth feien und daß das Licht nur das Attribut eines
Gottes ſei? Aber die Erde bat fi doc nad unferen Begriffen vervollfommnet.
Im Grunde willen wir auch davon nichts und jede Entdedung wirft eigenthüm—
lie Streiflichter auf vergangene Civilifationen. Dabei ift der Willensbrang ung
in die Seele gepflanzt, ein brennendes Streben nad Bervolllonmnung, die
Mande in äußeren Glüdsgütern, Andere in gänzlidher Abtötung aller irdijchen
Begierde ſuchen.
Und dabei urtheilen wir hart über einander und find doch Alle in der
jelben Gefangenſchaft, Alle zu gleihem Tode verurtheilt, nur zu verfchiebenen
Todesarten, die aber wiederum gar nicht unferen Thaten angemefjen erſcheinen.
Denn Die gerade, die wir für unfchuldig halten, find oft Märtyrer; und Alle,
die wir zum Tode verurtheilen, haben einen viel leichteren Tod als bie Freb3-
kranken und Herzleidenden. Die Angft, die ein Herzleidender tauſendmal durch⸗
macht, hat der zum Tode Berurtheilte nur einmal; und doch widerfteht e$ uns,
Einen zum Tode zu verurtheilen, derin uns Tagt ber richtige Snftinft, daß wir
eine Strafe auferlegen, deren Ende wir nicht fernen. Wir verkürzen die Höllens
zeit, die der unglückliche Menſch vielleicht auf der Erde durchmachen jollte, um
erlöft zu werden, und die er nun noch einmal beginnen muß. Was willen wir
davon? Für uns bleibt dunkel, was hinter dem Schweigen des Toten fteht; er
fagt es ung nicht, und wenn er verfucht, es und mitzutbeilen, fo fürchten wir
und und Baltens für eigene Hirngefpinnfte oder lachen gar darüber. Aber wer
fagt denn, daß wir gar nicht mit den Toten verkehren dürfen? Vielleicht wird
eine Zeit fommen, mo folder Berker natürlich erfcheinen wird — Telegraphie
mit dem Jenſeits — und wo uns bie Augen über viele Dinge aufgehen werben,
die wir Beute in unferer grenzenlofen Unwiſſenheit hochmüthig zu belächeln wagen.
In der Hölle. 191
Die Entdedungen unferes Jahrhunderts follten uns lehren, wie viel wir
noch zu entdeden haben. Denn Alles, was unjere Kindheit als Märchen ver:
Schönte, tit heute Wirklichkeit; und wir müſſen viel merkwürdigere Dinge er-
finden als Schlöfler, die von ſelbſt hell werden, al8 Spiegel, in denen wir
fehen können, was unfere Lieben machen, ald Apparate, durch die man aus
weiter Ferne fpricht, wie wenn man nah wäre, oder als Wagen, die von felbft
fahren, Lufticiffe und Aehnliches. Das Alles haben wir und arbeiten raftlos
fort: wir leuchten in die Körper und in bie Wohnungen hinein, und wenn ein
Leuchtkörper eben entbedt ift, jo kommt ſchon wieder etwas viel Helleres.
Raun es jo weiter gehen? Werden wir alle Wunder unferer Erde ergründen
oder follen wir plögli wieder in Nacht verfinfen und von vorn anfangen?
Dabei werben bie Lebensbedingungen täglich ichwerer zu erfüllen; die
Zahl ber Arbeitpläge ſchrumpft zufammen; Geldgier, Habgier, Glanzgier nehmen
immer beängftigendere Tyormen an. Und endlich fommt man auf den Gedanken,
daß man in äußerfter Einfachheit gefunder und glüdlicher lebt als in dem Prunk,
der das Leben belaftet und dem Geiſt die Fittige lähmt. Und dann werden
wir wieder einfach; aber dann leidet die Induſtrie, die von ber Prunkſucht lebt.
Wiſſen wir, was wir ſollen?
Einzelne Dinge ſind uns ganz klar und deutlich. Daß wir unſeren
Nächſten helfen ſollen. Daß wir ihn lieben ſollen. Das haben wir wenigſtens mit
den Lippen gelernt; von dem Meiſter, den wir göttlich nennen, weil uns etwas
ſo Bollkommenes nur außerirdiſch, alſo göttlich, erſcheinen kann. Denn wir
ſind von dem Entſetzen und Schrecken losgekommen, den die Gottheit kindlichen
Volkern einflößte. Warum? Wir haben die Milde der Gottheit erkennen und
fafjen gelernt. Wodurch? Furchtbare Strafen jehen wir mit eigenen Augen
über ganze Gefchlechter, über ganze Völfer und Völkerfamilien bereinbrechen;
oder was wir für Strafen halten. Denn bei mandem Unglüd jagen mir:
„Jene find Gottes Kinder, dein fie find beſonders ſchwer geprüft.“ Und bei
anderem wieder jagen wir: „Gottes Gerechtigkeit offenbart ſich in den furchtbaren
Strafen, die er über die Sünder verhängt!" Sind wir zu diefem Urtheil be
rehtigt? Und in weldem Fall urthetlen wir richtig? .. Wir fprechen von
Ueberzeugungen, al ob wir Heberzeugungen Haben könnten oder dürften!
Ich glaube an ein ewiges Leben, an ewige Gerechtigkeit, an eine Yort-
entwidelung von einer Erxiftenz in die andere... Mein freund lat mich aus
und fagt, unfer ganzes Neben ſei werthlos und zufällig, und es gelingt mir
nicht, ihn von meinen Gedanken auch nur ben Eleinften Theil für Wahrheit hin-
nehmen zu laflen, obgleich mir ſehr am Herzen liegt, ihn zu überzeugen, da ich
glaube, mit meiner Ueberzeugung glüdlicher zu fein und mehr ertragen und
erreichen zu können.
Das Wort Ueberzeugung ift jonderbar in unferem Mund, jo jonberbar,
al3 wollte der Maulwurf von der Exiſtenz der Sterne überzeugt fein, die er
doch niemals gejehen bat. Iſt Meberzeugung nicht vielleicht ein einfaches Gnaden⸗
geichent? Nicht ſchon eine erite Erleichterung der Strafzeit, die wir in ber
Erdenhölle erbulden müſſen? Allen, die auf Erlöfung warten, iſt vielleicht bieje
Ahnung ins Herz gelenkt worden, ohne das geringfte Yuthun von ihrer Seite;
und Anderen tft die Strafe durch Unglauben erjchwert.
142 | Die Zutunft.
Bielleiht gehen Einige mit einem ſicheren Willen über bie Erbe oder
haben nicht vergeflen, daß fie aus dem Licht gefommen find, wie die Gralgritter;
bie fogenannten Engel mögen nichts Anderes fein. „Zu gut für diefe Welt”
ift eine allgemein giltige, populäre Nebensart, die man Jedem nachruft, ber
für unjer Gefühl zu früh die Erde verließ. Unb warum weinen wir dann und
fagen: „Sie haben das Leben nicht genoſſen“? Wenn fie zu gut für diefe Welt
waren: welden Genuß konnte ihnen dann wohl die Erde bieten? Wir follten
Gott danken, daß er fie mitleidig der Erdenqual entriffen hat, bevor ihre Leidens⸗
zeit anfing. Vielleicht jollen diefe Wejen an uns vorüberjchweben, um uns bie
Gewißheit zu geben, daß fie aus dem Licht kamen, ins Licht zurüd!chren und
auf der Erde nur zu kurzer Raſt meilten, um uns noch einmal glauben umd
boffen zu lehren. Daß die vollflommenften Weſen oft jo jung fterben, dürfte und
auf den Gedanken bringen, baß die Erde eine Prüfunganftalt ift, aus der man be
freit wird, fobald man gelernt bat, was man lernen follte. In feinem herrlich
ften Bud, den Vollgerzählungen, jagt Tolftoi etwas Aehnliches. Die Erbe
fann ihren Lebensbedingungen nach unmöglich viel angenehiner werden, als fie
jest ift, wohl aber viel unangenehmer, viel qualvoller; fie braucht nur ein ganz
Hein Wenig zu erfalten, fo wird das Weilen auf ihr für unfer Gefühl uner-
träglid. Alle Thiere find behaart oder befiedert, der Menſch allein iſt nadt
und muß unzählige Thiere töten, um ſich zu kleiden. Das ſchon madt die Erbe
den Menjchen viel unbequemer als den Thieren und erniedrigt fie zu Naub-
thieren, die der Anderen Leben nehmen müſſen, um leben zu fönnen.
Wo feine Früchte wachen, wäre es ſchwer, indiſche Ufleie zu üben, ohne
bald zu verhungern. Warum leben denn Menſchen in folden Gegenden und
_ warum verlafjen fie diefe Orte nur in ganz feltenen Füllen, meift nur nad
großen Raſſenverſchiebungen? Jeder glaubt fi zu dem Ort verurtbeilt, wo
er zufällig geboren ward. Uns Allen gehts ungefähr wie den nad Sibirien
Verſchickten, von denen Einige in ein weicheres Klima geſandt werden, Andere
in ewiges Eis und ewige fetten. Und Die wiſſen meift auch nicht, warum.
Das große „Warum“ des Lebens verfolgt uns auf Schritt und Tritt.
Warum all das Leben überhaupt? Warum das Gedräng von Lebeweſen, bie
nicht zugleich auf dem winzigen Planeten verweilen fönnen, alfo fterben müflen?
Und warum ift uns der Tb dennod fo furchtbar und jo beklagenswerth? Weil
wir ihn nicht verftehen. Verftünden wir ihn, fo gäbe e8 vielleicht feine Thränen
mehr. Die Brüdergemeinde hat es dahin gebracht, Feine Trauer zu tragen und
den Thränen zu wehren. Logiſch denken nur die Menſchen, bie fagen: Da bie
Erbe ein Ort des Jammers und Leidens ift, jo wäre es Unrecht, um Den zu
Hagen, der abgerufen wird und die Erde verlaffen darf. Andere ftaunen, wie
e3 möglich jet, daß wir ung um fo viel höher dünfen als einen Wurm, den ber
Gärtner bei jedem Spatenfti in Stüde jchneidet und den Niemand fragt, ob
er dabei leidet und wie groß jeine Schmerzen find.
Das Einzige, was und von der Thierwelt, der uns noch immer uner«
gründlich fremden, unterjcheidet, ift dag jeeliiche Leid, dejlen Opfer wir find,
das ung in unjeren Augen erhebt und werth ericheinnen läßt, fortzuleben. Denn
von einem Schlemmer und Lebemann mag man fchwer glauben, er könne würdig
befunden werben, feine Erxiftenz fortzufegen. Warum? Willen wir, ob er Deflen
Syndikat und Syndikat. 193
fo unwerth ift, wie wir glauben, nur, weil er mehr Freude am Leben bat als
wir, die Leibenden? Er ift in unjeren Mugen eine ſolche Ausnahme, dab wir
nit zu glauben vermögen, er lönne nad dem Tode das felbe Los haben wie
wir, die zum Leiden Geborenen.
Unfere Begriffe von Allem find fo unglaublich beſchränkt und verworren,
daß wir geradezu kindiſch verwegen in unjeren Urtheilen und Muthmaßungen
find und der einzige Maßſtab höherer Bildung wohl da zu finden ift, wo über
nichts mehr geurtheilt, über Steinen der Stab gebrochen und, ohne Ucjelzuden,
in tieffter Beicheidenhett gejagt wird: „Vielleicht!“
Segenhaus. Carmen Sylva.
tt!
Syndifat und Syndikat.
; 3b Silben, mit denen auch die lebendigfte Einbildungskraft nicht® anzufangen
weiß und deren Wohlklang nicht gerade beraufchend ift: und dennoch fchlägt
das Fremdwort die Geifter immer wieder in feinen Bann. Syndilat! Syndikat!
Syndikat! Die Börfe Hat in Seligleiten geſchwelgt. Kohlenwerthe ſchnellten empor
Denn da war das neue Kohlenfyndifat mit Thyffen und Haniel als Hauptgeftalten.
Hütten- und Stahlwerfaktien fanden die Kletterluft der Jugend wieder. Denn da
war das neue Roheiſenſyndikat und das zur Ausführung reif gewordene Projeft
eines deutſchen Stahlſyndikates. lektrizitätpapiere fehienen förmlich Funken zu
fprühen. Denn ba war der Plan eines Syndikates mit Amerifa. Im Gebiete
der Turbanwerthe bot jeder neue Tag ein neues Lockbild. Da war das ottomanifche
Syndikat, die deutfch-franzöfifche Alliance für Zürlenlofe und Bagdadbahn. Lloyd
und Padetfahrt feierten die Berleimung des Riffes im Syndikatsverhältniß der trans-
atlantifchen Linien. Sübdafrifanifche Minenwerthe nahmen einen Anlauf, vergeblich
zwar, aber fühn. Da war das Eyndikat der Synbdilate: London, Berlin, Paris.
In einem der originellen Berichte, die Fouchoͤ, der commis voyageur der Jakobiner⸗
revolution, 1793 von- der Provinz aus an den parifer Wohlfahrtausſchuß fandte,
ſchrieb er Höhnifh, die Verachtung des Ueberfluſſes fei in der Bevölkerung fo ge-
wachſen, daß der Befitende ſich faſt ſchon gebrandmarft fühle. Wie unter der Schreckens⸗
herrſchaft der phrygifchen Mitte der me&pris pour le superflu, fo graffirt heute,
wo dem von der Hochfinanz und dem induftriellen Großbetrieb aufgepflanzten Geßler-
hut Neverenz erwiefen werden muß, die Verachtung felbftändiger Eriftenz. Wehe
Jedem, der noch auf eigenen Füßen fteht! Synbizire Dich, Vogel, oder ftirb!
Kein Unbefangener kann leugnen, daß die Synbilate, namentlich auf induftriellem
Gebiet, Nützliches geleitet haben. Diefe unbeftreitbare Thatfache erklärt, warum
feit Jahr und Tag felbit in der „demokratiſchen“ Preffe, die lange ohme wilde
Schimpfereien auf alles Syndikatliche nicht leben zu können ſchien, von den Syndikaten
in einem glimpflicheren Ton gefprodhen wird. Bon Fehl und Schuld völlig frä
waren die großen Induftrie-Syndilate in ihrer bisherigen Laufbahn natürlich eben
fo wenig wie irgend eine andere menſchliche Einrichtung, zumal eine, die erft taftend
ihren Weg zu finden bat. So find uns, zum Beifpiel, die Syndilate nod) den
Beweis ſchuldig, daß fie, wie fie fih anfangs laut nachrühmen ließen, jede weſent⸗
194 Die Zuhmft.
fiche Lieberproduftion unter allen Umſtänden zu vermeiden wiſſen. Im Ganzen
aber haben die wichtigften Syndilate während der letten zehn Jahre ihre Eriflen.
berechtigung fo unzweideutig bewiefen, daß fie wenigſtens leidenfchaftlofe Beurtheilung,
wenn ſchon nicht rüdhaltlofes Lob verlangen können. Was viele Doltrinare des
Liberalismus noch vor einem Kahrzehnt nicht in den Mund nehmen konnten, ohue
Gift und Galle zu fpeien, Hat fich als genießbar erwiefen. Die neue Wirtbichaft
form bat fi) aus eigener Kraft, nicht etwa nur durch rohe Gewalt, die ihre Mittel
ihr erlaubten, eine Stellung erobert, aus der fie nie wieder verdrängt werden fann,
— mindeftens fo lange nicht, bis eine noch modernere, noch befier entwidelte Schöpfung
ihr den Plat mit dem felben Recht ftreitig macht, das ihr an die Stelle älterer Formen
verhalf. Für heute wäre es zu umftändlich, all die Momente aufzuzählen, aus denen jelbk
bei den anfangs Widerftrebenden fchließlich der Refpelt vor dem Syndikatsgedanken
entftanden ift; bier genügt einftweilen der Hinweis, daß diefe mühjam abgerungene
Anerfennung einen theoretifgen, nicht nur einen praftifchen Fortſchritt bebeutet.
Als folden hat ihn die Wiffenfchaft durch das zuftimmende Votum der zmeifelles
klügſten ihrer Lehrer beftätigt. Diefe Errungenfchaft ift nicht gering zu ſchätzen; fie gab
den Hauptinterejienten der Induftrie, die mit dem Syndilatsgedanlen fiehen und
fallen, die Möglichkeit, in das zweite Stadium einzutreten, das vom Syndikatsweſen
durchzumachen fein wird. Die ftaatlihen Faktoren nicht minder als das Bürger⸗
thum haben diefen Mebergang mit wohlwollender Theilnahme begleitet. Ein Hinder⸗
niß wurde ihm nicht einmal von den Ertremften in den Weg gelegt. Die Bor
fämpfer der Syndilate waren vor jedem gefährlichen Angriff von außen ſicher, ficher
auch, daß die Verbündeten Regirungen nie und nimmer einen Zollvertrag Tchließen
würden, der das Glüd der Landwirthe höher ftellt al8 das Wohl unferer großen
Induſtrien: und jo konnten fie ruhig an die Bewältigung der Aufgabe gehen, auf er
weiterter und verbejjerter Grundlage die vor Fahren gefchaffenen Formationen umzu⸗
geftalten. Diefe Umgeftaltung, die zum Theil fchon vollendet ift, zum Theil der Bollendung
entgegengehbt, führt die Syndikate aus dem Kindes: und Jünglings- in das Mannes-
alter. Diefe Entwidelung feftjuftellen, ift wichtig, Bor Kindern und audh vor
Fünglingen noch braudt man ſich nicht zu fürchten, wenn man feine Ueberlegen-
heit wahrzunehmen verfteht. Anders vor Männern, die man im Befig ftarler Waffen
weiß. Die Syndilate, die im Lauf dieies Jahres ans Licht famen, haben die Harm-
fofigfeit abgelegt. War der blinde Tadel, der daS ganze Syndifatswefen von manchen
Seiten Iraf, vor Jahren ungerecht zu nennen: in gar nicht fo ferner Zulunft mag
er plötzlich berechtigt werden. Der Egoismus der Syndifate wird fi, wie man
fürhten muß, von nun an in fchärferer Ausprägung und bäßlicherer Geftalt zeigen.
Die Beit des langjamen Reifens ift vorbei; jetzt wird die Sucht, ſich zu fättigen,
alle Lebensprozeſſe beherrichen. Die Empfindung, daß es nad Ablauf der neuen
Syndilatverträge — Das heißt, um bei unferem Bilde zu bleiben, an der Schwelle
vom Mannes» zum Greifenalter — in der Welt ganz anders ausfehen kann als
beute, wird die Syndikate antreiden, fidh fett zu mäſten, ohne jede Rückſicht, ohne
aede Berfehämtheit. Nach uns die Gintfluth, werden fie vielleicht denten. Soldher
Uebermuth könnte aber Konflikte heraufbeſchwören, deren Ausgang den Eyndilaten
und den Dividenden der Aktionäre fyndizirter IInternehmungen nicht gerade günftig
zu fein braudte. Der Börfe darf man freilich nicht zumuthen, fie folle fich bei
ihrer Kursbeftimmung von folden Zufunftbildern leiten laffen, während die neuen
2
Syndikat und Syndikat. 195
Syndikate eben erſt gebildet werden. Den Banken aber, die gleich nach ber Rück⸗
kehr des Publitums aus den Sommerfriften eine allgemeine Hauffe vorzubereiten
begannen, um noch rechtzeitig vor Jahresſchluß ihre ſchwerbepackten Effektenporte⸗
feuilles zu entlaften, ſchweben diefe Möglichkeiten ficher fchon vor. Ehe fie Wirklich-
keit werden, wird freilich noch fehr viel Waffer die Spree hinunterfließen. Dem
Publikum aber, das heute ſchon mit füfternem Auge aus der Herbfihauffe von 1908
eine neue Hoc-, Höher- und Höchſtkonjunktur für 1904 ober fpäteftens 1905 ber.
vorwachſen fteht, wird wahrfcheinlich wieder gerade um einen Tag zu fpät die rich⸗
tige Erfenntniß aufdämmern, obwohl e8 früh genug gewarnt worden ift und aus
mander üblen Erfahrung Vorſicht gelernt haben könnte.
WVorläufig läßt man den lieben Gott einen guten Dann fein. Das alte
Spiel mit geborgtem Gelbe, das hübfche Spieldhen, das fi im September vom
Montanmarkt aus über das ganze Feld der berliner Börfe verbreitete und nicht
nur das franfe Wien, fondern auch das reiche Paris und das gewaltige Fondon
neidifeh auf das röthliche Haus in der Burgitraße bliden läßt, wird fortgefetst und,
weil die Banken dazu animiren, nicht jo raſch aufhören. Paufen werden natürlich
von Zeit zu Zeit eintreten; auch die jchlechtefte Verdauung macht manchmal ja ihre
Rechte geltend. Die Banken triumphiren. m ihren fühnften Träumen hatten fie
nicht erwartet, daß ihnen das Publikum ſchon drei kurze Jahre nach der großen
Kataftrophe die Effekten, mit denen fie damals den Anfchluß verfäumten, in Mengen
und zu Kurſen abnehmen würde, deren Abftand von den Rekords des erften Duar-
tals 1900 vielfach nur noch mit der Lupe wahrzunehmen ift. Wer heute noch daran
benft, zu welchen beträchtlichen Abjchreibungen auf ihre Effeltenbeflände die Banken
fih nach dem Krach entfchließen mußten, kann ermeffen, mit weldem guten Recht
ſich jett die Herren Direktoren in der Behrenftraße, zumal die -etwas öftlicher
domizilnten, vor Freude die Hände reiben. ALS ein Äußeres Merkmal der guten
Wochen, die ihnen der Herbft fchon gebracht hat, kann ja auch die Smartheit gelten,
womit einzelne von ihnen ſich kopfüber in das Minenfyndilat geflürzt haben. Bon
diefem famofen Syndilat — unter Führung der londoner Firma Wernher, Beit & Co.
— if laut in die Welt hinauspofaunt worden, daß es fi hauptfächli mit dem
Anlauf preismürdiger Kaffernfhares zu den ſtark herabgeminderten Kurfen der legten
Beit befajjen wolle. Ein Käufer, der allen irgendivie erreichbaren Leuten in die
Ohren biäft, daß er billig kaufen will, ift jedenfalls eine Scehensmwürbigkeit. Daß
Wernher, Beit und ihre londoner Konjorten das deutfche Geld zur Stüßung des
fonpromittirten Diinenmarftes fehr gut brauchen lönnen, bedarf nad) Allem, was
man in diefem Jahr von London zu jehen bekam, nicht erft der Belräftigung. Die
Eilfertigfeit aber, womit einzelne deutſche Banldirektoren in bie gnädige Nehmer-
band, die ihnen der Feine Chef der großen Cityfirma entgegenftrecte, eingeichlagen
haben, erinnert bedenklich an den Leichtfinn des glüdlichen Spielers, der aus dem
Bollen fchöpft. Sch will diefen Banken feine mala fides vorwerfen. Aber wenn
ih mir das Dlinenfyndilat betrachte und an die Geneſis der deutjchen Betheiligung
dente, fommt mir das Delift in den Sinn, das die Rechtswiſſenſchaft mit dem
Ausdrud crimen syndicatus bezeichnet: Verletzung der richterlichen Amtspflicht
zu Gunften einer Partei, rein aus Freundichaft, aus Gefälligleit. Sch weiß augen-
blidtfich nicht, wie Hoch es beflraft wird... Das ift natürlich nur eine Analogie.
Dis,
8
196 Die Zukunft.
Selbitanzeigen.
Nutheniſche Revue. Halbmonatsichrift. Verlag der Rutheniſchen Hevne,
Wien I, Dominifanerbaftei.
Wer genau binfieht, findet, daß aud in dem nationalen Empfinden ber
Völker die Wellenbewegung herrſcht. Nach Zeiten Starken nationalen Empfin-
dens kommt die Zeit des gemäßigten Nationalgefühles und wieberum nach ber
Periode nationaler Qethargie die Epoche eines ſtarken völkiicden Streben. Währens
in Frankreich ber Nationalismus im Schwinben ift, in Deutſchland drei Millionen
Wähler den Vertretern des Internationalismus ihre Stimme geben, in dem
geeinigten Italien die rredenta immer engere Kreile umfaßt, führen die Blamen,
die graubündner Rhäto Romanen, die Bulgaren, Bolen, Letten, Finen, Gror⸗
ter, Armenier, Katalonier u. |. w. Immer fchärfer den Kampf um ihre um
gehemmte nationale Entwickelung. Da meldet fih nun aud ein Bolt, das Jahr⸗
hunderte hindurch gefchwiegen hat und deſſen Eriftenz von Europa fait vergefien
wurde, trogdem es noch heute fünfundzwanzig Millionen ftark tft, feine eigene
Sprade, eigene Geſchichte, Kultur und Sitten befigt. Es find die Rutgenen, für
die der europäiſche Sprachgebraud (auch in der Willenichaft) den von Katharina
ber Zweiten als offiziell angeorbneten Namen „Kleinruflen” angenommen bat.
Was bie Zarin mit diefer Maßregel angeftrebt Hat, ift auch erreicht worden:
man hält die „Kleinruſſen“ für einen Zweigftamm der Großruffen, hat vergeflem,
baß diefes „ſeleinrußland“ bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ein
felbftänbiges Reich und der biftorifche Träger bes Namens Ruſſia oder Ruthenis
war, während bie Baren bis zu Peter dem Großen fich als Herrſcher des mo&
kowitiſchen Neiches bezeichneten. Was Katharina begonnen, haben die nad.
folgenden Baren fortgefeßt; und heute kann man mit Nedt jagen, daß bie
Ruthenen das bedrüdtefte Volk Europas find. Mit dem Ukas vom fünften Juli
1876 wurde ber rutheniſchen Sprahe — und die Sprade iſt ber Lebensnerv
jeder Nation — der Todesftreich verſetzt. Dieſer Ukas lautet: „Der Kaiſer und
Gebieter gerubte, allergnädigft zu befehlen: I. Die Einfuhr in die Grenzen der
Monardie — ohne fpezielle Bewilligung der Oberpreßbehörde — jeder Art der im
Ausland herausgegebenen ruthenifchen Druckſchriften iſt zu unterfagen. II. Inner⸗
balb der Monarchie ift das Druden und Herausgeben von Originalwerten und
Ueberjegungen in biefer Sprache au verbieten, mit Ausnahme: a) von hiſtori⸗
fen Dokumenten, b) von Werken aus dem Bereich der fchönen Literatur, umter
der Bedingung aber, daß bei Veröffentlihung der Hiftorifhen Dokumente die
Orthographie des Originales, bei belletriftifchen Werfen ausſchließlich die ruffifche
Nechtichreibung angewendet wird, dab ferner die Bewilligung des Drudens dieſer
rutheniſchen Bücher nicht anders als nur nad Prüfung der Handichrift von .
Oberpreßbehörbe erteilt wird. IIL Eben fo find Bühnenvorftellungen jeber 2.
und Vorträge in der rutheniihen Sprade, ferner die Drudlegung rutheniſch
Texte in Mufilnoten zu verbieten.” Dieſer Ukas ift heute noch in Kraft; um
fo fommt es, daß die mindeftens zwanzig Millionen Ruthenen im Zarenreich Feiı
Literatur, nicht einmal eine Zeitung in ihrer Sprache befigen. Die rutheniſch
Literatur wird num von den in Oeſterreich (Galizien) lebenden Ruthenen gepfleg.
die eine Neihe bedeutender Zeitungen und Revuen befiten. Der Kampf, db
Selbftanzeigen. .197
die öſterreichiſchen Ruthenen gegen die fhlacdhzizifhen Machthaber in Galizien
führen, ijt in den leßten Jahren wohl auch im Auslande bemerkt worden. Was
aber nicht allgemein befannt fein dürfte, ift, daß fie das einzige deutſchfreund⸗
liche jlavifche Volk find. In Rußland von den Ruſſen, in Galizien von den
polnifhen Shlachzizen bedrüdt, find fie von dem Gedanken der „allſlaviſchen
Brüderlichkeit” gründlich geheilt. Das gilt für die ruffifchen wie für die dfter-
reichiſchen Ruthenen. In Rußland ift — nad freier Wahl — an den Mittel⸗
ſchulen die deutjche oder frangdfiiche Sprache obligatorifh. Während man nun
an den Univerfitäten in Paris, Genf und Laufanne faft ausfchliegli Studenten ’
aus Nordrußland antrifft, find an den deutichen Univerfitäten und in Zürich
und Bern überwiegend Studenten aus Südrußland — dem ruthenifchen Sprad)-
gebiet — zu finden. Das beweilt wohl ihre Sympathie für bie deutiche Kultur.
In Defterreih aber find die Ruthenen im politiiden Kampfe mit ihren Sym-
patbien immer auf der Seite der Deutfchen und der rutheniſche Abgeordnete
Profefior Romanczuk trat — wie früher ſchon oft — auch im März 1903 im
Netchsrath offen für die deutſche Nermittelungiprade ein. Für beide Volker
bat dieſe Alliance große Bedeutung, denn nur den in Galizien lebenden Ruthenen
fann es gelingen, bie Shlachzigen aus dem Reichsrath zu verdrängen und fo den
unbeilvollen Einfluß bes Polenklubs auf das Geſammtreich zu mindern oder zu
brechen, was fehr im Intereſſe der Deutjchen liegt. Tür die Ruthenen iſt es
aber werthvoll, ftatt ber Thlachziziichen weſtöſterreichiſche Beamte zu erhalten,
was nur durch Einführung der deutſchen Amtsſprache in Galizien oder der
rutheniſchen Sprade in das faft rein rutheniſche Dftgalizien als Amtsſprache
möglich iſt. Um nun mit ben Deuticden, überhaupt mit Weſteuropa in nähere
Fühlung zu treten und fie mit der Gejchichte unb den Beftrebungen der Ruthenen
befannt zu machen, erjcheint jeßt in beutfcher Sprade die „Rutheniſche Revue“,
deren Eigenthümer das rutheniſche Nationalfomitee ift. . Die Zeitſchrift, deren
Mitarbeiter ſich aus allen politiihen Parteien refrutiren, erfüllt ihre Aufgabe
vollftändig. Den galiziihen Polen muß das Erfcheinen diefer Revue in deutſcher
Sprade wohl fehr unangenehm fein, denn fie gehen daran, eine polnifche Kor⸗
refpondenz zu gründen, die in deutjcher und franzöfiiher Spracde erſcheinen und
über die Zuſtände in Galtzien „objektiv unterrichten’ Toll.
Wien. 5 | Karl Morburger.
Ueber die Freigeit des Willens. Verlag Hans Briebe & Eo., Berlin-
Steglig. 1,50 Marl.
Diefe philofophifche Abhandlung ift eine Erwiderung auf die von der
Koniglich Norwegiſchen Sozietät der Wiſſenſchaften gefrönte Preisichrift Schopen-
bauer® „Ueber die Freiheit des Willens“, die bisher als unmwiderlegt und unum-
ftößlih galt. ch behaupte und will beweiſen, daß bie Nothwendigfeit ber
Handlungen nur für die Naturobjekte befteht, nicht für Kulturorganismen; ich
will beweifen, daß einem Sulturmenfchen in jedem Moment feines Lebens ver-
ſchiedene Handlungen möglich find; daß der zurüdgelegte Lebenslauf eines Kultur:
menden unbebingt anders ausfallen konnte, ald er ausgefallen ift; und daß ber
Fatalismus auf Einbildung berubt. Fritz Wält.
®
15
198 Die Zuhmft.
Halliſcher Muſenalmanach. Berlag von Kreibodpm & Eo., Halle a ©.
Beitand bisher die moderne Lyrik — Dehmel, Lilieneron und ein paar
Undere ausgenommen — aus fein cijelirten Stimmungbildern und pifanten
Scerzgebichtlein, jo wollen wir, daß die Poefie wieder ber großen und freien
Berfönlichkeit die Zunge löfe. Die Kunft fol nicht Endzwed fein, fondern bie
Entwidelung des Individuums fördern. Nicht Kultur der Menſchheit, ſondern
des Menſchen! Wir Sechs find Individualiſten vom reinften Wafler.
Hugo Erneft Quedbede.
$
Halbmaske, Verlag Arel under, Stuttgart. Preis 3 Markt 50 Pfennig.
Das Bud enthält eine Kleine Auswahl Iyrijcher, erzählender, dramatiſcher
und betrachtender Arbeiten aus den Jahren 1895 bis 1902. Daß ich beim
Schreiben eine Halbmaske trug, erfannte ich jelbft erft, als die Arbeitzeit ab
geſchloſſen hinter mir lag und neue Horizonte mir auftaudten. Trotzdem ver-
öffentliche ich diejes Buch; denn noch immer liebe tch heimlich die flatternde,
flimmernde Seele, die darin gaufelt. Poor soul! Du haft mit mir ımter ber
brütenden Sonne des Südens gejauchzt, tändelnd baben wir an den Staminen
von Paris geſeſſen, unter den Nebeln Englands haben wir phantaſtiſche Gefichte
geträumt. Jetzt, nach der Heimkehr, mußt Du vor der Schwelle einer jtärferen
Schweſter weichen, die, währenb wir bunte Reigen tanzten, meinen Herd vorm
Berglimmen geihüßt Hat.
Münden. Oskar A. H. Schmitz.
8
Kämpfer. Ein Roman aus der neuen Völkerwanderung. Verlag von H.
Coſtenoble in Berlin. 4 Mark.
Ich habe verſucht, mir allerlei mächtige und unaustilgbare Eindrücke |
früherer Jahre von der Seele zu ſchreiben. Als Sohn eines brandenburgifchen |
Fabrikanten und Enkel bäuerlicher Befiger hatte ich von Klein auf Einblid im |
viele Seiten des Stabt- und Lanblebend. Lange ließ ich als ftiller Beobachter, |
gelegentlich auch als Mitarbeiter verjchiedener Zeitungen, bie merkwürdigſten |
Bilder des Öffentlichen Lebens, Toziale und politifche, immer wieder an mir
vorüberziehen und bejonders beobachtete ich immer wieder das Schidjal der an
der neuen Völkerwanderung betheiligten Leute. Natürlich kann ich dieſes Quellen⸗
gebiet nicht voll ausschöpfen; immerhin glaube ich, auf dem von mir gewählten
Hintergrund an verfchiedenen Einzelſchickſalen dem diefem Leben und Treiben ferner
jtehenden Leſer eine wichtige Seite unferes wirthichaftlichen Lebens näher gebracht und
jo doch etwas mehr als bloße Unterhaltung gegeben zu haben. Und vielleicht —
Defien würde ich mich befonders freuen — zeigt da8 Buch auch, daß die rohe Außen-
jeite diefer Bauern durchaus nicht fo oft, wie man aus mandem deutjchen
Bauernroman fließen dürfte, der Ausdrud eines verrohten, gefühllofen Innern
ift, daß vielmehr die Noth des Lebens und eine gerabezu ſchamhafte Scheu vor
weichen Gefühlsregungen auch da fcheinbar harte Worte veranlaßt, mo ein ge-
fundes Herz recht gut und vernünftig fühlt und gern hörbarer mitſprechen mödte.
Breiburg in Br. Mar Bittrid.
s
—
Notizbuch. 199
Notizbuch.
Präfidenten des Reichsgerichtes ift der Wirlliche Geheime Rath Dr. Gut⸗
A brod, Excellenz, ernannt worden, ber ſeit ſechsundzwanzig Jahren im Reichs⸗
juſtizamt ſitzt; ſeit elf Jahren als Direktor. In der erſten Hälfte der ſiebenziger
Jahre ſoll er in Württemberg als Richter der unterſten Inſtanz fungirt haben. Seit⸗
dem hat er mit der Rechtſprechung nichts mehr zu ſchaffen gehabt; nun ward er, mit
verdoppeltem Gehalt, an die Spitze des hochſten Gerichtshofes im Reich geſtellt. Vor
ſieben Jahren, als der Kolonialdirektor Kayſer dem Reichsgericht als Senatspräſi⸗
dent verliehen worden war, ſagte hier ein zur Kritit Berufener: „Seine langjährige
Borbildung im Minifterialdienft, der Sinn für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit,
ben eine ſolche Commisftellung zu entwickeln pflegt, wird ihn vorzüglich befähigen,
dermaleinft al3 Präfident des vereinigten zweiten und dritten Strafjenates über Hoch
und Landesverrath angemeſſen zu judiziren. Uber man lafjedieverleitliche Nebung nur
noch weiter einreißen, das Reichsgericht als Aſyl für abgenußte oder unbequem gewor-
dene Minifterialbeamte bes auswärtigen oder bes inneren Dienftes zu verwenden: und
man wird ſich bald überzeugen, in wie rafcher Progreffion das ſchon heute nicht mehr
ausschließlich inden fozialdemofratifchen Volkskreiſen verbreitete Mißtrauen gegen die
reichsgerichtliche Rechtſprechung an Breite und Stärke wachſen wird. Daß biefe Ge»
fahr und droßt, ift mit ben Händen zu greifen; darüber leicht hinwegzudenken, wäre
Frevel.“ Nunijtder felben Sphäre auch ber Präfident bes Neichsgerichtes entnommen
worden. Der Wirklihe Geheime Gutbrod fol Berdienfte um die Patentgefeßgebung
und das Bürgerlicde Geſetzbuch haben. Sehr ſchön. Erſetzen ſolche Verdienfte aber
Alles, was von dem erften Richter des Reiches zu fordern ift? Wird in bureaufra-
tiſcher Abhängigkeit, in demtäglich zur Fügſamkeit mahnenden Minifterialdienft etwa
der Reſpekt vor unabhängiger Gefinnung, mag fie fi auch in unbequiemen Formen
äußern, gelernt? Ein ſtarkes und fiheres Gefühl fürdie Heiligkeit der Mechtöpflege er-
worben, die, wie ein zartes Knösplein, vonjebem rauhen Quftftoß verlegt werden fann ?
Ober findwir an Männern fo arm, daß nicht einmal für das vornehmite, begehrens⸗
wertheftedlmt ein Name zu finden war, ber auch [auernbes Mißtrauen zum Schweigen ge»
zwungen hätte? DenOberreichganwalt Olshauſen, der, feit bie Kandidatur Beſeler auf⸗
getaucht iſt, für die Nachfolge Schönftedts nicht mehr in Betracht zu kommen fcheint, den
Senatspräfidenten Freiherrn von Billomw, bie Brofefforen Binding und Kahl, irgend
einen als beſonders tüchtig bemährtenOberlandesgerichtspräfidenten: fie Alle hätte das
von manchen Erſcheinungen deutſcher Rechtspflege geängſtete Volksempfinden lieber als
Prãſfidenten des Reichsgerichtes geſehen als einen in ber Reichsamtsbureaukratie er⸗
grauten Herrn. Offenbar verbot der index virorum prohibitorum eine andere Wahl.
Und dann: Excellenz Gutbrod iſt Süddeutſcher — ſeine Ernennung zeigt alſo Zweif⸗
lern wieder deutlich, daß Preußen im Reichsdienſt nicht begünſtigt werden — und
ſteht erſt im ſechzigſten Lebensjahr. Das iſt wichtig. Denn nach neuſter Ufance find
Männer über Fünfundſechzig zwar noch rüjtig genug, um ſich in die Geſchäfte des
Reichsfanzlers und des Reichsſchatzſekretärs einzuarbeiten, fürs Reichsgericht aber
nicht mehr zu brauchen. Ind der neue Herr joll in Leipzig doch recht lange haufen.
Einerlei: die Namen der drei Reichsgerichtspräſidenten Simjon, Oehlſchläger,
Gutbrod bezeichnen keine aufwärts führende Wegftrede deutfcher Rechtsgeſchichte.
* *
*
15*
200 Die Zukunft.
Im Berlag ber Leipziger Buchbruderei-Aftiengefellihaft Hat Herr Dr. Reh
ring jeßt bie Brochure veröffentlicht, die er auf dem dresbener Barteitag angelündet
hatte. Er wollte „auf jeden Punkt der vorgebrachten Anflagen antworten“, hat feine
Abſicht inzwilchen aber geändert. Die wichtigften Punkte werden gar nicht erwähnt.
Der Leſer erfährt nicht, wie es kam, kommen konnte, daß Herr Mehring zueift So
zialdemofrat, dann Sozialiftentöter und Sozialiftenbefhimpfer war und ſchließlich
wieder Soztaldemofrat wurde, und warum er bie in feiner erften Gefchichte der Se
zialdemofratie über Berfonen und Vorgänge gefällten Urtheile in feiner zweiten „Er
ſchichte“ mit fo ſpaßhafter Bingerfertigfeit in ihr Gegentheil verkehrte, mandmal,
ohne fi auch nur um einen neuen Satzbau zu bemühen. Trogdem nennt er biele
vorläufig neufte Brodure „Meine Rechtfertigung“, beicheinigt ſich, daß er ein
„edler Mann” ift, und fagt, er fei „in den Augen aller Menſchen gerechtfertigt,
an deren Uchtung mir gelegen ift“. Das ift feine Sade. Und Sache der ſozialdemo⸗
kratiſchen Partei, ob fie auf die leife Drohung hören will, die fi) durch das grüne
Heftchen zieht; Herr Mehring pocht recht vernehmlich an die Schrankwand feines
„reich gefüllten Archives”. Wie zu erwarten war, werde ich am Meiſten geſchimpft;
die vor ein paar Wochen hier angebotene Wette, mein einft fo zärtlicher Freund werdet
fich jelbft an Schimpfreden nicht mehr überbieten können, hätte ich jeßt aber gewon-
nen. Die „Rechtfertigung“ Klingt müde, wie der Nothruf eines Abgehegten, und kann
Mitleid mit bem Mann werben, dem auch bie Kraft bes Stiliften mäplich zu ſchwin
den fcheint. Ich muß ihm dankbar dafür fein, daß er ein paar elf Jahre alte Briefe
von mir abdrudt, bie ich, wenn ich fie gehabt hätte, trob mancher Ueberreiztheit de?
Tones, trog manchem ungerechten Urtheil über Menfchen und Dinge, in ben Arti⸗
fein über „Bebel und Genoffen“ gern ſelbſt benußt hätte, weil fie deutlich bemeilen,
wie richtig ich fpäter meine Stimmung von 1892, meine „Bismarckſchwärmerei
und mein bamaliges Verhältniß zu Mehring und feiner Partei dargeſtellt habe.
(Zn einem biefer alten Privatbriefe wird auch erwähnt, bie Voffifche Zeitung habe
fich einft um mich beworben. Diefe Angabe, jagt Tante Voß, entftammt lediglich det
Phantaſie des Herrm Harden. Ich könnte nachweifen, daß fie fi am Anfang ber
neunziger Fahre um mich beworben hat, bin aber gar nicht ftol3 darauf und beftätige
viel Iteber, daß ich zum Mitarbeiter ber Voſſiſchen Beitung nie das allergeringfte
Talent gehabt Habe.) Zugleich zeigen die Briefe, wie wahrhaftig Mehrings frühere
Behauptung war, ich hätte ihm meine „Bismarckſchwärmerei“ ſorgſam verhehlt und
„auch fpäter nie davon geſprochen“. Für feirie Gewiſſenhaftigkeit noch einen zweiten
Beweis: „Im Herbft 1890 ſchleppte ber mir biß dahin ganz unbefannte Mann (Harden)
das Material gegen Lindau in mein Haus” („Nectfertigung.”) Auf der fünften
Seite feiner Brochure „Der Hal Lindau“ Hat Herr Mehring erzählt, wer Ihm
das „Material“ geliefert Habe; ich konnte es ihm nicht liefern, weil ichs nicht
hatte, und bejuchte ihn, ben ich nicht kannte, auf feine Bitte, erſt, als fein Alarm⸗
artikel gegen Herrn Lindau erfchienen war. Bon dem felben Kaliber find fei
übrigen Behauptungen. Alles irgendivie Wefentliche habe ich am vierten März 18°
in der „Zukunft“ ausführlich widerlegt; wer fich dafür intereffirt, mag dieſe Erwit
rung nadjlefen, von der GenoffeBraun mir fchrieb: „Jeden nicht direkt gehäffigll
theilenden muß fie Überzeugen.” Natürlich wird auch wieder von einem „Komplot
gegen Mehring geredet, an dem ich bethetligt gewefen ſei. Zwar ift feftgeftellt, d
Mehrings Briefe wider mein Wiſſen und Wollen inDresden gegen Mebring ber
Notizbuch. 201
worden find; zwar hat GenoſſeHeine ſelbſt im, Vorwärts“erklärt:, HerrHarden hat mir
inber That niemals den Wunfch zu erkennen gegeben, gegen Diebring vorzugehen. Das
genirt den altenzyreund aber nicht; er ſchwatzt weiter über, Harden und feineSpießgejel-
len‘. Da nun jogar [don die Redakteure des, Vorwärts“ feine, Birtuofitätinderlimfeh-
rung vonUrtheilen überPerſonen“ öffentlich anerkannt haben, darf ich nicht den Ehrgeiz
hegen, all ſeine Lügen hier noch einmal zu enthüllen; wer irgend eine Auskunft
wünſcht, mag ſich an mich wenden. Mir iſt Mehrings Urtheil längſt ſo gleichgiltig
geworden wie ſeine Stellung in ber Organiſation undPreſſe der ſozialdemokratiſchen
Partei. Er deutet aber auch an, Bruno Schoenlant — den er in jeinen Briefen an
mich „Kümmel“ und „Schuft” genannt und gegen den er mir „Material“ angeboten
und anvertraut hatte — babe jpäter feinem Urtheil über mich und meine Wochen»
Schrift zugeftimmt. Ach greife deshalb aus den vielen Briefen, die Schoenlanf mir
fchrieb, einen der lebten heraus. Hier das Hauptftück:
14. 11. 1901.
Ihr Brief war ein willflommener Gruß aus der Reihe der guten
Europäer. Ich hoffe und wünfche, daß Ihre Beforgnifje wegen ber „Zu⸗
kunft“ unbegründet find: die Minirer werden ſelbſt in die Quft fliegen. &e-
Icheite Gelehrte und Rubliziften thäten gut, Ihre Zeitfchrift als freies Organ
zu benugen. (Folgt Empfehlung des ſozialdemokratiſchen Yandtagsabgeord-
neten Adolf Müller in Münden.) Soeben habe ih Ihren Artikel „Der
Tag” gelejen. Wer ich fo verabjchiedet, kommt fiegreich und friſch auch aus
dem Weichſelſumpf zurück. Für Ihren Nath, mich mit meinen Leiden an
Schweninger zu wenden, beſten Dank. Ich halte ihn auch für einen großen
PBraftifer, einen Künftler... Auf gutes Ueberftehen Ihrer Haft, auf gute
Aſpekten für die „Zukunft“ und aufWiederjehen rechne ich mit beftem Gruß
als Ihr eergebener Schoenlant.
Auf diefen toten Zeugen kann ber liche Herr Mehring fich aljo nicht berufen. Und
nad Alledem ift kaum noch nöthig, ausdrüdlich zu fagen, daß Alles, was dieſe „Nedht-
fertigung” an den Namen Schoenlanks Inüpft, erfunden oder völlig entjtellt ift.
he %
*
Ueber den fleinen Geiger Veeſey, der jet die Berliner entzückt, jchreibt mir
Herr Willy Seibert: „Der kleine Uebermenſch mit der Geige, ein Knirps von zehn
Jahren — wie Liſzt und Joachim Magyar von Geburt —, hat Kenner und Päda⸗
gogen noch mehr in Staunen gejeßt als leicht entzückte Laien. Diefe hören, was fie
in vortrefflicher Ausführung wie etwas Selbitverfrändliches anmuthen mag; Jene
wiflen, wie Biele fih im Schweiß des Angefichtes mühen, um endlich, endlich ...
doch nicht zu Haben, was diejer unge auf dem Präfentirteller darreicht. Nicht die
außerordentliche technifche Sicherheit iſt es, die verblüfft: fie wäre allenfalls noch
durch die völlige Abweſenheit jeglicher nervöſen Selbitkritif zu erklären. Geiftiges
Erfafjen, Wärme, Phrafirung, Größe de8 Tones: Das find die Dinge an dem Kind,
die mancher berühmte Kollege Vecſeys nicht Hat und nachſtudiren könnte. Als der
Junge die erften zweiunddreißig Takte des Wicniawsky Konzertes mit vollendeter
Meifterichaft geipielt hatte, wollte fich eine Hand zuyı Applaus rühren. Den hier:
gegen mit „Bit!“ Proteftirenden und zur Ruhe Diadnenden erſchien Joachim als der
Störenfried.. Es hat keinen Zwechk, die Kritik zu wiederholen, wie fie einftimmig und mit
Recht zur Geltung kam: ‚Ein Wunder, fein Wunderkind! Ich habe eineandere, mad
202 Die Zukunft.
nenbe Abficht: ein ernftes Wort in ben Tunnelber Begeifterung zu rufen. Es wird ver-
ballen,weilmanlinbefanntennicht glaubt. Trogdem!.. Becjeyift ala Menſchenkind wie
als Künſtler durchaus gefund. WerDaserwägt, barfwohlaud aufden Gedanken kom⸗
men, daß ein Zuſtand der Menſchheit denkbar wäre, beralle normal mufilalifch begabten
Kinder fo (und fo früh!) geſund, richtig und vollendet geigen ließe. Wer anders denkt,
möüßtezu beweiſen verjudden, daß ber kleine Mann eine Mißgeburt jet und ſolche Boll-
endung nur einſeitiger, krankhafter Beranlagung entfpringen könne. Die alte Geſchichte
von Genie und Krankheit, — um nicht Irrfinn zu jagen. Ich denke nicht fo; ich glaube,
daß ber Junge aus dem Stinderland ftammt, das Nietzſche erträumte; daß folder
triebfelige @eift über dem Nullpunkt beshalb möglich ift, weil jo viele Darunter
bleiben... Bach aber, das Air von Bach wurde nicht gut vorgetragen. Das will
nicht viel heißen? Für den tiefer Horchenden unter Umftänden Alles. Der Vortrag
war auf den Effekt zugefchnitten, das ſchlichte Stüd ins Sinnliche gezogen, Turz:
ohne Stilgefühl gejpielt. Der Einwand, daß man Soldes von einem Find nicht
fordern könne, ift Binfällig. Bon diefem Kind: Ja. Ich bin nicht ber Dteinung, Bad
folle troden und ohne Sinnlichkeit gefpielt werben. (Der Mann hatte fiebenzehn
Kinder!) Es giebt, Gott fei Dank, fo viele Auffafjungen bachiſcher Muſik, wie es
Individuen giebt; Johann Sebaftian läßt fich in alle Sprachen Überjegen. Uber
e3 giebt nur eine richtige Phrafirung. Und die wars nicht. Die Berzerrungen
werben fich mit dem Erfolg fteigern — eine alte Erfahrung! —, wenn nicht das
Nichtige geichieht. Jedem ernften Mufiler drängt ſich da die Künftler- Ericheinung
Joachims auf. Meiſter Joachim müßte diefen ungen lehren und ihm ein Bermädte
niß anvertrauen, das zu wahren dies Kind befähigt ift. Geſchieht Das nicht und wird
das Wunber, wie es jeßt ben Anfchein bat, in immer größeren Sälen gezeigt und
ausgenutzt, dann wird auch auf diefe Begabung der Rauch des Erfolges feine bla-
firende Wirkung üben und wir werden in abjehbarer Beit wohl einen hervorragenden
Geiger mehr haben, aber den neuen ‚Sroßen‘ — damit fol bem Können ber Pracht⸗
geiger, bie wir heute Haben, nicht zu nahe getreten fein! — weiter ſuchen.“
* »
%*
Wenn mein Gedächtniß nicht trügt, ift während ber ganzen vorigen Woche in
Berlin fein Denkmal enthält worden; fein einziges. Schlimm, doch entfchulbbar.
Denn vier Stüd waren eben erft fertig geworden: Kaiſer und Kaiſerin Friedrich,
Wagner und ein herrlicher Herkules; und ein paar andere reifender Bollendung ent-
gegen. Im Reich aber wurde eifrig weiterenthüllt. In Küftrin gleich zwei Denk⸗
male an einem Tage. Und wie fich verfteht, durfte auch die bürgermeifterliche Rede
nicht fehlen. Der Kaifer war zur Feier nah Küftrin gefahren; und aljo begrüßte
ihn dort der Vertreter des freien ftädtifchen Bürgerthumes: „Ullerburdlaudhtigfter,
Allergroßmädhtigfter, Allergnädigfter Kaifer, König, Markgraf und Herr! Euer
Kaiferliche Majeftät wollen allergnäbigjt geruhen, ben allerunterthänigften Daufder
Bürgerfchaft Küftrins entgegenzunehmen bafür, daß Euer Majeftät bie Gnade ge
habt, Ihrer getreuen Stadt Küſtrin die allerhöchfte Genehmigung dazu zu ertheilen,
daß Eurer Majeftät erhabenem Porfahren hier ein Denkmal errichtet werde, ben
alleruntbänigften Dank insbefondere aber dafür, daß Euer Majeftät allergnädigit
geruht haben, die Feier der Enthüllung dieſes Denkmales dur Euer Majeftät er
habene Gegenwart zu verherrlichen. * Das geihah im Oltober des Jahres 1903.
— —— — —
Herausgeber und verantw ortlicher Redakteur: E71 t. Barden in in Berlin. — erlag der Zukunft in Berlin.
Trud von Albert Tamde in Berlin Schönberg.
Berlin, den 7. November 1905.
TIMER TG
Ein neues Strafgefegbuch?
& der Voßſtraße ſteht ein ſchönes Gebäude; wenn ich mic; recht erinnere,
find daran Motive von der Zecca verwendet. In dem Gebäude be:
findet ſich ein Etablifjement zur Herftellung von Gefegesparagraphen unter
ber Firma „Reichsjuftigemt“. Als das Bürgerlihe Geſetzbuch fammt feinen
Nebengefegen vorbereitet wurde, war großer Bedarf an Gejegesparagraphen.
Das hatte zur Folge, daß bie Fabrik vergrößert und eine Anzahl neuer
Maſchinen, genannt „Vortragende Räthe“, eingeftellt wurde. Seitdem hat
fi der Abfag einigermaßen verringert. Zwar find nad dem Abfchluß der
bürgerlichen &efeggebung noch mehr als genug neue Gefege dem Reichstag
vorgelegt worden; aber im Verhältnig zu der vorangegangenen Zeit ift die
Zahl der gefertigten Paragraphen doch viel Heiner geworben. Export nad
dem Ausland ift nicht vorhanden. Die Fabrik ift daher nicht vollauf ber
ſchaftigt. Zu einer Verminderung de3 aufgeftellten Apparate hat man fih
bisher nicht entfchloffen. Begreiflich alfo, wenn ſich die Direktion nach neuen
Abſatzgelegenheiten für ihre Fabrilate umthut. Da haben wir nun ein Straf»
geſetzbuch, das zwar noch nicht fehr alt, aber unter den größeren Reichs⸗
gefegen doc; das ültefte ift. Das könnte man durch ein neues Geſetzbuch
erfegen. Dabei kdunte man vier= bis fünfhundert neue Paragraphen abs
fegen und die Fabrik Hätte wieder auf Jahre Beſchäftigung. So ließ denn
die Direktion während der Tagung ber Internationalen Kriminaliſtiſchen
Vereinigung im April 1902 durch den Geheimrath von Tiſchendorf urbi
et orbi verkünden, daß man im Reichsjuſtizamt an die „Vorbereitungen zu
den Vorbereitungen“ zu einem neuen Strafgeſetzbuch herangetreten fei.
Brauchen wir ein neues Strafgeſetzbuch?
Gewiß haben fich bei der Anwendung des geltenden Geſetzes Mängel
16
204 Die Zukunft.
berausgeftellt. Jeder, der fich mit der Strafrechtspflege altio ober aud mm
ala Beobachter befakt, Tann an den Fingern Urtheile herzählen, die geges
das allgemeine Rechtsbewußtſein gröblich verftoßen. Aber man muß fi vor
dem Fehler hüten, all ſolche Erfcheinungen auf bie Rechnung mangelhafter oder
vertehrter Gejegesbeftimmungen zu fegen. Ein guter Theil der anſidßigen
Urtheile beruht vielmehr auf unrichtiger Anwendung des Gefeget. Was famı
das Geſetz dafür, daß ſich Gerichte dazu verfteigen, den berüchtigten Parc
graphen vom Groben Unfug, in Widerftreit mit feiner Entſtehungsgeſchichte
und wider alle Auslegungregeln, auf die Boylottirung von Wirthfchaften ode
Geſchäften, auf da8 Augftellen von Strifepoften, auf einen Zeitungartikl,
der über die Krankheit eines beutfchen Fürften berichtet, oder gar auf eim
Simpliziffimus- Zeichnung anzumenben, die die auswärtige Politik bes Reicht
kanzlers perfiflirt? Könnte man eine Statiftil der auf falfcher Geſetzes⸗
anmwendung und der auf mangelhaften Gefegesvorfchriften beruhenden Urtheile
berftellen, die unfer Rechtsbewußtſein nicht befriedigen, fo würde bie Zahl
diefer im Verhältniß zu jenen gewiß ſehr Hein ausfallen.
Ein anderer Vorwurf, der gegen das geltende Gefeg erhoben wird,
behauptet, es entfpreche nicht dem oberften Zweck jedes Strafgefeges: der
möglichft wirkſamen Verhütung von Verbrechen. Nach der von Reiches wegen
bearbeiteten Kriminalftatiftif ergingen im Jahr 1899 von den dentſchen Ge
richten 478139 rechtskräftig gewordene Verurtheilungen wegen Verbrechen
und Vergehen gegen bie Reichsgeſetze. Die Bergehen gegen bie Landesgeſetzt
und die zahllofen Uebertretungen der Reichs- und Landesgeſetze find dabe
nicht mitgezählt. Unter den 478139 Verurtheilten find 47512 Jugendliche,
alfo Perfonen, die zur Zeit der Strafthat zwölf, aber nicht achtzehn Jahre
alt waren, und 195215 wegen Verbrechens oder Vergehens Borbeftraite
Für das Jahr 1900 ift ein Meiner Ruckgang zu verzeichnen: 469819 Tr
urtheilte, darıınter 48657 Jugendliche, 193857 Vorbeſtrafte. Das find er
fchredend hohe Zahlen. Dazu kommt aber noch, daß die Kriminalität fet
den erften von der Reichsſtatiſtik ber&dfichtigten Jahren abſolut und pre
zentual zugenommen hat. Im Jahr 1882 entfielen auf 100000 Straf:
mündige der Givilbevölferung 1040, im Jahr 1900 dagegen 1195 (m
Jahr 1889 fogar 1244) Verurtheilte. Vorbeſtrafte Verurtheilte entfielen auf
100000 Strafmündige in den Jahren 1882 bis 1886 durchfchnittlich 277,
in den Jahren 1892 bis 1896 durchfchnittlich 452 Perfonen. Mit dieſen
Zahlen will man beweifen, daß das in unferem Strafgeſetzbuch kodifizirte
Strafreht nichts taugt und daß wir daher ein neues Geſetz auf ander
Grundlage ſchaffen müſſen.
Man wird auch dieſer Beweisführung mit Zweifeln entgegentreten
muſſen. Die ſelbe Statiſtik beweiſt nämlich, daß das Anſchwellen der Ziffern
Ein neues Strafgeſetzbuch? 205
bauptfächlich ber Mehrung der Verbrechen gegen das Eigenthum zuzufchreiben
iſt und dag namentlich die großen Städte an der Mehrung der Verbrechen
. betheiligt find. Bei der Häufung der Eigenthumsverbrechen fpielt gewiß bie
in ben legten Jahrzenten eingetretene Steigerung des Preifes aller Lebende
bedürfniffe und das bamit verbundene Anwachſen des fozialen Elends eine viel
größere Rolle als das Strafgefegbud. Und noch ein Anderes: die Zahl
der firafbaren Handlungen, wegen deren die Verurtheilung erfolgt, bleibt
naturgemäß fehr weit hinter der Zahl der thatfächlich begangenen ftrafbaren
Handlungen zurück. Alljährli werden Taufende von ftrafbaren Handlungen
begangen, vom denen die Behörden niemals Etwas erfahren, weil Niemand
eine Anzeige erftattet. Und von den ben Behörden angezeigten Verbrechen
gelangt wieder nur ein gewiſſer Prozentjag zur Aburtheilung, weil bei vielen
der Thäter nicht zu ermitteln oder der ermittelte Thäter nicht aufzufinden
oder außer Landes it. Es ift nicht möglich, die Differenz zwijchen ben
begangenen Delikten und ben beftraften in genauen Ziffern feftzuftellen, da
die Statiftil nur die beitraften Delikte verzeichnet; aber es ift Mar, daß die
Differenz, um fo Eleiner wird, je befler die Polizeieinrichtungen find, bie zur
Entdedung und Ergreifung der Thäter führen. Nun find in ben legten
Sahrzehnten die Einrichtungen der Kriminalpolizei wefentlich verbeflert worben.
Dean braucht nur an, bie gewaltige Ausdehnung des Telegraphen- und des
Telephonnetzes zu erinnern, die die Auffpürung und Verfolgung von Verbrechern
erleichtert hat. Auch die technifche Ausbildung der Polizeiorgane hat ich,
wenigftens in den großen Städten, nicht unerheblich gehoben. Diefe Umftände
machen es fehr wahrfcheinlih, daß die Differenz zwifchen den begangenen-
und den zur Aburtheilung gelangten ftrafbaren Handlungen abgenommen
bat. Und diefe Annahme findet eine gewiffe Beftätigung darin, daß es
namentlih die Kriminalität in den Großſtädten ift, die das ftärkte An⸗
wachfen aufweift; denn hier find die Einrichtungen der Kriminalpolizei am
Meiften verbefiert worden. Auf Grund diefer Erwägungen barf man be
banpten, daß bie Schlußfolgerung von der wachfenden Zahl der Berurtheilungen
und der Rüdfälle auf die unzureichende Wirkung unſerer Strafgefeßgebung
nicht gerade zwingend if. Sie wäre e8 nur, wenn das Verhältnig zwifchen
ben begangenen und den abgeurtheilten Delikten konſtant geblieben wäre.
Das ift aber aller Wahrfcheinlichkeit nach nicht gefchehen. Es ift fehr wohl
möglich, daß bie Zahl der begangenen Delikte — und nur auf diefe kommt
es bei ber Bewerthung der praftifchen Wirkung des Geſetzes an — nicht
oder doch nicht erheblich geftiegen ift, obwohl die Zahl der Verurtheilungen fich
beträchtlich vermehrt hat.
Darf man hiernach bezweifeln, daß ein dringliches Bedürfniß nad
einem neuen Strafgefeßbuch befteht, fo Könnte man trogbem die Schöpfung
16*
206 j Die Zukunft.
eines neuen Geſetzbuches mit Freude begrüßen, wenn de
befleres Wert als das geltende Gefegbuch herauskäme. Abı
Ansicht. Daß die Geſetzgebungskunſt in Deuſchland ni
‚Höhe fteht, davon kann man fi aus jeder Seite unferes
fegbuches überzeugen. Dieſes ift die Sphing unter ben
giebt den Juriſten die ſchwierigſten Räthfel auf. Fräße die
wie ihre thebanifche Urahne, Alle auf, die ihre Räthſel n
mochten, fo würbe ein arges Blutbad unter ben deutſchen
Zu dem allgemeinen Mißtrauen gegen die Geſetzgebungsku
tommt aber fpeziell für die Strafgefeggebung noch ein befonde
Im ber Strafrehtswifienfchaft giebt es heute zwei €
die ſich die Maffifche Heißt, fußt auf dem Grundgedanten
Vergeltung für das begangene Unrecht if. Der Verbrei
weil er fi gegen die Rechtsordnung aufgelehnt hat. !
der Mechtögemeinfchaft oder Einbuße von Mehtögütern |
auf bie nach diefer Schule die Analyfe der Strafe führt
das Yequivalent des Verbrechens. Sie fol das geftörte G
Rechtsordnung wieder herftellen; die Aufgabe der Strafg
Strafe in das richtige Verhältniß zu der Schwere der beg
zu fegen. Die andere Schule — man heißt fie die krimi
verwirft ben Gedanken an Vergeltung. Vergeltung durc
möglich fein, weil die Strafe nicht? mit der Miffethat GI
uns ber fefte Maßſtab fehlt, nad; dem bie aufzuwiegenden
werthe mit einander verglichen und veranschlagt werben Fünı
merk der Kriminalfoziologen ift nicht auf die Gefegesunte
Strafandrohung vom Verbrechen zurüdgehalten werben folle
Berbrecher als den fozialen Schädling gerichtet. Nicht a
That, fondern auf die antifoziale Strebung, die Gefinn
an; daher foll der Verfuch gleich dem vollendeten Verbrecher
Wie der Kranke in der Heilanftalt, der Jugendliche in der
der Truntenbold und der Morphiumfüchtige in den Afyle
brecher in der Strafanftalt zu behandeln: den Unheilbaren
febenslängliche Einfperrung unſchädlich, den Heilbaren kuri
antifozialen Geiinnung durh Abſchredung und Erziehur
Schuld und Vergeltung fheiden aus; bie verbrecherifche The
der antifozialen Geſinnung; diefe, nicht das Berbreden,
und den Maßſtab ber Stufe. Zweck der Strafe ift ber €
weſens nach dem Maf der antifozialen Gefinnung. Da
auf beftimmte Arten von Handlungen eine größere ode
fegt, bezwedt nicht ben Schug der Bürger gegen den Verb
‚Ein neues Strafgeſetzbuch? 207
Schug des Verbrechers gegen den Mißbrauch der Strafgewalt. Das Ideal
wäre die freie Anwendung der Strafe nad) Mafigabe ber durch die That
befundeten antifozialen Geſinnung bis zur Heilung, Anpaffung oder Aus:
ſcheidung des Berbrederd. Da dieſes Ideal praktifch nicht durchführbar if,
verlangt man wenigftend wmöglichft weite Strafnahmen für die einzelnen
Arten von Delikten.
Noch ift der Streit zwifchen den beiden Schulen nicht ausgefochten.
Hüben und drüben ftehen wifjenfchaftliche Autoritäten hohen Ranges. Man
follte num meinen, daß die Männer, die ein neues Strafgefeß machen wollen,
zu den Prinzipien der einen oder der anderen Schule Stellung nehmen und
danach ihre Geſetzesvorſchläge einrichten müßten; denn e8 leuchtet ein, daß
das Gefeg ganz verſchieden ausfallen muß, je nachdem man von ben Grund⸗
gebanfen der einen oder von denen ber anderen Schule ausgeht. Aber bie
Herren vom Reichsjuſtizamt fcheinen anderer Anficht zu fein und zu glauben,
dar ſolche Entjcheidung nicht nöthig fei. Das fchliege ich nicht daraus, daß
zur Borberathung und Beiprehung Vertreter der beiden wiflenfchaftlichen
Schulen eingeladen wurden — Das war unter allen Umftänden zur In⸗
formation der mit der Vorarbeit betrauten Juriſten zwedimäßig —, wohl aber
daraus, daß der Staatsſekretär des Reichsjuſtizamtes bei diefen Vorberathungen
Berbeugungen nach beiden Richtungen bin machte und fich für eine Mittel-
linie zwifchen beiden ausſprach. Kann dabei ein Wert heraußfonımen, das
den heutigen Rechtszuftand wirklich verbeſſert?
Bu diefen Bedenken kommt noch ein meitereß: wird es gelingen, einen
Entwurf zu einem Strafgefegbuch herzuftellen, ben der Reichstag annimmt?
Bei der Abfaflung eines Strafgefegbuches pielt eine Menge politifcher Momente
mit herein. Das gilt nicht nur für die politifchen Verbrechen, wie Hod-
verrath, Landesverrath, Majeſtätbeleidigung, fondern auch für viele andere
Delikte ohne fpezififch politifche Färbung, für die Vergehen gegen Religion
oder Sittlichkeit und für ba8 praftifch fehr wichtige Vergehen des Wider⸗
ſtandes gegen die Staatögewalt. Nun mäfjen wir mit einem Reichstag rechnen,
deſſen zerflüftete Parteien bei der Behandlung aller diefer Delikte auf ganz
verjchiedenen Standpuntten ftehen. Wird e8 möglich fein, van einem folchen
Reichstag die Zuftimmung zu einem neuen Strafgefegbuch zu erreichen?
Im Neihsjuftizamt wird man fich vielleicht mit dem Gedanken tröften:
Et voluisse juvabit! ebenfalls haben die Geſetzgebungmaſchinen wieber
Material. Sonft könnten fie ja einroften. Und Das wäre doch jammerfchabe.
208 Die Zutunft.
Seillieres Bobineau.*)
BER Hundert Jahren mußte der kirchlichen und der unfirchlichen Meteo
phyſik gefagt werden, daß das Wiffen nur fo weit firenge Wiflenfcaft
iſt, wie es Mathematik enthält; heute brauchen die mancherlei neuen Wiſſen-
ſchaften, weil fie ih mit dem Schein der Eraktheit fhmüden, unter ihnen
die verfchiedenen Zweige der Anthropologie, die Mahnung roch möthiger.
Seekrank wird, wer denkend zwar, aber des eigenen feften Haltes entbehrend,
im raffentheoretifchen Fahrwaſſer von Gobineau, Richard Wagner umd Dühring
bis zu Ammon, Chamberlain und Woltmann herabfhwimmt. Craft konnen
ja diefe Wiſſenſchaften nur fein, fo weit fie Thatſachen befchreiben (momit
Kants Sag von der Mathematik zu ergänzen if); mit der Kombination
der Thatſachen fängt die Unficherheit, freilich aber auch erft der Verſuch am,
aus dem Wifjensmaterial eine Wiffenfchaft aufzubauen. Doch fann man
ſich aus Thatfaden und Wahrfgeinlichkeiten ein Gerüft zimmern, von dem
aus man gefichert und in Ruhe zu überſchauen vermag, was bie vom Forfhung:
drang (von ber politifchen Leidenſchaft des Tages, behauptet Seilliöre) ge
ſchwellte Woge täglich, Neues vorbeiflögt; und mandem Leſer wirb es nicht
unangenehm fein, wenn ich ihm, ehe ich zum eigentlichen Thema übergeht,
ein paar Bretter des Gerüftes vorlege, das ich mir gezimmert habe.
Mit Gobineau erfenne ih an, daß die Raffeneigenfchaften ſehr be
ſtandig find und dag Raffenmifgung eine Triebfraft der Weltgefchichte iſt
Über ich halte den Raffencharakter nicht für an ſich unveränderlich, Leite nicht
alle Veränderungen der Raſſen, alle Ereigniffe der Weltgeſchichte und alle
Kulturerfheinungen von Raffenmifgung ab, Mit Chamberlain glaube id,
daß bie Urfprünge ber Dinge, fo auch die des Menfchengefchlechteß und feiner
Raſſen, unerforfhli find, das Bemühen, die legten Urſachen aufzuſuchen,
eitel ift und daß im Lauf der Zeit immer neue gute Raffen, alfo Menſchen-
arten von auögeprägtem Charakter und von guten Eigenfchaften, entftehen;
aber ich meine, man dürfe mit Gobineau bie weiße, die ſchwarze und bie
gelbe Raffe — wenn auch nicht als die Urraffen, fo doch — als Haupt- und
Grundtypen gelten laffen. Beide Forſcher fehlen dadurch, daß fie die ſelun⸗
dären Urfachen der Raffenbildung, die unter Umftänden die primären fein
Tonnen, theils überfehen, theils unterfchägen: Klima, Boden (manche Boden
arten, zum Beifpiel: Talkgaltige, folen Pferde, Rinder und Menſchen lange
leibig machen), geographifce Rage, Lebensweiſe und Beſchäftigung, lange
Zeit geübte Herrſchaft oder erlittene Knechtſchaft. Die zuerft genannten,
®) La Philosophie de l’Imp6rialisme I. Le Comte de Gobineau et
YAryanisme historique par Ernest Seilliöre. Paris, Librairie
Seillières Gobineau. 209
nicht ſozialen dieſer ſekundären Urſachen find ohne Zweifel urſprünglich die
primären geweſen, denn ehe die Raſſenmiſchung ihr Werk beginnen konnte,
mußte vorher Klima umd Boden die Raflenunterfchiede erzeugen. (Um der
aus Thatfachen gezogenen Yolgerung, daß die proletarifche Lage nicht immer
durch angeborene Untüchtigfeit verjchuldet, fondern umgekehrt oft genug bie
Entartung ganzer Bevöllerungen eine Wirkung aufgezwungener proletarifcher
Lebensweife ift, zu entgehen, nehmen die Nafjentheoretiler zu der von Weismann
angeblicy bewiefenen, in Wirklichkeit nur angenommenen Unveränderlichkeit
der Zeugungftoffe, des fogenannten Seimplasmas, ihre Zuflucht) Mit den
genannten Forſchern unterfcheide ich edle und uneble Raflen, halte die edlen
Raſſen für die Kultur erzeugenden, die weiße Hauptraffe für edler als bie
anderen beiden, ohne jedoch allen Negern jeden Leibes⸗ und Seelenadel ab:
zufprechen — benn es giebt Törperlich wohlgebildete, geiftig hochbegabte und
von Gemüth gutartige unter ihnen —, beſchränke aber den Vorzug nicht
auf den germanifchen Stamm und finde die Verfuche, die gemacht worden
find, den Charakter des Edelmenjchen zu definiren, fehr unbefriedigend. Dühring
fieht ihn in dem edlen fittlihen Eigenfchaften der Germanen, fpricht diefe
Eigenfchaften den Romanen und den Slaven in minderem Maße zu und
ben niederen Raſſen, zu denen er auch manche weiße rechnet, ganz ab; die
Juden malt er belauntlih kohlſchwarz. Das ift nun thatfächlich falfch und
Gobineau hat ganz richtig erkannt, dag es nicht die fogenannten fittlichen
Eigenfchaften, am Wenigften die Eigenfchaften des chriftlichen Heiligen find,
was den vornehmen Bölfern Macht verleiht. Chamberlain ſchilt zwar auch
die Selbftfucht und daneben bie Weltlichkeit der Juden und preift die meta>
phyſiſche Anlage und die echte Neligiofität der arifchen Inder, kann aber
doch nicht behaupten, daß die Inder ihre Befähigung zum Herrfchen bewiefen
hätten, und muß in Beziehung auf die älteren Germanen und die neueren
Angellachfen geftehen, daß es nicht gerade aufopfernder Idealismus gewefen
ift, was fie groß gemacht Hat. Dabei paflirt ihm, daß feine Schilderung
des Judencharakters Zug für Zug (den einen Zug der geiftigen Unfrucht⸗
barfeit ausgenommen) auf die Angeljachien, die Holländer, die Schweizer,
überhaupt auf die Stämme paßt, die das reformirte Belenntnig angenommen
haben oder ihm zuneigen. Es ift eben eine gewiſſe Difchung von Eigen⸗
ſchaften, was politifche und wirthfchaftliche Erfolge fichert; zu diefer Miſchung
gehören auch folde Eigenfchaften, die der Ehrift für böfe erklären muß, und
die Miſchung ift nicht Tonftant, fondern je nach den wechfelnden Umftänden
werden immer neue Mifchungen erfordert; manchmal ift ein ftärferer Zuſatz
von brutaler Gewalt nöthig, mandhmal find Gejchmeidigfeit und Hinterlift
mehr angezeigt. Ich denke mir die Sache fo:
Eine eigenthämliche Civilifation entfteht, wenn ein Bolt an Geift,
210 Die Zukunft,
Willen und Leib ftark genug if, bie in feinen Bereich gerathenden Er:
ſcheinungen feinem Vorſtellungskreis einzuverleiben, fi die ihm erreichbaren
materiellen Güter anzueignen, den Reichthum an Ideen, Gütern und Eis-
richtungen, den es fo erwirbt, zu einem geordneten Ganzen zu verbinden,
das ein unterfcheidbares &epräge zeigt, und diefe feine Dafeins- und Lebens-
foru in einem großen Gebiet zur Herrfchaft zu bringen. Bon der Civilifation
unterfcheide ich mit Chamberlain (und babe ich von je her unterfchieden) die
Kultur, Wilhelm von Humboldt hat als deren unterfcheidende Merkmale
Kunſt und Wiffenfhaft angegeben. Nun: aud die Chinefen haben Kunſt
und Wiflenfchaft, — aber was für eine! Es handelt fi hier um den
Kern der Wiffenfhaft vom Menfchen und es wäre Anmafung, wenn ich
mir einbilden wollte, ihn erfaßt zu haben. Aber ich glaube, ihm wenigitens
nahe gelommen zu fein, indem ich im hellenifchen Weſen das Gumanität-
ideal verwirklicht fehe, den Hellenen daher echte und höchſte Kultur zufchreibe.
Man wird alfo den Begriff der Kultur gewinnen, wenn man das bellenifche
Kulturleben in feine Elemente zerlegt. Die Griechen haben die Methoden
begründet, nach denen unfere heutige, von chinelifchen und fonftigen afiatifchen
„Wiſſenſchaften“ himmelweit verfchiedene Wiffenfchaft arbeitet, und fie Haben
und unfterbliche Muſter wiflenfchaftlicher Unterfuchung Hinterlaffen. Sie find
die einzigen unter den alten Völkern, alfo die erften von allen, die in ber
Kunft Schönheitibeale verwirklicht haben, und find wenigfteng in einen Zweige
ber bildenden Kunſte unübertroffen geblieben. Bei ihren Dichtern umb
Philofophen finden wir bie äußerfte Zartheit und den feinften Takt bes fitt-
lihen Empfindens, fo daß noch heute Jeder Herz und Gemäth an ihnen
bilden fann. Und diefe drei Gebiete des Seelenlebens erjcheinen unter fi
und mit dem Leibesleben zur harmonifchen Einheit verfchmolzen in vielen
ihrer gefchichtlichen wie ber von ihren Dichtern gefchaffenen Geftalten; denn
es gehörte ja belanntlich zum Weſen ihres Volksthumes, daß ihre Geiftes-
und Herzendbildung nicht zur Verlümmerung, fondern zur Vollendung ihrer
leiblichen Kraft und Schönheit führte. Diefes Humanitätidenl konnte Deshalb
nur kurze Zeit und nur in einem winzigen Bruchtheil der weißen Raſſe ver⸗
wirflicht werden, weil, wie aud) Gobineau richtig bemerkt hat, die Aufgaben,
bie der wechfelnde Strom des Lebens den Bölfern ftellt, einander für ges
wöhnlich ausjchliegen, fo daß man die eine fahren laflen muß, wenn mu
die andere ergreift. Deshalb erfcheint die Kultur der Völfer wie der Einzelr
einfeitig, die Geſammtkultur ftücweife an ihre Träger vertheilt; daß bie
Träger Theilhaber der echten Kultur find, die man als die europäifche E
zeichnen darf, haben fie immer wieder aufs Neue dadurch zu beweifen, i
ihnen die Sehnfucht nad) dem im hellenifchen Vorbilde verwirflichten Ganz,
und das Verſtändniß für diefes Vorbild nicht verloren gegangen if. D
Seillioͤres Gobineau. 211
Aeſthetiſche bleibt dabei das Entſcheidende, wie ſich Jeder klar machen kann,
wenn er überlegt, was uns denn eigentlich die exotiſchen Kulturen niedriger
erſcheinen läßt als die unſeren; nicht etwa, weil leibliche Schönheit das
Höchſte, aber, weil es das unmittelbar Wahrnehmbare iſt, Das, worin ſich
uns das Weſen des Menſchen offenbart. Auch Gobineau hebt hervor, daß
von wirklicher Schönheit nur bei ber weißen Kaffe sefprodien werben fünne,
ann von Shönpeit Aberl augt ‚sinn Neal ok; und ſchon * Fehlt
ihrem Seelenleben ein weſentlicher Beſtandtheil, Schon darum leidet ihr ganzes
Dafein an einer Unvolllommenheit, die als Häplichfeit oder Mangel an
Schönheit zu Tage treten muß. Aus dem Gefagten geht hervor, daß unter
den meißen Böllern keins das Menſchheitideal vollftändig verwirklichen Tann,
baß aber die XTheilhaberfchaft an diefem deal feinem ganz abgefprochen
werden darf. Im Kunſtgeſchmack und in der allgemein verbreiteten Schön⸗
heit des Gefichtes bleiben wir Nordländer hinter den Romanen zurüd, obmohl
in allen Gebieten der Kunft einzelne Deutſche das Höchſte geleiftet haben.
Bu mwirthfchaftlihen und politifchen Erfolgen gehören vor Allem Willens:
kraft und Stetigkeit; darin find bie Germanen und namentlich die Angelfachfen
ben Romanen und den Slaven überlegen. (Die ruffifche Politik wird nicht
von Ruſſen gemacht, fondern von ruffifizirten Deutfchen.) Daß die Europäer
zur Beherrſchung der Farbigen befähigt und berufen find, Iehrt jeder Tag;
ob und wie weit die Deutfchen. heute noch den übrigen Europäern in dem
Grade überlegen find, wie fie e8 in der Zeit von 1000 bis 1300 waren,
mug die Zukunft lehren. Höchfte Kultur fichert keineswegs den politifchen
Erfolg, kann ihm fogar binderlich fein, wie klaſſiſche Beiſpiele beweifen,
aber nur die zur höchften Kultur befähigten Völfer find auch befähigt, dauer»
bafte politifche Herrfchaft zu begründen. (Der ſchwankende Sprachgebraud
erſchwert die Berftändigung; wenn von den Kulturen der Naturvöller und
der Barbaren gefprochen wird, fo ift Das gemeint, was ich Givilifation
nenne. Hohe Eivilifation kann mit niederer Kultur, ja, mit Unkultur ver:
bunden fein und umgefehrt.) Zu den Stüden, in denen ich vollftändig mit
Chamberlain übereinftimme, gehört fein Urtheil über die Entwidelungtheorie.
(Sein Darwinismus ift Züchterdarwinismus, alſo eigentlich vordarwinifcher
Darwinismus). Er kennt weder Fortſchritt noch Rüdfchritt im Weltganzen,
fondern nur Entfaltung der einzelnen felbftändigen Wefen, zum Beifpiel:
ber Völker, und bemerkt treffend, daß gerade die darwinifche ‘Theorie den
Fortſchritt eigentlich ausjchließe, weil die Mionere das im darmwinifchen Sinn
vollfommenfte, nämlih das widerftands: und anpaflungfähigite Weſen iſt,
daß Naturforfcher von Haedels Art vielmehr Religionftifter find und daß
Darwin „immerfort mit einem Fuß in unverfälfchter Empirie, mit dem
212 | Die Zukunft.
anderen in haarfträubenb kühnen philofophifchen Vorausſetzungen breitbeinig
fortfchreitet.” Weismann hat den Moneren fogar die Uufterblichleit zuge
fchrieben. Freilich werden Millionen gefrefjen umd verbaut, aber Das würde
nicht gefchehen, wenn fie nicht fo dumm geweſen wären, größere und Font
plizirtere Wefen aus fih zu entwideln, die der Idealiſt volllommener wert.
Die Rafientheoretiter darwinifcher Richtung unterfchieben gewöhnlich dem
darwinifchen Begriff „angepaßt“ die idealiftifchen Begriffe „höher“ und „voll-
fommener“ und laſſen durch Anpaffung und Naturzädtung zuerfi aus
niederen Thierarten höhere, dann aus Thieren Menſchen und zulegt aus
niederen Menfchenraflen höhere hervorgehen; babei verloppeln fie manchmal
‚mit dem unechten idealiftifchen Darwin gedankenlos Gobineau, indem fie mit
Jenem die Entwidelung vom Niederen zum Höheren lehren, zugleich aber
mit Diefem über die fortfchreitende Entartung ber weißen Raſſe jammern.
Mit Chamberlain halte ich Gobineaus Peffimismus, der nur zunehmende
und unabwendbare Entartung fieht — die weiße Raſſe mit ihren edlen Eigen»
ſchaften fol im eflen Böltergemifch verfchwinden —, für unberedhtigt, erkenne
an, daß es gute und fchechte Mifchungen giebt, und füge Hinzu, daR eine
weife und kräftige Sozial: und Kolonialpolitik der Entartung, wo folde
droht, vorbeugen und die Kaffe verbeflern kann. Was den Fortjchritt betrifft,
fo befchränfe ich ihn auf die Technik, auf die Anhäufung des Wiflens, der
Fertigfeiten und der Güter und auf die Vermehrung des geiftigen Neid;
thumes durch die Vervielfältigung der Kombinationen, dagegen glaube id
nicht, daß ber Menfchennatur neue Kräfte zumachfen oder die, die fie hat,
fih erhöhen, noch daß die Menfchen moralifcher oder glüdlicher werben ober
einem Gefellfchaftzuftande entgegengehen, der allen früheren Zuflänben und
Staatsverfaſſungen vorzuziehen fein wird. Ein letztes objektive Ziel ber
Veränderungen, die man heute Entwidelung zu nennen liebt, erkenne ich
nicht an; alle Beränderungen haben nur den Zwed, ben Menfchen jeber Zeit
und jeden Drtes die Entfaltung und Bethätigung ihrer Anlagen zu ermög⸗
lichen, und diefem rein fubjeltiven Zweck dienen auch bie wechjelnden objektiven
Bwede der Entwidelung wie die Schöpfung neuer Rafſſen und Kulturen
und die Gründung neuer Staaten.
Die Abfiht, feinen Lefern einen feiten Halt darzubieten, hat den Ver⸗
fafler des Buches, das uns nun ein Wenig befchäftigen fol, nicht geleitet.
Er verwirrt fie vorläufig nur noch mehr (ich fage vorläufig, weil man ja
nicht weiß, was die folgenden Bände feiner Philofophie des Imperialismus
bringen werden), indem er Gobineaus Theorien und Geſchichtkonſtruktionen
fritifch zerfegt und durch Aufdeckung ihrer Widerfprüche, ihrer Willfürlich-
feiten, ihres phantaftifchen Charakter dem Spott preisgiebt, ohne ihnen eine
andere Lehre entgegenzufegen. Damit foll nicht gefagt fein, daß das Bud;
Seillioͤres Gobineau. 213
frivol wäre oder daß der Berfafler die dem Genie und dem edlen Eharalter
des Grafen fchuldige Pietät verlegte; den hohen literarifchen Werth ber meiften
Schöpfungen Gobineaus erfennt er ohne Rüdhalt an. Und feine Tritifche
Aufgabe, für die er fi) mit dem nöthigen gelehrten Rüſtzeuge verfehen hat,
nimmt er fehr ernft. Auch fein Spott ift nur die Hülle für den bitteren
Ernft, der fi darunter verbirgt. Es kann einem franzöfifchen Patrioten
unmöglich gleichgiltig fein, wenn ein Landsmann von ihn Iehrt, zwei Drittel
der Franzofen ftünden als Menfchen nieberer Raſſe außerhalb der ariſchen
Kultur, und wenn dieſer Landemann das Haupt einer einflußreichen beutfchen
Schule wird. Zwar hatte Bobineau auch die Deutfchen als ein minders
werthiges Miſchvolk gefchildert; aber nachdem fie 1870 ihre Ueberlegenheit
über die Franzofen bewiefen haben, kann ſich die deutſche Jüngerſchaft darüber
mit dem Gedanken tröften, daß der Meifter in diefem einen Punkte geirrt
habe. Seillidre nun macht, um einer Anficht, die für Frankreich wenig
fchmeichelhaft ift und fogar praftifch unheilvolle Folgen haben kann, den
Boden zu entziehen, gleich im Anfang feiner Einleitung ganze Arbeit: alle
Geſchichtphiloſophien find von der Leibenfchaft, vom Borurtheil und vom
Intereſſe eingegebene willfürliche Konftruftionen und die von Rouſſeau, Hegel,
Eomte fammt denen der allerneuften Autoritäten ftehen al3 Apofalypfen auf
einer Stufe mit dem Buche Daniel und der Offenbarung Johannis, bie
nichts Anderes find als die Gefchichtphilofophien ihrer Zeit. Die neufte Ges
fchichtphilofophie hat nach unferem Kritiler drei Wurzeln: den Yeudalismus,
den Germanismus und die von den Sandfritgelehrten verbreitete Schwärs
merei für die indifchen Arier. Die gemeinſame Frucht ift der Imperialis-
mus, die Lehre, daß den europäifchen Ariern die Weltherrfchaft beftimmt ſei.
Der Berfafler bemerkt gelegentlich, da der Name Arier heute eigentlich nicht
mehr zeitgemäß if. „Die wiflenichaftliche Mode hat gewechſelt; die Zu—
‚ gehörigfeit zur indogermanifchen Sprachenfamilie fol noch nicht die Bluts⸗
verwandtfchaft eines Volkes mit den Herrenvölfern beweiſen; man fett die
Entftehunggeit der indifchen und der iranifchen Sprachdentmäler herab, um
die afiatifhen Kulturen zu Ablegern europäifcher machen zu fönnen, umd
erlärt die europäifche Kultur für autochthon. So verblaft das Bild des
Ariers immer mehr, bis ihm eine Reaktion in der Gelehrtenwelt neuen Glanz
verleihen wird.“ In Frankreih ift nach Seilliere, der fich vielfad auf
Auguftin Thierry ſtützt, die Sache ander3 verlaufen. Der Adel blieb fich
feiner Abkunft von den fränfifchen Eroberern bewußt, die Stadtbürger führten
ihre Berfaffungen auf die Römer zurüd, die Banern hatten gar feine Tra=
bittionen und pochten in Zeiten dev Empörung auf die natürliche Gleichheit
aller Menſchen. Die Legiften endlich halfen mit dem römifchen Recht die
fih über alle Stände erhebende Macht des abfoluten Königs begründen. Da⸗
214 Die Zukunft.
neben wurde über den Urfprung ber Franken gefiritten; während ihnen die Einen
ihre germanifche Abkunft ließen, machten Andere fie zu Galliern, die über
den Rhein ausgewandert und fpäter von da zurüdgelehrt fein. Der „Keltis
mus“ wurde eine Zeit lang Mode und fah Kelten in allen germanifcher
Stämmen, fchliegli fogar in den Hunnen. Unter Ludwig dem Bierzeiuten
wurde diefe Theorie dazu benugt, die franzöfifchen Eroberungpläne zu recht»
fertigen; „fo wahr ift es, daß die Gefchichte immer die ‘Magb der augen-
blidlichen Leidenſchaften Derer ift, die fie ſchreiben.“ Der keltiige Urfprung
der Hauptmafle der franzöfifchen Bevölkerung konnte felbftverftändlich nicht
angezmweifelt werden. Der erfte Begründer de3 Germanismus ift Hotman
geweſen. Er bewies in feiner Frankogallia (1574), daß die alte franzöfiſche
Verfaffung auf die Freiheit und Gleichheit aller Bürger gegründet und ber
König an die Beichlüffe der Nationalverfammlung gebunden gewefen fei
Hotman gehörte dem Bürgerftande an. Hundert Jahre fpäter verquidte
feine Theorie der Graf Boulainvilliers mit dem Feudalismus. Auch er ver
fünbete die Freiheit und Gleichheit, aber nur die ber Dlitglieder des Adels,
dem fich der König unterzuordnen habe, und deſſen Recht, da8 Voll zu be
berrfchen, in der fränfifchen Eroberung wurzle. Der gräflihe Staatsphile-
foph bekämpft die „Löniglichen Baftarde“, die ſich als Prinzen von Geblin
über den echten Adel erhöben, die Befreiung der ländlichen Knechte und bie
Berufung von Bürgern in hohe Staatsämter. Ein Abbe Dubos Fichte
dadurch Verföhnung zu ftiften, daß er die Franken als Bundesgenoffen der
Galloromanen im Kampf gegen die übrigen Barbaren auftreten lief. Mably
wendet dann wieder da8 hohe Gut der germanifchen Freiheit dem ganzen
Bolf zu und macht Karl den Grogen zum Wiederherfteller der Volksrechte
und zum konftitutionellen Muftermonarhen. Im felben Fahrwafler gelangte
der populärere Rouffeau zum Sozialfontralt, von dem aus man nicht mehr
weit hatte zur Herrfchaft des tiers tat und zum Abbé Siey&s, der die fick
ihrer Abftammung von Eroberern rühmenden Ariftofraten in ihre beutfchen
Wälder zurüdichiden wollte Nach der Reitauration ftellte der Graf Mont
lofier die ariftofratifche Doltrin wieder her. Nur durfte er nah Dem, was
zwifchen der Revolution und 1815 gefchehen war, nicht wagen, die Anfprüdhe
des franzöjifchen Adels auf feine deutſche Abftammung zu gründen. Ihm
ift der Adel die Gefammtheit der Freien, der Herrfchenden, gleichviel welhen
Urfprungs, gegenüber dem handarbeitenden Volle; in beiden Ständen |
alle drei Raſſen vertreten: Gallier, Römer und Germanen. In Deutſch.
läßt Seillidre den Germanismus als Reaktion gegen die Eroberungskr
des vierzehnten Ludwig und gegen feine Steltomanen entftehen ‚und mr
Leibniz al3 den erften Träger der neuen Strömung, bie fi) dann in He.
fortgefegt Habe. An ihn fchloffen ſich die Dichter und Philofophen
I"
Seillieres Gobineau. 215
Freiheitkriege, dann die Nechtsphilofophen, die Romantifer, die Indologen.
Damals wurde ganz Europa vom Naflentaumel ergriffen. „Diefer Rafſen⸗
wahniinn: Schladten, die man mit Wörterbüchern, Archivalien und Volks⸗
Liedern gewann, bintige Heldenthaten, die man um biftorifcher Regenden willen
werrichtete, diefe bis dahin beifpiellofen Erfcheinungen charakterifiren den politis
fchen Gemüthszuſtand eines Theils von Europa im nennzehnten Jahrhundert.“
Damit war fir einen Gobineau der Boden bereitet und zugleich ihm das
Material geliefert. Die Kritik feiner Schriften bildet den Inhalt des vor⸗
liegenden Buches. "
Eine Analyje diefer kritiſchen Analyfe würde ein gleich dickes Buch
erfordern. Sie wäre auch überflüflig, wie ſchon Seilliöres Buch felbft es
fein würde, wenn es nichts weiter als eine Kritik der Raffentheorie enthielte.
Denn die Webertreibungen und Phantafien bes Romantikers der Anthropo:
logie, etwa, daß die äfthetifche Anlage aus Negerblut flamme, nimmt doc)
Fein ruhiger Denker ernft; und die enthuſiaſtiſchen Verehrer laſſen fich durch
Kritik nicht anfechten. Vielfach geht Seillidre in der Ablehnung zu weit;
fo, wem er gegen die Schilderung der „ariſchen“ Schönheit den Einwand
erhebt, daß die Schönheit Geſchmacksſache fei und daß fie von jeder Thier⸗
und Menfchenart ander3 verftanden werbe. Freilich, meint er, werbe Go⸗
binean dieſen Einwand nicht gelten laſſen, da er die Schö
abſolute idee halte. Dafür halte — ich ſie _und_nicht, wie manche Biologen
lehren, für-eine dem Ge dienende Illuſion, die auch dem Heus
ſchreck die : Heufhredin. als das Khönfe aller irdiſchen Wefen erfcheinen laſſe.
Ber Menichen ift 8 beſtimmi wicht" ſo, daß fi Jeder Jein Schoönheitideal
nach der eigenen Geſtalt formt. Der Häßliche liebt nicht eine Häßliche, der
Krüppel nicht die Verfrüppelte, und während ficherlich noch fein Weiner ges
wänfcht hat, wie ein Neger oder Mongole auszufehen, beneiden wahrfcheinlich
alle gebildeten Veger und Mongolen bie Europäer um ihre Hautfarbe und
ihren Sefichtsfchnitt. Hier und da flicht Seilliere treffende, ja, glänzende
Charakteriftilen feines Helden oder vielmehr Opfers ein; ein Beifpiel: „Wenn
man. Sobineaus Parteinahme für die Kaften, feine Vorliebe für Ausdrüde
wie Mißheirath, Emporkömmling, Erllufivität ins Auge faßt, fo erfcheint er
Einem als ımverbefferlicher Junker. In Wirklichkeit gehört er eher unter bie
extremen Nepublifaner al8 (ich würde jagen: eben jo — wie) zur Kavallerie
das ancien rögime. Reaktionär ift er gewiß und nicht etwa blos um ein
Jahrhundert, auch nicht um fünf Jahrhunderte, fondern um drei Jahrtaufende
zurüd, benn fein Feudalismus beruht ja ſchon auf Rejignation (weil durch
das Vafallenverhältnig die urfprüngliche Freiheit und Gleichheit aufgegeben
wird), Sein Focal ift der äußerſte Individualismus, der fouveraine Beſitz
eines Allodiums in Gardarife. Nichts Anderes ift er als ein ariftofratifcher
216 Die Zuhmft.
Nouffeau, der für die Arier fordert, was der genfer Philoſoph auch ber
ganzen Menfchheit wünfchte. Hat nicht biefer wahre Bater ber Nomanti
bamit angefangen, die Skythen, bie alten Perfer, die Germanen des Zarıtub
zu verberrlichen, die Korruption ber Athener, das befadente Nom, bie trez
Iofe Renaiffance des fechzehnten Jahrhunbert3 zu verbammen? Der Abfchen
vor der Naffenmifhung Hat eine merkwürdige Uehnlichleit mit der Ber
wunſchung des Gefellichaftlebens. Die Wirkungen diefer beider gefährlichen
Wandlungen des vermeintlichen Urzuftandes find in den Augen beider Utopiflen
bie felben: für die Entftehung ber verderblichen Künfte und Wiſſenſchaften
macht ber Eine die Gefellfchaft, der Andere die Mißheirath verantwortlid.
Und Keiner von Beiden wagt, das gefährliche Element ganz zu verbannen:
Rouſſeau kann ein Wenig Gefellichaft, Gobineau ein Wenig Kultur erzeugende
Raſſenmiſchung nicht entbehren, — aber um Gottes willen nur eine homöe:
pathifche Dojis! Sonſt degenerirt der Arier des, Verſuchs iiber bie Ungleid-
heit der Menſchenraſſen‘ wie der gute und glüdliche Urmäldler ber ‚Ab:
handlung über den Urfprung der Ungleichheit unter den Menfchen.‘ Auch
haben Mifhung und Geſellſchaft gemeinfam, dag ihre verberbliche Wirkung
weile erft in einem Stadium fihtbar wird, wo es für die Umkehr zu fpät
it. Wenn Gobineau der Mifchung zufchreibt, was fein Vorgänger für eine
Folge der bloßen Bergefellfchaftung hielt, fo kommt Das daher, dag euer
als Schüler Boulainvillier8 beffer weiß, welche Rolle Gewalt und Erobermg
bei der Geſellſchaftbildung gefpielt haben. Aber aus dem Schoß ber weißen
Raffe, die ihm die echte Menſchheit ift, verbannt auch er Kampf und
Sklaverei auf Grund des Naturrechtes. Noch mehr: in diefen engeren Kreis
führt er den Geſellſchaftvertrag ein — denn die Feudalität ift nach ihm ald
eine Uebereinkunft zwiſchen Gleichen entftanden —, nicht, ohne, gleich feinem
Meifter über diefen erften Schritt zur Entartung einige Thränen zu vergiehen.“
Könnte man die Kritik des Gobinismus, fo intereffant und geiftreid
fie ift, recht gut entbehren, fo ift dagegen Einem, der kein Mitglied der
Schemann-Wagner: Gemeinde ift und der fi daher mit dieſen Dingen nicht
ex professo beihäftigt, da8 Buch deshalb hochwillkommen, weil es eine
fragmentarifche Biographie de Grafen und den Inhalt feiner zahlreichen
übrigen Werke angiebt, die zur Iefen man wenig Beranlafiung bat, wenn
man nicht zur eben genannten Gemeinde gehört. Die Novellen und Romane
zu lefen, würde Einem Seilliere8 Bericht wohl Luft machen, wenn man meht
Muße Hätte und der Tag nicht fo viel Neues brächte; aber wer hätte Zeit
übrig für eine aus orientalifhen Märchen gefchöpfte Gefchichte der Perfer
(die freilich nach der Meinung, die Seilliere von der Gefchichtfchreibung im
Allgemeinen Hegt, ihm fo viel werth fein müßte wie jede andere Geſchichte)
oder für Gobineaus nicht weniger phantaftifche Keilfchriftendeutung, die von
|
Seillioͤres Gobineau. 217
den Aſſyriologen verſpottet wird, oder für die Geſchichte Ottars Jarl, worin
der Sprößling einer füdfranzöfischen Familie fein Geſchlecht auf einen ſkandi⸗
naviſchen Seehelden zurüdführt? Den Ueberfeger Gobineaus, das Haupt
der beutfchen Gobiniften, den Profeſſor Schemann, ber fi die Miſſion zu-
ſchreibt, Richard Wagners Teftament zu vollftreden, behandelt unfer Franzofe
recht ironifh. Er meint, das Urtheil über die Sprache Gobineaus in feinen
poetifchen Werken möge der Herr nur den Franzofen überlafjen, und jchreibt:
„Welcher Franzoſe würde nicht über die Werthung der Tragoebie ‚Alerander
der Dealedonier‘ (eines Ingendwerkes) durch ihren bdeutfchen Herausgeber
lächeln?“ Was das Verhältniß Gobineaus zu Richard Wagner betrifft,
fo glaubt der Kritiker, die gemeinfame Liebe zur Kunſt, die Gobinean in die
feltfamften Widerfprüche mit fich felbft, mit feiner Tulturfeindlichen Theorie
perwidele, babe Beiden die Kluft verbedt, die fie trennte. Zu der Zeit
nämlich, wo fie Freundfchaft fchloffen, hatte Wagner ſchon den von Niegiche
fo tief beffagten Bufammenbruch erlitten: er war katholiſirender Chrift ges
worden und fah das Heil nicht im Arierblut, fondern im Heiligen Gral,
im Blute des Erlöfers, das fich erneuernd in die Adern der Menſchen aller
Farben ergieße. In feinen legten Tagen bat Gobineau einen Auffag für
die Bayreuther Blätter (Ueber den gegenwärtigen Zuſtand der Welt) ges
fehrieben, den ber Meifter mit einer Vorrede einführte. Diefer Auffat treibt
den Peſſimismus auf die Spite, entwirft von den „revolutiowären” Romanen
das gehäffigfte Bild und ſchreckt mit der gelben Gefahr: binnen zehn Jahren
Könnten die Mongolen, von den Slaven eingelaffen, Europa umgeftaltet haben.
Dazu bemerkt der Vorredner ganz gemüthlich: wie Schopenhauers Peſſimis-
mus duch die Vernichtung des falfchen Optimismus die Hoffnung auf Er-
löſung gewedt und damit diefe ſelbſt vorbereitet habe, fo fei auch diefe
Schilderung allgemeinen Berderbens ein neuer Hoffnungerreger; benn man
böre aus ihm den felben Seufzer tiefiten Mitleides heraus, der von Golgatha
ertöne. Das fei, meint Seillidre, da8 gerade Gegentheil von Dem, was
Gobineau gewollt habe. Diefer Habe aljo feine ganze Mühe verloren.
„Können zwei Zeute einander mehr lieben und einander body unverftändlicher
bleiben als diefer Vorredner und Der, den er einführt?
Dem Endurtheil Seillidres über Gobineaus Hauptwerk kann ich bei⸗
fimmen, ohne jedoch den Gobinismus fo gefährlich zu finden, wie ihn bie
Furcht des Franzofen flieht. Der „Verſuch“ müſſe als ein Heldengebicht auf-
gefaßt werden, das fi in der Form dem wiflenfchaftlichen Gefchmad der Zeit
anpafle, aber aus der Seele eines Aöden, eines Troubadours ſtröme. Gobi⸗
neau fei, fchopenhauerifch zu reden, nicht ein Logifches, wohl aber ein intuis
tive8 Genie geweien. Solche Menfchen würden von Heineren Beiftern be
richtigt, erwiefen ſich aber als fruchtbare und fchöpferifche Infpiratoren. In
218 Die Zukunft.
einer Gefchichte der Ideenentwickelung habe man ben Werth von Literatur:
werlen nicht an ihrem Gedankengehalt abzumeflen (Seilliöre jchreibt: par
leur merite intrins&que), fondern an der Tragweite und Dauer ihres Ein-
fiufies. Wer glaubt, daß feine auf die Darftellung des Aryanismus und
Gobinismus verwendete Arbeit in keinem Verhältniß fiehe zum Gegenflanbe,
daß den Phantafien eines Dilettanten eine zu große Wichtigleit beigelegt
werde, Der möge fein Endurtheil aufichieben, biß ihm über Das, was fidh
(in Deutfchland) vorbereite, berichtet worden fein werbe, über bie Neberbäche,
in denen verwandte Gedanken rinnen und bie fi) zu Strömen vereinigem.
Vorgreifend folle für jegt nur bemerkt werben, daß der wirkliche, wenn auch
nicht eingeftandene Jünger Gobineaus jenfeits des Rheines nicht Richard
Wagner fei, fondern der anfängliche Bundesgenoffe unb fpätere Feind bei
Meifters von Bayreuth: Friedrich Nietzſche.
Neiſſe. Karl Jentſch.
vi |
Rosmifche Wanderungen.
ee der auf das neunzehnte Jahrhundert zurüdblidt, muß bie Geftalt
” bes Philofophen aus dem Rofenthal, Fechners, feſſeln wie faum eine
zweite. Alles ift in ihr, was in dem vollendeten Wogenliede dieſes Fahr
hunderts zufammenklingt: das grenzenlos, fternenweit vergrößerte Wiflen umb
bie grenzenlofe Sehnfucht, die zwifchen all diefen Firfternfonnen und Aeonen
auf ihrer ſchwarzen Erbe liegt und fingt: Was bin ih? Was bin ich, ber
ich auf diefen fchimmernden Aeonen heraufihwimme, wenn ich morgen Hin:
abftürze in die ewig fternenloje Nacht der Vernichtung? Was find diefe ſtrah⸗
lenden Lichtpunfte da oben am Firmament, wenn ich allein eine Seele habe,
während durch diefe Billionen Meilen des Raumes nichts rinnt als inner
fich tote Kraft? Was bift Du, mein Mitmenſch, den ich Liebe, ber mein
Nächſter fein foll, was bift Du, wenn zwijchen uns felbft die Grabeshülle,
Grabesſchwärze einer feelenlofen Körperwelt fich fchiebt? Meine Lippe preft
fih im brennenden Kuß auf Deine, — und zwifchen Lippe und Kippe Tiegt
biefer ganze jchmweigende Raum mit al feinen Milliarden ftarrer Sternen
augen, die nicht fehen können . . . Wer diefe Stunde des Ringens mit fi
felbft nicht erlebt hat, kann freilich Fechner nicht begreifen." Diefe We
Bölfches, die er dem Andenken des faft vergefenen großen Natırrforfche
wor Jahren widmete, laſſen und Mar die Leerheit ber gewöhnlichen Schl
wörter erfennen, mit denen wir bie geiftige Bedeutung großer Dlänner |
greifen zu können vermeinen, die Hinfälligfeit der üblichen Kategorien, d
vielleicht bequeme Schemata für den trodenen Verſtand fein mögen, aber nid
Kosmiſche Wanderungen. 219
entfernt den wahren, zeugenden Lebensgehalt der been erfaflen. Ein folder,
mit elementarer Expanſivkraft wirkender Gedanke war die Heberzeugung von
der organischen Entwidelung alles Wirklichen: er hat denn auch unfere ganze
geiftige Kultur, unfere gefammte Wiffenfhaft von Grund aus unigeftaltet.
Selbſt Fechner, der unter ganz anderen Anfchauungen erwachfen war, kann
fich, wie er felbft bekennt, diefer magnetifchen Berührung nicht entziehen und
wählte feinen Standpunft nah bei Darwin. Was befagen da noch die alten
Rubriken: Materialismus und Idealismus? Kommt nicht Alles darauf an,
was ich unter diefen emigem Wechjel unterworfenen Begriffen verfiehe? Wenn
Zone, jedenfall ein unverbächtiger Zeuge, offen erklärte, die Materie fei ihm
nur begreiflich als Wiederſchein eines inneren geiftigen Lebens: wie viel fehlte
noch daran, daß, als die Schranken des Dualismus gefallen waren, in moniftifcher
Auffaflung Natur und Geift als wefentlich identifch erfchienen, nur verſchieden
vielleicht in ihren Formen, in ihrer Entfaltung, mindeſtens für den perjön-
lihen Standpunkt des einzelnen Menfchen? Je mehr die Unklarheiten und
Ueberfhmwänglichkeiten der anfangs vielleicht allzu enthufigftifchen Stimmung
einer ruhigeren, tiefer eindringenden Prüfung Platz machen, um fo fefter wird
der Glaube an die untheilbare Einheit alle Werdend und Gefchehens.
Eins der gebräuchlichften und bequemſten Schemata, mit denen wir
die Wahrheit der Wirklichkeit fälfchen, it die befannte Gegenüberftellung der
mechanifchen, ſtreng gefegmäßigen, empirifchen und der animiftifhen, mit
Wundern und plöglichen unvermittelten Eingriffen in den Naturlauf ver:
trauensjelig rechnenden religiös-mythologiſchen Weltanfhauung. Dieſe zeige
fich befonders anfchaulich bei den Naturvölfern, in der Auffaſſung efftatifcher
Berfünlichkeiten oder ganzer Zeitalter. Jene fei das untrügliche Kennzeichen
Earer, nüchterner Forfchung, die mit diefen Spuf unmündiger Generationen
gründlich aufräume. Das Klingt bis zu einem gewiffen Punkt ganz plaufibel;
rihtig und erfreulich zugleich ift die Befeitigung aller nachweisbaren Irr—
thümer durch die Wiffenfchaft; und in diefem Sinn mag der alte, oft miß—
veritandene Spruch des Lufrez immerhin heute noch gelten: Tantum religio
potuit suadere malorum. Über falfch, grundfalfch und verderblid ijt der
Wahn, daß der Michanismus das große Räthſel des Daſeins endgiltig zu
löfen vermöge. Das Hat das Icharfe Auge Bölſches richtig erkannt, der des—
halb auch ingrimmig gegen das ftolze und hohle Wort „jelbitverjtändlich*
fämpft, das die Gedanken nivellire, wie der diluviale Sand das Geſteins—
profil der Mark. Was wollt hr denn, ruft er zornig aus,*) mit dem
Selbitverftändlihen? „Dieſes Eclbjtverftändliche ift ja das große Wunder
unferer Zeit, da8 Wunder aller Wunder. Nicht, daß myftiihe Blumen im
*) Yon Sonnen und Sonnenjtänbchen. Georg Bondi, Berlin 1903.
17
220 - Die Zukunft.
dunklen Kabinet aus den Lüften regnen, ift da8 wahre Wunder für den editen
Ofterfucher von heute, ſondern daß überhaupt auch nur die fehlichteite Blume
nach fchlichteftem Naturzufammenhang aus dem Erdboden wächſt. Nur eine
Rettung giebt «8, daß unfere Sehnſucht den großen Oſterpfad wieberfindet
durch unfer fternenweit gebehntes modernes Wiſſen. Wir müffen uns wieder
darauf befinnen, wie wunderbar das Natürliche felbft ift, als Natürliche.
Ich will ihm nichts fortnehmen im ftrengften Naturforſcherſinn; ich wil
es nirgends durchbrechen. ber gerade biefe abjolute, in ſich gefchlofiene,
durch und durch einheitliche Natur ift mir dann aud wieder das hödft
Wunder. Was für ein unfagbar Geheimnigvolles ift diefe ‚Gefeßmäßigfeit‘
alles Geſchehens? Warum ift die Welt nicht wirflih ein Haufe regellos
ftäubender Atome? Im Grunde fehon: welches Wunder ift e8, daß über:
baupt Etwas ift! Und dann, da uns dieſes erfte Wunder immer wieber wie
ein Auferftehungmorgen gefchenft ift, das zweite, nicht minder große, daß es
Berfchiedenes giebt. Immer, wohin wir finnen und forſchen mögen, bewegt
ung dieſes dunkle Ahnen, daß Alles in einem ewig Einen ſchwimmt, eine
tieffte kosmiſche Einheit bildet. Und doch ift dieſes Eine auseinander ge
fpannt zu dem unendlichen Majaſchleier des Bielfältigen. Nicht nur Sonn,
fondern auch See, der fie fpiegelt. Und am Eee diefes liebliche Blumen
auge, eine Individualität, wie ich. Und ich felbft, in befien Oftern fuchendem
Auge noch wieder das Alles ſchwimmt.“ Das mag Manchem, dem für bie
legte, höchfte Problem der Sinn fehlt, ſchwärmeriſch vorlommen, myftild,
wie man es wohl in thörichter Ueberlegenheit faft mitleidig nennt, und es if
trogdem ber Treffpunkt, wo alle Weltweifen aus allen Zonen und Bölfer,
trog allen ethnographiſchen und Fulturgefchichtlichen Verfchiebenheiten, einander
begegnen. Gerade unfere moderne Wiffenfhaft, die uns durch ſchaͤrfft
Analyfe, wie Max Müller einmal fagt, begreifen lehrt, wie natürlich, mt
organıfh entfaltet das Uchernatürlihe, die Entftehung von außerweltlichen
ES piegelungen, fei, darf in ihrem eigenen Intereffe nicht gleichgiltig an dieſer
Tundamentalvorausfegung alles Denkens und Erfennens vorübergehen. Thut
fie «8, fo läßt fie SEopf und Herz falt und zwingt Viele, ſich außerhalb dieſer
Haren Erfenntnißfphäre in Dogmen, bie ihnen ein sacrificio dell intellett
auferlegen, Rath und Troft zu holen. Doch auch das Schaufpiel, für dad
der blöde, ſelbſt nicht duch die fchärfiten Inftrumente genügend erleuchtet
Blick des Menſchen ausreicht, auch die Rundſicht auf die Zergliederung in die
urfprünglichen, einfachen Elemente und Keime alles Werdens nöthigt und zu det
ſtummen Verehrung, von der als der Weisheit letztem Schluß alle wahrhaft großen
Scher, Weifen und Dichter von je her redeten. Wer durfte ſich als ehrlicher
Forfcher, im volliten Bejig aller wiſſenſchaftlichen Hilfsmittel, je des Glauben?
vermeflen, er fenne das Leben? Wir wiſſen nicht, fagt Bölfche, wie ©
Kosmifhe Wanderungen. 221
urſprünglich entſteht. Möglich wäre im Sinn ſolcher Betrachtungweiſe, daß
es ſich unter Berhältniffen gebildet hat, die wir gar nicht kennen, da fie in
Urtagen auf zonenfernen Sternen vielleicht nur einmal gegeben waren. Zu
uns wäre das Leben erſt fpät, als längft fertiges Bazillustörnlein, herüber-
gewandert. Oft, immer wieder famen folche fliegende Körnlein im Trocken⸗
heit und Kältefchlaf des Raumes zu und heran. Lange aber glühte bie
Urerde gleih der Sonne; da hielt ſich nichts. Bis die Erdrinde fi auf
hundert Grad etwa abgekühlt hatte: da konnte der erfte Bazillus gedeihen,
wehrte ſich, änderte, entwidelte ji und umgrünte die Erde endlich als Wiefe
und Wald. Freilich verfchiebt diefe geiftzeiche Hypothefe Bölſches das Räthfel
nur um eine Station, da der urfprüngliche Entftehungherd hier ausgefchaltet
ift. Und nicht minder offenherzig geiteht Bölfche, daß diefer erfte fragwürdige
Bazillus ſchon im Keim die ganze fpätere Generationenreihe bis zum Menfchen
bin,in fich getragen haben müſſe. Und da ftehen wir abermald vor einem
Räthſel der Erkenntniß, das der Natur der Sache nah in alle Ewigkeit
menfhliden Scharfiinnes fpotten wird, weil e8 ganz und gar jenfeit8 von
tritifher Erfahrung liegt. Dagegen läßt fih wohl von diefem Anfaugspunft
aus die weitere organische Beftaltung des Lebens beobachten, die verfchiedenen
Formen der Individualität, der ſozialen Erfcheinungen in Thier⸗ und Pflangen-
reich, der eigenthümlichen Symbiofe, des gemeinfchaftlien Haushaltes, den
Pflanzen und Thiere auf gleiche Koften beftreiten. Endlich kann man auch noch,
wie Bölfche fagt, die ganz wunderbare Zähigfeit, mit der ſich, felbit unter
den ungünftigften Exiftenzbedingumgen, eine urfprüngliche zeugende Lebens⸗
traft hält, nachrveifen. Doch wir gelangen damit, wie ſchon bemerkt, nicht an des
„Lebens Duelle“. Ich möchte dies Ariom, um ein etwas hochtrabendes
Wort zu gebrauchen, noch durch einen anderen Hinweis erhärten. Bekannt⸗
Ti) hat die moderne vergleichende Rechtswiſſenſchaft auf ethnologifcher Baſis
und mit ihr im Berein die Soziologie die völlige Nelativität (wefentlich
durch die jeweiligen fozialen Berhältniffe und die ganze Kulturftufe bedingt)
aller fittliden und rechtlichen Anfchauungen nachgewiefen; und doch kommt
man nit um einen wichtigen Punkt herum: um das Zugeftändnig eines
freilich ganz formalen Gefühles, je nach Lage der Dinge entjcheiden zu können,
was Recht oder Unrecht ift.
Der Zweifel an der Bedeutung des Mechanifchen läßt ſich auch nach
der äfthetifchen Seite verwerthen. In der guten alten Zeit des Dualismus
fonnte für die Kunſt der Schnitt haarſcharf zwifchen Menſch und Thier ge:
zogen werden; und was fonft etwa an aufdringlichen, unbequemen Erfchei:
nungen bei unferen Verwandten entdedt wurde, gehörte einfach, jo weit man
3 überhaupt zuließ, in das Kapitel vom Inſtinkt. Je weniger man ſich über
dieſes Räthſel Har wurde, um fo willfommener war folder Schlupfwintel, um
17*
222 | Die Zukunft.
böswilligen VBerhören und Frageftellungen auszuweichen. Da kam bie Sturm:
fluth Darwins und feiner Nachfolger, überall fielen die früheren Schranfen,
nichts hielt mehr Stand, Alles fchien aufgelöft, feit die mikroſkopiſche, tu
duftive Detailarbeit überall einfegte. Gewiß ift in diefer rafch erblühenden
Thierpfychologie manche voreilige Hypotheſe entflanden, die dann bald in ihr
wohlverdientes Grab ſank; aber der wiſſenſchaftliche Gewinn dieſer Unter:
ſuchungen war trogbem beträdtlih. Man braucht nur an Ameifen und
Bienen zu denken; da haben wir eine fehr reichhaltige Literatur, die aud)
nach der äfthetifchen Eeite noch viel Material liefern wird. Was Fechner,
zum Entfegen feiner ihn als Sonderling betrachtenden Zeitgenoffen, von emer
Aeſthetik von unten ſagte, gewinnt jetzt an greifbarer Deutlichkeit. Ohne
Zweifel, ruft uns Bölfche zu, ift die Natur auch unterhalb des Menſchen vol
von Objelten, die unferem menfchlihen Sinne noch als volllommene fünf
leriſche Leiſtung erfcheinen, die zweifellas Objekt der Lehre vom Schönen, ber
Aefthetik, fein müffen. Man betrachte einen Schneeftiftall oder Bergkriſtal.
Da ift die Anlage diefer Dinge ſchon im Anorganifchen, im fogenannten
„Toten“. Nach geheimnigvollen Gefegen der Natur erfcheint eine rhythmiſche,
eine harmonifche Anordnung der Stofftheilchen, die uns als „künſtleriſch',
ala „Thon“ entzüdt, — fogar noch jenſeits der Grenze des fogenannten
„Lebendigen*. Für den Laien hat allerdings die Frage immer das Haupt
gewicht, ob diefe Geftalten nur rein „mechanifch“ oder ob fie durch einen be
wußten fünftlerifchen Akt gefchaffen feien. Wenn er hört, daß diefe Föfllichen
Stiefelftelette der Nadiolarien doch von lebenden Wefen geformt feien, 0
neigt er dazu, noch an dieſe Weſen zu denfen. Beim Kriſtall aber erideint
ihm Alles bereit3 als „mechanisch“. Wenn man nun aber die Gebilde felbf
vergleicht, wen man die Aehnlichkeit zwiichen Kriftal und Radiolarienſchale
erfennt und jich fagt, dar gerade das „Echöne“ in Beiden unverfennbar für
unfer Auge das Gleiche ift, fo muß man ſchwankend werben, ob jene Unter:
ſcheidung wirklich etwas Präzifes ausfagt. Bölfche läßt die Aeſthetil der
Radiolarien in die Philoſophie münden; jedenfalls führt eine ununterbrocdent
Linie von den Pflanzen über die Thiere zu den Menfchen, wo dann in
thörichter Kontraſtirung Kunſt und Natur einander gegenübergeftellt werben
Bolſches Werk bedarf feines Kobes; feine Efjays fprechen für fich ſelbſt.
Wer den Verfafler fennt, wei aus Erfahrung, daß er eines wiffenfchaftli
und zugleich eines kunſtleriſchen Genuſſes fider fein kann. Das Bel
Bölſche it aber, dag er Probleme anzufalien und dem trägen Bildung,
liter recht eindringliche Fragen zu ftellen verjteht.
Bremen. Dr. Thomas Agelik
Sr
Drei alte Weiber von Berlin. 223
Drei alte Weiber von Berlin.
SS: alte Seilern machte in einer Laube ihres ſchönen Obftgartens den
Kaffeetifch zurecht. Sie ftellte die Taffen und eine große Kaffeekruke auf
den Tiſch und einen Teller voll Streußelkuchen daneben. Dann jeßte fie ſich
in bie Zaube, fah in ihren Obitgarten hinaus und dachte, big die beiden anderen
alten Weiber famen, über ihr Leben nad. Sie bohrte mit etwas zitternder Hand
die Streußelkügelchen von den Kuchenſtücken und ftedte fie einzeln in den Mund.
Nadı einem Weilchen bemerkte fie, daB dadurch auf einem Kuchen leere Stellen
entitanden. Deshalb nahm fie von den anderen Stüden einzelne Kügelchen weg,
legte fie jäuberlid auf die kahle Stelle, damit die Gäſte nichts merkten, und
guckte ſich verjtoglen um, ob man fie nicht aus den Nachbargärten etwa beobadite.
Sie ſchaute in ihren Obftgarten hinaus, wo die Kirſchen ſchon in rothen
Glöckchen fommerlich reifend im Schatten der Blätter Hingen und einzelne Vögel
noch zwiticherten. Sie empfand wieder einmal mit angenehmem Grufeln, daß
fie nun Schon die zweite Hälfte der achtziger Lebensjahre hinter fi Hatte. Das
war ihr Stolz. Und fie hoffte, neunzig und hundert erreichen zu können. Denn
wenn fie auch ein Wenig mit der Hand zitterte beim Kuchennaſchen, jo war fie
doch noch feit im Geilt, wie fie meinte, konnte der Portierfrau mit lauter
Stimme, die man durch den ganzen Garten hörte, befehlen und die Miether
ihre8 Haujes in Ordnung halten, jo daß die Frauen und Dienftmädden in
trogener Sommerszeit nicht zu viel Waſſer aus der Wajjerleitung verjchwendeten,
was ihr ein Gräuel war.
Wie war doch das Leben jo fonderbar lang und kurz zugleich gewejen!
Faſt jeit dreißig Jahren haufte fie bier im Vorort, als Villenbefigerin, die jelbit
mit ein paar Zimmern im Gartenhäuschen fürliebnahm und vom Mieihertrag
der Villa lebte. Offiziere, Künftler, Gefchäftsleute hatten da gewohnt und die
ihönen Lauben des großen Gartens benugt, an Sonntagen mit gepußgten Damen
und Kindern ihre Frühlingsfefte da gefeiert und Maibomlen getrunfen. Die
waren gelommen und wieder ausgezogen, je nachdem Beruf und Schidjal es
mit fi gebradt. Sie war jelbft jchon eine ältere Yrau gewejen, al$ ihr Mann
nad) dem großen Sriege billig das Land kaufte und bie Billa baute; eine ſtarke
Fünfzigerin, für die damals fchon die jhönen Beiten der Liebe und des Scherzes
mit den Männern in weiter Ferne der Vergangenheit lagen. Und fie hatte
doc die Männer immer gern gehabt und mit fiebenzig Jahren jogar noch ein-
mal flüchtig ans Heirathen gedadt. Denn einſt, als die Leute noch in Alt-
Berlin in engen Hofen und Batermördern gingen, war fie eine Iuftige Stellnerin
gewejen, die nichts dagegen hatte, wenn ein fhmuder Soldat fie einmal beim
Kinn nahm und in der Stehjeibelftube zwiſchen Bier und Rauch fih einen Kuß
ftahl. Das Hatte fie immer gern gehabt. Und als fie in der Zeit, da „Unter
den Linden” das Denkmal des Alten Fritz aufgerichtet wurde, eine chrbare
Bierwirtdsgattin und Stehfeidelftubenbefigerin geworden war, jpäter aber aud)
ein größeres Gafthaus mit ihrem Manne gehabt hatte, waren aud) viele mun—
tere Gejellen mit netten, Iuftigen Mädchen in ihrem Schuße eingefehrt und fie
hatte fih immer daran gefreut, daß die Männer jo hübjch mit den Mädchen
umzugehen wußten. Das waren die Zeiten gemwejen, wo in Berlin gejchoflen
224 Die Zutunft.
wurde und die Leute vors Schloß zogen; um 1848. Und dann badite fie an
Beiten, wo fie felbft eine große Krinoline getragen hatte und auf der. Friedrich
ftraße allmählig größere Häufer entftanden und die alten großen Gärten dort
immer mehr zugebaut und mit Hinterhäufern vollgeftopft wurden. Damals hatte
fie ftch Schon an den König, den Dann ber Königin Luife, mit Wehmuth erw
innert, weil er ein fo ſchmucker Mann geweſen war und ihr vom Pferde einen
Blick zugeworfen hatte, als er einmal an ber Stehfeidelftube vorbeiritt. Und
bann war fein älterer Sohn König geweſen; wonad dann die Zeiten Bismards
famen. Sie hatte zwar immer gefagt, daß fie den Kaiſer Wilhelm überleben
werde. Das war ja auch eingetroffen; daß aber Moltke und Bismard auf
wegſchwinden follten, war ihr doc) nıım wie ein Traum geworden. hr Mann
war geftorben, nachdem fie einige Jahre die Villa ſelbſt bewohnt und vermietbet
hatten. Denn die Gaftwirthichaft in Berlin war ja gut gegangen umd jo fonnten
fie fich die Billa gönnen. Ihre Kinder waren auch tot; nur Enkel und Urenkel⸗
finder lebten noch in Sadfen. Die konnte fie aber nicht recht leiden, denn fie
jchrieben immer nur, wenn fie Geld brauchten, und konnten, wie fie meinte, ihren
Tod nicht erwarten. Deshalb hatte fie jich vorgenommen, womöglich jo alt za
werden, daß bie Enfel auch feinen rechten Genuß von der Erbjchaft hätten. Sie
ließ die Villa, die ohnehin nur ſehr billig auf Spekulation gebaut wor, abſicht⸗
li) verfallen, um die Erbſchaft zu entwerthen.
Einftweilen aber freute fie fid) an ihrem Garten und daran, daß jie ſich
noch ans Jahr 1814 erinnern konnte, wo fie al3 feines Mädchen die Freiheit
fämpfer in Berlin einzichen jah und jchon damals für diefe Schmuden Männer
eine heimliche Sympathie fühlte. Indem fie ein paar Streußelfügelchen in den
Mund fhob, empfand fie es zu diejen <fugenderinnerungen al3 einen wunder
lien Gegenſatz, daß jegt nur nod) ganz alte Weiber zu ihr auf Bejuch kamen.
Tie alten Männer konnte fie nicht leiden. Die fchienen ihr Alle zu kindiſch. Alle
blicben eben dod) nur die alten Weiber... Da waren fie auch ſchon. Zwei ſehr
alte Damen, unter großen altinodifhen Sonnenjdirmen und Hüten, deren Hut
bänder fie unter dem Kinn aufgebunden trugen, da e3 ihnen von der Sommer.
bie zu warm geworden war. Die Cine war die alte Witwe Beelig, eine
behäbige, breitgebaute Frau von fehr herausforderndem Gefichtsausdrud, al
wenn fie bereit wäre, Jeden, der ihr jemals zu widerſprechen wagte, fofort mit
niederfchmetternden Verweiſen jeiner Sünden oder Fchler zu Boden zu jtreden.
Sie trug ein leid von fchwarzer Halbſeide und einen ſchwarzen Spigenüber
wurf. Ueber ihre Jugend wußte Niemand etwas Genaues; ſicher war nur, daß
fie in den Sriegen von 1866 und 70 als Marketenderin mit im Felde geweſen
war und ihr damaliger Mann durch Lieferungen viel Geld verdient hatte. Seit⸗
dem waren fie emporgefommen. Ihre Tochter war an einen höheren Staai®
beanten verheiratet, der Sohn ein angefehener Buchhändler geworden. Der
Mann war geftorben; und weil Mutter Beelitz aus ihrer Jugend noch mande
anſtößige Manieren Hatte und jo derbe Reden führte, die ihrer zarter bejaiteten
Todter und Schwiegertochter nicht recht gefielen, ſuchte fie licher die alte Seiler
auf, die ihre Stallausdrüde ohne bejondere Mienenfpiele-gebuldig anhörte.
Der andere Gaſt war das Fräulein Klaus. Das war ein außerordentlid
langes, hageres Mädchen von fiebenzig Jahren, dem auf ber Oberlippe ein paor
Drei: alte Weiber von Berlin. 235
graue Barthaare hingen und das fein ſchneeweißes, noch immer volles Haar in
- einem großen Neb trug, wie e3 vor vierzig Sahren Mode geweſen war. Fräulein
Klaus war Elementarlehrerin in Berlin gewejen, aber ſchon feit zwanzig Jahren
in einem nahen Stift für alte Lehrerinnen, wo fie fich eingelauft Hatte. Auch
in einer Sterbefafle war fie, da fie einft geglaubt hatte, fie werde früh fterben.
Das geſchah nicht; aber fie zahlte ihre Kleinen Scherflein weiter, die allmählich
ein recht ſtattliches Guthaben ausmachten, jo daß fie einmal auf ein bejonders
Ichönes Begräbniß erjter Klaffe vechnete.
ALS der Kaffee der Frau Seiler die Gemüther ihrer alten Gartengäfte
aufgefrifcht hatte, geſchah es, daß aus allerlei Yebenserinnerungen das Gefpräd
fih auch auf das Alter der Einzelnen lenkte. Fräulein Klaus wurde gefragt,
wie alt jie num wohl eigentlich fei. Das alte Fränlein nahm verfhämt einen
Schluck Kaffee auf den Zuder, den fie ſchon im zahnlojen Munde fteden hatte
und brachte ſchüchtern die Antwort hervor: „Fünfundſiebenzig, Tran Geilern;
Sie können es glauben: erſt fünfundjiebenzig.‘
Die Seiler ſah die Mutter Beelig etwas enträftet an. Frau Beeliß
zudte die Achſeln und legte die Arıne über dem Schoß in einander. „So eine
Aufſchneiderei!“ jagte rau Seiler.
Man muß nämlich wiſſen, dab Fräulein Klaus bie eigenthlimliche Uns
gewohndeit Hatte, auf ihre alten Tage ftark zu lügen. Sie erzählte mandınal
ganz verblüffende Geſchichten, die ihr paffirt jeien; daß fie, zum Beilpiel, im
Stifsgarten einen ganz rothen Vogel gejehen, der wie eine Nachtigall gejungen
habe, daß junge Männer vor ihrem Fenſter auf und ab promenirten und ihr
briefliche Anträge machten, und dergleichen Berfänglichfeiten. Was aber ihr Alter
anlangt, fo log fie ſtets. Sie hatte fchon in jüngeren Jahren den Grundjag
gehabt, fich für älter auszugeben, als fie wirflid war. Ganz im Gegenſatz zu
anderen weiblihen Weſen. Als fie ein junges Mädchen war, hatte fie nämlich
einmal einen Bewerber gehabt, der fie Heirathen wollte. In einem Schäfer—
fündchen hatte er fie gefragt, wie alt fie fei. Um ihn zu neden, Hatte fie ſich
für Dreißig ausgegeben, während fie doch erjt fünfundzwanzig zählte. Er hatte
ſich dadurd nicht abfchreden lafjen und fie hatte fich vorgenommen, um ihn zu
belohnen, ihm in der Hochzeitnacht zu jagen, daß fie fünf Jahre jünger jei, wor
mit fie ihm eine große, angenehme, beglüdende Ueberraſchung zu bereiten hofite.
Uber es war niemals zu diejer glüclichen Offenbarung gelommen. Er war
nicht lange vor der Hochzeit an der Schwindjud)t gejtorben und hatte nicht er:
fahren, daß feine Braut jo viel jünger war. Seitdem gab fid) Fräulein Klaus
ftet8 für älter aus und machte cın verichämtes Geficht dabei.
„Kein, jo 'ne Auffchneiderei !‘ wiederholte ‚rau Seiler. Und nun rechnete
fie dem Fräulein vor, daß fie ſelbſt Ichon ein fünfzehnjähriges Mädchen geweien
fei, al3 die Klauſen drinnen in Berlin auf die Welt gebracht worden jei von
einem Dienftmädcden, das nicht viel älter als fie, die Seilern, war. Und fie
babe fie ja, da fie ein vaterlojes Wurm gewejen fei, jelbjt troden gelent; und
nun wolle fie Hier in Gegenwart der Frau Beelig folche Lügen anfahren! „Wenn
Sie mir damit näher kommen wollen, daß Sie fid) gleich fünf Jahre zulegen, dann
verfennen Sie Ihre Stellung!” jagte Frau Seiler etwas bijjig, während jie mit
zitternder Hand dem Fräulein friihen Kaffee einſchänkte. Sie ließ nicht uns
226 Die Zukunft.
deutlich merken, daß ſowohl die Beeliß wie die Klaus gegen fie mit ihren Tänt-
undachtzig Jahren die reinen unmündigen Kinder feien. Das made ihr de
Steiner nad), ſo alt zu werden und noch fo energiich und fröhlich zu fein.
„Na,“ fagte Frau Beelig. „Ob wir nun fünf oder ſechs Fahre Alter werden,
darauf kommt es bei uns alten Nachtlichtern auch nicht mehr an. Auslöſchen
thun wir doc, und wenn wir meg find, jagen die Leute auch nur: Her Je!
ift die alte Beeligen und die alte Seilern nun auch nit mehr?!”
„Wahrhaftig“, rief auf einmal die Seiler, indem fie mit der Hand Luftig
vor fih auf den Tiſch jchlug, „wenn ich einmal abgegangen bin, dann denken
meine Enkel und Urenfel aud nur: Na, Gott fei dank, daß der alte Hader
lump weg iſt! Und nicht einmal einen Kranz follen fie mir auf den Sarg legen,
ben fie werben ihn doch nur von meinem Gelbe faufen. Ich möchte überhaupt
willen, ob wir einen Kranz Eriegen. Fräulein Klaus Hat keinen Menſchen.“
„Ach, keinen einzigen“, fagte das Fräulein verfhämt und machte dabei
ein Geſicht, als ſchäme fie ſich dieſer Lüge, während es doch eine Wahrheit war.
Die alten Damen waren im Gedanken an den Tod immer Luftiger und
übermüthiger geworden. Bon der Unjterblichfeit hielten alle Drei nichts, mie
fich herausjtellte. „Was meinen Sie, Beeligen?‘ fragte die Seiler; „glauben Sie,
dab Sie in den Himmel fommen werden?!”
„J wo! Wat follte ih denn im Himmel anfangen? Ick würde mir
geniren, bei meiner Korpulenz, Hinten mit langen Flügeln zu gehen! Und meinen
feligen Dann, den möchte id) nun gar nicht wieder fehen mit fo lange Flüge
bei feiner unterfegten Statur; er ift mir in der bloßen Erinnerung viel lieber!”
„Na, Das iſt doch mal ein Wort!” fagte die Seiler. „Das können Zit
mir glauben: wenn wir erft mal unter der Erde find mid und die Stlaufen
nchmen die Würmer nicht mal mehr an, denn was foien fie mit fo einer alten
Knochenſammlung maden? Aber ein Kranz hat das Bute, daB man denkt, was
darunter liegt, wäre auch noch fo hübſch wie die rothen Rofen im Garten.”
„Wiſſen Sie was?" ſagte die Beclig, indem fie vom Stuhle aufiprang:
„wenn es denn chen fo eine Sade mit dem Sterben ift und Niemand red
weiß, wozu man eigentlich jterben muß und die Verwandten, wenn man welche
hat, auch nicht recht wiljen, wozu man tot iſt, fo jchlage ih vor, daß wir und
gegenfeitig verpflichten, Jede einen Kranz zu ftiften fiir Diejenigen, bie zuerit
von ung jterben, und dal wir aud) bei einanter mit zu Grabe gehen. Das iſt
doch wenigſtens etwas Gewiſſes, daß man weiß: man bekommt von Der und
Der den und den Kranz. Stirbt die Seilern zuerſt, fo bekommt fie von ım?
beiden Anderen zwei Stränge; und jo weiter herum, Eine nach der Anderen.
Das iſt auf Gegenjeitigfeit und Das hält immer beſſer.“
In jelbitgefeltertem Johannisbeerwein jtießen die Drei auf diefed
fommen an, das fie treulich zu halten verjprachen. Sie tranfen ſogar nod |!
zweites Öläschen, wovon ihre Gedanken nicht ganz Ear blieben. Als die be !
Gäſte ſich verabjchiedeten, fühlte die Seiler nod ein Bedürfniß, die Anderer 1!
begleiten. Sie waren fehr aufgeräumt, und als fie in die nächſte Seitenjti !
bogen und am Sargınagazin bes Tiichlermeijters Ulrich vorbeifamen, blieben '
vor dem Fenſter mit den ſchwarzen und vergoldeten Särgen ftehen und lad !
darüber, daß man zuquterlet in cine ſolche Truhe geftedt werde wie ein
Drei alte Weiber von Berlin. 227
Muff in eine Muffihadtel. Die Klaus brauche wegen ihrer Länge Überhaupt
noch ein Halbes Dieter mehr als andere Frauen, was bei den theuren Holzs
preilen doch aud eine Rolle jpiele. Da Frau Seiler mit dem Tiſchler gut be-
kannt war, traten die Drei zuleßt in den Laden und verſchworen fi, daß ihre
Särge alle bei ihm beftellt werden follten; auch erzählten fie ihın ihr Abkommen,
Damit er, jobald für Eine eine Sargbeftellung käme, die Anderen gleich auf-
fordern fünne, Sränze zu bejorgen und beim Begräbniß ınitzugehen. Der Tifchler
war auch ſchon ein Dann von jehzig Jahren und notirte die Wünfche der
Damen mit Humor, da er fie jelbjt über eine fo bedenkliche Sache, wie nun ein:
mal der Tod iſt, in fo guter Laune fand. Frau Beelig wollte den Sargdedel
jteil anfteigend haben, um hochliegen zu können, da fie jonft immer zu ſchnarchen
pflege; die Seiler wollte den Sarg auzgepolitert Haben, da fie, bei ihrem ftarfen
Knochenbau, fi nicht gern wund Liegen wolle. So war des Spaßes fein Ende
... Erft ein halbes Jahr mochte vergangen fein, ala eines Tages die
Pförtnersfrau, die in der Dachwohnung bei Frau Seiler haufte, zu ihrer Wirthin
geſtürzt fam und die Nachricht brachte, die alte Frau Beclig ſei plöglich ge-
ttorben. Es ſei ein Herzichlag gefommen und da ſei fie auch ganz fanft um:
gelunfen. Beim Tifchler Ulrich fei au ſchon der Sarg beitellt.
Frau Seiler war nicht ſehr betroffen; fie meinte nur: „Du lieber Gott!
Sie war ja erſt jechsundfiebenzig! Ich kann mir jeden Tag den Tod wünſchen
und er thut doc, als ob ich gar nicht da wäre! Nun laufen Sie aber jchnell
zum Gärtner und beitellen einen großen Kranz für die Beeligen und dann gehen
Sie ind Stift zum Fräulein Klaus und bringen Sie ihr die Nachricht; denn
fie muß aud) einen Kranz ftiften und mitgehen.“
„Was joll der Kranz denn koſten, rau Seiler?!"
Die Alte ſchwieg einen Augenblid. Sie gab gar nicht gern viel Geld
aus und dachte, drei Mark würden wohl genügen. Sie magte c3 aber nidıt
auszuſprechen, weil die Bortierfrau dann ein Geficht machen Fünnte. Eine Weile
dauerte der innerliche Kampf, dann aber ſagte fie äußerlich gauz mit der Würde
einer feinen alten Dame: „Na, beftellen Sie etwa in der Höhe von zehn Mark;
und er joll recht Schön werden. Wenn Sie aber zu Fräulein Klaus kommen,
jo jagen Sie ihre nur, ich hätte zehn big zwölf Mark daran gewendet; da muß
Die ja aud und fannn nicht zurüdjtehen, wenn ich einmal ſterbe.“
Sın Stillen aber dachte die Seilern, daß dem Fräulein Klaus die zehn
Mark jehr ſauer würden und ihr Tafchengeld gleich auf vierzehn Tage mindefteng
draufgehen müſſe. Das bereitete ihr eine Art von angenehmer Genugthuung.
Denn fie fonnte die zehn Deark nicht leicht verſchmerzen.
Am Begräbnißtage war Fräulein Klaus ganz gefnidt. Als der Sarg
mit der feligen frau Beeliß in das Grab gelajjen wurde, weinte dag alte Fräu—
fein jogar jehr ftark, denn fie hatte wirklich auch für zehn Mark beftellt, die jie
fi abdarben mußte. Und es fiel ihr ein, daß, wenn die Frau Seiler vor ihr
fterben follte, e3 fie Anftands halber doc) aud) wieder zehn Mark koſten würde;
und die Seiler ging auf jehsundadtzig. Diele Empfindungen im Verein mit
der rührenden Grabrede des Pfarrers wirkten jo auflöjend auf das Gemüth des
alten Fräuleins, daß fie fih nur in einem Strom von Thränen erleichtern
konnte. Die Seiler merkte dagegen, daß ſie gar nicht weinen konnte; ſie vers
228 Die Zuhmft.
ſuchte wieberholt, mit den Augen zu zwinkern, aber es kam nichts und jo konnte
fie nur ein recht gottergebenes und frommes Geficht machen, wobei fie mit ihrem
zahnlojen Unterkiefer hin und ber mumpelte. Als die Feierlichkeit beendet wer
und die beiden alten Damen, nachdem fie ihre Kränze unter den anderen om
Grabe geprüft und herausgefunden, heimgingen, fing frau Seiler an, ausw
ſprechen, was ihr während der Herablafjung des Sarges eingefallen war: „Gott,
fie war eine fo gute rau, die Berligen, eine recht gute Frau. Und man fonnte
ihr auch gar nichts nachſagen! Rein gar nichts! Aber willen Sie, Fräulein:
bereingelegt Hat fie uns Beide doch. Richtig Hereingelegt. Denn fie bat um
ihre zwei Sränze weg! Uber wer gicht denn uns zwei Kränze? Wenn ich rım
zunädjit dran komme, dann können Sie ja allein mit zu Grabe gehen. Aber die
Beeliten? Die liegt ja num feft. Und, jehen Sie, gerade fie wars, bie ben
Borfchlag mit den Kränzen machte!”
In diefem Augenblid ging es auch Fräulein Klaus erft richtig auf, daß
fie in der That das jchlechtere Gefchäft bei der Sache machten. Damals, in der
Freude Über den finnreihen Einfall mit den Kränzen, hatten die alten Damen
in einer gewiffen Bergeßlichkeit des Alters gar nicht daran gedacht, daß eine
jolde Ehrung auf Gegenfeitigkeit nicht durchzuführen war und daß die zulept
übrig Bleibende feinen Kranz von den Anderen erhalten fonnte.
Nach einer langen Weile erft, nachdem Beide diefe zwingende innen
Nothwendigkeit fih klar gemacht Hatten, fand Fräulein Klaus das Mort: „Na,
zwiſchen uns, Frau Seiler, bleibt es trogdem beim Alten. Nicht wahr? Deshalb
fricge ich doch von Ihnen meinen Kranz und Sie von mir, je nachdem?“
„Ra, denken Sie denn, ich werde mir Ihnen gegenüber lumpen laflen?”
jagte Frau Seiler. „Wegen meiner können Sie ruhig fterben. Aber feien Sie
ohne Sorge: diesmal muß ich nım zuerjt dran glauben!“
In den nächſten Tagen trafen die beiden alten Damen mehrmals am
Grabe der Fran Beelig zuſammen. Beide kamen, um nachzuſehen, ob ihr
Kränze nod) da ſeien und ſich gut gehalten hätten; thener genug waren fie je
gewejen. Aber Keine ſprach darüber. Sie redeten nur von den guten Eigen
Ihaften der jeligen Frau Beelitz.
... Abermals mochte ein Jahr vergangen fein, als die alte Frau Seiler,
die noch immer recht munter war, am Scaufenfter des Tiſchlermeiſters Ulrich
vorbeiging. Der Meijter jtand in der Thür jeined Ladens und rief fie gleih
an: „Na, Mutter Scilern, Sie kommen ja gerade regt! Sie haben aber
wirflih Glück! Darauf jollten wir eigentlih Eins zuſammentrinken!“
„sa, wieſo denn, Herr Ulrich!“
„Na, wijien Sie es denn nicht? Die alte Klaus ift nun auch gejtorben.
ben habe ich die Bejtellung auf den Sarg befommen. Die haben Sie nun
aud) überlebt. So ein Glückskind wie Sie, findet man ja in ganz Berlin und
Nororten nicht mehr, Mutter Seilern!“
Die Alte mußte ſich erſt ein Bisıhen von dem Schreden erholen. Dann
aber jagte fie: „Na, habe ichs nicht immer gejagt? Sie war zeitlebens ſchwächlich.
Es fehlte an Yebenstraft. Da konnte fies freilich nicht lange maden. Woran
iſt jie denn fo ſchnell geſtorben? Ich habe doch gar feine Ahnung gehabt!”
„Bott, es ijt eine Roulcaujtange beim Rorhangaufmaden herunterge
Trei alte Weiber von Berlin. 22%
fallen und ihr gerade auf ben Kopf; da hats wohl eine Gehirnerſchutterung ge⸗
geben; ſie war ſchon nach einer Stunde tot!“
„Und Unſereins kann nicht ſterben! Rein gar nicht! Das iſt eben die
Lebenskraft! Bei ihr fehlte die Lebenskraft. Was wirds denn für ein Sarg?”
Der Tiſchler berichtete, daß ein jeher ſchöner Sarg und aud das Be-
gräbniß erfter Klaſſe bejtellt ei; die Frau Seiler würde in einer Eguipage
nad dem Kirchhof fahren, denn das Fräulein habe faſt jo gut wie nichts hinter
loflen, aber tüdhtig in eine Begräbnißkaſſe gezahlt und da könne er denn auch
eine hübſche Rechnung maden. „Willen Sie was: fommen Sie mit, Frau
Seilern! Darauf maden wir ung einen vergnügten Tag. Trinfen Sie mit! Sie
können ja noch immer einen guten Stiebel vertragen!“
Die Alte lachte erit; dann aber fagte fie: „Na, weil ic) hier das Nachſehen
babe und mir Steine nun einen Franz ftiften wird, darum: will ich es wenigftens
ein Bischen feiern, daß ich noch auf der Welt bin mit meinen jiebenundadhtzig
Sahren. Zuerſt muß ich ihr aber noch einen Sranz beitellen.”
Der Meiſter zog einen Rod an, um auszugehen. Er war aud ſchon
fange Witwer. Die alte Seiler hatte ihm in früheren Jahren Manches zuge-
wendet und das alte Weib machte ihm Spaß, weil fie gar nicht fterben wollte.
Sie gingen. Doch vorher traten fie in den nächſten Blumenladen, wo Frau Geiler,
nad einigem Feilſchen, wirklich einen Kranz für zehn Mark für das tote Fräulein
Klaus bejtellte, der einftweilen immer in die Teichenhalle geihafft werden jollte.
Der Meifter wunderte ſich über den hohen Preis, fand es aber nett, daß die
Alte ihre Freundin fo ehrte. Dann gingen fie zulammen weiter, fegten fich
in einen fchönen Wirthsgarten und der Meiſter beitellte Bier; und da gerade
Mittagszeit war, rieth er der Alten, fie jollte fi doch erft ein Süppden und
dann einen Braten und vielleicht noch einen guten Nachtiſch beftellen. Frau
Seiler that ſehr bedenklich, fand die Preiſe hoch und wollte nicht recht daran,
da ihre Sparfamfeit ji in die Gefühle der Lebengluft mifchte. Da aber ftieß.
der Meiſter mit jeinem Glaſe Biljener bei ihr an und fagte: „Ad, machen Sie
feine Sefchichten, Frau Seiler! Profit! Auf hr neunzigftes Jahr! Wer weiß:
Sie erleben noch hundert, wenn fie nur fich ordentlich ernähren. Und wegen
der Preile machen Sie jih feine Sorgen. Das fommt mit auf die Sarg»
rechnung. Es iſt Schon jo ein ſchöner Sarg beitellt, daß es auf ein paar Mark
mehr oder weniger nicht anfommt; und beurtheilen kann fein Sachverſtändiger,
ob ih das Holz fo oder fo nchme. Kommt alfo auf die Geſchäftsſpeſen.“
Nun wurde Dlutter Seiler luſtig. Auf Geſchäftsſpeſen mitzueflen: Das war
eine andere Sache. Sie beitellte fih eine gute Suppe, als Noreifen ein halbes
- Dubend Anjtern und einen Braten. Sie lich es fih munden und freute fich,
daß es ihr bei ihrem Alter jo gut ſchmecke. Mit dem Meiſter erzählte fie fi
Geſchichten aus Altberlin; feine Erinnerungen reichten freilich nicht jo weit zurück;
fie Hatte immer noc fjünfundzwanzig Jahre voraus. Sie erzählte vom alten
Hindeldey und von Slasbrenners Boffen und vom Stralauer Fiſchzug, den der
längft vergefjene Aultus von Voß bejchrieben hatte. In ihrer Gaftwirthichaft
war auch der alte Ludwig Devrient geweſen und von Döring und Seydelmann
wußte fie. Mit jolden Erinnerungen ging das Eſſen gut hin.
Dann fragte jie auf einmal: „Na, jagen Sie mal, Meiſter, für wie viel
babe ich denn nun verzehrt?”
230 Die Zukunft.
Der Tijchler wollte erft al& feinfühliger Mann nicht ınit der Sprade
Heraus. Endlich gejtand er, daß fie etwa für fünf Mark verzehrt habe. z:
lächelte fie fchlau, daB ihre alte Naje ganz fpib davon wurde, und fagte: „Ert
fünf? Na, Meijter, da müſſen wir auch nod, weils bod auf Sargkoſten geb:
ein Fläſchchen Champagner zufammen trinten; für zehn Darf. Wenn id dir
Hälfte mittrinte, jo fommen auf mid) fünf Darf heraus. Das macht im Ganzt:
zehn. Na, und für zehn Mark darf ih ja, denn da...“ Sie wollte weite
reden, unterdrüdte aber die Schlußworte „Ichinde ich wenigitens den Kranz wieder
heraus“. Es ſchien ihr feiner, e8 lieber nicht zu fagen und als geheimnißvoll
Genugthuung für fich zu behalten. Und fo geſchah ed. Der Meeiſter bejtelt:
wirklid Champagner, der Mutter Seiler jehr gut befam.
Zwei Tage danach wurde das alte Fräulein begraben. Frau Seiler x
ihr beites Stleid an, das ſchwarzſeidene, und fuhr in der Equipage nad dein Friet
hof. Beim Begräbniß Stand fie neben dem Zijchler, der einen ſehr fchönen Sur
geliefert Hatte. Auch bewunderte man den großen, reihen Franz von Frat
" Seiler. Sie nahm die Komplimente mit wahrhaft antiter Würbe entgegen. Cm:
am Grabe hatte fie eine Eleine unangenehme Empfindung: Da wurde nämlıd
für das tote Fräulein ein allerdings beicheidener Kranz niedergelegt: „auf An
ordnung und im Namen der feligen Frau Beelig". Da deren Spinterbliebene
verzogen waren, hatte der Friedhofswächter den Auftrag ausgeführt, der von dr
Berftorbenen in richtiger Auffajjung des Abkommens nocd bei Lebzeiten ertheit
worden war. Hierin lag aber für Frau Seiler eine Kleine Beihämung. Sie
fagte zu dem Tiſchler am Kirchhofsausgang: „Die Beelig wollte aud imme
etwas Belonderes haben! Da renommirt jie nun noch nad dem Tode, al:
wenns ihr auf jo eim paar Kränze nicht weiter ankäme!“
Der Meifter fagte: „Gehen Sie Acht, Frau Seiler! Für Sie hat fe
aud) einen noch bei Yebzeiten bejtellt. Sie find ein Glüdsfind! Denn da fommen
‚ Sie mit Ihrem Kranz auch noch heraus!
„Na, dann wäre cs ja was Anderes! meinte die Alte, fichtlich beſſer
geſtimmt.
... Erſt fünf Jahre fpäter iſt auch noch die alte Seiler geſtorben. Kur
nach dem Tode des Fräuleins war ſie auf ihrer Gartentreppe gefallen und hartt
fid) beide Schenfelfnodhen gebroden. Und das Wunder war geichehen, daß fit
nad zwei Jahren an Krücken wieder in ihren Garten herauskonnte und fid an
den Blumen und den reifenden Kirſchen und den Finken erfreute. Sogar den
Kukuk hörte fie zur Maienzeit von Lichterfelde herüber ſchlagen. Ihr Haus abtr
ließ jie immer mehr verfallen. Sie gönnte es den Enkeln nun einmal nidt.
Sie jollten gar nichts von der Erbichaft, höchſtens noch Koften von dem Fans
Haben. Eines Tages aber lag jie doch tot im Bett. Das Herz hatte nV *
ſchwäche jtill gejtanden und jie hatte keine Ahnung gehabt, daß fie fterbeny .
Auf ihren Grabe lagen zwei Kränze. Der eine war abermals im N: Mm
der Frau Beeiiß gefommen. Der andere wurde im Namen bes verblid en
Fräuleins Nlaus vom Tiſchlermeiſter Ulrich niedergelegt. Diejen Kranz Ha «
Tijhlermeifter auf die Nojten des Sarges für die Seiler verrechnet; er db %
damit ganz im Sinne des feligen ‚zräuleins Klaus zu handeln.
Steglig. R Wolfgang Kirchb
Napoleon in Kaffe. 231
Napoleon in Jaffa.
St Profeflor Dr. Julius von Pflugk Harttung veröffentlichte kürzlich in
SD: der „Zukunft“ einen Aufiag über „Amoraliſche Kriegsgeſchichte“, der eine
jeltfame Miihung von hiftorifcher Polemik, Bußpredigt und richterlihem Urtheil,
über Napoleon bot. Die Kritil, die der Herr Profeſſor an jeinem hiftorto»
grapbifchen Stollegen Roloff übt, mag der Angegriffene jelbft zurlidweifen. Auch mit
der Bußpredigt, die der Herr Profeflor der entfittlichten „modernen Geſchicht⸗
Ichreibung” in düſterem Prophetenton zu halten ſich nicht entbrecden kann, mögen bie
abgefanzelten armen Sünder ſich jelber auseinanderjeßen, fei es nun, daß fie
demüthig zerfniricht ihre Neue befunden oder ihren früheren bafeler Kollegen
an das edle Heilandswort vom Zöllner und Phariſäer „mildiglich“ erinnern.
Dod wenn der Herr Profejjor fich auf den Richterftuhl ſchwingt und den großen
Napoleon in ſummariſchem Verfahren des „Mordes“ jchuldig Spricht, um feinem
falburgvollen Zorn gegen die Vertheidiger dieſes Mannes (und damit die
„moraliſch abgeſtumpfte“ moderne Geſchichtauffaſſung überhaupt) ein bejonders
prägnantes Beijpiel und interefjantes Nelief zu bieten, dann iſt e8 ein Gebot
der Gerechtigkeit, dem Herrn Profeilor ein Wenig das Gewiſſen zu ſchärfen, ihn
daran zu erinnern, daß er enticheidende Umftände, die Napoleon zur völfers
rchtligen Begründung des ‚Mordes‘ anführen konnte, dem Publikum verjchweigt
und jomit das aud im hiſtoriographiſchen uftizverfahren analog anzumendende
Wort: Audiatur et altera pars! gröblich verlegt. Doppelt liegt diefe Pflicht der
Gerechtigkeit Denen ob, die in Napoleon (den „Ichlauen Korſen“ nennt ihn der
Herr Profeflor) den größten Mann verehren, den die europäifche Menjchheit
hervorgebracht Hat, und zugleich einen wahrhaft von Bott gejandten Mann, ein
Werkzeug in feiner Hand, geeignet zur Qäuterung, Erziehung und Fortbildung
der Menſchheit zu dem von Bott gewollten Endziele hin, fie reinigend, wie der
Blitz die Luft, und fie befruchtend, wie cin Strom Segen jpendenden Regens,
den Gott über Europa nad) langer Dürre herniedergehen lich.
Napoleon hat auf feinem egyptiſch ſyriſchen Feldzug in Jaffa einen „Mord“
begangen. Nicht einen Ginzelmord wie den „Mord“ des Herzogs von Enghien
(jo wird diefer gerechte Aft der Nothwehr unjeren preußiich-deutichen Schulfindern
ja noch immer dargeftellt). Nein: einen Dlajjenmord, der den von Thomas in
Bremerhaven beabjichtigten zehnfach übertrifft. Napoleon bat dreitaufend Kriegs—
gefangene „wie Raubthiere mit dem Bajonnet erinorden laſſen“: fo verfiindet
fein Richter, Profeſſor Dr. Julius von Bflugf-Darttung. Den von Napoleon
angeführten Grund, daß er die dreitaufend Gefangenen aus Mangel an PBroviant
nit ernähren und aus Mangel an Truppen nicht überwachen konnte, läßt der .
ichter. Brofeffor nicht gelten. Napoleon ift ein VDiörder. Uber wenn unjer
rofejjor ji) in dem Amte des Kichters gefällt, der dem großen Mann das
zerdikt: „Schuldig des Maſſenmordes!“ ſpricht und ihn mit jtählernem Schreib—
ihwerte köpft, muß er ſich auch gefallen lajien, zu hören, daß jein Urtheil vor
wahrhaft gerechten Richtern als ein biltoriographilcher Juſtizmord, wenn auch glüce
ſicher Weiſe nur mit Stahlfeder und Papier verübt, fich darjtellt.
tapoleon Hat die Thatſache der Tötung der Befangenen (die Angaben
manten zwiſchen 2000 und 4000) jtets freimüthig zugeltanden; nur bejtritt
232 Die Zukunft.
er, daß es mehrere Taufend gewefen fein. Walter Scott (Life of Napoleon
Bonaparte, vol. II, p. 228) berichtet, auf Sankt Helena habe ber Kaiſer zu
dem Dr. O'Meara (feinem Leibarzt) gejagt, er babe ımı 1200 Gefangene en
Schießen laffen. Doch ob 1200 oder dreimal 1200: die grundſätzliche Frage
nach ber Berechtigung dieſes kriegsrechtlichen Altes wird von der Zahl ber Ge
töteten nicht berührt. Drei Gründe führte Napoleon zur Rechtfertigung jene
That an. Nur der dritte Grund wird von unferem Nidter-Profeflor erwähnt
Der erfte Grund. Nicht nur Walter Scott, dem bei allem edlen Streben
nad) Gerechtigleit ein gewilled Vorurteil gegen ben „General Bonaparte in
feiner umfangreichen, fünf Bände faffenden Biographie überall tiefes Mißtraner
gegen Napoleon eingiebt: auch franzöfiiche Geſchichtſchreiber der Reſtaurationzei
müffen zugeben, daß die Bejagung von Jaffa einen Brud des Völkerrechtes ver
Abt Hatte, wie ex fchwerer faum denkbar ift. „Bonaparte fandte an den Kom
mandanten einen Barlamentär, um ihn aufzufordern, fich zu ergeben. Der aba
ließ dem Gefandten, ftatt aller Antwort, den Topf abſchlagen.“ (Arnault, Leben
Napoleons.) Scott fucht die Berechtigung diefes erſten Grundes durch folgende
Worte zu entfräften: „If the Turkish governor bad behaved like a bar
barian, for which his country, and the religion, which his country, and
the religion (!), which Napoleon meditated to embrace (!), might be some
excuse, the French general had avenged hinself by the storm and plunder
of the town with which his revenge ought in all reason, to have been safis-
fied.“ Scott, ber feine Befangenheit durch da8 Nachplappern der albernen Vei⸗
dädhtigung, Napoleon habe Mohamedaner werden wollen, hinlänglich dokumen.
tirt, muß dennoch einräumen, daß der Feldherr gegen „Barbaren“ zu kämpfen
Batte, die ihm gerechten Grund zu „Reprefjalten‘ Soten. Wenn er aber meint,
daß das Recht der Repreffalien mit der Erftürmung und Plünderung der Stadt
erihöpft geweſen fei, fo verfennt er die Schwere des gegen Napoleon begangenen
Verbrechens, den Umfang des Repreifalienrechtes und vor Allem das Gewicht bei
Umjtandes, daß es ſich um einen Krieg gegen Barbaren handelte. Selbft ein ſo
milder Dann wie Bluntſchli Hat achtzig Jahre nah Jaffa das Repreffalientcd!
der Tötung von Kriegsgefangenen anerkannt („Das Vöolkerrecht der civilifitter
Staaten.*). Qualifizirend kommt aber noch hinzu, daß im Kriege gegen „Barbaren
nach unbejtrittener Theorie und Praxis die Friegsrechtlihen Normen des Kölle: Ä
rechtes überhaupt nur gebrochene Wirkung haben. Die preußijch-deutiche Lrieg⸗
führung hat ſchon 1870/71 von dem Repreſſalienrecht einen fehr ausgiebigen Ge |
brauch gemadjt. Und die Straferpeditionen, bie von deutichen Kolonialtruppen
gegen „barbarijche* Negerſtämme in Oſt- und Weſtafrika durchgeführt worden
find, waren wohl vielfach nicht minder rüdjihtlo8 als das Strafgericht, das Ra
polcon wegen der Ermordung feines Parlamentärs über Jaffa werhängte.
Der zweite Grund. Wapoleon verteidigte fein Verfahren ferner damit,
daß die Gefangenen, die „die Beſatzung von El-Arifd) (einer Küftenfeftung ſüdlich
von Jaffa) gebildet hatten, auf ihr Mort, im dieſem Feldzuge nicht weiter zu
dienen, freigelaſſen worden waren, ſich aber jogleich wieder mit ben Türken Der
einigt, die Befagung von Jaffa verftärft und dur ihren hartnädigen Wider
ftand viele Franzoſen dag Leben gekojtet hätten.” (Laurent: Lebensgeſchichte des
Kaiſers Napoleon.) Und Wachsmuth (,„Geſchichte Frankreichs im Revolutionzeit
Napoleon in Jaffa. 233
alter”, Theil von Heeren und Ulert, Europäifche Stantengefchichte), deſſen Feind⸗
ſchaft gegen Napoleon nur noch von dem napoleophobilchen Fanatismus des
Kefuitenzöglings Lanfrey überboten werden Tann („eine Zeit der Gewalt“, die
„Die Züge zur Begleitung hatte“, nennt er Konjulat und Kaiſerreich), muB troß«
dem über Jaffa jagen: „Bon der Bejayung famen 3200 Mann als Gefangene
in die Hand des Siegerd. Unter ihnen waren die auf Geldbniß entlafjenen
1600 Dann der Befagung von El-Arifh. Der Wortbrud) diefer Leute lehrte, dab.
auf eine Zufage der Muſelmanen nicht zu rechnen ſei.“ Wahsmuth berichtet
dann die Schwierigkeiten der Ernährung und Ueberwachung der Gefangenen, deren
Tötung ihm eine jo unausweichliche kriegsrechtliche Nothwendigkeit zu fein fcheint,
daß er auch nicht ein einziges Wort des Tadels binzufügt. Und doch gehört
er zu den bornirten Hiftorifern, die mit fchmetternden Phrajen verfünden, daß
„Gewalt“ und „Lüge“ die beiden Säulen bes napoleonifchen Thrones geweſen
feten. Daß in folden Fall mwortbrücdige Kriegsgefangene ihr Leben verwirft
haben, ift feitftegende Hegel des Völkerrechtes jogar unter civilifirten Staaten:
um wie viel ınehr gegenüber Barbaren, die damals nocd als gänzlich außerhalb
des europätichen Völkerrechtes ftehend erachtet wurden.
ALS dritter Grund kam zu dieſen beiden, ſchon allein ausreichenden Srünben
noch Hinzu: die Unfähigkeit, die Sriegsgefangenen zu ernähren und zu bewachen.
Daß in foldem Fall der Sieger das bittere Nothrecht Hat, die Kriegsgefangenen
zu töten, nicht verpflichtet ift, fie zu entlafjen oder gar gegen fich felbit wieder
loszulaffen (wie es, zum Beijpiel, die Buren im legten Kriege thaten, vielleicht
aus Nitterlichkeit, vielleicht auch aus diplomatijcher Berechnung): Das ift herr-
chende Theorie und Praris des Völferrechtes (Siehe: Lueders in Holtzendorffs
Handbuch des Völkerrechtes IV, ©. 441; Heffter, Völkerrecht 8 128; Bluntidli,
$ 580: „Wenn es der eigenen Sicherheit wegen unmöglich ift, fi mit Kriegs.
gefangenen zu belaften“; gegen den völferrechtlihen Doktrinär, ber allein diejes
Nothrecht beftreitet, ben Südamerilaner Calvo, wendet ſich QUueders, bei Holgen-
dorff, mit berechtigter Schärfe: „Cs ift deshalb auch ganz unzuläſſig, wenn Calvo
gegen die genannten Autoren von Erſtickung des driftliden Gefühls und der
Stimme des Gewiſſens, von einem crime l&se-humanits und Rückfall in die
Sitten der Wilden Innerafrikas jpridt.") Wenn Herr Profefjor von PBilugf-
Harttung das Dajein dieſes Nothredtes im Stil eines mittelalterlichen In‘
quilitionrihterd mit den Worten leugnet: „Längſt iſt diefe von dein Schuldigen
verbreitete Mär widerlegt“, jo erwartet man mit Spannung nun einige Details
biefer Widerlegung; leider vergeblid. Pflugk-Harttung locutus est, causa finita
est. Hören wir, was Laurent berichtet: „ALS der Chergeneral diefe Maſſe von Ge»
fangenen erblidte, rief er in durchdringendem Ton: ‚Was jollich mit ihnen anfangen ?
Habe ich Lebensmittel, fie zu ernähren, habe ich Fahrzeuge, fie nach Egypten au
ihaffen? Was hat man mir da angethan?‘ Und wieder: ‚Was fol ih mit ihnen
machen?““ Unſer Profeſſor vermeint, die Gründe durchſchaut zu haben, die den
„Ihlauen Korſen“, den „gutmüthigen Napoleon“ veranlaßten, mehrere Tage mit
der Erſchießung zu warten, den Sprud) feiner Generale einzuholen und zu über
denken: „Er wollte die Berantwortung und mit ihr die üble Nachrede von jich ab»
lenken.“ O diejer Feigling! Diefes ſchwächliche Bürſchchen Napoleon! Diefes ängſt—
liche Frauenzimmer im Obergeneralsrock! Er, unter deſſen eiſerner Fauſt acht
234 Die Zukunft
Monate fpäter die ganze Mafchinerie der Direftorialregirung zufammenbrach wie
ein Kartenhaus, vor deſſen Donnerworten wenige Jahre |päter einige Dutzend
europäiicher Könige zitterten wie verbummelte Schuljungen vor den Strafreden eines
ftrengen, aber gerechten Schulmeifters, — er hat bie Berantwortung für eine wichtige
friegärechtlide Maßregel geſcheut! Dieſe Verdächtigung ift jo naiv, daß man fie
faum ernſt nehmen fann. Hören wir, wie Laurent diele breitägige Wartefrift
erklärt. „Er berathichlagte drei Tage lang über das Scidjal diefer Unglück⸗
lichen, in ber Hoffnung, das Meer und die Winde würden ihm Fahrzeuge zus
fiihren, um ihn von feinen Gefangenen zu befreien, ohne Ströme Blutes ver»
gießen zu müſſen. Aber das Murren der Urınce geftattete ihın nicht, eine Maß⸗
regel, die ihm ben größten Widerwillen einflößte, zu verjhieben. Der Befcht,
die Gefangenen niederzuichießen, wurde am zehnten März gegeben.” So war
die Stimmung und Gemüthsart dieſes „Mörders": einen aus dreifachen Grunde
gebotenen Alt militärifcher Selbjterhaltung inmitten eines Barbarenlandes ver-
ſchob er ſchweren, hoffenden Herzens noch drei Tage, che er ihn vollzog; und
doch war es eine gebieteriiche Nothwendigkeit, die fi) eben jo wenig länger auf
Ichteben ließ wie etwa das Bombardement von Paris im Januar 1871.
Napoleon war ein Menſch und nichts Dienjchlicdes war ihm fremd. Er war,
wie alle Menjhen, ein Sünder und hat viel gefündigt; er hatte Fehler und
hat viel gefehlt, zumal in den Jahren 1812 bis 14, als er die Grenzen jet: er
Macht nicht erkennen wollte, der Hybris mehr und mehr verfiel und in tragifcher
Verblendung fi am erjten Januar 1814 bis zu den fein treues Volk ſchwer be
leidigenden Worten fortreigen ließ: „Frankreich bedarf meiner mehr ald ich Frank⸗
reichs!“ Doc wenn faſt hundert Jahre nad) Xena, im Dentihland Wilhelms des
Zweiten, das Andenken des großen Mannes beihimpft, wenn er als ein Maſſen
mörder, al8 ein zweiter Attila, als ein Tſchengis Khan oder Tamerlan, als cz
Gemiſch von Grauſamkeit, Defpotismus und korfiiher Schlauheit dargejtellt wirt,
wenn er noch immer, wie es leider in ben fiebenziger und achtziger Jahren gejchah,
der heranwachſenden Jugend als ein verteufelter, der Hölle entjtiegener und ihr
wieder verfallener Bluthund vorgemalt wird, etwa fo, wie auf dem Höllenbitde
des genialen, aber bizarren Meiſters im brifieler Muſée Wierg, wo Napolcon
in der Hölle inmitten von Wuth und Nade Ichnaubenden alten und jungen
Weibern, die ihre durch ihn gejtorbenen Männer, Söhne, Brüder von ihm
zurüdfordern, vor dem Belchauer fteht, dann muß die Stimme der Geredtig-
feit aus doppelten Gründen gegen die öffentliche Ausftellung folder Napoleon-
Karikaturen Nerwahrung einlegen: im Intereſſe Napoleons und auch im Inter—
ejle der deutschen Jugend. Gerade fie muß eindringlich vor dem zunehmenden Chauvi⸗
nismusgeiwarnt werden, der fich in der fteigenden Ueberſchätzung der eignen „Helden“
und Unterihägung der großen Männer anderer Völker befonders ſymptomatiſch
offenbart, vor einer Bejchichtlehre, die auf der einen Seite den guten alten Rai,
Wilhelm mit der Bloriole der Größe umgiebt, auf der anderen Seite aber c
einen Bluthund und Maſſenmörder den Dann hinzuitellen wagt, den kommen,
Generationen nidt in dunfel ſchwärmender Diyftik, fondern in klarer Erfenntnil
und nücterner bijtoriicher Kritif als einen der größten Wohlthäter der Menſt
heit würdigen umd verehren werden, als den politiich wirkſamſten europäiſch
orläufer und Bahnbreder der mejjianischen Seit.
£
Moritz be Konge.
Gelbftanzeigen. 235
Selbitanzeigen.
Ausgewählte Fallland- Stiszen von Hermann Heijermans jr., Verlag
von Bruno Feigenfpan, Pöhned. 2,80 Marf.
Ungeregt durch eine Mittheilung des Heren Brofeflors J. Sittard vom
„Hamburgiſchen Correſpondenten“, der mir vor einiger Zeit mittheilen ließ, daß
er gern beffere holländifche Arbeiten in meiner Ueberjegung veröffentlichen würde,
begann ich vor ungefähr fünf Jahren, mich in der holländiſchen Literatur, aus
der mir bis dahin nur Multatuli genau befannt war, umzujehen. Da es fi)
zunädjft um feuilletoniftilches Material handelte, griff ich nach ben Tagesblättern
und fand gleih am nädften Sonnabend im Amfterdamer Allgemeen Handels-
blad eine padende Skizze von S. Falkland, in ber Erfcheinung, Umgebung und
Ideengang eines idiotijchen Kindes gejchildert wurden. Da ich jelbit öfters Ge-
legenheit hatte, mich in das Seelenleben eines lleinen Idioten zu vertiefen, ergriff
mid diefe Schilderung mit doppelter Gewalt. Ich bat Herru ©. Falkland, in
dem ich den ftarfen Künftler erfannte, um die Autorifation zur Ueberſetzung.
Als bald darauf Herr Hermann Heijermans jr. fie mir ertheilte, war ich wohl
jehr erfreut, ahnte aber damals feineswegs, daß ſchon zwei Jahre fpäter ein
Werk diejes holländiichen Dichters, das Drama: „Die Hoffnung‘, die europäifchen
Bühnen erobern und feinen Verfaſſer mit einem Sclage zum erjten lebenden
Dichter Hollands jtempeln würde. Denn damals waren außer feinen Noyellen
„Zrinette” (in meiner Ueberſetzung bei S. Fiſcher, Berlin), „Ein Judenſtreich?“
(Wiener Verlag, Wien), „Intoͤrieurs“ (Bruno Feigenſpan, Pößneck) und dem
Drama „Ghetto, das in Holland großen Beifall gefunden Hatte, noch feine
bedeutenderen Werke von Heijermang befannt und die allmöchentlih vom Publikum
gefpannt erwarteten Fallland- Skizzen brachte auch damals in Holland nod)
Niemand mit feinem Namen in Verbindung. Das hat fih inzwiſchen geändert.
Heute weiß man überall, wer Heijermans und wer Falkland ift.
Hamburg Roſa Ruben.
8
Die Spekulation in Goldminenwerthen. F. E. Fehſenfeld, Freiburg i. B.
Ungefähr 450 Millionen Mark guten deutſchen Geldes ſind in ſüdafrika—
niſchen Minenwerthen angelegt und es iſt erſtaunlich, eine wie große Anzahl
der rund 45000 in Goldminenwerthen ſpekulirenden Deutſchen wenig oder falſch
über die wirklichen Verhältniſſe und Ausfichten der von ihnen erwählten Spiel:
objefte unterrichtet iſt. Iſt e8 nicht eine traurige Ironie des Schickſales, daß ge«
rade die Deutichen, die in der ganzen Welt wegen ihrer gejchäftlicdhen Tüchtig—
feit bekannt find und die fich meilt mit Aufwand hoher Antelligenz ihr Vers
mögen erworben haben, doch auch fo leicht beſtimmt werden, ihr jauer verdientes
&eld in das große Loch zu werfen, das jchon jo viel Stapital verjchlungen Hat
und noch verfchlingen wird, ohne auch nur ein einziges Goldkörnchen zurückzu—
geben? Ich Habe mir deshalb in meinen Bud die Aufgabe gejtellt, meine
leichtgläubigen und falfch unterrichteten Landsleute zu warnen, ehe es zu ſpät iſt,
zu helfen, wo Hilfe noththut, und den Vetrogenen zu retten, was nod) zu retten ift.
London. S. Gumpel.
* 18
236 Die Zukunft.
Kritifhe Anmertungen zu Haeckels „Welträthſeln.“ Ein Kommentar
für nachdenkliche Lehrer. Berlin, Stopnit. 50 Pfennige.
Es ift ein gar leichtes Ding für den Speztaliften, ben Begriffsſpalter
oder ben Kärrner philologifch-Hiftorifchen Materials, in einem Werk, das jo vide
Gebiete menſchlicher Denlarbeit berührt, mit felbftgerehtem Handwerkerſtolz aui
Fehler und Wiberfprüche in Einzelheiten hinzuweiſen. Aber damit ift Haedel
nicht im Ganzen vernichtet. Die große Perjönlichkeit, die kraftvolle Stimmung,
die aus dem Welträthſelbuch zu uns redet, ift überhaupt. nicht zu wiederlegen;
da giebt es nur ein mißmuthiges Ablehnen oder ein freubiges Anerkennen.
Haedel als Kämpfer für freie Wilfenfchaft und Lehre ift der Mann unſeres
Herzens. Auf bem Boben freiften Denkens entfpinnt fi nun der Kampf um
die höchften Fragen. Gegen bie bogmatifch-naturaliftiihe Stellung Haedels wird
in leicht beweglichem ffeptifchen Geplänkel vorgegangen, wobei denn im Hand
gemenge auch mancher Scharfe Hieb fält. Mit den Waffen aus der unerfchöpfligen
Rüſtkammer bergroßen beutichen Philoſophen fuchte ich meinen eigenen Stanbpuntt,
eine theiftifche Weltanfchauung, zu vertheidigen. Freilich: für den Katholikentag
überhaupt für orthodoxes Kirchenthum ift in biefer Streitfchrift nichts zu holen.
Charlottenburg. 5 Dr. Diaz Apel.
Der Synodale. Eine faft wahre Geſchichte. Dresden-Bühlau, Verlag von
Heinrih Minden.
Eines Sommertages ſaß ih nad Tifh in meinem fühlen Zimmer und
(a8 in der Zeitung von ben Verhandlungen einer Synode. Und alg ich an eine
beftimmte Stelle gelommen war, faltete ih das Blatt zufammen und lädelte
vor mich Hin. In dieſem Augenblid wurbe „Der Synodale“ geboren. int
Sommernahmittagslaune ..... In der Synode hatte man nämlich beantrag!,
die Staat3- und Stabtbehörden um Einſchränkung der ‚„‚VBartstd- Theater, Sing
fpielballen und verwandter Lokale” zu bitten; einige Mitglieder der Synode hatten
im Anſchluß daran gefagt, daß es bei den vorliegenden Anträgen doch an det
genügenden Information, an ausreichender Begründung und Aufklärung fehlt
und zulegt war man übereingefommen, „einen Bertreter zu ernennen, ber der
Synode Bericht zu erftatten habe." An diefer Stelle hatte ich geläckelt. 34
ftellte mir nämlich vor, wie fi wohl der gute Paftor Klemm aus Sandlage
benehmen würde, wenn er ald Vertreter der Synode die Singfpielgallen und
dann vielleicht auch die Lokale mit weiblicher Bedienung zu erfarfchen habe. Und
allerlei abfonderlihe und Iuftige, doch auch zu ernftem Nachdenken anregende
Bilder ftiegen vor mir auf. Ich begleitete Gotthold Klemm auf feinen Im
fahrten durch das berliner Leben, jah ihn von Born, Zagen, Bweifel, Mitled,
Verſtändniß und Efel erfaßt werden, fah ihn ftraucheln und faft fallen, aber
auch fich wieder aufrichten und feine volle moralifche Haltung zurückgewinnen,
fo ſehr, daß er fpäter alles Menſchliche, das ſich vor ihm und in ihm aufgethan,
und alle Lehren, die biefer Einblid ihm gegeben Hatte, wieder vergaß . . . Die
Wahrheit tft gleich einem Fiſch, der fi) wohl anfafjen, aber ſchwer fefthalter
läßt. Ein Menſch, dem in allen Lebenslagen dies Feſthalten beſſer gelingt alt
Botthold Klemm, mag ihn ſchelten. Ein Berftehender wird lächelnd verzeihen
Zehlendorf. Felix Freiherr von Stenglin.
°
—
Lotte. 287
CKotte.
5: macht mir Deine Eltern lieb und werth,
Daß fie den Namen Lotte Dir gegeben,
Den theuren Namen, der dte Geber ehrt
Und der verpflichtet für das ganze Keben.
Du bift fo fchön, fo abgeflärt und rein,
Du fühlft die Pflichten gegen Deinen Namen
Und fügft Dich ihm fo herzgefällig ein,
Gleichwie ein Bild in feinen fchönen Rahmen.
Drum duld’ es gern — wie ftill ich fonft auch bin —,
Kann idys den Kippen manchmal nicht verfagen,
Daß fie den holden Namen vor fi hin
Und wärmeren Gefühls zu fprechen wagen . .
Prag. hugo Salus.
DR
Nachwuchs.
I: Winterfelbt junior, Geſchäftsinhaber der Handelsgefellichaft, ift in ber
legten Beit ſehr oft genannt worden; vielleicht noch öfter, als ihm lieb
ift. Er lehrte von einem der Ausflüge nad dem Dollarland zurüd, die nun
einmal in die Mode gefommen find, weil ein Geſcheiter damit begann und bie
Anderen nicht dümmer erſcheinen wollen als der Eine, und wurde plötzlich in
dem Kreis der erftllaffigen Menſchen — ich denke an die Urwählerklaſſen, nicht
an bie Progenitur des Heren Direktors Rudolf Koch — zum Helben des Tages. Die
Börfe widmete ihm nach allen Regeln ihres Comments die Blume einer recht
würzigen Hauffe in den Antheilen der Hanbelegejellihaft und die Beitungen
ſchickten ihm Reporter ins Haus, um ihn „auszufragen“ ober, wie es, aus dem
Voſſiſchen in verftändliches Deutſch übertragen, heißt: ihn zu interviewen. Hatte
Herr Dr. Salomonfohn in feinem amerkaniſchen Reifebericht mehr bie kosmetiſche
Seite der Sache betont, jo fonnte ſich Herr Winterfeldt junior an einigen ver⸗
blüffenden Gedanken wirthſchaftlichen Inhaltes um jo eher genligen laflen, als
ja da8 Thatfächliche, das Über das moderne ökonomiſche Leben der Vereinigten
Staaten zu jagen war, zu eben der felben Zeit in einem vortreffliden Buch
aus Goldbergers Feder artig und lehrreich gefammelt erſchien. Durch einen
diefer bahnbrechenden Gedanken, den der Interviewer Herrn Winterfeldt ablodte,
wurde dem Lefer bie intereffante Neuigkeit vermittelt, die mißtrauifche Zurück⸗
haltung des amerikaniſchen Kapitals gegen heimifche Anlagen werbe bewirken,
dag Amerika nächftens als Geldgeber in Europa ericheint; ſchon jeßt wiſſe man
in Berlin von amerifanifchen Bewerbungen, deren Zwed fei, geeignete Unter⸗
lagen für Kapitalsanlagen zu ſchaffen. Sehr ſchön, mag der Reichsbankpräſident
gemurmelt haben, als er dieſe erbauliche Kunde vernahm; ſchade nur, daß der
junge Winterfeldt mit dem offenen Blid feine Sprittour nah Amerika nicht
etwas früher machte: dann hätte ich vor meinem Jubiläum mir all Die Mühe ſparen
können, bie es mich koſtete, den Metallſchatz in unferen Kellern durch Zuzüge aus
18°
238 Die Zukunft.
London und Paris zu ftärken, um für alle Fälle gerüftet zu fein. Andere Leute,
die nicht in der glüdlichen Lage find, die Eingebungen der Logik von Mebite-
tionen über einen Metallſchatz zurückdrängen zu laſſen, werben fich gefragt haben,
wie es denn fomme, daB die Hanbelsgejellihaft im Bunde mit der Darmitäbdter
Bank einer amerifaniihen Bahn und einem amerifaniiden Bankhaus gerade
in dem Augenblid Hilfe gewährt, da Amerika ſich anfhidt, Europa mit dem
tleberfchuffe feiner verfügbaren Kapitalien jegensvoll zu befruchten. Als Hüter
des Geldes der Handelsgefellfegaft tritt Herr Winterfeldt in die nem yorker Banl-
firma Hallgarten ein. Wenn aber zutrifft, was er dem Interviewer offen
bart bat, dann müßte viel eher ein Vertreter von Hallgarten Gejchäftsinhaber
der Hanbelsgefellichaft werden. So ſpricht die Logit. Der junge Winterfeldt
hat aber die richtige Witterung bewiefen. Logiſch Heißt Heute: Altväteriſch. Bor
ausſetzung des Erfolges ift in unferen Tagen die Verkündung eines Unſinns,
ber durch Graßheit ſelbſt den trägften Dickhäuter zum Widerfpruch reizt. So
ift nun aus Winterfeldt junior eine Kapazität geworden. Doch — ad! —
da padt er auch ſchon feine Koffer und kehrt uns den Rüden, um fortan in
New-Nork zu wohnen. Und wir? Wir bleiben zurück und betrachten mit Web
muth die Lücke, die fein Abgang in den Nachwuchs unferer Hochfinanz reißt.
„Der Berluft ift wie ein Bliß, der verflärt, was er entzieht“.
Hand aufs Herz, Herr Direktor Fürſtenberg: Warum laffen Sie Hans
MWinterfeldt ziehen? Der Gefragte ſchweigt. Da fteht er vor uns, den Cylinder
in die Stirn gedrüct, gefund und fräftig noch, aber auf dem alternden Geſicht
einen ernften Zug. Baumeifter Solneß! Zittert er wirklich vor der jugend?
Möglich wäre es. Als Herr Fürftenderg ben jungen Winterfeldt, ſogar, als
er den durch viel ftärfere Leitung befannten jungen Rathenau zum Geſchäfts⸗
inhaber machte, meinten Viele, diefe Wahl habe den Zweck, bie fürſtenbergiſche
Alleinherrichaft in der Handelsgeſellſchaft zu fihern; bie jüngeren Herren würden
in der Hand des älteren nur Werkzeuge fein. Daß Herr Fürſtenberg auch den
früheren Direftor der Allgemeinen Elektrizität Geſellſchaft jo gering eingeſchaͤßt
habe, iſt nicht anzunehmen; er ſoll ſeiner Freude über dieſe Acquiſition oft unge⸗
mein lebhaften Ausdruck gegeben haben. Ob nun Herr Winterfeldt, Sohn
feines Vaters, Pläne entworfen Bat, die den Meiſter durch ihren Herrſcherflug
erſchreckten? Oder genügte dem Vielerfahrenen ſchon die Vorftelung ſolcher Mög
lichkeit und ſchob er, Elüger als Solneß, einen Riegel vor, noch ehe bie Situation
für alle Betheiligten fo peinlich wurde wie in Ibſens Drama, — den alten
Brovif nicht zu vergeffen? In Meſſels Palaft, zwifcgen der Behren⸗ und det
Franzöſiſchen Straße, werden dramatijche Konflikte freilich anders geldſt als
auf der Bühne des Dentichen Theaters. Herr Fürſtenberg wird der Jugend,
die an feine Thür Elopft, nicht den Gefallen thun, auf das Dad} feines B
pueftraßenhanfes zu Klettern und von da aufs Pflaſter zu ftürzen, um It
Bahn für den Nachwuchs frei zu machen. Sein Gewiflen ift etwas robu
als das des Baumeiſters Solneß. Wäre Dem nicht die verrüdte Hilde War,
über den Weg gelaufen, die feine Schwäche ſofort erfannte und auszunügen
ſtand: er Härte e& vermuthlich auch Flüger angejtellt, um den aufftrebenden Rag
der fih an feine Stelle jeßen wollte, loszuwerden. Sin Appell an den“
geiz de3 jungen Mannes hätte nach menjchlihem Ermeſſen hingereicht, u
Nachwuchs. 239
ſelbſt, der den Meiſter ſchon für abgethan hielt, auf die Spitze des Thurmes
hinaufzuſchicken und dem Untergang zu weihen. Herr Fuürſtenberg entſendet den
jungen Winterfeldt „in ehrenvoller Miſſion“ nach New⸗-York. Die Börfe inſzenirt
eine Winterfeldt-Hauſſe und die ewig blinde Freihandelspreſſe behandelt den
jungen Herrn wie eine Perſönlichkeit. Der alſo Gefeierte ahnt nichts Boͤſes und
drüdt zum Abſchied dankbar bie Hand des Meifters, der ihm die berliner Direktor⸗
ftelle rejerbirt: nur das Amt, nicht die Würde foll dem Sceidenden genommen
werden. Mehr kann Winterfeldt juntor wirklich nicht verlangen. Ich kann mir
denfen, wie gerührt er war, als Fürſtenberg nach Ordnung des Wichtigſten zu
ihm trat und ihn zum „Direftor & la suite meiner Handelsgefellichaft” er-
nannte... AU Das tft natürlich nur Kombination. Vielleicht wird Herr Winter
feldbt aus ganz anderen — doch nicht minder ehrenvollen — Gründen übers
Waſſer geſchickt. Vielleicht ſchätzte ich den Charakter des Herrn Fürſtenberg zu
hoch ein, als ich eine Seelenverwandtſchaft mit Halvard Solneß konſtruirte.
Vielleicht den des jungen Winterfeldt zu gering, als ich annahm, er könne um
äußeren Glanzes willen dem eigentlichen Ziel ſeines Strebens entſagen. Hans
Winterfeldt iſt muthig. Dafür zeugen die Narben in ſeinem Geſicht; dafür
zeugt auch das Interview über Amerika. Muth aber, Unerſchrockenheit iſt eine
für den Beruf der Hochfinanz ſehr wichtige Eigenſchaft. Ein halber Direktor
up to date iſt Hans Winterfeldt jetzt alſo mindeſtens ſchon. Wer weiß? Am
Ende hat der Altmeiſter ihn nur zu den ſmarten Yankees geſandt, damit er dort
auch die zweite Hälfte Deſſen erwerbe, was ein vollendeter Bankdirektor heut⸗
zutage braucht, um ganz auf der Höhe der Zeit zu ſtehen. (Siehe namentlich
Dr. Salomonjohns Darftellung amerilanifcher Sitten, Kapitel über Schönheit-
pflege und Wehnliches.) Dder Hans Winterfeldt geht, weil für Caeſar neben
Pompejus fein Raum ift. Ich werde mich hüten, zu jagen, wer von den Beiden
— Aung-Winterfeldt und Jung-Rathenau — bier Caefar und wer Pompejus tft.
Der Leſer verzeihe mir, daß ich fo viel von Hans Winterfeldt |preche. Aber
wer bie berliner Börje kennt, wird mir den Schmerz über das Entſchwinden
diefed Mannes nachfühlen. Mit feiner Shmädtigen Geſtalt und feinem jugend-
lichen Ausfehen ift gerade er der markantefte Vertreter des unferer Hocfinanz
befchiedenen Nachwuchſes. Dan mußte ihn fehen, wenn er, hoher Verantiwor-
tung voll, die Arme in die Hüften geitemmt, vorn auf dem erhöhten Podium
in der Handelsgeſellſchaft Niſche ſtand und einem Makler nad dem anderen
fouverainen Befcheid gab, mit Freunden Grüße und Dleinungen austaufchte,
für Jeden ein williges Ohr, für Jeden ein MWeisheitkörnchen Hatte. So viel
Rührigkeit, fo viel Jugendfriſche erwärmt. Wer bleibt jet noch? Die Börſe
hofft, nad dem Abgang WinterfeldtS werde Herr Dr. Walther Rathenau endlich
wieder aus feinem Zelt bervorfommen, das er faum noch verlaflen hat, feit man
feinen „Smpreffionen” einen fo expreſſiven Empfang bereitete. Wird aber bieje
Hoffnung fich erfüllen? ... Junges Blut ift dann auch noch bei einer von den
alten Privatfirmen, die mit den Großbanken auf gleihem Fuß ftehen, und bei
einer Aftienbant, die auf der linken Seite des Saales poftirt ift, in leitende
Stellungen gebrungen. Ich nenne die Namen der Herren nicht, weil ich nicht
anzunehmen vermag, fie lönnen eines Tages jo Hervorragendes leijten, daß es
nöthig würde, in einer Geſchichte deutſcher Finanz ihrer zu gedenken.
240 Die Zukunft.
. |
Im Allgemeinen ift leider mehr Repotismus als Nachwuchs fihtber. Ben
ich von Nachwuchs rebe, meine ich ungewöhnlich begabte junge Leute, die ſich mitten
in bem großen Organismus eines Banfinftitutes, ohne Rückſicht auf ihre Gebun
und die pefuniäre Lage ihres Vaters, ſolche Geltung zu verfchaffen willen, da
fie von Stufe zu Stufe aufräden, bis zur höchſten hinauf, und zwar mit de
beichleunigten Geſchwindigkeit, die unfere Zeit ber unaufhörlich einander über
bietenden Rekords ermöglicht und von der Auslefe fordert. Warum fehlt um
diefer Nachwuchs? Line ausführliche Beantwortung ber frage würde viel Zeit
koften; nureine Nebenurfache will ich heute erwähnen. Mehr und mehr wädjit unte
ben tüchtigen Bankbeamten die Neigung, ungeduldig aus der Bahn zu fpringen
und fi) journaliftifch zu bethätigen. Progentuell liefert bie Berliner Bank, wenn
ich nicht irre, das ftärkfte Kontingent diefer Fahnenflüchtigen; vielleicht, weil fe
ihren Beamten am Meiſten Muße läßt, auf andere Gedanken zu kommen, vie,
leicht, weil ihr Weſen die in ihrem Betriebe Stehenden am Meiften zu Ent:
ſcher Regung reizt. Kaum haben foldde Beamte das Bankhaus verlaffen, ſo
ericheinen fie auch ſchon tm Börfenfaal und fehen fi die Welt, die fie jo lange
von unten betrachtet haben, nun von oben an. Diefer plögliche Wechſel der
Berfpektive bewirkt, wie die Erfahrung lehrt, aud wenn der pathologiſche dw
ſammenhang noch nicht aufgeklärt ift, gewöhnlich eine Blähung bes Bruftfordes,
ein Wachsſthum der Figur und eine Anſchwellung des Organes. Das Exit,
was dann geſchieht, ift eine nad allen Megeln der Kunft vorgenommene Der
möbelung der Bankdirektoren. Aus dem Hausllatfh, den man in den Quli⸗
jahren aufgeſpeichert hat, wird den früheren Chefs eine Suppe gekocht, die mand
mal viel Talent und Sachkenntiniß verräth, aber ſtets einen efelhaften Ra
geihmad hat. Nah Allem, was ich jelbjt bier ſchon gefagt habe, wird mit
wohl Niemand zutrauen, daß ich die BZimperlichleit und Unehrlichfeit, die fd
auf anderem Gebiet in dım heuchleriſchen Aufſchrei Über eine „Verrohung der
Kritik” Quft gemacht hat, nun auch auf die Börfen- und Finanzkritik Über:
tragen wolle. Ich muß auch gleich hinzufügen, daß die Bankdirektoren in ihr
Abwehr einen noch Häglicheren Eindrud machen als ihre Angreifer. Denn dir
Abwehr befteht darin, daß fie durch ihre Preßbureaux, trog Börfengefeh md
Pommernprozeß, noch immer allerlei unfauberen Börfenblättchen, bie feinen
Inhalt und faum einen Leſer haben, ihre Finanzinſerate geben. Diefer Sumpi
ſoll die Banken vor der Schimpfluſt ausgeſchiedener Beamten ſchützen; vergeſſen
wird dabei nur, daß ein Sumpf noch lange kein Wall iſt. Ich denke von Banken
und Bankdirektoren im Allgemeinen nicht gerade gut und finde, die Beweisloft
für ihre bona fides müſſe in der Regel ihnen felbft zufallen. Alle Banten zu
ſammen können aber nicht fo Arges verbroden haben, wie man anzunehmen
gezwungen wäre, wollte man ihre Unmoral an der Demuth meflen, die fie bem
Abſchaum der Preſſe oft zeigen. Kluge Bankdirektoren follten den Talenten
in ihren Bureaux den Weg nad} oben, fo weit es irgend möglich ift, ebnen, ſtatt
fie aus Dienern zu Feinden werden zu lafien. Daun würde es an Nachwucht
nicht fehlen; und das Unkraut, das ſich jegt nur von der Furcht nor entartetem
Nachwuchs, vor jchreibluftigen jungen Leuten nährt, könnte nicht weiterwuchem.
Die.
perausgeber und verantwortlicher Medatteur: M. Harden in Berlin. — Berlag der Zukunit in heclu
Drud von Albert Damde in Berlin⸗Schöneberg.
Berlin, den 14. November 1905.
—7 — —
Ariesiche und Rohde.
FR einem Bilde, das bie Mitglieder des leipziger Philologiſchen Vereins
darftelt (Winter 1866/67), fallen bei genauerer Betraditung von den
zehn um einen Tiſch gruppinten jungen Leuten dem Beſchauer zwei auf, die
einen viel bedeutenderen Eindrud machen als ihre Kommilitonen: an ber
finten Ede der fofort kenntliche zweiundzwanzigiährige Niegfche, heiter und
nachlaſſig wie Einer, der die feierliche Prozedur als einen Scherz aniieht;
ganz rechts an der Ede ein Jüngling von einem ſonderbar ernften und ſtolzen
Ausdrud in Geſicht und Haltung; der feine Kopf merkwürdig ſchmal; Hinter
dem ſich emporwölbenden Scheitel wird ein mächtiger, ſtark außgerundeter Hinter:
ſchadel fihtbar, eine Kopfbildung, wie begabte Menfchen, beſonders Mufiter, fie
oft zeigen ; das Kinn ift trogig; die Badenknochen treten energifch, doch nicht un«
ebel Hervor; das Augenpaar blidt faft ſchwermuthig in eine unbeftimmte Weite.
Der alfo Dargeftellte ift Erwin Rohde, Niegfches befter Freund.
Ein Bild Rohdes ſchmuct aud die ſchöne Biographie des Mannes,
mit der Profeffor Cruſius die nicht fehr große Zahl wertvoller Gelehrten
biographien um ein Wert von gründliche Kenntniß, anziehender Darſtellung
und erquidender Herzenswärme bereichert hat. Die Züge des Dreißigiährigen
find noch bebentender geworden; ſtärker wölbt fi die Stirn, trogiger find
die von einem ſchmalen ſchwarzen Barte beſchatteten Kippen aufgemorfen;
eine unausdrüdbare Fdealität liegt über der Erfcheinung; aus ben düfteren
Augen fpricht fchmerzlihe Entfagung, aber zugleich eine unbedingte, harte
Wahrhaftigkeit, die fid) dem Befchauer ins Herz bohrt. Ein feltfamer Zauber
- und Zwang geht von dieſen forfchenden Augen aus; fie nöthigen Eprerbietung
ab, fie heifchen Liebe.
19
2 —
242 Die Zukunft.
Erwin Rohde iſt geliebt worden. Nicht von feiner reinen und gläd-
lichen Ehe fei hier bie Rede: wer das Buch von Erufiuß lief, wird mand-
mal ergriffen innehalten, wenn er auf rührende Denkmale dieſer Liebe ftößt.
Uber bevor Rohde fi einen Hausftand gründete, hatte er Jahrzehnte Lang
in Freundſchaft mit Niegfche gelebt. Keiner von Denen, die Nietzſche ihren
Freund nennen durften, ift ihm fo ganz nah gelommen. Keiner war feiner
Weſen fo verwandt. An Keinem hing Niegfche mit treuerer Liebe. Nun
liegt der Briefwechfel zwifchen Rohde und Niegfche in einem ftattlichen Bande
por. Profeſſor Frig Schöll hat die Briefe des Freundes, Frau Eliſabeth
Börfter-Niegfche bie ded Bruders herausgegeben. Sich kennen und lieben
gelernt zu haben, empfanden die Zwei als ein tiefes Glück. Diefes Gtüd
mitzuerleben, gewährt der Briefmechfel den Freunden der Freunde.
„Rohde ift jet auch Ordentliches Mitglied, ein fehr gefiheiter, aber
trogiger und eigenfinniger Kopf“, fchreibt Nietiche im September 1866 an
den Freiherrn von Gersdorff. Es handelte fih um den auf Ritſchls An:
regung geftifteten Philologifchen Verein. "Bald waren Niegfhe und Rohde
die Ylügelmänner der jungen Geſellſchaft. In Niegfches ſechſtem Semeſter,
Dftern bis Herbft 1867 zu Leipzig, wurde die Freundſchaft eng und herzlich;
Beide fahen fid mit einem Male allein, „auf einem Sfolirfchemel“, wie
Rohde fagt; fie waren über ihre mitftrebenden Altersgenoſſen hinausgewachſen
und auf einander angewiefen. Freund Rohde war e8, zu dem Riegfche mit
dem fertigen Manuffript feiner Preisaufgabe de fontibus Diogenis Laertü
in dunkler Regennadt ftürmte; feierlich bewegt, tranken fie eine Freudenflaſche
zufammen und rebeten ſich von Hoffnungen und Entwürfen die Köpfe heiß.
„Sch habe e8 bis jet nur dies eine Mal erlebt”, notirte Niegfche ein Jahr
fpäter, „daß eine fich bildende Freundfchaft einen ethifch:philofophiichen Hinters
grund hatte. Einig waren wir nur in ber Ironie und im Spott gegen
philologifche Manieren und Eitelfeiten. Für gewöhnlich lagen wir uns in
den Haaren, ja, es gab cine ungewöhnliche Menge von Dingen, über die wir
nicht zufanımenflangen. Sobald aber das Geſpräch fih in bie Tiefe wandte,
verftummte die Disfonanz der Meinungen und es ertönte ein ruhiger und
voller Einklang.“ Wie ein Echo fchallt es zurüd aus dem erſten Brief, den
wir von Rhode an Niegfche beigen: „Ich benfe, old boy, daß auch Du mit
Vergnügen an fo mande Augenblide innigfter Harmonie in ben Grunt
ftimmungen des Denkens und Seins zurückdenlſt. Die herzliche Theilnahme
die Du mir querföpfigen und abftoßenden Kerl erwiefen haft, empfinde id
um fo wärmer und tiefer, weil id nur zu genau weiß, wie wenig meine
Art zu näherer Theilnahme auffordert. Bor Allem denke ich mit Freude
zurüd an die Abende, wo Du mir im Finftern auf dem Klavier vorfpieltejt
ich fühlte den Abftand zwifchen einer produftiven Natur und mir ohnmächti
Nietzſche und Rohde. 243
wollenden Halbheren, aber die Seele ſchloß ſich doch auf unter den Tönen
und ging einen somewhat elaftifcheren Schritt.” Diefer Brief ift ein Selbit-
portrait, in einem anderen Sinn allerdings, als fein Schreiber es gemeint
hatte. Dan erräth eine vornehme, ſchamhafte, hochitrebende Seele, mit einer
unfeligen Veranlagung, fi zu quälen und Bitternig aus den Blüthen des
Lebens zu faugen; einen düfteren und leibenfchaftlichen Geift, Leicht verwund-
bar und ſchwermuthvoll, der das Geheimniß feiner Zartheit ängftlich hinter
ber Maske eines bärbeigigen Humor$"Derhehlt; einen Freund, ber bei aller
unbedingten Verehrung Spuren leifer Eiferfucht nicht ganz verbergen kann:
der reicher und alljeitig begnabete Genoſſe ift ihm ein mundervolles Glück
und ein fehmerzlich fchirfender Stachel zugleich. So meiche Klänge diefer
fpröden Seele zu entloden: Das erforderte einen Seelenkünder wie Nietzſche;
er fah duch Falten und Schleier die hüllenlofe, in einfamer Sehnfucht fich
verzehrende Seele. Wie ein mühſam verhaltener Jubel brauft e8 durch Rohdes
Jugendbriefe. Gelegentlich, wie in dem herrlichen Weihnachtbriefe vom Jahre
1868, fpringen alle Riegel dieſes verfchloffenen Herzens auf und wie aus
tiefen, Tauteren Brunnen quillt die Empfindung: „Dir allein verdanfe ich die
beiten Stunden meines. Lebens; ich wollte, Du könnteſt in meinem Herzen
leſen, wie innig dankbar ich Dir bin für Alles, was Du ihm gefchenft; ber
Du mir das ſelige Land reinſter Freundfchaft erfchloffen Haft, in das ich,
mit Tiebedurftigem Herzen, früher wie ein armes Kind in veiche Gärten ge-
blickt hatte. Der ich von je her einfam war, ich fühle mich jegt vereint mit
ber Bolten Einem; und Du kannft fchmerlich veritehen, wie Das mein inneres
Leben verändert hat; bei meinem tiefen Bewußtſein meiner Hirten und
Schwächen erquidt mich Liebe und Milde wie etwas Unverdientes unfäglich.“
Noch find e8 zwei jugendliche und harmloje Menſchenkinder, die ein-
ander die ſchwärmeriſchen Brautbriefe ihrer Freundſchaft fchreiben; noch haben
fih nicht die drohenden Schatten des Lebens auf ihre fonnige Eriftenz gelegt;
ihr gern betonter Peſſimismus hat etwas jünglinghaft Theoretifches: die
müde und fchmerzlihe Weisheit Schopenhauers ift ihnen in Hirn und Herz
gedrungen und gläubig beten fie dem Meiſter nach, der ihrem Geifte das
auszeichnende Stigma der Philofophie aufgeprägt hat. Sie berathen einander
in ihren philoloziſchen Studien, ſch värmen von Objektivation bes Willens,
bon der platoniichen dee als Objelt der Kunft, von Bejahung und Ber:
neinung des Willens zum Leben. Daneben aber freuen fie ſich kindlich auf
eine parifer Weife, die fie zu machen gedenfen, und Nienfche fchreibt in
ſcherzhafter Renommiſterei von der göttlichen Kraft des Cancan und vom
gelben Gift Abſynth. Der felbe vierundzmanzigjährige Niegfche ift entzüdt
über feine Qualififition zum Landmwehrlieutenant, die ihm „von äußerſtem
Werth“ zu fein fcheint, angeſichts der täglichen, immer drohenderen Kriegsgefahr.
19°
214 Die Zukunft.
Die gleichzeitig ausgefprocdene Hoffnung „auf fpätere artilleriftifche Thätig:
feit“ Klingt dem Leſer ominds, der fich der Werke der achtziger Fahre erinnert.
Siebenmal wird Suschen Klemm, die zierliche Naive des Leipziger Stadt:
theaterd zu jener Zeit, im Briefiwechfel der Freunde erwähnt; ſie haben ihr
das philologifche, fpätgriechifch:galante Koſe-Pſeudonym Glaulidion gegeben;
Nietzſche berichtet triumphirend, daß er fie nach Haufe begleiten durfte; er
fucht im ganzen Theater, ob fie anmefend iſt; er weiß, wie viel Gage, wit
viel Zulage fie von Laube befommt; feine Stube ift „fo glüdtich, befagtes
Weſen mit ihrer hübfchen Schwefter eine Stunde zu beherbergen. Und eb
war eitel JeAws und TAurdıns“.
Zum Zeichen Deffen, was mit dem ausdrädtichen Hinweis auf diele
unfchuldige Herzendneigung für einen anmuthigen Theaterbadfifch beabſichtigt
ift, jeien drei Jahreszahlen hier verzeichnet. Das Jahr, in dem diefe Briefe
gefchrieben wurden: 1868; das Jahr, in dem „Menfchliches, Allzumenſch
liches“ erfchien: 1878; endlich dad Jahr des „Fall Wagner“, der „Dionyio?
Ditlyramben“, ber , Götzendämmerung“, des „Antichriſt“, des „Ecce Homo“,
ber „Umwerthung aller Werthe“: 1888. Welcher Weg, weiche Entwidelung
in zwei Jahrzehnten!
1868: Der normale hoffnungvolle Jüngling; heiter, forglos, lebens⸗
luſtig; ſehr Airebfam, aus gutem Haufe: PBaftorsfohn, mit einem Dutzend
gutmüthig bemutternder Tanten. Scheinbar nichts Außergewöhnliches ift an
ihm; gewiß ift er begabt, fogar fehr und vielfeitig; aber der um ein Jahr
jüngere Rohde macht faft einen reiferen, ernfteren Eindrud. Gründung
philifter eines Vereins gefcheiter Philologen, Ritſchls Günftling; dieler
Nietzſche wird vermuthlich eine glänzende, wenn auch durchaus typiſche ala⸗
demifche Karriere durchlaufen: er wird brav und filtiam als Privatdozent
anfangen, wird zum Extraordinarius, zum Ordentlichen Profeſſor vorrüden;
vieleicht bringt er fogar zum Geheimen Rath und ficher bleibt ihm der
Rothe Adlerorden vierter Verdünnung nicht aus. Er wird ein Weib nehmen
und feine Töchter an weife Privatdezenten verheirathen; er wird zwei ober drei
grundlegende Werke und eine Unzahl Beitfchriftenartifel fchreiben, — Alles jehr
gediegen, fehr wifjenfchaftlich, mit Cıtaten, Anmerkungen, Hinmweifen, Varianlen,
mit kritiſchem Apparat... .
1878: Er ift thatfählih Profeffor geworden, abnorm früh, unter
“ ungewöhnlich ehrenvollen Umftänden. Aber er hat ſich durch heillofe Ber
quidung von Philologie und Wagnerianigmus kompromittirt; für exnfihafte
Philologen eriftint er nicht mehr, denn er ijt nicht wiffenfchaftlich; man dal,
wie es fich gehört, feine Katheder boykottirt, angehende Jünger der Philologie
vor ihm gewarnt. Seit einiger Zeit lieſt er nicht mehr, ſondern treibt ſich
angeblich aus Geſundheitrückſichten, irgendwo in Italien herum, in bedenllich
Nietfche und Rohde. 245
internationaler Geſellſchaft. Sein neuftes Werl, lauter Aphorismen, zeigt,
daß er fich total ausgelchrieben hat . . .
1888: Diefer Nietfche, auf den gewille Leute vor fünfzehn Jahren
fo übertriebene Hoffnungen gejegt Hatten, ift fo gut wie verfchollen. Er
führt ein Nomadenleben: Oberengadin, Thüringen, Venedig, Riviera. Er
fol immer nod fchreiben, aber kein Menſch Lieft ihn, Niemand Tauft, Nie
mand beſpricht feine überfpannten Bücher, bie jedes Jahr den Verleger
mechjeln. Eins davon foll fehr unmora'ifch fein, hat aber dennoch feinen
Erfolg gehabt; ſchon der Titel läßt allerlei Ubjcheuliches vermuthen. Ein
anderes handelt von perjiicher Mythologie, wie man hört. Um fich interefjant
zu machen, hat er ein Pamphlet gegen Wagner verfaßt... Halt, gerabe
fommt eine ganz unglaubliche Zeitungnadhricht über ihn: „Die von dem
Dozenten Dr. Georg Brandes im größten Hörfaal gehaltenen öffentlichen
Borlefungen om den tüske filosof Friedrich Nietzsche haben enormen
Zulauf; jedesmal über dreihundert Perfonen." Wie? Das Ausland nimmt
Notiz von dem Manne? Sollte der Dann am Ende ernft zu nehmen fein?
Drei Dinge waren Niegfche und Rohde gemeinfam: Liebe zum Alter
thum hatte fie zufammengeführt, Begeifterung für Schopenhauer brachte fie
einander näher, Hingabe an die magnerifche Kunſt beiiegelte ben Bund.
Rohde ift der Philologie treir geblieben und hat Glänzendes in ihr geleiftet;
er bat nie Wagner den Rüden gelehrt, obgleich auch er den weihrauchſchwülen
Duovadismus des Parfifal ablehnte; am Loderften wurde fein Berhältniß
zur Philofophie, wenn er auch im feinen beiden Meifterwerken philofophifchen
Problemen durdhans nit aus dem Wege ging. Niegiche Löft fi von
Philologie, Schopenhauer und Wagner entfchlofien los: fie waren ihm nur
Wegweiſer zu fich felbit gewefen. Alles in feinem: Leben drängte jcheinbar
darauf hin, daß er Richard Wagner eine Art von Paulus würde: eine junge
Sekte braucht den Bermittler, der fie in Beziehung zu den vorhandenen
Kulturmächten fegt; Wagner hatte, wie kein Kunſtler vor ihm, einen fIrupel-
{ofen Ehrgeiz, mit Allem, was irgendwo einmal in der Geſchichte groß war,
in Beziehung zu ftehen; Inderthum, Griechenthum, Chriftenthum, bie alte
Tragoedie, der Heilige Franz von Afjiit, Dante, Shalefpeare, Calderon, Goethe,
Shiller, die Romantik, Schopenhauer, Beethoven, germanifcher Mythus,
ritterliche Epik, bretonifche Fabulirluft: das Alles follte in die Weltanschauung
Wagners hineininterpretirt werden, und zwar jo, daß es erft in und durch
Wagner feine Vertiefung und Vollendung zu finden fchien. Niegfche fchien fo
recht gefchaffen, der griechifche Kirchenvater de8 neuen Glaubens zu werden; die
Umftände konnten nicht günftiger zufammentreffen; feine Berufung nach Bafel
wie ihm deutlich die Richtung. „Luzern ift mie nun nicht mehr unerreichbar“,
246 Die Zukunft.
heißt es in dem Brief, in dem er Rohde feinen Ruf mitiheilt. So fah er
der neuen Profeffur froh, wenn auch nicht ohne Sorge entgegen. Rohde
fühlte dunfel, dag ihnen Beiden ein Lebensfommer voll Mühe und Edwäle
bevorftehe; in ergreifenden Worten nahm er Abſchied vom Jugendgenefſen
und vom Frühling ihrer Freundſchaft: „An diefem trivium unferer Lebens:
pfade laß michs Dir noch einmal fagen, daß Niemand im Leben mir wohler
und lieber gethan hat als Du und daß ih Das empfinde mit allen Fibern
meines Weſens.“
Bafel ift die entfcheidende Wendung in Niepfches Lebenslauf. Er wird
unvermittelt und unvorbereitet in einen Beruf hineingeworfen, den er unter
normalen Umftänden in langem geduldigen Warten und Vorbereiten erreicht
hätte; der Unterricht am Pädagogium vermehrte bedenklich Arbeitlaſt und
Berantwortung. Die freien Stunden waren einer erftaunliden Produktion
gewidmet: Alles, was der erfle, neunte und zehnte Band der Geſammtaus⸗
gabe enthalten, ift in Bafel entftanden. Ein außgedehnter Briefwechſel, auf-
zegende Mufif und die Befuche in Tribſchen bei Richard Wagner jind nit
zu vergefien. Mit der Berufung nach Bafel fcheint Nietsfches Lebensſchiffchen
in das idyllifche Eeitengewäfler einer friedlichen Gelehrteneriftenz zu fleuern;
in Wirklichkeit treibt e8 facht, aber unaufhaltfam hinaus in den Strom. Denn
in Bafel wuchs Niepfche nur zu bald über da8 ganze Univerfitätwefen hin
aus. Zunächſt verlor er den engen perfönlichen Konner mit Rohde; lange
Briefe waren ein kümmerliches Surrogat. Neuen Anfhluß fand er nidt
leiht. Der fpäter vertrautere Verkehr mit Jakob YBurdhardt und Dverbed
beichränfte fi anfangs auf freumdliches Grüßen. So drängte Alles darauf
hin, Niefche der Macht in die Arme zu treiben, die den Menſchen jäh und
gründlich wandelt: der Einfamfeit. Sie verleiht von nun an feinem Leben
und feinen Werfen Farbe und Glanz. Die Einfamtkeit ift das lebte Krite
rium für alles Hervorbringen; fie ift das Auszeichnende und Unterfcheidente;
man fühlt e8 fofort, wenn ein Werk „aus der Fremde“ kommt, aus Höde
und Stille; ſeltſam und adelig ficht 8 da. Beethovens Ichte Quartette,
Schopenhauers Hauptwerk, Ibſens letzte Dramen haben alle einen Hauch und
Duft der firengen Einſamkeit an fi, in der fie entftanden find. Nietzſche,
von Natur aus wie Stendhal geneigt & se singulariser, wurde durch ein
fonderbares Zuſammenwirken verfciedener Umftände aus Beruf und Ant,
aus Tradition und fozialem Leben hinausgedrängt, unmerklich beinahe, aber
unaufhaltfam. Dean kann Edritt vor Echritt verfolgen, wie er die Wohn:
ftätten der behäbig in Alltag und Gemeinfchaft Lebenden verläßt, wie er
immmer höher feinen Berg Hinanfteigt und immer einfamer wird. Wohl preiſt
fein Sonnenhymnus, da Barathuftra auf dem Gipfel fteht und füßen Honig
opfert, in entzüdter Weiherede feiner Einfamfeiten fiebente und Ießte. Aber
Nietzsche und Rohde. 247
zu anderen Zeiten entlodte ihm das Gefühl, nicht einen einzigen Menjchen
zu haben, der ihn liebend verftand, bitterliche Klagen.
Kaum war Niegfhe ein Jahr in Bafel, al8 er Rohde fchon ganz
revolutionäre Briefe fchrieb: ein radilales Wahrheitweſen fei an einer Uni-
verſität nicht möglich; etwas wirklich Ummälzendes werde nie von hier aus
feinen Ausgang nehmen können; er werde diefe Luft nicht mehr lange aus⸗
halten. Um aus diefer Roth herauszulommen, erwog Niesfche in vollem Ernſt
einen Gedanken, der zu allen Zeiten feinere Geifter als felige Utopie gereizt
hat: ben eines weltlichen Kloſters, in der Urt einer Platonifchen Afademie
oder der Thelemitenabtei des weifen Meiſters Rabelais. Er bereitete einen
Aufruf vor „an alle noch nicht völlig erftidten und in der Jeszzeit ver-
Schlungenen Naturen.“ Auf Rohdes und Romundts Mitwirkung rechnete er
zuverfichtlich, im Stillen wohl auch auf die Deuffens, Burckhardts, Over⸗
becks. Er fing an, feine Bedürfniffe auf ein Mindeftes einzufchränfen, um
einen Heinen Reft von Bermögen für alle Fälle zu bewahren; er wollte in
die Lotterie jegen, für feine Bücher die denkbar höchften Honorare verlangen.
Rohde mahnte befonnen ab; er fand jich nicht produftiv genug zu folcher
Welteinfamfeit. „Mit Leuten wie Schopenhauer, Beethoven, Wagner ift es
eine ganz andere Sache; auch mit Dir, lieber Freund.” Die Stelle ift
intereffant: hier alfo kommt Rohde fchon nicht mehr mit; er hat nicht mehr
die nöthige Elaftizität. Und welche fonderbare Gleichſtellung von Nietzſche,
der noch feine feiner größeren Schriften veröffentlicht hatte, mit Schopen-
bauer, Beethoven, Wagner! Welden Eindrud von Größe muß Niegfche auf
Nohde ftet3 gemacht Haben, daß Diefer eine ſolche Nebeneinanderftellung
wagte, ohne zu fürchten, jih und ben Freund lächerlih zu machen!
Nictzſche fühlte fih unbehaglih in Amt und Jah. Nun tritt ein
Ereigniß ein, das in feiner einzigartigen Wichtigkeit für Nietzſches Entwide-
lung noch nit erkannt worden ift: der basler Profeſſor der Philofophie
Teihmüller nimmt einen Ruf nah Dorpat an. Nietzſche hat eine folche
Sehnſucht, feinen Rohde wieder bei fich zu haben, daß er ordentlich erfinderifch
wird: er trägt fih mit dem Wunfch, fih um die valante Profeffur zu bes
werben, damit feine eigene für Rohde frei werde. In Lugano, wo er feine
Erholung ſucht, wiegt er ih in goldenen Träumen gemeinfamen Wirkens
an der basler Hochſchule; fich felbit aber — und Das ift das Entjcheidende —
kann er ſich nur mehr als Philoſophen vorftellen: fo feſt hat er fich fchon
in diefe neue Hoffnung hineingelebt. „Bon der Philologie lebe ich in einer
übermüthigen Entfremdung, die ſich fchlimmer gar nicht denken läßt. Bald
fehe ih ein Stüd neue Metaphyſik, bald eine neue Aeſthetik wachſen.“ Es
war der letzte Verſuch, das ideale Klofter zu gründen. Der etwas fpätere
Plan, Rohde wenigftens an die Nachbaruniverfität Zürich zu bringen, zerſchlug
218 Die Zukunft.
fi, weil Rohde mit Kiel unterhandelte. Man barf bie fundamentale Wichtig-
feit diefer vergeblichen Bemühungen nicht überfehen: jetzt ift Nietzſche der Phils⸗
logie ganz entfrembdet, fie ift ihm, wie er felbit im nächiten Briefe befennt,
„ein Ekel." Sie hat nur noch einen Werth für ihn, wenn fie fich in ben
Dienft des Lebens, der hohen Kultur, der großen Kunſt ftellt; dieſe Holle
weift ihr „Die Geburt der Tragoedie aus dem Geifte der Mufif“ an. Als
das Werk erfchienen war und von einem jüngeren Philologen vom Stand:
punft der Wiffenfchaft aus ungeftüm angegriffen wurde, ftellte Rohde ſich
tefolut auf die Seite bed Freundes. Ob auch. der Sache, ift zweifelhaft.
Zwar haßte Rohde die „fatale göttinger Weisheit von der Heiterfeit des echten
Griechenthumes“ eben fo grimmig wie Niegiche; auch er fah bie Zeit tieffter
müftifcher Erregung zwifchen Homer und Aeſchylos; „purifizirten Altenweiber-
proteſtantismus“ nennt er die zünftige Darftellung griechiiher Weltanfchauumng.
Über Nietzſches erſtes Buch enthielt Kühnheiten und Vorahnungen feiner
fpäteren Entwidelung, die einem forgfältigen Lefer nicht entgehen Tonnten.
Im Juli 1876 erhielt Nießfche die Anzeige von Rohdes Berlobung.
Sogleich ſchrieb er einen herzlichen Glüdwunfchbrief, der jedoch eine merf:
würdige Stelle enthält: „Ja, ich werde ruhiger an Dich denken Tönnen:
wenn ih Dir auch in dieſem Schritt nicht folgen folltee Denn Du batteft
die ganz vertrauende Ceele fo nöthig und haft fie und damit Dich jelbfi auf
einer höheren Stufe gefunden. Mir geht es anders. Mir ſcheint das Alles
nicht fo nöthig, — feltene Tage ausgenommen. Vielleicht habe ich da eine
böje Lüde in mir. Mein Verlangen und meine Noth ift anders; ich weiß
kaum, e8 zu fagen und zu erklären.“ Er ahnte wohl felbit nicht, welchen
Haffenden Abftand er mit diefem Bekenntniß zwiſchen fi) und dem Freunde
fonftatirte; auch Rohde ſcheint die Stelle „Du hatteft bie ganz vertrauende
Seele nöthig“ nicht verftanden zu haben; noch einmal flammt, zum lebten
Male und am Höchſten, feine Liebe auf: „Mein Freund, ja, wahrlich mein
Freund und Bruder! Eins denke immer: daß in meinem zufünftigen Haufe
Dir Herz und Herd allezeit zur Verfügung ftehen; nicht wie ein Gefchent,
fondern wie Dein eigener und rechtmäßiger Befig! Ich bleibe Dein in un-
veränderter Liebe.“
Dieſer Brief fteht auf Seite 534 des Bandes; dann folgen nur noch
fünfzig Seiten. Wann fchreibt man einem Mädchen die glühendften Briefe?
Wenn man fih unbewußt mit bem Wunfch trägt, ihr ben Abfchieb zu get
Zwei Dinge giebt es, die den Menſchen entjüngen; fie fchneiden fei
Entwidelung ab: Amt und Ehe. Sie find des Durchſchnittsmenſchen
und Glüd, auch des fehr begabten. Dem Philofophen aber ift jedes Au
eine Kette und die Ehe ein Verhängniß; er verfagt ſich Beides aus Inſtinl
Schon dem vierundzwanzigjährigen Nietfche ftand diefer Sag fell. „
Nietzſche und Rohde. 249
habe hier Gelegenheit, mir die Ingredienzien eines glücklichen Familienlebens
in der Nähe anzuſehen: hier iſt kein Vergleich mit der Höhe, mit der Singu⸗
larität der Freundſchaft. Das Gefühl im Hausrock, das Alltäglichſte und
Trivialſte überſchimmert von dieſem behaglich ſich dehnenden Gefühl: Das iſt
Familienglück, das viel zu häufiz iſt, um viel werth fein zu können.” So
ungefähr fagt Das einmal jeder Jüngling; man erinnere fich der köſtlich
friſchen Eingangsfzene von Stifters „Hageſtolz“. Niegiche hat feine Sugend-
anfhauung fiber die Ehe feitgehalten; fie ift ihm immer ftrenger und ent⸗
fchiedener geworden. Wundervoll befang er im Zarathuſtra das Glüc der
Ehe und die Seligkeit der Elternſchaft, aber er vergaß keinen Augenblid,
dan e8 nicht für ihn und er micht für es geſchaffen ſei. Fürs „dumpfe
beutihe Stubengläd“ vollends Hatte er nur höhnende Verachtung, und als
er dem fromm und mürb gewordenen Wagner die Summe feiner Eriftenz
303, ſchrieb er an auffällige Stelle den böfen Sag: „Die Gefahr der Künſtler,
der Genies liegt im Weibe; die anbetenden Weiber find ihr Verderb.“ Nicht
in der unglüdlichen Ehe fah er die Gefahr: ohne Xanthippe Fein Sokrates.
Das „Behagen zu Zweien“ war ihm das zu Fürchtende, das eigentlich Un-
phifofophifche. In dem Glückwunſchbrief deutete ers Rohde in einem zarten
Symbol an: Ein Wandrer geht durch blaue Naht und laufcht in weicher
Wehmuth der füren Weife eines Vogels. Aber der Vogel fpricht:
„Kein, Wandrer, nein! Di grüß ich nicht
Mit dem Getön!
Ich finge, weil die Nacht fo ſchön:
Doch Du folljt immer weiter gehn
Und nimmermehr mein Lied verftchn!...
Leb wohl, Du armer Wandersmann!“ — —
——— En — — — — —— —
Rohde hatte vielleicht als Erſter die aphoriſtiſche Technik Nietzſches
erkannt. „Du deduzirſt zu wenig“, ſchrieb er ihm über die zweite Unzeit⸗
gemäße Betrachtung; „Du überläffeft dem Lefer mehr, als billig und gut ift,
die Brüden zwifchen Deinen Gedanken und Sägen zu finden. Zumeilen
babe ich den Eindrud, als ob einzelne Städe und Abſchnitte zuerft für fich
fertig gearbeitet worden wären und dann, ohne in dem Fluß des Metalles
völlig wieder aufgelöft worden zu fein, dem Ganzen eingefügt worden wären.“
Als Niegfhe in dem Aphorismenbande „Menſchliches, Allzumenſchliches“
gänzlid auf die Eſelsbrücken verzichtete, in denen philofophirende Flachköpfe
das Syſtem einer Philofophie erbliden, war Rohde weniger von ber neuen
Form als von dem neuen Inhalt überrafht: „So muß e8 fein, wenn man
direft aus dem caldarium in ein eisfalte8 frigidarium gejagt wird.“
Shmerzlich befremdet, fand er zu viel Rose in dem Werle. So fehr er den
250 Die Zulunft.
rückſichtloſen Wahrheitstrieb, bie fühle und ftrenge Zerlöſung religiöfer,
metapbufifcher und künftlerifcher Illuſionen bewunderte: er gab nur bie rela=
tive Wahrheit der Eäge zu und fand den Gehalt des Buches mehr im Ein-
zelnen als im Ganzen. Seltfam Hingt der Schluß: „Nichts, Deſſen jet
gewiß, fol mich Dir je im Innern entfremden.” Go jchreibt man nur,
wenn die Entfremdung thatfächlich ſchon begonnen hat. Rohde mußte blig-
artig erkennen, daß fein und Niepfches Weg ſchon weit augeinandergingen.
Daß er nicht, wie Wagner, da8 Buch en bloc verwarf, zeugte von Freiheit
des Geiſtes. Daß er ihm nur zum Theil zu folgen vermodte, lag daran,
daß Niegfches Entwidelung ein ganz andere® Tempo annahm, nachdem er
feinen Beruf aufgegeben hatte und nur noch fich felbft lebte. Rohde war
durch Amt und Ehe davor bewahrt, ein rein Tontemplatives Leben zu führen.
Bon nun an wird au der Ton Niepfches in feinen Briefen anders;
ganz langfam und allmählich, aber deutlich erfennbar. Es ift, al® ob er
aus der Höhe ſpräche; eine eigenthümliche Ueberlegenheit und Nachſicht Hingt
leife dur. Die Antwort auf Rohdes Brief zeigt fchon biefe neue
Weile; wer genau hinhorcht, Hört durch alle Herzlichkeit doch einen Ton
ſelbſtbewußter Ironie. Niegfche erklärt dem Freunde kurz und bündig, das
Bud fei fertig und zu einem guten Theil fchon reingefchrieben geweſen, ehe
er überhaupt Rées Belanntichaft gemacht habe. „Dadurch erfcheine ih Dir
vielleicht noch fremdartiger, unbegreifliher? Fühlteſt Du nur, was ich jegt
fühle, feitdem ich mein Lebensideal endlich aufgeftellt Habe, die frifche, reine
Höhenluft, die milde Wärme um mid, — Du würdeſt Dich jehr, fehr
Deines Freundes freuen fünnen. Und e8 fommt aud der Tag." Wirklich
fand Rohde mit der Zeit fich befler in die Wandlung hinein; immer mehr
erfaßte er die Souverainetät Led Buches: „Du wohnt in Deinen eigenen
Geiſt, wir Anderen aber hören ſolche Stimmen fonft nie, nicht gefprochen,
nicht gedrudt: und fo geht e8 mir, wie von je her, wenn ich mit Dir zu=
fammen war, auch jett: ich werde für eine Zeit lang in einen höheren Rang
erhoben, als ob ic) geiftig geadelt würde.“
Leider fehlen ung mehrere Briefe der fpäteren Korrefpondenz. Man
fönnte an der Hand diefer verlorenen Dokumente den Finger auf eine Stelle
nad) der anderen legen, durch die fich das Fremdwerden offenbart. Denn
fremder werden fih immer mehr die früher jo innig PVertrauten, deren Ge
birne und Herzen wie Gefchwifter gewefen waren. Aus diefer drüdenden
Empfindung heraus bittet Nictzſche, Rohde wolle ihm doch etwas recht
Perfönliches fchiden, damit er nicht immer nur den vergangenen Freund im
Herzen babe, fondern auch „den gegenwärtigen und — was mehr iſt —
den werdenden und wollenden: ja, den Werdenden! den Wollenden!* Niepiche
hat Das ficher nicht böfe gemeint; aber der Hieb ſaß. Sofort entfchulbigte
Niegfche und Rohde. " 251
fi Rohde: es fei eben gerade der Fluch des Profefforenthumes, fich als
einen Seienden zu geben; er wifle ſich kaum zu helfen vor Seminar: und
Borlefungbürde; er verglich fi mit einem Dorfteich, der langfam mit
Schimmel überwädhft. Für Rohde war das „Werden“ vorbei. Er mußte
froh fein, wenn er fi In feiner Wiſſenſchaft auf dem Laufenden halten
konnte. Der Univerfitätgelehrte, ter zugleich Forſcher und Lehrer fein fol,
bat viel zu thun, wenn er nicht Eins von den Beiden vernachläffigen will.
Nohde hatte in Amt und Ehe eine reiche und tiefe Perfönlichkeit mitgebracht,
aber er entwidelte fi nicht mehr in dem Sinne, wie Nietzſche e8 erfehnte.
Ihm mußte Nietzſches fortwährendes Werben, Wachen, Ueberwinden unheimlich
erfcheinen. Die Briefe, die er ihm jchrieb, zeigen die bewußte Abjicht, einen
Leidenden zu fehonen. In den Briefen an Dverbed, Ribbeck und Andere,
die man in dem Buch von Cruſius nachlefen mag, klingt Alle um ein paar
Nuancen fhärfer, auch Fühler. Ihm war Niegfche ein Lieber alter Freund
neben lieben neugewonnenen Freunden. Er war Niegfche der älteite, geliebtefte
Freund, „der“ Freund. Gernde von feinen Fugendfreunden wollte Niegfche ver-
ftanden werden; er fühlte dunkel, daß fie ihn nicht mehr verftehen Tonnten,
vielleicht auch nicht mehr begreifen wollten; mit der zarten Empfindlichkeit des
Leidenden hörte er aus all diefer fihonenden und herzlichen Nüdjicht die tiefe,
nicht wieder gut zu machende Entfremdung: „Mein alter, lieber Freund, ich
weiß nicht, wie es zuging: aber als ich Deinen legten Brief [a8 und namentlich,
als ich das Liebliche Kinderbild fah, da war mirs, als ob Du mir die Hand
drüdteft und mich dabei ſchwermüthig anfäheft: ſchwermüthig, al ob Du
jagen wollteft: ‚Wie ift e8 nur möglid, daß wir fo wenig noch gemein haben
und wie in verfchiedenen Welten leben! Und einfimals....“ Und fo, Freund,
geht e8 mir mit allen Menfchen, die mir lieb find: Alles ift vorbei, Ver—
gangenheit, Schonung; man fieht ji noch, man redet, um nicht zu ſchweigen.
Tie Wahrheit aber jpricht der Blid aus: und der fagt mir (ic) höre es gut
genug!): ‚Zreund Niepfche, Du bift nun ganz allein!‘ Ach, Freund, was für
ein tolles, verfchwiegenes Leben lebe ich! So allein, allein! Eo ohne ‚Kinder‘ 1*
Es war nur die traurige Beftätigung des längſt Geahnten, als im
Frühjahr 1886 die Freunde einander in Leipzig wiederfahen, zum erften
Mal feit zehn Jahren, zum letten Mal fürs Leben. Rohde war in Leipzig
in fo viele Widerwärtigfeiten verwidelt worden, daß er wenige Wochen nad
feinem Eintreffen einen Ruf nad) Heidelberg annahm. So traf Niekfche
nicht den Jugendfreund, wie er ihn in immergrüner und verflärender Er—
innerung gehegt hatte, fondern einen verdrieglichen und ſcheltenden Profefior.
Kein Gefpräh wollte glüden. Kein gemeinfamer Grundton Hang mehr.
Jetzt wußten fie, wie fremb fie einander geworben waren. Zum äußeren
Bruch kam es, als Rohde im Mai 1887 in einem Brief ein fpöttifch:Hoch-
252 Die Zukunft.
müthiges Wort über Taine fich entich/üpfen Tief. Nietzſches Antwort mar
wie ein P:itfchenhieb: „Wenn ich nur diefe eine Aeußerung von Dir wüßte,
ih würde Did auf Grund bes damit ausgedrüdten Mangel an Ynftinkt
und Takt verachten. Glüdlicher Weife bit Du mir anderweitig ein be
wiefener Menſch.“ Zwei Tage darauf frenzten fich zwei Briefe. In dem
einen bat Rohde wegen des Tones feines letzten Schreibens um Entſchuldi⸗
gung. Im anderen Niepfhe den Freund wegen feiner harten Antwort.
Aber es war doch das Ende. Ein halbes Jahr darauf fandte Niegfche an
Nohde die „Genealogie der Moral.“ Der Brief ſchloß: „Wer wäre mir
bisher auch nur mit einem Taufendftel von Leidenfchaft und Leiden entgegen-
gelommen! Hat Irgendwer auch nur einen Schimmer von dem eigentlichen
Grunde meines langen Siechthums errathen, über das ich vielleicht doch noch
Herr geworden bin? Ich habe jet dreiundvierzig Jahre Hinter mir und bin
. genau nod fo allein, wie ich es als Kind gemwefen bin." Rohde brachte es
fertig, auf diefe wie mit Blut gefchriebenen Zeilen kühl und förmlich dankend
auf einer Starte zu antworten. Er war wieder, wie vor einundzwanzig Jahren,
nein ſehr gefcheiter, aber trogiger und eigenfinniger Kopf.“
So endete diefe Freundfchaft mit einer unwiderruflichen Entfremdung.
Aber wenn auch Rohde die perfünlichen Beziehungen abgebrochen hatte, fo
hörte er doch nicht auf, an Nietzſches weiterem Schaffen reges Intereſſe zu
nehmen. Cr erlebte den wachſenden Ruhm des Freundes. Wenn über ben
einft fo Geliebten unehrerbietig geurtheilt wurde, brach er in mächtigem Fu:
grinm 108. Darin hat er Niegihe auh nad bem Bruch Treue beivahrt.
Am fiebenten Januar 1889 befam er ein aus Turin batiıtes Blatt
Papier, mit einer kurzen Anrede; die wohlbelannte Schrift, aber unterzeichnet:
Dionyſos. Da Niegfches Geift ſich umnachtete, trat noch einmal das geliebte
Bild Rohdes vor die Seele des unglüdliden Mannes und er mußte das
Billet als legten rührenden Gruß dem Freunde fenden. ALS [päter Niegfches
Schweſter daran ging, den philologifhen Nachlaß herauszugeben, war ihr
Rohde, trotz vielen und drüdenden Berufspflichten, der treufte Helfer. Ex
ordnete die langen, von Erinnerung fchwer getränkten Biiefe, die er in zwei
Sahrzehnten von Niegiche empfangen hatte; wehmüthig fah er’ feine eigenen
wieder und ließ fie mit verhaltenen Thränen durch die Hände gleiten. Einen
einzigen wollte er verbrennen: den, der ihm einft in böfer Stunde durch c’-
unbedachtes Wort ben Freund geraubt hatte. ALS ein paar Jahre dar
Erwin Rohde fih zum Sterben legte und die Kunde ind Niegfche-Aru,
kam, theilte die Schweiter jie dem Kranken mit: „Er ſah mich lange n
großen, traurigen Augen an: ‚Rohde tot? Ach!‘ fagte er leiſe; dann wand
er ſchweigend da8 Haupt; und eine große Thräne rollte langfam über fe
ſchmale Wange herab.“
—— 0 Gi — Ed m EEE m EEE
Das Lafter der Perföntichkeit. 253
| Das Verhältniß Niegfches zu Rohde ift eins der fchönften und bes
deutfanften Kapitel der neueren Geiſtesgeſchichte. Der Konflikt vertieft ſich
aus dem Perfönlichen ins Typiſche. Er wird zum Antagonismus zwifchen
dem Hochbegabten und gemüthvollen Fachmenfchen und dem Philoſophen. Tem
Einen ift die Philofophie ein Sugenderlebnig vol feinen Duftes, dem Anderen
Inhalt des ganzen Lebens, das Leben felbft. Man kann beobachten, wie Rohdes
philofophifches Intereſſe abbrödelt; er ift der typiſche Akademiker, der jich mit
Arbeit betäubt und bem fein Beruf zum Horizont wird. Es ift ein Glücks⸗
fall, daß zwei jo bedeutende Vertreter dieſes Gegenfages vor uns ftehen. Daß
Beide ihr Gegenfägliches verlannten, zu verföhnen fuchten, wo es nichts zu
verjühnen gab: Das ift das Tragifche und Ergreifende.
Münden. Dr. $ofef Hofmiller.
Das $after der Perfönlichkeit.
erfönlichkeit: das Wort ift Fanfare geworden. Ein Philifter fcheint
Jeder, den ber Klang nicht beraufcht, und ein Frevler, der ihn zu
fäftern wagt. Über e8 wäre wahrlich nicht dad erſte Mal, daß Fanfaren
zu einer ſchlechten Sache riefen; und wenn wir fehen, daß es hier einer faft
ruchlos fchlechten Sache entgegengeht, dann wollen wir ung nicht bang machen
laffen vor der Frevlerfhande und die Yanfare unterbrechen.
Der Klafjiter des Kultes der Perfönlichkeit ift der Philofoph Max
Stirner. In fenem Werk „Der Einzige und fein Eigentbum“ hat er dem
Kult Methode gegeben und die erften einleitenden Sätze diefes Werkes find
vielleicht die Fürzefte Wormel des ganzen Syſtemes: „Was fol nicht Alles
meine Sache fein! Vor Allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die
Sache der Menſchheit, der Wahrheit, der freiheit, der Humanität, der Ge⸗
rechtigkeit; ferner die Sache meines Bolfes, meines Fürften, meines Vater⸗
landes; endlih gar die Sache des Geiftes und taufend andere‘ Sachen.
Nur meine Sache fol niemals meine Sade fein... Über meine Sache
ift weder das Göttliche noch das Menſchliche, ift nicht das Wahre, Gute,
Rechte, Freie u. |. w., fondern allein das Meinige; und das tft feine allge
meine, fondern ift — einzig, wie ich einzig bin. Mir geht nichtS über mich.“
Nun mag e8 ja fehr ſchmeichelhaft fein, ein Ich mit folcher Sicherheit in
den Mittelpunkt der Schöpfung zu rüden. Wenn man aber fo gute Ein=
254 Die Zulunft.
wände wie Stirner gegen unfaßbare Allgemeinheiten, wie „DMenjchheit”, vor⸗
zubringen weiß, fo fann man fi) doch nicht wundern, wenn eim Leſer endlich
einmal fragt: Welches Ich fpricht Hier? Das Ih im Allgemeinen, das Ich
an ſich ift doch fchlieklich nicht konkreter al3 die Menſchheit, der Staat, die
Familie an fih. Welches Ich alfo rebet in diefem fchrillen Ton über Ideen.
die lange Jahrtauſende auf unferem Planeten lebend waren und an ihm
formten? Stirnerd Buch bleibt uns die Antwort ſchuldig. Erſt fange nad
dem Tode des Perfönlichleitphilofophen wirrde fie uns in der jorgfamen und
ausführlichen Stirnerbiographie von Maday. Es war eine arge Enttäufchung.
Der Einzige als eine trodene, dürre, feelenlofe Schulmeifternatur von be
fchränkteftem Horizont: Das war freilich ein Naturell, deffen Blid die Sache
der Menfchheit oder der Humanität, eines Volkes oder einer Heimath wicht
umfpannen fonnte. Ein ſolches Naturell mußte allerdings bei feiner Sache
bleiben und alles Andere ihr opfern.
Der bedingunglofe Perfönlichkeittult als ein Mangel an Weitblid,
als eine Art geiftiger und feelifcher Augenkrankheit: Das ift die Diagnofe,
bie wir dem ftärkiten Buch diefer Lehre ſtellen müſſen. Wenn wir aber bie
felben, ja, ſchlimmere Beobachtungen wie bei Stirner bei all den Kleinen
Ichlein maden, die uns im Leben draußen über den Weg laufen: ift ed dann
nicht an der Zeit, daß wir ein Wenig „alte Werthe ummerthen“ ?
In der Form der Polemik gegen den Staat bat der Perfönlichkeit-
fanatismus heute feinen Fräftigften Ausdrud gefunden. “Der legte Hand⸗
arbeiter weiß uns umſtändlich zu erzählen, wie brutal der Staat oft in der
Aberkennung perſönlicher Rechte verfahre. Was aber alle Handarbeiter und
all ihre geiſtigen Souffleure nicht verſtehen, iſt: daß der Staat die Ent—
perſönlichten in einen großen Organismus zuſammengebracht hat und daß
dieſer Organismus Größeres und Stolzeres geleiſtet hat, als die Summe der
von ihm beherrſchten Menſchen ohne Einbuße an ihren unterſchiedlichen Ichs
jemals geleiſtet hätte. Man laſſe in einem Volke die Perſönlichkeiten wuchern,
wie ſies gerade mögen: was iſt die Folge? Ein ungeheures Kurioſitäten-
kabinet wird ſich ausbilden, Millionen von Eigenbrötlern wimmeln durch—
einander. Höchſt intereſſant im Einzelnen, höchſt ſpaßhaft und an Ab—
wechſelung reich. Aber was wollen dieſe Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten
am Ende bedeuten! Mit welchem kläglichen Nutzeffekt wird da ſchließlich
gearbeitet! Sind es wirklich die den Einzelperſönlichkeiten feindlichen Organismen,
die die tollſte Verſchwendung mit Menſchen theilen? Und ſollte Das wirklich
eines himmliſchen Sternes letzte Metamorphoſe ſein, daß es in ſeinen Ländern
ausſieht wie in Kinderſtuben, wo jeder Zweikäſehoch ſich in einem Edchen
aus altem Gerümpel ſein Zimmerchen zuſammenbaut?
Die Perſönlichkeit anarchiſirt; je mehr wir ſie ſchalten laſſen, um
Das Lafter der Perſoͤnlichteit 955
fo mehr fchaffen wir einander paralyfirende, einander entwerthende Kräfte.
Machen wir die Probe aufs Erempel am Beifpiel ber Kunft, der menſch⸗
lichen Bethätigung, in der das Perfönliche den höchſten Werth behaupten
fol. Da ift denn zunächſt auffallend, wie wenig Genialifches im rein per-
fönlihen Sinn die Gefchichte der Baukunſt aufweiſt. Was ift Perfönliches
am Öriechentempel oder am gothiſthen Dom? Namen werden bin und.
wieder genannt; aber die Männer dahinter find nur Repräfentanten, ges
wifienhafte Verwalter, ehrlihe Makler oder wie mand nennen will. Selbft
ein Werk wie ber Sankt Beter in Rom: mer feine Gefchichte fennt von
Bramante bis Bernini, ja, ſchon von Brunelleshi (Kuppelbau), Der wirb
den Namen Michelangelo nicht allzu ſtark unterftreichen. Und verfolgt man
gar im Einzelnen da8 Iangfame Hinübergleiten der Renaiffance zum Barod
(Wölfflind „Renaiffance und Barock“ giebt die Gelegenheit), fo kann man
bei Michelangelo nur bewundern, mit welcher Kraft er feine Perfönlichkeit
gezwungen hat, um die ganze Gewalt feines Genies der Sache zu weihen.
Das Gegenbeifpiel: die moderne Malerei. Da ift fein Maler noch
fo Hein, er möchte gern perfönlih fein. Wir kennen fie zur Genüge, bie
Kuriofitätenfabinete, die fo entitanden, die Jahrmarktsbuden der Kunſtaus—
ftellungen, wo fie fich heiſer Schreien in Farben, um nur auf Augenblide bie
Kirmeßbummler zu fefleln. Und das Ende? Daß die Perfönlichiten unter
den Perfönlichen fich fchließlih mit Farbe und Leinwand einer fo durchaus
unperfönliden, aber durch treue Ueberlieferung grandiofen Art verfchreiben
wie der japanifchen oder auch einer nicht minder unperjönlichen, nur noch zu
jung unfteten, wie der ber parifer Atelierd. In der gepriefenen Renaiffance
waren die Dealer nicht fo erpicht auf Originalität; aber ihr ſelbſtlos lang
fames Schaffen, das fich taufendfah am gleichen sujet verfuchte, hat es zu
einem Zizian gebradt.
Zwei weitere Beifpiele. Die pathetifchen Redner an der Jahrhundert⸗
wende haben mit viel fchönen Reden das neunzehnte Säkulum gepriefen ob
feiner beifpiellofen Erfolge erſtens in den eralten Wiſſenſchaften und zweitens
in der Technik. Sie hatten Recht; aber nicht Recht Hatten fie, wen jie zur
Erklärung der Erfolge einige glänzende Namen in ein glänzendes Licht
rückten. Vor einiger Zeit erfchien ein intereffantes Buch, das den wahren
Grund aller Erfolge klar darlegte. Das Buch war betitelt „Vorreden zu
Hafiiihen Werken der Mechanik.“ Gar mander Neugierige mag danach ge:
griffen haben, in der ficheren Erwartung, endlich einmal diefe trodenen Ge:
lehrten sınd Techniker „perfönlicher“ Iennen zu lernen. In der Vorrede darf
der Autor fi ja perfönlich geben, darf vor den Vorhang treten und man
verzeiht es felbft, wenn die Rede etwas ftarf gefärbt it von Selbitgefällig-
feit, etwa wie das Wort des Schöpfungepiloges: „Und er fahe Alles, was er
256 Die Zukunft.
gemacht hatte, und fiehe da: es war gut.” Terlei Dinge alfo mochte man
in einem Sammelband von VBorreden erwarten. Und was boten die Vor⸗
reden ber Mechanifer in Wirklichkeit? Nicht Einer umter ihnen, der „pers
fönlih“ war. Streng fachliche Berichte, kurze Zufammenfaffurgen der Bücher.
Im Augenblick der perfönlichen Vorſtellung hatten all diefe Männer nur den
einen Wunfch, noch einmal ganz Mar, ganz fcharf und knapp zu fagen, um
was es fich handeliee Man bat fi) wohl öfter als ftummer Zuſchauer fo
feine Gedanke gemacht, auf welche Weife Wunderwerke wie unfere elektriſchen
Eentralen entftichen konnten. Diefe fo ganz und gar unperfönlichen Vorworte
der Mechaniker gaben eine Antwort. So widerfinnig e8 fcheinen mag: vor
biefen Unperfönlichen empfand man das Beduürſniß nach Heroenfult.
Seit Friedrich Nietfche feine unglüdfälige Theorie von der Minder-
werthigfeit aller Heerdentriebe und Heerdeninftinkte aufftellte, haben die Viel-
zuvielen nach der Methode jener alten Gauner, die am Lauteften brüllen:
„Haltet den Tieb!*, immer neues Material angehäuft zur Diskreditirung
einer der mächtigften, elementariten Naturerfcheinungen. Wollten die Piel-
zuvielen fi die Mühe geben, das große Buch der Naturgefchichte und Natur-
entwidelung gewifienhaft zu lefen, fo würben fie die überrafchende Entdeckung
machen, daß die thierifchen Arten hienieden nie Größeres leifteten, als wenn
fie fi willig der Macht eines Heerdentriebes hingaben; daS Leben der Einzel-
weien mußte aufgehen in diefen einen Trieb, der fo über bie einzelnen Gat⸗
tungwefen, ja, über die ganze Art hinausgreifen lonnte. Und ferner: went
an diefem Erdorganismus ein Artenorgan verfümmern follte, fo zeigte das
beginnende Erlöfhen des Stammes fih an in ftarfen Inbividualifirungss
gelüften. Diefe Löfung von dem Träftigenden Heerdentrieb ift wie eine Locke—
zung von der allein belebenden Kraft des Sterne (auf Einzelheiten kann
ich mich Hier nicht einlaffen; bei anderer Gelegenheit habe ich fie bereit zu:
fammengeftellt).
Eine mächtige Bewegung geht wieder einmal dahin über den räihſel⸗
vollen Exrdenftern, ein Wille zur Metamorphofe. Sie nennen ihn Impe—
rielismus. Die Länder, in denen er wirklich gedeiht, nehmen ein anderes
Gefiht anz ein neuer Stern wird bier aus der alten Erde herausgemeißelt.
Iſt die menfchgewordene Planetenkraft, die fich dem beutfchen Boden anpaßte,
noch frifh genug, hier mitzufchaffen? Haben wir noch Entſchloſſenheit
genug, mit der ganzen Rüdjichtlojigkeit, die dazu nöthig ift, das Laſter ber
Perſönlichkeit zu unterdrüden? "
Wilmersdorf. Willy Bator.
KR
Serufalen. 257
Serufalem.
ch hab: den zweiten Theil von „Serufalem“ (von der ſchwediſchen Dichterin
Selma Lagerlöf) zweimal gelefen; beim zweiten Dal mit faft noch in=
tenfiverem Genuß als beim erften. Daß folche Bücher gefchrieben werten, ift
eine Wohlthat für den Kulturmenſchen. Der erfte Theil — ein Werk für
fi — ift ſchon vor einigen Jahren erfchienen. Neben dem zweiten Theil ver
blaßt der erſte einigermaßen, obwohl aud) er von ergreifender Innerlichkeit
ft. Nirgends eine Anlehnung, nur Ureigenes.
In ein abgelegenes barlelarlifches Dorf kommt nad langer Abweſen⸗
heit ein religiös fanatifirter Landsmann zurüd, ein Erweckter, der ſich in
Amerika der Sekte der Gordoniften angefchloffen bat und mit ihr nad
Jeruſalem ausgewandert ift. Wie ein neuer Rattenfänger, der e8 aber auf die
Geiſter abgefehen hat, lodt er mit heiligen Klangen die Kindermenfchen weg
von Heimath und Arbeit, — hin zu dem fernen, geheimnißreichen Wunderlande,
dem wirklichen und dem bimmlifchen Jeruſalem. .
Diefer erfte Theil erinnerte mich fofort an „Iörn Uhl.“ Beider Bücher
Inhalt ift die innere und äußere Gefchichte der Bauernhöfe ihrer Heimath.
‚Hier wie dort ftehen alte, ftolze Bauerngefchlechter, gewiſſermaßen Tönigliche
Bauern von Gottes Gnaden im Vordergrund, bei Yrenfien bie Uhls, bei
Selma Lagerlöf die Ingmarsföhne auf dem Ingmarhof. Gleichartiges bieten
auch die Begebenheiten. In beiden Romanen ftehen die bäuerlichen Ariftos
fraten vor ihrem Ruin und ein Schimmer nachdenklicher Weisheit adelt Jörn
wie Ingmar. Die feelenvolleren Betonungen aber und ben tieferen Sinn findet
die Dichterin. Wenn Ingmar fein geliebtes Mädchen aufgiebt, um durch eine
reiche Heirath fi den Hof zu erhalten, fo Liegen ihm dabei gemeine ‘Motive
— Beflgesgier etwa — fern. Was gefchieht, ift ein Opfer, das er ber Größe
feines Geſchlechtes, das er in flarfem Pflichtgefühl feinen Ahnen und Enteln
bringen zu müffen glaubt: wie ja auch Könige, von hohem Pflichtgefühl ge=
leitet, unerwünfchte Verbindungen fchließen. Hier wie dort find die Bauern
wit ihrem Boden verwachfen, unentwurzelbar. Und dieſe Bodenliebe fcheint
faft ein Naturtrieb, wie die Liebe der Mutter zum Kinde; nur ift e8 hier um:
jelebrt: bie Kiebe des Kindes, des erwachfenen, zur Mutter Erde.
Bei Frenſſens Menfchen könnte man auch an Roding Skulpturen
enten, die fih aus dem Marmor kaum erit herausgewunden haben. So
sehlt Frenſſens Bauern — weil fie zur tief noch im Heimathboden fteden
jeblieben find — die Ganzheit der Perfönlichkeit. Ex begnügt ſich wohl auch
nit der Exfcheinungwelt; Selma Lagerlöf dringt in das innerſte Sein der
Renfchenfeelen.
20
258 Die Zukunft.
Mir fcheint, „Jörn Uhl“ leſe fi) wie das Tagebuch eines alles Menſch
liche verftehenden edlen Seelforgers, der, warmen Gemüthes und hellen Kopfes,
über die Felder und Wieſen feines Dorfes gemächlich gemanbert if. Was
er ſah und hörte, hat er notirt. "Den Naturtönen hat er gelauſcht. Mit
Bauern und Knechten plaudernd, ift er ftehen geblieben. Und im inter
figt er an den bäuerlichen Herden und horcht auf die Gefchichten, die da
erzählt werden. Er zeichnet gut, fein, kernig. Sie malt mit unvergleich
licher Farbenpracht. Er sieht, fie ſchaut.
Das religiöfe Element in Jörn Uhl ift von herkömmlicher Art, ohne
feelifche Ergriffenheit. Kehrt er den Geiftlichen heraus, fo fagt er wohl audı
Trivialitäten. Seine Bauern hören des Paſtors Stimme. Die Darlefarlier
der Selma Lagerlöf hören Gotte8 Stimme.
Der zweite Theil von „Jeruſalem“, ift die Gefchichte der erwedten
Darlekarlier in Jeruſalem. Sie gehören ber Sette ber Gordoniſten an, bie
außerhalb der Etadt ein ſchönes und großes Koloniftenhaus bevvohnen. Des
Wert ift ein Ausfchnitt aus der Gefchichte der Dienfchheit, mit dem ſeheriſchen
Auge einer begnabeten Dichterin erfaßt und in Bildern und Szenen darge
ftelt, deren plaftifche Kraft und Farbengluth fchier unerreihbar if. Ein
großer, tragifcher, meltgefchichtlicher Zug geht durch das machtvolle Bud.
Choräle braufen hindurch, Geifterftimmen laſſen fich vernehmen.
In ihren Charakterfchilderungen vereinigt fie Verinnerlichung und
plaftifche Vollendung des Geftaltens. Ihre Menfchen haben ein m.niyet
individuelle8 als typifches Gepräge. Es ift die Pſyche einer Klaſſe, eins
Landſtriches, es iſt die Volksſeele, die ſich ihr offenbart. Ich war nie in
Schweden, nie in Darlekarlien. Nun aber war ich in Darlekarlien; nun
kenne ich dieſe Leute. Ich kenne fie als feftgefügte Menſchen, wie aus Edel⸗ |
bronze geformt; diefe Bauern, die zugleich befcheiden und ſtolz jind, far,
mit verborgenen Echägen im Innerften. Schmweigende oder Einfilbige, dit
gern nur reden, wenn brängende Seelenftrömungen ihnen die Zunge löſen,
wie etwa ein ftarfer Wind den Duft, der in einer Pflanze ruht, erft entbindet.
Serufalem! Ich war niemals in Zerufalem. Nun aber war id in
Serufalem. Unauslöſchlich hat die Dichterin das Bild Jeruſalems mir m |
die Seele geprägt. Zwar zeichnet fie das Jerufalem der Gegenwart, aber dt |
Gegenwart überfpannt fie mit den breiten, leuchtenden Schatten der Ber
gangenheit. Sie zeigt das Serufalem, da8 ung das Herz ſchwer macht mil
der büfter gewaltigen Tragik vergangener Sahrhunderte. Wir fehen das heilige
Jerufalem, defien Boden noch erfchauert vonzden Wundern und Myſterien
bes Gottesfohnes. Wir athmen die Seele von Jerufalem, fein geheimniß
volles Weben in heißen Auguſtnächten. Wir erleben die Perzücdungenfber
Ermwedten, die abergläubige mohammebanifche Unkultur, die ſittliche Noth, die
Serufafem. 259
verleumbderifchen Zettelungen der religiöjen Selten gegen einander, Wir
erleben das Jerufalem, das wahnſinnig macht, und das Ferufalem, das tötet.
Sch habe den Eindrud, als würde ich nım, da ich alle Wege und
Stege, die Jeſus gewandelt, wie aus eigener Anfchauung kenne, die Bibel
mit lebendigerem Intereſſe lefen als früher.
Die Engheit und Beſchränktheit der religiöfen Anſchauung biefer
Bauern, die der Satan noch fchredt, berührt uns weder antipathifch noch
gewinnt fie und ein Rächeln ab: fie zwingt ung in ihren Bann; wie ja aud)
alte Heiligenbilder — mag ihre Technik von primitiver Unbehilflichkeit fein —
durch ihre innere Verklärtheit und Innigkeit Fromme Sehnfuht in uns
weden. Aus der inbrünftigen Hingebung an Gott leuchtet Afthetifcher Glanz
und erhabene Wahrheit, Gefühlswahrheit; denn dieje fonzentrirte Glaubens»
Traft läutert hinauf zum himmlichen Jeruſalem. Ä
Selma Lagerlöf ift feine fpezifiih flandinavifche Dichterin. Das
taucherartige Hinabgleiten in die dunkelſten Abgründe der Menfchenbruft,
die Jagd nad) pſychiſchen nouveautes, das grüblerifche Belauern der eigenen
Seele it nicht ihre Sade. Sie ift' Mar, einfach, tief, ein immer quellender
Bronnen lebendiger Kraft und Schönheit. Ihre Tiefe aber ift wie eine
angeborene, nicht wie das Reſultat ftarfer Gehirnarbeit oder wifjenfchaftlicher
Erkenntniſſe.
Bilder und Szenen von unvergleichli.‘ er (Hroßartigkeit und gluthvoller
Pracht bietet das Wert. Aber felbft ihrer täten Effelte Duelle ift tieffter
Seelengrund. Manchmal find es Hymnen, die Jich bis zu einem Hofianneh
in der Höhe auffchwingen, manchmal Elegien, rotb von Herzblut oder ge—
tragen von ftiler Sabbathfeier.
Ein düfter pathetifches Gemälde ift ber irrfinnige Büßer, ber, bie
Dornenfrone auf dem Haupt, Tag vor Tag das ſchwere Kreuz durch Thäler,
über Berge, durch Weingärten und Dlivenhaine fchleppt, immer in Schauern
der Angft fpähend, Den fuchend, der e8 ftatt feiner tragen fol. Und als
die Schweden in Jaffa and Land fleigen, ift das Erfte, was jie erbliden:
der Büßer mit der Dornenkrone und dem Kreuz, — ein Symbol, das fie big
ins Mark erfchüttert.
Da iſt Gunhild, eine Schwedin, die am Sonnenftich ſtirbt; auch an
dem Brief des Vaters, in dem gefchrieben fteht, daß die Mutter geftorben
ift, „weil fie in der Mifftonzeitung las, bat Ihr da draußen in Jeruſalem
ein Schlechtes Leben führt." Und fie fchreitet durch den fürchterlich weißen
Sonnenſchein, der hinter den Augen hinandrang und im Gehirn brannte,
und fie fpricht vor fih Hin: Wenn ich nur fterben dürfte! Wenn ich nur
fterben dürftel* Und fie fieht hie Sonne, eine große, blaumweiße Flamme,
wie einen glänzenden Bogen über fi, der Pfeile auf fie abſchießt. Scharfes
” .20*
260 Die Zukunft.
Feuer regnet auf fie herab; und nicht nur vom Himmel Alles um fie ber
funfelt und gleißt und flicht fie in die Angen. Sie hat in einem Gewölk
fühlen Schatten gefunden. Sie fängt an, fi) zu erholen. Da fühlt fe
den Brief. Und nun glaubt fie, dat es Gottes Abjicht ift, fie vom Leben
zu befreien. Und da geht fie ganz ruhig wieder in den Sonnenſchein hin
aus, als ginge fie mitten durch eine Kirche. Und wieder funfelt und leuchtet
Alles auf der Erde um fie her und die Sonne fährt faufend auf fie oh,
wie ein fcharfer Funke, — und ſticht fie in den Naden.
Ein anderes Bild ift die efftatifch viſionäre Frommheit der Schwerin
Gertrud, die täglich bei Morgengrauen auf den Delberg wandert, um bie
Erfte zu fein, die Chriftus fchaut, wenn er, zur Erde wieberlehrend, auf den
Ylügeln der Morgenröthe nieberfteigt.
Einer der Schweden ift fchon totkrank, halb bewußtlos, in Jaffa anf:
geichift worden. ALS er auf dem Gipfel des Bergrüdens Jeruſalem erblidt,
if die Sonne im Untergehen und in rother und goldener Gluth erfirafli
die Stadt Gottes da oben. Und er meint, ber Blanz gehe von ben Daum
ans, die wie helles Gold ſchimmern, und von den Thürmen, bie mit Platten
aus Kriftall gededt feien. Als er dann im Koloniftenbaus hoffnunglos
krank Liegt, kommt Verzweiflung über ihn, daß er niemals das Jeruſalem
mit der goldglänzenden Mauer und den leuchtenden Thürmen, die Gottes Stadt
bewachen, fehen fol. Da erbarmen fid) die Schweden feiner und eines Abends
tragen fie ihn auf einer Bahre nach Jeruſalem hinaus. Und er ficht die grau
braunen Dlauern, die häßlichen grauen Häufermaffen, er flieht entjegt bie ver:
Kümmelten Ausfägigen und die zahllofen abgemagerten ſchmutzigen Hunde auf
Miftdaufen. Er athmet fchroüle Luft und efelhaften Geſtank. Und er trauert
Wie konnten feine Freunde nur fo fchlecht fein, ihm biefen armſälig elenden
Drt als Jerufalem vorzutäufchen! Und er wollte doch das wahre Jeruſalem
fehen mit den goldenen Gaffen, in denen die Heiligen in weißfeidenen Ge
wändern mit Palmen in den Händen wandeln. Und fie zeigen ihn bie Aber
dem Heiligen Grabe und Golgatha zwifchen Häufern eingeffemmte Grabes
fire. Das fol ein Gotteshaus fein? Er wills nicht glauben. Und al
er jenjeitS der Mauern die verbrannten, unfruchtbaren, mit Schutt und Kehricht
bededten Felder erblict, fliegt er müde die Augen. Unb da er fie nod er
mal auffchlägt, glänzt weit Draußen ein Wafferfpiegel und jenfeits davon « 1
fih ein Berg, der in ſchimmerndem, mit lichtem Gold überfluthetem ° ?
erftrahlt, fo fchön, fo licht, fo durchſichtig, daß er nicht mehr ber Erde ı |
gehören fcheint. Bon Entzüden gepadt, erhebt ber Keidende fi) von ber Bat
um diefer fernen Erfcheinung entgegenzueilen, — und finft bewußtlos zum -
Die ſchwediſchen Koloniften, von Fieber und Heimweh verzehrt, ’ 1
dem Tod ind Auge. In liebender Barmherzigkeit will die Gemeinde | a
Jeruſalem. 261
die Heimath zurädichiden. Nein: fie wollen der Gefahr nicht entfliehen;
fie fühlen fich den alten Märtyrern verwandt, die da flarben, wenn fie glaubten.
Und Karin, die alte Ingmarstochter, ſpricht: „Gottes Stimme hat uns
berufen, hierher nach Jeruſalem zu ziehen. Hat nun Jemand Gottes
Stimme gehört, die befohlen hätte, daß wir von hier wegziehen follen?“
Zu den ergreifendften Szenen gehört Ingmars Ankunft in Serufalem.
Gewiſſensnoth hat ihm hingetrieben. Sacht und zaghaft öffnet er die Thür
und tritt in den Saal der Koloniften, bie eben Gottesdienſt halten. ALS
die Landsleute ihn fehen, erheben fie fih von ihren Sigen und fingen ftehend
weiter. Kein Lächeln erhellt ihre Züge: doch ber Geſang wird plöglich Lauter,
ber Ton wächſt zu kraftvollem Jubel, zu einem Jauchzen wie nie vorher:
und Alle fingen, ohne es felbft zu merken, ſchwediſchen Tert.
In die Romane der Lagerlöf fpielen mitunter myſtiſche Elemente
hinein. Okkulte Kräfte regen ſich. Sie fügen jich aber fo völlig dem Ge:
fammtbild ein, fcheinen fih fo aus der Situation zu ergeben, daß fle bei-
nahe wie ein natürliches Gefchehen wirken, ohne darum an Stimmungzauber
zu verlieren. Die telepathifche Mittheilung von einer großen Gefahr, bie
den Gorboniften droht, diefe VBerlündung, die Mrs. Gordon in einer Mond:
ſcheinnacht empfängt, ift bei aller Schlichtheit und Maren, faft filberhellen
Durdfichtigkeit der Erzählung in einen magifchen Duft getaucht und berührt
und wie ein Klingen aus myſtiſchen Tiefen.
In den Büchern, die ich von Selma Lagerlöf Tenne, fehlt eins: die
Zukunft, ich meine die Ydeenantizipation der Zukunft, das ahnungvolle
Schauen Deflen, mas fein wird. Keine der Geiftesbewegungen und Erregungen,
die unfere Zeit charalterifiven, klingt bei ihr an. Sie hat nicht bie lechzende
Sehnfucht moderner flügelftarfer Seelen, ihrem Ich, alte Tafeln zerbrechen,
neue geiftige Welten zu erobern. Bis zu den Mlorgenröthen auf hohen
Gipfeln reicht ihre Blickſchärfe nit. Sie ift mehr Dichterin als Denkerin.
Bom Genie fehlt ihr der prophetifche Zug.
Um nichts zu verfchweigen, will ich zugeftehen, daß fie fogar manch—
mal langweilig fein kann; folche Stellen verſchwinden in der Fülle ihrer
Geſichte; auch nicht verfchweigen, daß mir nicht immer gefällt, wie ihre
Romane fchliegen. Diefe Schlüffe ftehen nicht auf der Höhe der Originalität
ihrer Werke, haben zuweilen fogar einen Heinen Stich ins Bhilifterhafte.
Trotz Alledem aber: Sol ich einer Dichterin unferer Zeit die Balme reichen,
fo bift Du e8, Selma Lagerlöf, die fo entzüdend zu fabuliren verfteht, Du
jungfräuleich Reine, Du des himmlifchen Jeruſalems Theilhaftige.
Möchte Selma Lagerlöf noch viel fchreiben! Denn noch viel möchte
ich von ihr leſen. Hedwig Dohm.
.
263 Die Zukunft.
Die Reform des Auffichtrathes.
Fach Sombartd Buch über die „Deutfche Bollswirihfhaft im neun-
9 zehnten Jahrhundert“ befaß Deutfchland um die Jahrhundertwende
ungefähr 5500 Altiengefellfchaften mit einem Kapital von zuſammen etwa
9 Milliarden Dart. Bedenft man obendrein, daß dabei die von Alftien-
gefellfchaften ausgegebenen Obligationen noch nicht berüdjichtigt find, To kann
man ſich eine Borftellung von der Bedeutung des verhälinigmäßig noch
jungen Altienwefens für die Volfswirthfchaft machen. Mit vollen Recht Hat
daher die Geſetzgebung gerade auf diefem Gebiet immer wieder Ordnung zu
Schaffen verfucht; aber die Bemühungen, die gefährdeten Intereſſen zu ſchützen,
find leider noch meit von ihrem Biel entfernt.
Zu den rafıher Beſſerung bedürftigftien Gebieten des Aftienrechtes ge
hört das Aufſichtrathsweſen. Das hat Allen, die noch zweifelten, die Wirth:
ihaftfrilis der leten Jahre bewiefen. Nur über die Wahl ded Weges hat
man ich noch nicht zu einigen vermocdt. Nach meiner Meinung muß jede
gefetggeberifche Thätigfeit, die das Aufſichtrathsweſen reformiren will, in erfler
Linie die Aufgaben des Aufſichtrathes als Kontrolorganes neu regeln. Das hat
in der „HZeitichrift für das gefammte Handelsrecht” (Band 53) auch der banner
Dozent Dr. Etier-Sonilo in einem lefenswerthen Auffag gefordert. Unfer Han-
delsgeſetzbuch überträgt zwar dem Aufiichtrath die Ueberwachung der Geſchäftse
führung des Vorjtandes, behantelt ihn aber datei al8 ein Geſellſchaftorgan,
das regelmäßig nur als Kollegium thätig wird; die Kontrolbefugniſſe ftehen
nur dem Kollegium als folden zu, nicht dein einzelnen Dlitgliede des Auf:
fichtrathe, wenn dieſes Diitglied nicht etwa ausdrüdlic vom Kollegium dazu
beauftragt ift. Der Apparat einer Follegialen Ueberwachung ift aber zu
ſchwerfällig. In Aufüchtrathsigungen kann man nicht einen Geſchäftsbetrieb
überwachen. Das ift nur möglich bei dauerndem Verkehr der einzelnen Auf-
fichtrathsmitglieder mit dem Vorſtand. Viele Erfahrungen aus ben legten
Jahren haben mir beitätigt, dat, wo nıd dem Zuſammenbruch von Aftien-
geſellſchaften Anſprüche gegen Aufiichtrathsmitglieder erhoben worden ſind
meist der Vorſitzende einen erheblichen Theil der Schuld trug. In faft jeder
Aufichteathstollegium hat er die überr:gende Stellung; ift er eifrig um
tüchtig, jo erfüllt der Aufiichtrath feine Pflichten; ift er läflig, verfammel
er inSbefondere den Aufichtrath) nur felten, fo iſt fein Verhalten meift typifd
für das ganze Kollegium. Daß einzelne Mitglied kann ja nur ſchwer geger
eine Indolenz des Vorigenden ankümpfen. Aus eigenem Antrieb aber zum
Die Reform des Auffichtrathes. 263
Vorſtand zu gehen, Yufflärungen zu verlangen, Bücher einzufehen: dazu ift
das einzelne Aufſichtrathsmitglied weder verpflichtet noch berechtigt; der Vor:
ftand fünnte e8 fogar mit der Erflärung abfpeifen, er fei nur dem Kollegium
"oder einem von diefem ausdrüdlich beauftragten Mitgliede Nechenfchaft fchuldig.
Thatſächlich Haben auch in vielen gegen Aufjichtrathsmitglieder geführten
Regreßprozeſſen die Beklagten ji) darauf berufen — fat jede Vertheidigung
gipfelte hierin —, ſie hätten ihre Pflichten erfüllt, feien auf Einladung des
Borfisenden jtet3 zu den Aufjichtrathsfigungen erfchienen, zu einer darüber hin:
ausgehenden Kontrolthätigfeit aber, beim beiten Willen, nicht befugt geweſen.
Hier muß der Geſetzgeber alfo eingreifen. Heute ift der Auflichtrath oft, be=
fonderd wenn dem Vorjigenden das rechte Intereſſe fehlt, nur eine Puppe.
Das einzelne Aufjichtrathsmitglied muß nicht nur das Necht, fondern auch die
Pflicht Haben, nach eigenem Ermeſſen die Geſchäftsführung der Geſellſchaft zu
überwachen: nur dann wird der Einzelne fich feiner Verantwortlichkeit bewußt
werden. Gegen diefen Vorfchlag darf man nicht einwenden, daß es oft be—
denflich fe, dem Einzelnen Gefchäftsgeheimniffe anzup:rtrauen: man wähle
rben in den Aufjichtrath nur Perſonen, von denen Judiskretionen nicht zu
fürchten find. Daneben aber könnten AufiichtrathSdezernate für die verjchiedenen
Gruppen der gejellfchaftlichen Thätigfeit geſchaffen werden.
Nicht minder wichtig wäre es, für die Vertretung der Minorität
im QAuffichtrath zu forgen. In diefer Beziehung bin ich anderer Meinung
al8 Stier-Somlo, der die Frage als noch nicht fpruchreif bezeichnet. Ich
halte eine Beſtimmung für möglich, wonach der Beſitz eines gewiſſen Theiles
de8 Grundkapitals das Recht verleiht, aud gegen den Willen der Mehrheit
eine Etelle im Auffihtiath zu befegen. Ein folches Recht könnte natürlich
mißbraucht werden: die Konkurrenz konnte e8, zum Beifpiel, benugen, um
ich in den Aufüchtrath zu drängen. Doch ſolcher Mifsrauch liche fi) ver:
meiden, wenn die Höhe des erforderlichen Aktienbeſitzes richtig feitgefegt und
für Streitfälle gerichtliche Entfcheidung vorgefchrieben würde. Jedenfalls
wäre dieſes Minderheitrecht nur eine logiiche Weiterbildung der fchon bes
ftchenden Mlinderheitbefugniffe: Vrinoritätklage, Einberufung von General:
verjanmmmlungen und Anfündung von Gegenitänden der Tagesordnung, Bes
ftellung von Neviforen auf Antrag der Minorität.
Diefe beiden Reformvorſchläge ſcheinen mir wichtiger als alle anderen.
- Für umdisfutirbar Halte ih, mit Stier-Somlo, alle Bejtrebungen, die den
Aufüchtrath im feiner jegigen Form überhaupt abfchaffen und die lebers
wachung der Altiengejelichaften unmittelbar dem Staat übertiagen wollen.
Die unvermeidlide Folge diefer Mafregel wäre eine bureaufratifche Bevor:
mundung; und Schlimmered fönnte dem Altienrecht nicht woiderfahren.
Stier-Somlo wünfdt, dag den Vorftandsmitgliedern nah Verwandte von
964 Die Zukunft. |
der Wahl in den Auffichtrath geſetzlich ausgefchloffen werden und daß einem
Auffihtrath nie mehr als zwei unter einander verwandte Perfonen angehören
dürfen. Ich lann mir diefen Wunfch nicht aneignen. Gewiß find die
Vebelftände nicht zu verlennen, die aus dem bei manchen Altiengefellfchaften
berrfchenden Vettern⸗ und Sippenweſen herrühren; bie Menſchen aber, nicht
die Geſetze Schaffen die Verhältniffe und es ift ein Irrthum, zu glauben,
jeder Mißſtand fei durch ein Gefe leicht zu befeitigen. Das Proteltion-
fyitem, da8 man vernichten möchte, ift ohnehin nicht auf Berwandtfchaftgrabe
befchräntt; gefährlicher ift e3 gerade da, wo nicht Verwandtiſchaft, fondern
die Gemeinfchaft perfönlicher Intereſſen, die denen ber übrigen Aktionäre
oft entgegengefegt find, den Untergrund bilden. Ich bene an Zälle wie die,
wo X im Auffichtrath der Geſellſchaft fit, deren Borftand 9) if, — der felbe
M der wieder im Auflichtrath der Gefellfchaft fit, deren Direktor X ift,
wo alfo eine Art Berjiherung auf Gegenſeitigleit befteht. Sole Fälle
follten, weil fie eine Kolluſion erleichtern, verboten werden. Cine gejeßliche
Regelung der von Stier⸗Somlo vorgefchlagenen Art würde oft zu dem
größten Härten führen. Ein in der Praris fehr häufig porlommender Fall
ift der, daß ein Vorftandsmitglied, etwa ber Borbefiger eines in die Form
der Altiengefellichaft umgewandelten Fabrilunternehmens, fich entlaften will
und deshalb fein Vorſtandsamt niederlegt; man wählt den von ihm vorge:
bildeten Sohn, der feinem ganzen Erziehungsgang nach verfpricht, das Unter
nehmen in den Bahnen des Vaters fortzuführen, in den Vorſtand, möchte
aber auch den werthuollen Rath des mit der Gefellichaft feit Fahren eng
verfnüpften Vaters nicht entbehren; das einfachite Mittel zu dieſem Zweck
it, dap man den Vater, ſobald ihm als Vorftandsmitglied bis zum Schlufle
feiner Direltorialthätigkeit Entlaftung ertheilt ift, in den Aufſichtrath wänlt.
Es wäre ein Fehler, biefe Möglichkeit abzufchneiden. Oft, beſonders bei’
Atiengefelfchaften, deren Altien zum größten Theil noch im Beſitz ber
Familie des Vorbeſitzers jind, ift auch gar nicht zu vermeiden, daß mehr
al8 zwei Berwandte dem Aufjichtrath angehören.
Ein anderer Borfchlag geht dahin, daß Perfonen, die im Konkurſe
find oder mährend der letzten Jahre waren, von einem Auflichtrathgamt ges
ſetzlich ausgefchloffen fein follen. Auch dagegen babe ih Bedenken. Ein
Konkurfifer wird wohl felten in einen Auffichtrath gewählt werden;
hört er ihm ſchon zur Zeit der Konkurseröffnung an, jo wird er m
freiwillig augfcheiden. Die Thatſache des Konkurſes aber hat an fid I
nicht8 Ehrenrühriges und man kann nicht ohne Weiteres annehmen, daß e
Menich, der Unglüd gehabt und in Konkurs verfallen ift, fchon deshalb alle‘
nicht mehr geeignet fei, an der Verwaltung fremden Vermögens mitzuwirke
Das Höchfte, was ich nach diefer Richtung zugeftehen möchte, wäre, ba r
Die Reform des Auffichtrathes. 265
Auffichtrathsmitglied, das in Bermögensverfall geräth, aus feinen Aemtern
fcheibet, damit die Aktionäre entfcheiden fönnen, ob fie e8 wiederwählen oder durch
eine andere Berfon erfegen wollen. Der Geſetzgeber mag ruhig den Altionären
überlaffen, ob fie einen Konkurſifer trog feiner Lage für geeignet halten, in
einem Auffichtrath Sig und Stimme zu haben. Ich kann mir Fälle vor:
ftellen, wo die Wahl eines folhen Mannes im Intereſſe der Geſellſchaft
Tiegt; man denke an einen technifch Sachverftändigen, deſſen Rath, troß feinen
zerrütteten Bermögensverhältnifien, für das Unternehmen von allerhöchiter
Bedeutung fein Tann.
Der Gefeßgeber kann eben nur beftimmen, wie der Aufjichtrath zus
fammenzufegen ift und welche Pflichten er zu erfüllen hat; die geeigneten
Perfonen zu wählen, ift die Sache der ‚Aktionäre. Mögen fie regelmäßiger
in die Generalverfammlungen fommen und nicht entweber ihre Altien über
haupt unvertreten laffen oder die Ausübung ihrer Altionärrechte Perfonen
übertragen, denen vielleicht andere Interefien näher liegen. Schon oft wurde
auch hier über die Bleichgiltigleit der Aktionäre gellagt — bie freilich meift
nur fo lange anhält, wie die Gefchäfte gut gehen und reichliche Dividenden
gegeben werden — und nah Mitteln dagegen geſucht. Um den Beſuch ber
Beneralverfammlungen zu erleichtern, haben Eifenbahngefellfchaften freie Hin⸗
und Nüdreife gewährt, Schifjahrtgefellihaften einen Ausflug mit obligatem
Fruhſtück veranftaltet, Brauereien nach Schluß der Generalverfammlung einen
guten Tropfen geboten. Das find kleinliche Mittel, die höchftens ein paar
Spiegbürger anloden können. Intereffant war auch der Verſuch, den der
Credit Lyonnais in Lyon machte, um bei der Erhöhung des Grundkapitales die
ftatutarifch vorgefchriebene Hälfte des Altienlapitales in der Generalverfamm-
fung vertreten zu fehen: er zahlte damals jedem anmwefenden Aktionär ein
Präfenzgeld (jeton) von 1 Franc für jede vertretene Aktie. Doch erftens
wurde dadurch nur erreicht, daß in der Generalverfammlung viele Aftien
vertreten waren, nicht, daß die wirklichen Afiionäre felbft kamen, und gerabe
darauf fommt es an; und zweitens wäre eine ſolche Maßregel weder nad:
ahmenswerth noch nach deutſchem Altienrecht ohne eine befondere Statuten-
beſtimmung zuläſſig. AU diefe und ähnliche Mittel würden verfagen; und
doch werden die Schäden bes Aftienwefens nur verfchwinden, wenn bie Altionäre
ih um ihre Intereſſen mehr fümmern lernen. Ihre Indolenz ift die Haupt-
quelle des Uebels. Die meiſten Altiengefellfchaften haben den Aufjichtrath,
den ihre Altionäre verdienen.
Dresden. . Dr. Felir Bondi.
ET
256 Die Zukunft.
Ihre Stau.
FR chneider Maſchke ift mit einer Kellnerin durchgegangen. Die eigene Frau
5: bat an ihm nichts verloren, aber fie trauert ihm doch nach; vielleicht ihm
weniger als dem legten Zufammenbrud ihrer Hoffnungen.
Während fie den Zettel in Händen bielt, den ein Straßenjunge ir grinjend
mit dem Hausſchlüſſel hinaufgebracht hatte — es waren nur ein paar Worte:
„Weil Du mid fchon lange nich intellijent jenug bift und weil Du mich über-
haupt über, fahre ich mit Fräulein Marie ab heute Nadt nah Amerika“ —,
während fie diefe Worte las, flimmerte es ihr vor den Augen; ihre Knie zitterten,
und als fie noch den Boten auf feinen Holzpantoffeln ihre vier Treppen hinab
flappern hörte und die Melodie der „Liebesinſel“ unten aus der Budike deutlich
zu ihr binaufflang, fiel fie um.
Nun war Alles jtill in der Stube. Dann, nad) einer Weile, fing das
Kind zu jchreien an. Es jammerte und winfelte, es ſchrie und fehrie: Niemand
fünmerte fih darum. Da richtete fih das Würmchen auf; Ted gudte es um
fi, und als es den Plan fondirt Hatte, Half es fi) und plapperte drauf los:
„Dam: Dam-Da!" Zum erften Mal formten die kleinen Lippen in biefer
Stunde bie Silben „Mam-Mam-Ma!“
Stöhnend richtete fich die Mutter auf. Erſt jeßt ſah fie, daß Blut über ihr
Stleid rann. Da wußte fie Beſcheid. In ihrer Familie gingen Alfe fo drauf; und
bei ihr war es heute nicht das erſte Mal, daß der rothe Strom fie erſchreckte. Ihr
war aber ganz wohl, gar nicht fchlecht; viel leichter alg in all den Wochen vorher.
Sie erhob fid), gab dem Kinde ein Stüdchen Semmel und überlegte: Was num?
Summer noch johlten fie unten die „Liebesinſel“.
Sollte fie die Nachbarin rufen? Aber dann würde es jofort heraus-
fommen, — Das von der Kellnerin und dem Marne. So jebte fi die Frau
vorläufig unſchlüſſig auf den Bettrand. In die dunkle Küche, in der fie jchlief,
dien der Diond. Den jtarrte fie an. Das Kind ftredte ihm die Hermchen entgegen.
Allmählich glitt an der Frau das ganze Elend ihrer kurzen Che vorüber.
Es war beinahe, als ob3 der Mond ihr faltlächelnd vortrüge. Sie hatte aber
feine Wuth mehr auf ihren Franz; es war förmlich Erleichterung, nun nidt
mehr auf das Gepolter warten zu müſſen, das der Heimfehrende, machte.
Eigentlich empfand fie nichts als Schnfudt nad „ihrer rau“.
Auch dies Leben wies Glanzpunkte anf. Im Dienſte damals ftand fie
in Anfehen. Die Derrihaft wußte Treue und Arbeitiamfeit zu ſchätzen. Das
Mädchen gehörte — bejonders in ſchweren Zeiten — fait zur Familie. Da hieß
es: Anna hier, Anna da. Jeder braudte fie. Manchmal hätte fie jich wohl zer.
reißen mögen. Nichts war ihr zu ſchwer. Freundlich erfüllte fie jeden Wunſch
Das auf der Punge fam erft mit dem Kinde. Daß fie mit dem Schneider
„nina“, wußte die rau; daß der Auserwählte ein Taugenichts, wußte bie
Herrſchaft nicht.
tur an ihren Sonntagen machte fie ſich für ihn fo ſchön mie möglich,
Kiel Schönheit mar abeg nicht zu erzielen; ihr Erſpartes lodte wohl mehr ala
jonftige Reize. So ging die Zeit hin.
Ihre Frau. | 267
Sechs Jahre ſchaltete und waltete fie auf ber jelben Stelle. Sechs Jahre
begte fie eine jtille Liebe zur Madonna, auf der das Wort: „Murillo“ ihr ans
fangs fo großes Sopfzerbrechen gemacht hatte. Mit wahrer Zärtlichkeit entfernte
fie ſechs Jahre lang jeden Diorgen den Staub von dein Gemälde. ben fo
lange gehörten dem Schneider die Sonntage. Von Heiraten war nie die Rede,
bis ... Ja, — dann mußte es fein. Ein Mädchen mit einem Sind blieb in
Schande. Als fies merkte, reinigte fie immer jchluchzend ihre Madonna mit
dem Kind.
Alles Eriparte ging für die Einrichtung drauf. Aber fie fam doch aufs
Standedamt. Nun war alfo wieder Ordnung geihaffen; die Ehre Hergeftellt.
Der Abjchied von der Herrichaft Tojtete viele Thränen. Sie hing an
dem Hanje, dem fie fo lange treu diente, als ob man fie dort ſechs Jahre nur
gefeiert hätte.
Ihr zweites Mort hieß von nun ab: Meine rau, die Frau, unfere
rau. Die ganze Vergangenheit verklärte fich ihr im Bilde der einftigen Herrin.
Zuerſt, in der Aderftraße, glaubten ihr die Nachbarn, wenn fie von ver:
gangenen Beiten erzählte, von dem guten Dienst und „ihrer Frau“. Als fie
dann aber in die jegige Barade umzogen, Webdingftraße, Hof vier Treppen,
als die Leute im Haufe von dem Ehepaar nur Armuth zu jehen befamen, als
der Dionn immer jeltener zur Urbeit ging und Ama auch nicht mehr recht was
auf.ihr Aeußeres hielt, lächelten die Leute unglänbig, jobald fie von „ihrer
Frau“ anfing. Man hielt „die Frau“ für eine Reflamefigur, die Erzählung
von der reichen Weihnachtbeſcheerung für Prahlerei, den ganzen Hayshalt in der
Bellevneftraße für ein Märchen. Diefe gebüdte, elend ausjchende, immer huftende,
nad Armuth riechende Perſon konnte unmöglich noch vor fo furzer Zeit in einem
vornehmen Haufe des Weftens fill fait unentbehrlih gemadt haben. Man
lachte fie heimlich aus. vamiſch hieß es, wenn ſie ſich zeigte: „Kiek! Ihre Frau
geht übern Hof!“
Arme Leute haben kein Herz für einander. Vielleicht ging ihnen unter
den Stößen der Lebensmühle jegliches Mitleid verloren. Im Kampf ums Brot
wird viel zerjtoßen.
Annas Unglüd war — fo erklärte fie ſichs ſelbſt —, daß fie feinen
Menſchen ärgern konnte. Sie hielt immer ftill. Alles ließ fie ſich aufhalfen.
Daß ein ordentlicher Menſch fich zu wehren habe, fiel ihr nie ein. irgend ein
Kampforgan mußte die Natur ihr verfagt haben. ud es fchien, als wollte
das Schidjal diefen Vortheil ausnußen. Geduldiger nahın Niemand Püffe in
Empfang. Nur der Rüden wurde immer um eine Yinie krummer. Laute Merk:
male ihres Niederganges waren nicht vernehmbar.
Der Schneider fpazirte einfah als „feiner Wilhelm“ durch feine Ehe.
„Arbeit ſchändet“, lachte er, wenn Anna zum WVerdienen antrieb. Er Batte fi
in ihrem Sparlafjenbuche geirrt. Das ließ er fie entgelten.
Am Wophlften fühlte fie fih, wenn fie wuſch. Waſchen war gewiß nicht
das Aergfte. Der Wrafen und der fhöne Seifengeruch benebelten jie fürmlid.
Sobald fie, in Qualm eingehüllt, tüchtig rieb und rumbantirte, zerrich fie ge-
wilfermaßen ihre Sorgen. Sie träumte ſich dann in die Bellevueſtraße zurück.
Noch einmal dort Staub zu wilden und die Zimmer aufjzuräumen: ein deal!
— — «
268 Die Zukunft.
In Wirklichkeit zeigte fie ſich nie bei der Herrin; fie ſchämte ſich zu ſehr
der erbärmlichen Wahl. Nur mit dem Herzen ſuchte fie „ihre Frau“ auf. Tag
vor Tag klagte fie ihr in Gedanken die Noth. Abends firih fie manchmal durch
die vornehme Straße. Scheu drüdte fie ſich durch die Dunkelheit; am Tage
hätten die Bekannten — Portiers, Briefträger, Blumenhändler — fie gegräßt;
der Untergebende aber fürdtet den Glücklicheren.
Wie der Eine im Leben als Höchſtes fi das Große Los wünſcht, wie
ein Anderer von SXtalien träumt, der Dritte in ber Fremde fich frank in die
Heimath fehnt, jo hoffte biefe durch die Che halb Vernichtete anf den Augen
blid, einmal noch — felbit fauber und nett ausſehend — Staub wildend all
die Herrlichkeiten, die Bilder und koſtbaren Nippes und namentlich bie heiß⸗
geliebte Madonna zu berühren, mit der fie einft fo vertraut gewefen war. Da
ſollte tann ihres Lebens größter Augenblid werden.
Während der Minuten, die diefen Erinnerungen galten, mußte bie Arme
ihr Taſchentuch feft vor den Mund drüden; das Blut quoll langfam weiter.
So entſchloß fie fi, um Hilfe zu bitten.
Mühſam fchleppte fie fi bis an die Thür. Im Vorübergehen ftrid fie
dem Stinde über das Köpfchen und ein bünnes Stimmden quittirte bie Lieb
koſung. Dann Elopfte fie nebenan.
In fünfzehn Minuten war nun Alles verändert. Zwei große Neuig:
feiten auf einmal alarmirten das Hinterhaus: Schneider Maſchke war mit Der
von unten aus dem Chantant durchgebrannt; und feine Frau ſchien Miene zu
maden, ohne Begleitung auf und davon gehen zu wollen.
Auf den Zügen ber Helferinnen Tag geheime Genugtäuung über das Gr
eigniß. Was bat ein armer Menſch fonft? Die felbe Plage jeden Tag umb
das Bischen Klatſch, von dem man doch nie fo recht weiß, 05 denn aud wirk
ih was dran ift. Ueber den Fall Mafchke konnte aber kein Zweifel mehr
berrichen. Jede Flurgenoſſin fühlte ſich förmlich als Mitfpielerin in bem Drama.
Die dide Waſchfrau bob den Zettel auf, der noch am Boden lag, ſchüt⸗
telte deni Kopf und gab das Ding weiter. „Das Aas!"... „Der Hund“... „Das
Stüd Miſt!“ Sole Worte wurden hörbar. Halblaut ereiferten fi Alle. Rut
die Kranke ſchwieg. |
Dan überlegte, was zu thun fei. „In dem Klinik mit fie? Unfalftation?”
Anna ſchüttelte den Kopf. Sprechen konnte fie nicht oder wollte fie nidt;
wer ahnt, was in der Bedrücten Bruft worgehen mochte? Endlich winkte fi:
Alle ftürzten über fie ber. Kaum verjtändlich flüfterte fie der Fleiſchermamſell
ins Ohr: „Die Frau‘. j
Ungläubige Mienen antworteten. Man wollte fi) nicht blamiren. Gut
mütbig begann die Dläntelnäherin wieder „von dem Klinik.” Aber Anna wi
holte leife nur das Eine: ‚Die Frau!“
Als der Tag dämmerte, wollte eine Alte es endlich verſuchen.
Bellevuelttaße war weit. Insgeſammt begleitete man die Botin big au
Treppe. Da erft fing das Schnattern an: „Zum Laden! Solde Feine,
noch Schläft! Die weden! Und dann: die Reichen find jegt im Badel Ueberhi
wird fein wahres Wort dran fein. Und jo Eine wie die Schneiberäfrau,
Ihre Fran. 269
ber eigene Mann nicht mal eftimirt hat, jollte bei Fremden in Reputation ftehen?
Und ſchuld is fie man doch blos allein; wie man fich bettet, fo jchläft man, Er
taugt nichts umd fie is nicht viel beſſer. Ach Jott, die Mannsleutel Wenn ich
Eine treffe, die zur Hochzeit geht, muß ich mir immer ausweinen.... Uber das
arme Würmchen! Und bie halbe Wirthichaft verjegt . . .”
Endlih verfhmand die Alte Am ganzen Hinterhaus rubte die Urbeit.
Die Frauen rührten fi nicht aus Annas Küche, wo ein dider Armeleutegeruch
Berwöhnteren den Athem rauben mußte.
Der Arzt. der Unfallftation batte wenig Hoffnung gegeben. Die Nad-
borinnen brübten fi) einen Kaffee und faßen nun, ruhig ſchlürfend, neben dem
Bett. Sie erwarteten irgend etwas fehr Aufregendes. Der Rückkehr der Alten
ohne Begleitung waren fle fiher. Die Wäfcherin Hatte ihren Sjungen zum Ab-
fogen geſchickt. Das bier wollte fih Keine entgehen lafien. Die Portierfrau
ließ ihren Dann fegen. Das Fleifcherfräulein meldete fi per Rohrpoſt für
den Bormittag frank. Der Schneiderin kams nie jo genau auf eine Stunde an.
Allmählich wurde die Gejellichaft elegiſch. „Son Menſch!“ jammerten
fie. „Ueberhaupt ..... Die Welt... . So traurig Frepiren zu müſſen!“
Nur Eine fühlte nichts von dem ganzen Unglüd: Unna Sie wartet
auf „ihre Frau“. Alles Andere iſt verjunten. Ihre müden, halb gejchloflenen
Augen richten fi immer nad der Thür... Nie Tann ein Süngling die Ge—
liebte jehnjüchtiger erwartet haben als bier das arme, vom Geſchick zermürbte
Weib die Herrin. |
Während die Schwäde zunimmt, während allmählicde Ohnmacht fich über
die Sterbende breitet, kommts wieder umb wieder ſtoßweiſe, faft irr über bie
Lippen: „Die Frau!“ ... „Die Frau!“
Leife ftreicht eine Hand Über des Weibes Stirn. Zärtlich beforgt, Elagend
Elingt es: „Anna, meine licbe Anna!’
Die Krante erwadt. Einmal noch ſchlägt fie die guten, treuen Augen auf.
„Liebe Anna!‘
Die Küche und die neugierigen Weiber find verſchwunden; auch die jammer:
volle Ehezeit iſt vergeilen. Die Mutter Gottes iſt gekommen, fie zu holen.
Und biefe Madonna, bie jie fo genau kennt, nad der fie fich geſehnt in all ihrer
Noth, trägt die Züge ihrer Frau und das Kind auf deren Arın gleicht dem eigenen
Heinen Anuchen.
Frau Maſchles großer Augenblid iſt da.
Man hat die Fenſter geöffnet. Luft fluthet herein. Xicht bringt über bie
ſchon in Schwäche faft Bergehende. Die ſuchenden Hände, die den Tod „pflücken“,
wie ber Bollsmund dies legte Symptom bes nahen Endes nennt, fahren un-
big, als wollten fie Staub wilchen, durch die Luft. Nur die Mugen, dieſe
müden, müden Uugen bängen an der Mabonna.
So tft fie doch zurüd in ihr Gelobtes Land gelangt, ehe der letzte Tobes-
fampf begann, der ihr Stille brachte und eine gute Stelle für immer.’
Yranzisla Mann.
270 Die Zukunft.
Selbftanzeigen.
Jahrbuch für feruelle Zwiſchenſtufen. Wünfter Jahrgang. Verlag von
Mar Spohr in Leipzig.
Der neue Band iſt nahezu 1400 Seiten ftarf, enthält über 170 Il.
Iujtrationen und iſt gut ausgeftattet. Cingeleitet wird das Bud von einem
Bilde de3 im vergangenen Jahr verjtorbenen Profeſſors von Krafft⸗Ebing und
einem anerfennenden Schreiben, das diejer Gelehrte kurz vor feinem Tote
über den Werth der Jahrbücher an mich gerichtet hat. In der erften größe
ren Arbeit, „Urfachen und Wejen bes Uranismus“ (auch jeparat unter dem
Titel: „Der urniſche Menſch“ erſchienen), fuche ih auf Grund von über 15
eigenen Beobachtungen nachzuweiſen, daß homojeruelles Empfinden ſtets an ein:
geiftig und Eörperli von Geburt an in beftimmmter Weiſe charakterifirte Per⸗
ſönlichkeit gebunden iſt, von deren Merkmalen — einer beſonderen Miſchung
männlicher und weihlicher Eigenſchaften — ich eine eingehende Schilderung gebe.
Als Anhang folgt die Selbftbiographie eines urnifchen Arbeiters, die nicht mur
die Eigenart des Homoſexuellen wiedergiebt, fondern aud die furchtbaren Kon
flifte, in die ein folcher Denfch durch die normale Majorität jo häufig verwidet
wird. Nach einer Eleineren Abhandlung des Medizinalrathes Näde, die das
jeltene Vorkommen der Domofegnalität bei Geiſteskranken erörtert — Näde hat
ein Material von 1481 Irren verarbeitet —, kommt Hofrath von Neugebauer
aus Warſchau mit einer ehr intereffanten Arbeit, betitelt: Chirurgiſche Ueber-
rafchungen auf dem Gebiete des Scheinzwittertfumes. Da find 134 Fälle zu
fammengeftellt, in denen ſich während einer Operation berausftellte, daß Per⸗
fonen, die irrthümlich als Mädchen getauft und erzogen waren, in Wirklidfet
Männer waren und umgekehrt. Manche diefer verfanuten Perſonen waren fogat
verheirathet. Es folgt ein bisher faft unbefannter Brief & |
Karl Auguft, den Mochiu ein eſchigt hat, „über die nf
Joy. Daraıtı a ey Mibeiten”"Der zı aroctte Halbband
als Titelbild eine Reproduktion des bekannten Hermaphroditen aus dem alten
berliner Muſeum. Darauf folgt zunächſt eine große Arbeit des Herrn Dr. von
Römer: „Die androgune Idee des Lebens“, worin der junge amfterbamer Ör
lehrte zeigt, wie in ſämmtlichen Religionen die oberfte Gottheit urfpränglid
doppelgefchlechtlicd gedacht war. Die Kenntniß diefer mit nicht weniger als &6
Abbildungen verſchiedener antiken Hermaphroditen geſchmückten Monographie
dürfte für den Archäologen und Kunftfreund eben fo wertvoll fein wie für ben
Theologen und Theoſophen im weiteren Sinn. Wie in früheren Jahren, jo
hat auch in diefen Numa Prätorius bie Bibliographie des Uranismus gewiflen-
haft bearbeitet, diesmal unter befonderer Berüdfichtigung ber belletriftifchen Literatut.
Ihm folgt der peteröburger Strafrechtslehrer Wladimir von Nabokoff mit feinem
Vortrag: „Die Sittlichkeitgefege im ruſſiſchen Strafgefeßbud“; er forbert au
juriftifden Gründen die Aufhebung bes Uxrningparagraphen. Damit mieder
olle vier Fakultäten zum Wort kommen, ſchildert ſchließlich noch ein katholiſcher
Geiftliher die feelforgerifchen Vortheile, die ihm während feiner Amtszeit
aus ber Kenntniß des urnifchen Phänomens erwuchſen. Am Schluß wird det
Jahresbericht des wiſſenſchaftlich humanitären Komitees veröffentlicht, aus dem
Selbftanzeigen. 271
ich die Nachrufe an Krafft-Ebing und ben Prinzen Georg von Preußen — ber
die Arbeiten des Komitees finanziell unterftligt hat — hervorhebe, bejonders
aber. eine genaue und objektive Darftellung des Falles Krupp. |
Charlottenburg. Dr. Magnus Hirichfeld.
%
Schanfpielfunft und Schaufpielfünitler. Beiträge zur Aeſthetik des Theaters.
Schuſter & Loeffler, Berlin.
Die Abſicht, die ich mit dieſer Arbeit verfolge, ift die alte. Ich ſchrieb
nicht etwa ein Lehrbuch der Schaufpielfunft. Was hätte Das für einen Sinn?
Als 0b man jemals eine Kunft nad) Büchern lehren, aus Büchern lernen könnte!
Es handelt fich Hier auch nit um das Aneinanderreihen von Spigfindigkeiten
einer ſpekulativen Aeſthetik. Zu welchem Zweck wohl? Als ob dadurch vielleicht
die künſtleriſche Kultur irgendwie geſteigert zu werden vermöchte! Nicht mehr
und nicht weniger als eine Ueberſicht über die innere Organiſation des in Rede
ſtehenden Kunſtzweiges wollte ich geben. Das Schaffen und Mühen, die weſent⸗
lichften Aufgaben des Menjchendarftellers follen abgegrenzt und prinzipiell durch:
gefprochen und dann die großen äfthetiihen Normen jeiner Kunſtübung hieraus
gewonnen werden. Natürlich intereffirt ung dabei nicht nur die Schaufpielfunit,
fondern au der Scaufpielfünftler:: eben als Künſtler, aber auch als Menſch,
in feiner Stellung zu Welt, Leben und Geſellſchaft. Auch Hierliber dürfte des»
Halb kurz zu reden fein. So wenden fi diefe Studien alfo in erfter Linie
an den Genießenden. Nachdem fie zunächſt ganz allein für mich angejtellt wurden
— weil ich mir die Unterlagen und das Recht zu Fritiicher Thätigkeit im Pargquet
“erwerben wollte —, gebe ich fie hiermit an Alle weiter, die es angeht. Ich
dachte nämlich, daß ich Denen, die im Theater eine Stätte der Kunft und nicht
nur des zerftreuenden Vergnügens fehen, durch meine Auseinanderfegungen bier
und da das PVerftändniß für den komplizirten Mechanismus der Bühne ein
Wenig erleichtern fönnte. Das jcheint mir wichtig. Ich bin nämlich der Anſicht,
daß ein gewiſſes Erkennen feiner inneren Bedingungen den eigentlichen Genuß
des Kunſtwerkes nicht unmefentlich fördert. Die Befchäftigung mit den Theoremen
einer Kunſt ſchärft nicht nur die Sinne, fondern macht auch gerechter. Vielleicht
fließt diefe urjprünglide Abſicht aber auch nicht aus, daß die Lecture jogar
dem einen oder anderen Bühnenfünftler Etwas bedeuten könnte. Das wäre
dann allerdings bad Höchſte.
Eſſen. Karl Hagemann.
Wirklichkeit und Schein. Novellen von Roberto Bracco. Einzig autoriſirte
deutfche Ueberfegung. Verlag von Dr. Marchlewsti & Co. Münden.
Zwei diefer Novellen, „Das Bioloncell des Doktors“ und „Seelenheil”,
find in der „Zukunft“ erfchienen. Bracco ift bem deutjchen Publikum als Drama-
tifer wohl befannt und ich hoffe, ber geiftvolle Sungitaliener wird auch als Novellift
willlommen fein. Die neunzehn Novellen, heiteren und düſteren Inhaltes, find
leicht und flott Hingeworfen und Haben trotzdem, denke ich, einen nicht zu unter
ſchätzenden pſychologiſchen Werth. Flott find fie gejchrieben, aber nicht flüchtig,
und in jeder von ihnen liegt ein Stückchen Seele bes Dichters. Aus einigen
272 Tie Zukunft.
fpricht eine cynifche Welt- und Menſchenverachtung, andere wieder find von Menſchen⸗
liebe und Berföhnlichleit durchglüht; aber Leiner fehlt der perfönlihe Ton bes
Autors. Ich war redlich bemüht, den Schimmer des Originals in ber Ueber-
ſetzung nicht zu verwiſchen.
Wien. *
Die Hilfsſchulen für ſchwachbegabte Kinder in ihrer Entwickelung. Be—
deutung und Organifation. Preis 1 Marl. Hamburg und Leipzig 1903.
Verlag von Keopold Voß.
Erſt um die Mitte bes vorigen Jahrhunderts fing man an, einer lange
vernachläffigten, aber um fo bedauernswertheren Menichenklafle, den geiftig Armen,
befondere Theilnahme und Yürforge angebeihen zu lafien. Menfchenfreunde
eröffneten zu jener Zeit Anjtalten zur Erziehung und Bildung blöbfinniger Finder
und Ulyle zur Verpflegung erwachjener, erwerbsunfähiger Beiftesichinadgen. Doch
diefe Beitrebungen kamen nur einer bejchräntten Anzahl von ſchwachſinnigen
Individuen zu Gut; der größte Theil führte nach wie vor ein kümmetliches,
oft menſchenunwürdiges Leben. Allmählich aber hatte man erkannt, daß ihnen
durch eine ihrer ſeeliſchen Verfaſſung angepaßte Erziehung. und Unterricie:
methode in mander Beziehung weſentlich geholfen werden könnte. Deshalb
errichtete man neben den vorhin genannten AUnftalten gumächft einzelne Klaſſen,
fpäter ganze Schulen für geiftesfchwache Kinder; hauptſächlich in größeren Stähten.
Die Bahl der Schulen, Hilfsihulen für fhwachbegabte Kinder bürfte zur Zeit
in Deutſchland 150 betragen. Ahr Zweck ift, den geiftesichwaden Kindern eine
ihren geiftigen Fähigkeiten entiprechende Ausbildung zu vermitteln und ihre
Erwerbsfähigleit anzubahnen, damit fie fich nicht als unnützen Ballaft ihrer
Ungebörigen oder der Gemeinden durch das Leben zu ſchleppen brauchen. Danch
haben die Hilfsſchulen in ihren Beitrebungen wichtige und umfangreiche Arbeiten
zu leiften, über die meine Schrift orientiren will.
Stolp. * Fr. Frenzel
Apollon und Dionyſos. Dualiſtiſche Streifzüge. Axel Juncker, Stun⸗
gart 1004. 3 Mark.
Die hier gebotenen Aufſätze verdanken ihre Vereinigung zu einem Bande
nicht einem Zufall; fie bilden in der That ſtiliſtiſch wie gedanklich eine Einheit.
die den Bufammenfchluß rechtfertigt. Ohne Dualift im philoſophiſchen Sinne
diejes Wortes zu fein, habe ich mich daran gemacht, in allen behandelten Gegen⸗
ftänden bie dualiftifche Formel nachzuweiſen, die ihm als die dialeftifch günftigite
erſcheint. „Apollon und Dionyſos“, die einleitende Arbeit, behandelt den Unter
ſchied zwilchen apolliniicher und dionyſiſcher Kunſt. „Bom Sinn bes Der’'“-
thumes“ ift ein mit Kleinen Mitteln unternommener raſſenpfychologiſcher
ſuch. „Rainer Maria Rilke’ ift die kurze Gejchichte des ungemein ftarlen k
drudes, den ber Berfaller von diefer feinen, auf eine fabeldafte Nervenkul
gegründeten Kunſt erfuhr. „Vom Werth ber Worte” endlich und „Litermil
Schlagworte” befaflen fi auf felbftändige, insbejondere von beim verdienftun
Werte Fritz Mauthners unabhängige Weife mit dem Problem der Spradfri
Münden. Wilhelm Michel
8
Otto Eiſenſchitz.
Zauberlehrlinge. 273
Dana Petrowitſch. Drama in drei Akten. Wiener Verlag, Wien und
Leipzig. 1904.
In den ſüdungariſchen Sumpfwäldern gedeiht das bravſte Edelwild Eu⸗
ropas. Bringt man die Thiere auf feſten Boden, fo athmen fie gierig die ge-
funde Luft ein und... . fterben am ihr. So geht es Dana Petromwitich, der
Tochter eines froatifhen Edelmannes, der Bolitifer von PBrofeffion und Leber
mann aus Weberzeugung ift. In der Umgebung, für die Danas Rafje vorbe-
ſtimmt ift, gefällt es ihr; da weiß fie fi zu bewegen. Als Bojo Danas Ge-
mahl wird und fie in bürgerlich moraliiche Remifen bringt, freut id Dana all
des Neuen und meint, da müßte es fich leben laflen. Doch fie verfteht dieſe
Umgebung nit. hr fehlt der Kompler von Begriffen, mit denen man hier
denkt. Diefe dumme jchöne rau habe ich drei Männern gegenüber geitellt.
Bei allen Dreien entfacht fie Zeidenfchaften und zieht fich, als fie am Lauteften
toben, hilflos und erfchredt zurüd. Wie eine Hindin von fern dem Kampf der
Brunſthirſche zufieht, von dem ihr Schidfal abhängt, fo bleibt aud fie paſſiv,
faft bis zum legten Augenblick. Als fie fih endlich aufrafft, thut fie es auch
nur injtinktiv und treibt einen von ihren Bewerbern, den abgethanen, in dem
Hinterhalt ber beiden anderen.
Wien. Roda Roda.
Sauberlehrlinge.
hr Yrühling 1900 war Deutichland auf dem beiten Wege, das Hexen zu
lernen. Die Konjunktur ſchien jo günftig, wie man fie nur träumen
fonnte, der Kurszettel glänzte in rofigem Licht und an der Börfe hielt Jung
und Alt fi zu Dingen berufen, an die man fidh kurz vorher gar nicht heran
gewagt hatte. Juſt auf diefem beiten Weg aber, dem Weg zur Hexenſchule,
gerieth der kecke Wanderer, dem Stnaben des Märchens gleich, in ein fumpfiges
Erlenmoor; und nad langen Irrfahrten erjt, nach vielen Abenteuern, die nur
um Haaresbreite an drohender Vebensgefahr vorbeiführten, fand er endlich wieder
beim. Drei „Sabre waren verftrichen. Man athmete auf. Die böje Alte, das
Sinnbild des Niederganges, war, wie eine Giftblaſe, zerplat. Die Bahn jchien
frei; ein neues Leben fonnte beginnen. Nun war Deutſchland, jo durfte man
hoffen, von dem unjeligen Drang, heren zu können, geheilt... Wirklih? Das
Märchen ift zu Schanden geworden. Im Herbft 1903 ift die Luſt am Hexen
in der deutfchen Finanz und Induſtrie, troß all den harten Lehren der legten
Zeit, mit der alten Kraft wieder erwacht und ftaunend fieht die Welt, wie
Deutſchland fi ftrebend bemüht, um jeden Preis die Hexenkunſt zu erlernen.
Der Eifenbahn-Rekord von Zoflen-Marienfelde Iodt die raſtlos vorwärts
Drängenden wie ein Irrlicht. Jeder will e3 erreichen; und fo geht die milde,
verwegene “Jagd über Stod und Stein. Zwiſchen Käje und Birne verfündet, als
handle ſichs um eine Kleinigkeit, dieman zum Geburtstag ſchenkt, Herr Kommerzien—
rath Baare feinen bochumer Aktionären, der Gußſtahlverein werde nächſtens auf dem
Tilmannshof ein neues Stahlwerk in größtem Stil errichten. Man traut ſeinen
21
Zauberlehrlinge. 275
dem Machtwort der Großen zu gehorchen oder zu Grunde zu gehen. Die deutſche
Hütteninduftrie fühlt ſich alſo wieder einmal bes Sieges gewiß. Die Roheiſen⸗
erzeugung Deutihlands bat die bisherigen Höchftziffern ſchon um ein Beträdt-
liches übertroffen. In den eriten neun Monaten des laufenden Jahres betrug
fie mehr als 7'/, Millionen Tonnen, hat den Rekord aljo um eine Million ge-
ſchlagen. Eben fo fchnell tft ber Abſatz von Koks gejtiegen; und die Nachfrage
nad Kohle tft nicht allzu weit zurückgeblieben. Diefer Geſundungprozeß iſt zum
Theil auf natürlichem Wege, zum anderen Theil aber durch Fünftlicde Mittel be-
wirft worden: durch eine Ueberſtürzung, die haftig das dem ruhigen Blid unmöglich
Sceinende möglich zu machen ſucht. Man thut, als müfje die Welt übermorgen
untergehen und bis morgen deshalb noch geleiltet werden, was in normalen Zeiten
Jahre zum Wachen und Reifen braucht. Jeder will hexen, weil fi plötzlich Aller
der talmi⸗darwiniſtiſche Wahnglaube bemädhtigt hat, nur wer here, Eönne in die
Reihe der fittest survivors aufgenommen werben.
Der Antrieb zu folder Haft kommt natürli von den Banken; und in
den eigenften Lebensregungen diefer Gewaltigen tjt die Meberreiztheit noch deut⸗
licher fihtbar. Wer verpflichtet ift, nichts von Alledem, wa3 die Banken jebt
unternehmen, fid) entgehen zu lafien, weiß kaum noch, wohin er zuerft den Blick
wenden fol, Doch der Deutihen Bank gebührt immer der erfte Plab. Herr
Direktor Gwinner ift Hoher Bewunderung würdig. DaB ihm die Verhandlungen,
die Graf Lamsdorff mit dem Minifter Delcafje in Paris über — richtiger:
gegen — die Bagdadbahnr führte, nicht gleichgiltig waren, weiß Jeder, der fich
erinnert, wie oft der erfte Manager der Deutſchen Bank im Intereſſe der Bagdad-
bahn zwiſchen Berlin, Konftantinopel und Paris Hin- und herflog. Das find
Fahrten, die, jelbjt wenn das Menu an der Tafel des Orient⸗-Expreß leidlich
ift, nicht zu den Sreuden des Lebens gezählt werden können. Herr Gwinner,
der für das Bagdadbahnprojekt Feuer und Ylamme ijt, blidte alfo jedenfall3
in Außerfter Spannung auf die parijer Verhandlungen, deren Ergebniß für ihn
ungemein wichtig zu werden verſprach und thatfächlich zu einem fchweren Schlag
.. gegen das Preftige der Deutſchen Bank wurde. Uber er ließ fich nichts anmerken und
eilte, al gebe es auf der weiten Welt nichts Dringenderes zu thun, gerade in biejer
Beit nah Wien, um das öſterreichiſche Petroleumgeichäft feiner Bank in Ord⸗
nung zu bringen. Das genügte noch nicht. In den felben Tagen vernahmen
wir auch, feinem Jupiterhaupt ſei der Gedanke entfprungen, eine — oder gar
mehrere? — in Berlin bisher nicht gehandelte amerikaniſche Eifenbahnaltie in
unferen Börfenfaal einzuführen. Kein Anderer als er kann ber Proteftor ber
Baltimore- Shares fein; der frühere Amerifafundige der Deutfchen Bank,
Herr Mantiewig, bat ja in der Northern Bacific-Affaire Keine überwältigend
fihere Erkenntniß der amerikaniſchen Verhältniſſe bewieſen; die Canoſſafahrt, die
er 1901 nach London antreten mußte, um die arme Deutſche Bank und ihre blinde
Gefolgſchaft von dem ſelbſtverſchuldeten Fluch der Northern⸗Schwänze zu befreien,
dürfte ſein Urtheil über amerikaniſche Dinge in den Augen ſeiner Mitdirektoren
erheblich entwerthet haben. Nebenbei hat die Dentſche Bank auch noch die Emiſſion
von 17"/, Millionen Mark Schuldverſchreibungen einer ſkandinaviſchen Erzgeſell⸗
ſchaft beſorgt. Dieſe Geſchwindigkeit grenzt wirklich ſchon an Hexerei. Doch ber
fieberhafte Bethätigungdrang, der jedem im Nebel auftauchenden Phantaſiegebild
21r Fr"
276 Die Zuhmft.
nachjagt, ift nicht nur im Palaſt ber Deutfchen Bank zu finden. Daß die Handels⸗
gefellfchaft nach Amerika Hinübergreift, wurde” im vorigen Heft ſchon erzählt;
jeitbem ift auch von einer neuen ſerbiſchen Anleihe gewiipert worden; freilich folgte
ſchnell eins der Dementis, deren Heftigleit ſtets verbächtig Klingt. Aber ſchon bie
bedeutfamen Borgänge, in deren Mittelpunft jetzt die Allgemeine Elektrizität⸗
Geſellſchaft jteht, würden in normalen Zeiten binreichen, um das betheiligte Finanz⸗
inftitut vollauf in Anfpruch zu nehmen. Die Diskontogeſellſchaft, bie eben erit
zu ihrer peinlicden Meberrafhung vernehmen mußte, daß ihr die rumäniiche Re—
girung mit dem Projekt eines ftaatlihen Tankwagen-Monopols einen Strid) durch
das frifch gewagte Petroleumgefchäft machen will, und von der man annehmen
durfte, daß Ballins Reife nah Nem-Mork ihr nicht ganz gleichgiltig ift, fühlt
das Bedürfniß, viele Millionen nordargentinifcher Eiſenbahnbonds zu emittiren,
jener merfwürdigen Obligationen, an deren Proſpekt die naiven Herren der berliner
Bulaflungftelle zwar den Mangel an Mittheilungen über argentinische Coupon⸗
verjährung auszufeßen haben, nicht aber das Verſchweigen der Thatjache, daß
fie die abgelehnte Hälfte einer mißglüdten Iondoner Voremiſſion repräfentiren.
Die Dresdener Bank bringt das Kunſtſtück fertig, zugleich an eine Yufion ihrer
Berzweigungen in Rheinland. Weftfalen und an eine ſtarke Kapitalgerhöhung zu
denfen (da das Gerücht dementirt wurbe, darf man wohl daran glauben),
während fie doch andädtig dem Tamtam laufchen follte, das — fchwerlich wider
ihren Willen — zu Gunſten der Großen Berliner Straßenbahn gejchlagen wird.
Diefen größten Banken gefellt fi ein Fleineres Inſtitut: die Nationalbank für
Deutſchland. Sieht man von allerlei mißlichen Gerüchten ab, bie vor einiger
Zeit über die Zukunft des Binfendienftes von ſchleſiſchen Kleinbahnobligatio—
nen umliefen und recht ärgerliche Erinnerungen an die unfelige Landau⸗Epoche ber
Nationalbank wedten, jo fann man zugeben, daß dieſe Anftalt mit dem nie-
drigften aller Banken: Ultimofurje feit Jahr und Tag erfolgreich bemüht ſchien,
id den guten Ruf dadurch zurüdzugewinnen, daß fie möglichft wenig von
fi) reden machte. Jetzt bat fie diefe mwohlthuende Stille jäh unterbroden.
Aud fie iſt von der Tendenz fortgerifjen worden, nah Allem zu haſchen, was
groß jcheint, gewaltig, auffällig, impofant. Herr Ernft Friedländer, defien Name
mit der Geſchichte der nicht eben rühmlich vom Schauplaß verſchwundenen Bres«
lauer Disfontobanf unzertrennlich verbinden bleibt, fieht jich über Nacht wieder
zum Vorkämpfer deutjchen Kapitals befördert. Die Nationalbank für Deutjch-
land ift am Ende noch ftolz darauf, Fünftig mit der neuen johannesburger
Minenfirma Friedbländer & Eo. eben jo identifizirt zu werben wie die Deutſche
Bank mit Goerz. Ich nehme an, daß Herr Ernſt Friedländer den Aufenthalt im
Trangvaal, der zwischen feinem Scheiden aus der Diskontobank und feiner jüngft
erfolgten Rückkehr in die berliner Börſe und die berliner Klubs lag, ausſchließ⸗
(ich dazu benußt Hat, um, nad buriſchem Vorbilde, die Bibel zu lefen. Da
wird ihm die Mär vom Soldenen Kalb fiherlich nicht entgangen fein. Vielleicht
erzählt er fie einmal den wiedergewonnenen alten Sreunden. Wenn der Eine
oder der Andere von ihnen fi die Moral der Gefchichte zu Herzen nähme,
hätte Herr Friedländer zu‘ unzähligen älteren fi ein neues Berdienft erworben.
Dis.
m mn
Herausgeber und verantwortlicher Redattrur: VI Harden in Berlin. -- Verlag der Zukunft in Bertir
Truck von Albert Same un Berlin- Schöneberg.
Berlin, den 21. November 1903.
— —— — — ——
Rwiledis.
BLy dem Großen Schwurgerichtsfaal figt, dicht neben der Eingangs»
thür, auf dem Holzftuhl des Gerichtsbieners ein faft fieben Jahre
alter Knabe. Ganz in Weiß gefleidet. Der weiße Klerikerhut hängt auf dem
Rüden; der Blondkopf ift forgfam frifirt, der Vorder ſchopf zierlich gefräufelt.
Ein hubſcher Junge, der auf der Straße jedem Borübergehenden auffallen
würde. Stämmig und doch fein; ſchwarze Augen, ſehr lange Wimpern und
die milchfarbige Haut eines von der erften Lebensftunde an zärtlich gehegten,
gepflegten Kindes. Ein paar Damen bewachen ihn, nehmen ihn auf den
Schoß, ftreicheln ihn; und Hinter den Hüterinnen drängt ſich die Menge.
Gepugte Polinnen, auf Senfationen birfchende Schreiber, Rechtsanwälte
in der Robe, im Landgericht heimifche Kriminalftudentinnen, Freiherren,
Kutjcher, Taglöhnerfrauen: Jeder will, Jede den Kleinen ſehen; recht lange,
rcht nah. Den Hüterinnen ſcheint der Drang nicht unbequem, ſcheint die
Möglichkeit, ihr weißes Schätschen zur Schau zu ftellen, ſogar willfommen.
Sie Haben fich ſchnell aflimatifirt und fragen von felbft ſchon den Betrachter,
aus deſſen Miene beſonderes Intereſſe fpricht, von welcher Zeitung er fei; fie
zeigen Zuverficht und find zu Ausfünften immer bereit. Auch dem Knaben
macht, feit er ſich entſchuchtert hat, das Gedräng offenbar Spaß. Die Kinders
‚eitelteit ift erwacht; zu nett, von fo vielen Leuten bewundert zu werden. Aus
Iuftigen Augen blidt er in das bunte, endlos wechjelnde Bilderbuch. Das
Näschen merkt nicht, wie fchlecht die Luft iſt; noch ſchlechter al fonft. Theure
und billige Parfums, verſchwitzte Kleider, Tabak, Allohol, Säuglinggerüche
— benn mande Zeugin trägt ihr in verbächtige Deden gewideltes Kind
2
278 Die Zukunft.
mitfich herum —, die Ausdünftung armer Leute, Roffäten, Wildwärter, Stalf-
mägde, Knechte, die fich den Luxus ber Sauberkeit nicht leiften önnen: der
Nuntius fogar, ein rothblonder Rieſe, Hagt über Kopfichmerz. Die Neugier
drängt weiter. Noch ein zweiter Knabe ift fehenswerth. In einem Zeugen-
zimmer figt er neben einer einfachen Frau. Seit geftern ift er genau wie der
andere gekleidet und frifirt. Er ftehtim neunten Lebensjahr, ift aber viel Heiner
als der Siebenjährige. Die Ürtheile schwanken. Bis einem Schlauen der Ein»
fall kam, auch den Kleineren zu Eräujeln und in Elfenbeinfarbe zu Heiden,
gabs wenig Zweifel. „Keine Spur von Aehnlichkeit. Der Kleine ein ſtumpf⸗
finniges, unfchönes Proletarierfind, der Größere ein echter Adelsſproß mit
allen Merkmalen alter Familienkultur.” Jetzt regen ſich Bedenken. „Beide
haben fchwarze Augen und lange Wimpern, Beide die jelbe Apfellopfform
und das felbe Kinn, dag vorgebogen ſcheint; auch die Haarfarbe ift beinahe
gleich. Der ganze Unterjchied befteht darin, daß der Eine gut, der Andere
ſchlecht gehalten ift.” „Unfinn! DieBeiden können garnicht den jelben Bater
und die jelbe Diutter haben. Warum wäre der Aeltere dann im Wachsthum
jo zurüdgeblieben? Ueberhaupt macht die beſſere oder fchlechtere Pflege bei
Kindern nicht jo viel aus. Seht Euch die Kadetten und die Militärwaijen-
hausſchüler an! Nein: ber Junge im Zeugenzimmer bliebe auch im Brolat-
gewande der Sohn einer Magd, bie felig fein mußte, als ein Weichenfteller
fie zur Ehe nahm; und den feinen Knaben, der im Korridor mit angeborener
Würde Cercle hält, müßte auc) im Bahnwärterhaus das tundige Auge als
Kindeines Grafen erkennen.“ Solches Gerede beweift nichts. Mit Klaſſenphy⸗
ſiognomik fäme man, ſelbſt wenn fie mehr wäre als Spielerei, bier ſchon des-
halb nicht aus, weilauch der Neunjährige von einemadeligen Offizier gezeugt
ift, Die Spermatozoen, die ihn entftehen ließen, alfo nicht aus dem niederen
Menſchenreich ſtammen. Trotzdem fieht der rachitiſche Junge wie ein aufges
putstes Elendskind aus. Er hat auch weniger Zulauf und gudt trüber als
das weiße Herrchen im Korridor. Das lacht, giebt Belannten gnädig eine
Patſchhand und räfelt fich Tokett auf dem Holzſtuhl. Hinter der Thür wird
inzwijchen die Frage verhandelt, ob feine Elternins Zudäthaustommenfoll ı.
Zweiter Theil, zwölfter Abſchnitt des Reichsftrafgefegbuches: „U
brechen und Vergehen in Bezichung auf den Perſonenſtand.“ Baragraph16 :
„Wer ein Kind unterfdjiebt oder vorſätzlich vermechfelt oder wer auf and
Weile den Perfonenitand eines Anderen vorfäglich verändert oder un
drüdt, wird mit Gefängniß bis zu drei Jahren und, wenn die Handlung
gewinnfüchtiger Abficht begangen wurde, mit Zuchthaus bis zu zehn Syah
a 2 ve
Kwileckis. 279
veſtraft.“ GrafZbigniew Wefierski⸗Kwilecki und ſeine Ehefrau Iſabella, gebo⸗
rene Grafin Bninska, ſollen ein fremdes Kind für ihr eigenes ausgegeben haben.
Den weißen Knaben, der auf dem Holzſtuhl im Korridor Cercle hält. Den
habe ein armes Bolenmädchen ihrem Xiebiten, einem öfterreichifchen Haupt»
mann, geboren. Dem Serualverfehr diejes Paares entſtammen zwei Kna⸗
ben; dereine, derim Zeugenzimmer fitt, iſt nah bei der Deutter aufgewachien,
der anderebald nach ſeiner Geburt, in der letzten ganuarwoche des Jahres 1897,
an eine vornehme Dame verkauft worden. Am zweiundzwanzigften Dezem⸗
ber 1896 hatte ihn Fräulein Parcza zur Welt gebracht ſie heirathete ſpäter den
Weichenfteller Meyer, der das ältere der beiden vor der Ehe von ſeiner Caecilie
geborenen Kinder adoptirte und fich bereit erflärte, auch das jüngere zu ſich zu
nehmen. Wohl nicht ganz freiwillig. Ein Bahnnwärter, der ſich danach fehnt,
vom erften Tag der Ehe an fein Budget mit den Unterhaltskoften für zwei
— nicht von ihm gezeugte — Kinder zu belaften, wäre feine Alltagser-
ſcheinung; und ſelbſt der edelfte Sinn brauchte den Heinen Baftard nicht aus
dem warınen Schloß in die Weichenftellerhütte zu holen. Doch die Recherchen
ın Sachen wider Kwiledi und Genoffen hatten begonnen und ein gutes
Stüd Geld mochte dem Paar ficher fcheinen, deffen Zeugniß den Eleinen
Grafen aus dem Majoratsrecht der Herrihaft Wroblewo drängen würde,
Wroblewo ijt ein vom Grafen Joſeph Kwiledi als Familienfideikommiß un:
veräußerlich feftgelegtes Nittergut in der wronker Gegend, das nach den Grund:
fägen der MajoratSordnung vererbt wird; zur Erbfolge berechtigt find, wenn
ein direkter männlicher Erbe fehlt, die Agnaten des erften Beſitzers, von der
Erbfolge ausgejchloffen uncheliche und Adoptivföhne. Der Stifter des Fidei⸗
tommijles fette den Sohn feiner Tochter, Zbigniew von Wefiersti, zum Erben
ein und beftimmte,dererjte Majoratsherr ſolle ſich Weſierski-Kwilecki nennen,
jeder folgende nur Namen und Titel der Grafen Kwilecki tragen. Wahr:
fcheinlich murrten die Agnaten fchon damals; denn das Haupt des Haufes
war nun ja fein echter Kwilecki, hatte einen Vater aus einfachem Adel und
Tonnte ihnen die Raffe verderben. Allmählich aber fanden jieTroft. Der Knabe,
den Gräfin Iſa ihrem Zbigniew gebar, ftarb früh, und als, nad) ſtandes
gemäßen Pauſen, ihrem Schoß drei Töchter entbunden waren, fehien, ander
Schwelle des Jahres 1890, neue Nachkommenſchaft nicht mehr zu hoffen,
zu fürchten. Zwar dachte der Graf noch als Fünfziger nicht an Nefignation.
Er ftrebte dem großen Muſter weiland Auguſts des Starken nach, blidte
ftolz auf anderthalb Dutend illegitimer Sproffen und frähte, wie ein von
brünftigen Hofdamen umfchmeichelter Hahn, wenn in Monte Carlo dietheu-
22*
280 j Die Zukunft.
ren Seidenmädchen von ihm fagten: Ungaillard infatigable; un mäle;
fait pour la reine Isabelle... Doch die ihm angetraute Iſabella war nicht
das Biel feiner erotischen Wünſche; mit ber ſchönen Ungenirtheit der Slachta
pflegte er zu erzählen, die Dralle Wade einer Kuhmagd reize ihn mehr als die
hüllenlofe Wohlgeftalt der Hochgeborenen Sattin. Jeder Schürze ſchnüffelte
er noch, auf den heimischen Gefilden und unter dem wärmeren Himmel der
Azurfüfte, fand, außer den vom Geſctz privilegirten, alle Genüffe ſchmack⸗
baft und feinem Vermögen erreichbar und fühlte fid) wider Recht und Sitte
gekränkt, wenn die Ehegefährtin vor Gäften und Tienerfhhaftihnein Schwein,
einen Bummler und Lumpenſack hieß. Vielleicht folgte fo unfanften Reden
mandmal ein Schäferftündchen, das der Graf nicht eingeftand, weils ihn
intereffanter dünfte, von Freunden und Buhlen fich als ftarren Weigerer der
Geſchlechtspflicht anſtaunen zulaffen. Sicher ift, daß die Ehe für zerrüttetgalt;
und als Iſas fünfzigiter Geburtstag nahte, durften die Agnaten aufathmen.
Bald würde über Wroblewo nun wieder ein echter Kwiledi herrichen: Graf
Heltor, Miecislaws Sohn, der bei den zweiten Garde-Ulanen Lieutenant ges
weien, Reichstagsabgeordneter und Seheimlämmerer des Bapftes geworden
war. Eine hübjche Ausficht. Das Gut ift zwar arg vermahrloft, bringt aber
noch einen Jahresertrag von jiebenzigtaufend Mark und wird fich unter einem
guten Haushalier, der Kapital hineinſtecken kann, ſchnell heben. Für bie
perfönlichen Schulden des Vorbefiters haftet die Familie als Allodialerbin.
‚Stirbt Zbigniew Weſierski, dann muß Iſa mit ihren Töchtern den Hof ver⸗
laſſen und Heltor, der Befiger von Kwilcz, wird Herr von Wroblemo. Allzu
zärtlich Icheinen die Beziehungen der beiden Häuſer nie gewejen zu fein; nun
mußte der Gedanke an den Beſitzwechſel ſie noch mehr verbittern. Der Majorats⸗
herr konnte freilich noch zehn, zwanzigJahre leben; erſtens aber liebt wohl ſelten
Einer den fremden Erben, der die Hausbrut vom Futternapf drängen will,
und zweitens ſtockt der Kredit, wenn die Leuze willen, daß der nädhfie Tag den
Darlehnsſucher aus der Nechtsmohnung werfen fann. Und auf Wroblewo
brauchte man immer Geld. Der Gerichtsvollzieher kam fo oft, daß Herrichaft
und Gefinde ihn traulich al3 Onkei begrüßen, und Inſpektoren fogar, Ren⸗
danten, Wanderkrämer wurden von dem Örafenpaar um Feine Beträge ange»
pumpt. Dakommt, im Lenz 1896, vom Genfer See her die unbe, Frau Iſa jet
in the family way. In Bojen, inWronte, in Kwilcz und Wroblemwo erregt
die Botschaft zunächſt nur Heiterkeit. „Die? Seit 1879 hat fienicht geboren.
Der Srafrührtfielängft nicht mehr an. Woher alio? Und vor drei Monaten
ift fie Yünfzig geworden.“ Ein guter Wıg. Am Ende, meint Herr Stephan
Kwileckis. 281
Kwielecki, hat fie das Kind in der Ohrmuſchel; jedenfalls nicht da, wo an
dere Menſchenweiber die Frucht tragen. Doch Iſa kehrt heim und beſtätigt,
von Wonne ſtrahlend, das holde Wunder. In Montreux iſts geſchehen; die
Sonne lockte friſche Triebe hervor, ich ſehnte mich nach einem Sohn, der
Graf war charmant, — und unſere Betten ſtanden im Hotelzimmer dicht
neben einander. Nach und nach wuchs ihres Schoßes Umfang; und im Kreis
der Agnaten verſtummte das Lachen. Die Gräfin war ſtets excentriſch ge⸗
weſen; die Rolle der vernachläſſigten, von Mägden und Cocotten aus der
Geſchlechtsgunſt vertriebenen Frau konnte der herriſch Stolzen nicht beha⸗
gen und ihre ungezügelte Phantafte ſcheute vor dem abenteuerlichſten Unter⸗
fangen gewiß nicht zurück. Siewird, hieß es, den alten Schwachlopf zu einem
Schwindel überredet haben und wir können erleben, daß fie ung irgendeinen
aufgelejenen Bankert ing Majorat ſchmuggelt. Verwandte, Dienftboten, De-
teftives, Beobachter aller Art werden nad) Wroblewo geſchickt. Nichts zu er-
ſpaͤhen. Iſa? Sie ſieht aus wie alle ſchwangeren rauen. Wahrſcheinlich ftopft
fie ſich ein Kiffen unter den Rock; in Paris, hat Einergehört, werden nach Maß
Gummibäuche gemacht, die ſolchen Trug erleichtern. Eine Depeſche ſchürt
den Verdacht; ſie iſt in Paris aufgegeben, ins poſener Slachtahotel an Zbig⸗
niew oder Iſabella adreſſirt und wird — zufällig? — dem Grafen Miecislaw
ũberreicht. Inhalt: Femme trouvée, mais demande trop chere. Da
hätten wir aljo die Schmuggelfährte. Iſa fit in Baris, fucht ein für die
Unterfchiebung brauchbares Kind und telegraphirt an den Gatten, die Ver⸗
fäuferin fei gefunden, fordere aber zu hohen Preis. Necherchenin Paris. Die
Hotelliften haben feine Gräfin Kwilecka gemeldet. Doppelt verdächtig: fiehat,
um hinter fich feine Spur zu laffen, ihren Namen verfchwiegen. Und leugnet,
mitmunterem lächeln, daß fiejegtüberhauptander Seine gewefen jei. Früher
warfiedort, —ja;umeinegute Hebamme zu fuchen ; darauf beziehe fich auch das
Telegramm, das für fle beſtimmt war und ihr anzeigen folite, die empfohlene
sage-femme verlange zu viel Geld. Die Erklärung wird höflich angehört,
doch nicht geglaubt; Hebammen braucht man janicht aus Frankreich zu holen.
ALS dann gar erzählt wird, die Gräfin wolle nach Italien gehen und erit zus
rüdtehren, wenn fie aus dem Wochenbett entlaffen fei, fchreibt Herr Mie⸗
cislaw einen felerlichen Warnbrief an Herrn Zbigniew. Der Verdacht, die
Schwangerſchaft ſei fimulirt, Tönne dem Herrn Vetter nicht unbelannt ge-
blieben jein; die Abficht, das erhoffte Kind der Frau Bafe im Ausland zu
entbinden, müſſe den Verdacht zur Gewißheit wandeln, denn folche Abficht
koͤnne nur aus dem Wunſch ftammen, die Geburt der Kontrole zu entziehen.
282 Die Zukunft.
Iſabella lacht. Die zärtlichen Verwandten mögen um das Erbe zittern, fie
aber, eine Bninska, mitVorfchriftengefälligft verfchonen. Sie lacht auch des
Sippengetufchels: eigentlich müffeihr Wochenbett auf dem pofener Wilhelms⸗
plat ftehen;; fonft fönne man Keinem zumuthen, das Kind als legitim anzus
erfennen. Sich unterfuchen, die Mutterſchaft beicheinigen laſſen? Das fehlte
noch. Ihr durftefein Doktor je an den Leib; undfie jollte jetzt eine Ausnahme
machen, um ben Neid zu entwaffnen? Der freut fie ja. Den möchte fie um
feinen Preis miffen. Vielleicht war der Blan der italieniichen Reife in den
Klatſchbezirken ausgehedt worden; vielleicht rieth Klugheit, ihn aufzugeben,
nachdem fein Zweck, die Agnaten zu ärgern, erreicht war. Eines Tages jagte
die Gräfin zu ihrem Hausarzt, Heren Dr. Rofinsti: „Ich reife zur Ent⸗
bindung nad) Berlin und rechne darauf, daß Sie fommen, wenn id) rufe.”
Berlin W. 10, Raiferin Augufta-Straße 74. Da, wird dem zuftän-
digen Standesamt gemeldet, habe die Gräfin Weſierska⸗Kwilecka am fieben-
undzwanzigften Januar 1897 morgens um Fünf einen Knaben geboren,
Leichte Entbindung. Die Hebamme follte eine Polin fein und doch nicht zur
Einflußiphäre der Miecislaw und Hektor gehören. Eine in Rußland bes
güterte Freundin Iſas Hatte fich, weil die Entbinderin ihrer Tochter ver-
hindert war, nach Warfchau gewandt und, durch Vermittlung einer Hotels
wirtbin, Frau Cwell gemiethet, deren Charafterbild, von der Parteien Gunft
und Haß verwirrt, in der Prozeßgeſchichte ſchwankt. Am Vorabend, als die
Schmerzen begannen, war Dr. Roſinski telegraphifch gebeten worden, nad)
Berlin zu kommen; nach der Geburt wurde die Bitte dringend wiederholt. Die
erfte Depeſche muß in Wronke über Nachtliegen geblieben ſein; beide erreichten
den Arzt erſt, als er von den Morgenbeſuchen heimkam. Um Mitternacht war er
in Berlin. Die Gräfin ſah aus wie alle Wöchnerinnen. Temperatur und Buls
normal. Noch immer die alte Abneigung gegen ärztliche Unterſuchung. Wozu?
Alles war ja glatt gegangen und eine Komplikation einſtweilen nicht zu fürch⸗
ten. Die Hebamme mißfiel dem Doktor; ſchmutzige Nägel und Cigarettengeruch
im Säuglingzimmer. Das Kind ſelbſt kräftig und auffallend hübſch. Nackt
ſah es der Arzt nicht. Es ſei eben erſt friſch gewickelt worden. Roſinski fand
weiteres Drängen nicht nöthig. Er mahnte die Czwell auch nicht zu größerer
Sauberkeit, fragte nicht nad) Urin, Bettwäfche, Nachgeburt. Und war doch,
weil er an die Schmangerfchaft nie recht geglaubt hatte, mit ftarlem Miß⸗
trauen gelommen, das Iſas Weigerung, ſich unterfuchen zu lafjen, natürlich
noch mehrte. Jetzt ſchämte er fich faſt feines Yweifels. Nicht nur, weil yrau
von Moſzezewska, Iſas Freundin, eine Dame aus vornehmen Haus, ihm
Kwileckis. 283
ſagte, ſie ſelbſt habe die Entbindung mitangeſehen. Auch ſonſt ſchien Alles
in Ordnung. Der Hausarzt, der die Gräfin ſeit Jahrzehnten kannte, hielt
fie für eine Wöchnerin, den Knaben, den er im Stedliffen ſah, für ihr Kind.
Nur Kopf und Hände fah er freilich; und im Schwurgericht3faal wurde
von Sadhjverftändigen behauptet — und von Yuriften geglaubt —, am Geficht
fönne man nichterfennen, ob ein Find geftern oder vor fünfWochen geboren
ſei. Deütter, die von diefer Sache auch Etwas verftehen follten, hoben darob
die Augen entjegt zum Himmel. Einem Würmchen, das man in Muße be-
gucken darf, nicht anmerken, ob «8 am zweiundzwangigften Dezember 1896
oder geftern, am fiebenundzwanzigften Januar, geborenward ?.. Der Haus»
arzt Schtedin froher Zuverficht von feiner Patientin. Vorher hatte er dem Kind
noch das Zungenbändchen gelöft. Nachher meldete er den unruhigen Agnaten,
er habe keinen Zmeifel, daß dem Grafen Zbigniew ein legitimer Erbegeboren jet.
Auch Andere zweifelten nicht mehr. Das Gräflein wuchs heran und
wurde der Mutter von Monat zu Monat ähnlicher. Ein echtes Bninski—
Geficht, hieß es in Wroblemo, in Wronke und Poſen; und: Die Leute hatten
wir in falfchem Verdacht. Im Agnateneckchen ergab man fidy nicht jo ſchnell.
Das Eingeftändnig des Irrthums hätte bewieſen, daß man allzu leicht be>
reit gewefen war, Verwandte um des lieben Geldes willen eines Verbrechens
zu zeihen. Und natürlic) fehlten auch die Tüchtigen nicht, die brao ſchürten,
um an dem Feuer ihr Süppchen zu wärmen. Fideikommißftreit, großes Ob-
jekt: was parafitifch zu leben gewöhnt ijt, drängt zum Mitichmaus, — und,
verſteht fich, auf die Seite der Botenten, nicht dahin, wo Onkel Gerichtsvoll⸗
zieher feine Bifitenfärtchen anklebt und irgendein Subalterneraushelfenmuß,
wenn zwei Bläulinge fehlen. Der Kwilczer ift hoch eingefchägt und fein Va⸗
ter Miecislaw, deſſen Verhältniſſe von Weiten wohl mehr als in der Näheglän-
zen, hat in GalizienreiheKtunfelmagen. Gilt auch nicht als vieux marcheur
undBruderSaufewind,wieZbigniew. Würdiger; vom ScheitelzurSohle kor⸗
rekt. Herrenhausmitglied; ſehr ftatilich und feudal⸗preußiſch joignirt ; Altwil-
heimsbart und treuer Blick unter hoffähiger Toryfrifur. Wahrſcheinlich
wurde an diefem älteften Agnaten von allen Seiten herumgefratt. Familien»
ehre auf dem Spiel; ein faljcher Dmitri im Haus der Kwileckis, die feit fünf-
hundert Jahren . .. Jedenfalls fam der Peer von Preußen bald wieder in
Bewegung. Er bat Seine Hochgeboren auf Wroblewo um eine Unterredung
„Anter vier Augen”. Rundweg abgelehnt. Zweiter Brief. Miecislaw traue
dem Majoratsrummel nicht, wolle aber, wenn Zbigniewihm das Verbrechen
der Kindesunterſchiebung offen geftehe, ſchweigen, bis Verjährung einge:
281 Die Zukunft.
treten fei. Das Heißt: um des Erbes ficher zu fein, alfoeigenen Vortheils we⸗
gen, den Verbrecher der Beitrafung entziehen. Ein recht gewagter Vorſchlag;
wäre er angenommen worden, fo hätte der Erbieter fidy der Begünftigung
fchuldig gemadjt. Allerdings einer ftraflofen; denn die von einem Angehört-
gen dem Thäter gewährte Begünftigung ift von der Strafnorm des 8 257
SGB ausgenommen. Immerhin follte ein Mitglied des Herrenhaufes ſol⸗
Ken Vorſchlag nicht einmal als Köder verwenden. Wefiersfis gingen nicht
in die Falle. Um den Schreden zu enden, Hagen fie gegen den Grafen Mie
cislaw auf Anerkennung ihres Sohnes. Terminin Bofen. Iſa mit dem Kna⸗
ben vor Gericht: der Augenschein zeigt die Aehnlichkeit Frau von Moſze zewska
beſchwört, fie jei während der Entbindung im Wohnzimmer gemweien. Nach
diefer Aussage beantragt Miecislaws Anwalt Bertagung und ſchreibt feinem
Mandanten, die Sache jcheine ihm einftweilen wenigſtens ausfichtlos. Im
nächften Termin ift der Bellagte nicht vertreten noch felbft anmefend. Ver⸗
ſäumnißurtheil zu Gunſten des Klägers. Die Agnaten haben den kleinen Joſeph
Stanis laus Adolf als Grafen Kwilecki anzuerkennen. Bon Rechtes wegen.
Inzwiſchen find vier Jahre vergangen. Die gerichtlich zum Anerfennt-
niß Gezwungenen erzählen Jedem, ders hören will, daß fie den Knirps in
Wroblewo nach wie vor für ein gefauftes Kind halten. Weſierskis figen fo
tief in der Kreide, daß fie gezwungen find, eine Bank zu fuchen, die ihnen,
gegen das Recht, das But zu bewirthichaften, eine halbwegs auskömmliche
Rente zahlt. Auch unterihren Leuten magin folcher Kalamität Mancher wohl
denken, daß es fchliehlich am Beiten wäre, wenn ber Kwilczer ins Schloß ein-
zöge. Eine langeBormundfchaftSgjabellens, die ftetS bunte Plänemachen, doch
nie rechnen konnte: Das hätte juft noch gefehlt. Die Legende war nie ganz
verſtummt. Eine Kindesunterfchiebung ift aufallen Hintertreppen ein unge»
mein beliebter Stoff. Jetzt war die Zeit erfüllt: die Mirakel fonnten begin
nen. Von der Sorte, die der ſkeptiſche Blick nicht für unerflärliche Wunder
nimmt. Sie famen, wuchien im Wandern und häuften fi. Im Civil⸗
prozeß hattedie Hebamme Kotharina Offowstabejchworen, fiehabedie Gräfin
in den Anfängen der Schwangerichaft maſſirt und fid) dabei felbft über»
zeugt, daßein Kindzuerwartenwar; bie Frau hatte biefe Wahrnehmung auch
jchriftlich befcheinigt. Bald meldete fi in Kwilcz Irgendwer, der ganz,
aber ganz genau wußte, die Oſſowska habe in einer ſchwachen Stunde aus.
geichwagt, Beugeneid und Atteft ſeien falſch. Dann trat Herr Hechelski auf
den Kampfplag. Kaufmann, Agent, Detektive; in alle Sättel gerecht. Der
wußte mehr; jo ziemlich die Hauptfache: woher Iſas Spätfrudt geholt, wen
Kiwiledis. 285
der Baftard abgefauft fei. Zu Miraleltagen gehören vor allen Dingen aber
Hyfterifche. Für fie iſts Feftzeit. Endlich darf ihr Drang, fid) wichtig zu
machen und höchft intereffant zu fcheinen, fich feſſellos bethätigen. Eine
wentgftens war im wronker Amtsbezirk fchon gefunden. Fräulein Jadwiga
Andruſzewska, Tochter einer Frau, die in Wroblewo Jahre lang Wirth:
ichafterin und Familienfaktotum geweſen war. Anſehnliche Symptome.
Hager, nervös, reizbar ; die Rede bald wie ein Gießbach, bald ftodend und ſcheu,
als verblaffe das Gedächtnigbild während des Sprechens. Mit [pigen Ellbo⸗
gen drängt fie fich inden Mittelpunftdes Grafenzwiſtes. Sacht fing es an. Un:
glaublich,wie ſie in Vroblewo behand. It werde! Zurüdgefegt,eingeiperrt,anges
fahren, geprügelt,an den Ohren gezauft. Warum? Die Gräfin fei doch fonft
nicht fo ſchlimm; ftolz zwar, doch gut zu den Leuten und gerade der alten
Andruſzewska bis zum legten Tag die gnädigfte Herrin. Ja, warum! Weil
ic) eben mehr weiß als Andere. Was denn? Na, von dem Kind. Nach und
nad) fams heraus. Mutter Andruſzewska war tm Auftrag der Gräfin, deren
Leib keine Frucht trug, in Krakau geweſen, um einen paflenden Knaben zu
kaufen. Hatte ihn auch bei einer Hebamme gefunden und, ſammt Nachge-
burt und Nabelfchnur, nach Berlin gebracht, wo er ihr von zwei Dienerinnen
aufden Bahnhof abgenommen und in die Katjerin Augufta-Straße befördert
wurde. "Die Mutter hats der Tochter anvertraut, fie aber, um nicht wegen
geleifteter Beihilfe ftrafbar zu werden, verpflichtet, den Mund zu halten, fo
lange bie Alte lebe. Alles hat Mutter erzählt. Die Gräfin war 1897 nicht
ſchwanger. Kein Gedanke! Sie wickelte fi Tücher um den Leib, hing
Schrotbentel um ben Taillengurt, war aud) in Paris, um einen Gummi:
bauch zu faufen. Und ehe fie zu der Wochenfomoedie nad) Berlin fuhr, Tieß
fte Schweine ſchlachten und nahm ſechs mit Schweineblut gefüllte Noth-
weinflaſchen mit auf die Reiſe. Damit Bettzeug und Unterlagen hübſch
röthlich feten. Bei Alledem hat Frau Andruſzewska mitgewirkt. Und Alles
der Tochter erzählt; fogar,daß die Nachgeburt in einem Steintopf von Kra⸗
kau nad) Berlin gefehafft wurde. Und auf dem Totenbett — das durftenicht
fehlen — ermahnte die Mutter ihre Jadwiga, dem Grafen Heltor Kwiledi
auf Kwilcz das furcdhtbare Geheimniß zu enthüllen. Dann ftarb fie; und
weil die Tochter im Verdacht ftand, dag Verbrechen zu kennen, wurde fie
natürlich Schlecht behandelt und weggeärgert. Natürlich? Noch natürlicher,
wird Mancher meinen, wäre der Verſuch geweſen, ein Mädchen, das Einen
ins Zuchthaus bringen kann, durch Wohlthatanfich au fetten und um keinen
Preis aus den Händen zu lafjen. Vielleicht aber dachte Iſa, mit der Aus⸗
286_ Die Zukunft.
jage einer Toten fei nichts Nechtes anzufangen. Einerlei. Die alte Andru-
ſzewska muß jedenfalls eine wunderliche Heilige gemejen ein. Sie konnte ein
Vermögen einheimfen — denn die Ausſage der Lebenden hätteden Streit fürden
Kwilczer entichieden — und haufte und ftarb in Kümmerlichkeit. Nur aus
Furcht vor Strafe? Erftend mußten Weſierskis ihr geben, was fie verlangte.
Und wenn da nicht viel zu erprefien war: dem Grafen Heltor hätte eine no-
tariell beglaubigte Ausfage genügt, die er erft nad) dem Tode der Alten zu
verwenden brauchte. Nod) Wunbderlicheres. Bis an ihr Ende fchilt Frau Ans
druſzewska Jeden, der Iſas Mutterſchaft zu befritteln wagt, einen Narren
und jchlechten Kerl: und ftiftet dann ihre Tochter, deren Zerfahrenbeit fie
doch kennt und mit der fie manchen Tanz hatte, an, daS Geheimniß nad)
Kwilcz zu tragen. Offenbar aus reinftem Rechtsgefühl. Jadwiga fchreibt
Alles auf; was ſehr nützlich ift, denn ihr Gedächtniß vermag nicht einmal
Erlebniffe fefthalten, die, man darfes wohl, ohne zu übertreiben, fagen, nicht
ganz alltäglich find. Schwarz auf Weiß kommt die Geichichte in Hechelskis
bewährte Hände. Der recherchirt, fombinirt, eruirt und bat ſchnell alle Ketten-
glieder am blanfen Schnürchen. Das Pfeudogräflein heißt Xeo Barcza und
ift von einem öfterreichiichen Hauptmann im Schoß der jett dem Bahn-
wärter Meyer angetrauten Caecilie gezeugt und die wirkliche geheime Mutter
hat den Jungen, den fie fünf Wochen nach der Geburt für Hundert Gulden
weggab, nach dem Bilde als ihr Kind refognofzirt. Die Stimme des Blutes!
Auch die krakauer Zwiſchenhändlerin hat Hechelski ermittelt. Leider ift fie
ſchon tot. Wie die Czwell und die Andrufzemsfa. Doch Hechelstis Genie hat
Leichenſcheu nie gelernt und weiß, daß Tote fehr beredt feinfönnen. Hechelski
forscht, verspricht, droht, ift nirgends und überall und läßt jich, ein Ritter
der Wahrheit und Legitimität, von Heltor nicht vielmehr als feine Auslagen
erjegen. Andere Helfer melden ſich, gewiß vom Beifpiel felbftlofer Bürgers
tugend angelodt, und neue Spur taucht aus dem Dunkel. In Baris hateine
Dame, diemit ausländischem Accent ſprach, thatfächlid) 1896 einen Gummi⸗
bauch beftelit und gefauft. In Paris hat ungefähr um die felbe Zeit eine
Dame bei einer Hebamme ein Kind zu faufen gefucht. Solche Gefuche find
dort nicht ganz felten und dem polizeilichen Aufruf antworteten denn auch
prompt etwa zwanzig Entbinderinnen, von denen Säuglinge zur Adoption
verlangt worden waren. Doc) eine Sucherin hatte un accent allemand —
daß die parifer Unſchuld Deutjche, Rufjen, Polen nie an der Sprache erfennt,
ift über jeden Zweifel erhaben —: warum alfo ſolls nicht die Selbe geweſen
fein, die fich die Mutterfonturen aus Gummi anmefjen ließ? Nach der Heb-
Kwilecis. 287
amme die Waſchfrau. Die bezeugt, daß fie vorn im Hemde der Gräfin wäh:
rend der angeblichen Schwangerfchaft einen Blutfled gefunden habe, dernur
von der Menftiuation kommen konnte. Ratamenien; alfo nicht in der Hoff-
nung. Auch Dienfiboten wollen Menſtrualblutſpuren gefehen haben. Mira:
fel über Mirakel. Frau Oſſowska, die früher felbft Schon in Gemüthsruhe
eine Kindesunterſchiebung arrangirt hat, erliegt der Gewiſſensfolter und be-
fennt, daß fie der Gräfin ein falfches Atteft ausgeftellt und in Poſen, ohne
angeftiftet zu fein, einen Meineid geleiftet habe. Kadwiga Andruſzewsta und
Katharina Oſſowska: Das ift viel. Mindeftens zwei neue Thatfachen, diezur
WiederaufnahmedesBerfahrenshelfenkönnten. DazuKrakau, Caecilie Meyer,
die Stimme des Blutes(auch des in Nachthemden gefundenen), die pariſer Polin
mit dem deutſchen Accent: über Wroblewo zieht ſichs dräuend zuſammen. Und
ſchließlich meldet ſich auch noch ein Trofchkenkuticher, der 1903 ganz genau
weiß, daß er am ſechsundzwanzigſten Januar 1897 zwei grauen, die er nad)
der Sprache für Polinnen hielt, von der Kaijerin Augufta-Straße nad) dem
Schleſiſchen Bahnhof und, nad) langer Wartezeit, wieder zurücgefahren hat.
Die Eine hielt die Arme unterm Mantel und ſchien Etwas zu verbergen.
An dem felben Tage aljo, wo dag in Krakau gekaufte Kind nad) Berlin ges
bracht worden war. Nun fehlte Fein Glied mehr in der Kette. Frau An⸗
druſzewska war mit der Amme, die den Knaben unterwegs fäugen mußie,
auf dem Schlefifchen Bahnhof angelommen und von zwei DienerinnenYias
empfangen worden, denen fie Kind und Steintopf übergab. Den Topf in
den dazu mitgebrachten Handkoffer, das Kleine in einem Körbchen unter
den Diantel: nach Hauſe! ... Hechelsfi als Triumphator. Ein lückenloſer
Beweis. Graf Miecislaw Kwilecki, Mitglied des Herrenhaufes, hatte die
Staatsanwaltichaft aufgefordert, in Sachen c/a Weſierski⸗Kwilecki und Ge-
nofjen energiich und ohne Anfehen der Perfon vorzugehen. Das geichah.
Hinreichender, bald danach dringender Verdacht. Vorunterſuchung mit un-
zähligen Zeugen. Die Anklage wurde erhoben, das Hauptverfahren eröffnet.
Zuerft war die Gräfin, dann aud) Zbigniew verhaftet worden.
Da figen fie. Beinahe ſchon heimisch auf der Marterbank der Ange-
Hagten. Seine Hochgeboren nicht gerade überwältigend elegant. Grauer
Salkkoanzug und gelbeSchuhe. Für den Schwurgerichtsjaal fonnte er mehr
leiften. Schlotterige Haltung. Die Sprache faft unverftändlich. Zahnlücken
oder Schwere Zunge. Aber er füllt feinen Typus aus, wie die Franzoſen jagen.
In Schönheit verlüdert. Manchen Sturm erlebt, manche Demüthigung
hingenommen. Doch der Ton des Wefens Hingt nicht Schlecht. Und wenn er
288 Die Zukunft.
nachdenklich die grauen Eotelettes ftreicht, iftS, mit dem müden, aber Hugen
Auge, ein vornehm verwitterter Herr, ber fich an vielerlei Kulturen gerieben
bat. Wenns auch oft nur Courtifanenkultur war: beſſer als keine. Die Riviera
. batihreeigenemimiery. Der Herrvon Wroblewo ſieht garnicht polniſch aus,
tönnte, fo wie er ift, durch einen Schwank von Biſſon, eine ſanfte Satire von
Donnayfchreiben. Ob8 wahr fei, wird er gefragt, daß er Verhältniſſe gehabt
habe. In Gegenwart der Gattin, ineinem überfüllten Gerichtsfaal, als Ange-
Hagter. Ganzleifehebterden Kopf. Ganzerftaunt. Dan fühlt, wiedieBrauen
fih hodhzichen. „Warum jollich feine Verhältniſſe haben?“ Ancien regime.
Wird heutzutage natürlich ausgelacht; mit der Nuance tieffter Verachtung.
Solche Sittenlofigfeit! Nicht mal der Heucheltribut, den das Lafter der
Zugend ſchuldet Zbigniew aber denkt wohl: Was fällt den Leuten ein? Daß
ſie mich eingeſperrt haben und mich eines Verbrechens anklagen, muß ich
dulden. Was aber gehen denn meine Amouren ſie an? Bilden ſie ſich gar ein,
ich würde vor Ihnen kriechen, Keuſchheit oder Reue mimen?... Keine Spur
von Pofe. Nichts von der Suggeftion, bie in ſolchem Käfig jo leicht den
Willen lähmt, dieWürde duckt. Meiftfigt er weit Über die Brüftunggebeugt,
beide Hände als lange Schalftrichter an den halb jchon verfagenden Ohren,
und laufcht. Laufcht einer höchſt merkwürdigen, verworrenen, abenteuer-
lichen, an Boulevardinelodramen erinnernden Geſchichte, der man zuhört,
weil man nun einmal da ift, die Einen aber nicht näher berührt. Fabel⸗
- Haft, was folchen Lieferanten de8 Ambigu heute noch einfallen kann. Grä⸗
finnen, Hebammen, Schweinemäöchen, Blut in Medocflafchen, angeklebte
Nabelſchnurſtückchen. Nicht zu glauben... Manchmal iſts dann, als zer»
rijje vor dem inneren Auge ein Wölfchen und der Yaufcher befönne fi: Du
fpielft ja mit, haft die ſehr undankbare Hauptherrenrolle und das Städ kann
bös enden! Das dauert nie lange. Ancien regime. Wie in Goncourts
Patrie en danger: man jpielt im Gefängniß Karten, bi8 man auf ben
Henterslarren gerufen wird, macht ben legten Stich, verabfchiedet ſich artig
von den Standesgenofjen und geht unters Fallbeil. „Schade, daß idy nicht
länger den Vorzug hatte. Bitte, mich angelegentlich zu empfehlen.” Das
Gewimmel da unten kann Einem den Kopf, aber nicht das Gefühl inniger
Geringfhätung nehmen. Auch diefe Menſchenſorte Hat Reiz und Raſſen⸗
werth; und Graf Weſierski⸗Kwilecki ſcheint nicht ihr übelftes Exemplar. Ich
glaube nicht, daß er den Richtern fo leichtwas vormeinen würde wie ber Pom⸗
mer Wilhelm von Hammerftein, den feine Leute doc) „ftarknervig“ nannten.
Mitwirken mag das Bewußtjein,nicht vor Volksgenoſſen zu ftehen, ſondern vor |
Kwileckis. 289
a ben fremden Eroberer, dem man, ſolange es irgend geht, nur die Faſſade zeigt.
Dieſes Bewußtſein, dieſer Ini jegten hat dem ganzen Prozeß die be⸗
ſondere Farbe gegeben.. KRETA
tuß der Verhandlung. Ehe die Auffeher die Angeklagten abführen, fteht
er auf, bückt ben langen Oberleib galant herab, faßt und füßt die Hand feiner
Frau. Mit der er beinahe ein Jahr nım fein Wort wechjeln durfte. Deren
excentriſches, verbrecherifches oder TranthaftesWefen ihn hierher gebracht hat
und mit deren Schimpfreden er auch hier noch gepeitfcht und zum lächerlichen
Bantoffelgelden gemacht wird. Unddieertrogdem bewundert. Wenigeachten
drauf; und das Schauspiel lohnt doch. Vor einem Stanislaus fönnte, in
Warſchau, der Abfchied nicht graziöfer und ceremonidöfer fein. Manweißeben,
was ſich gehört, und hat vor dem Feind Polens Würde zu wahren.
Bequem ift der Handkuß nicht. Denn zwiichen Iſa und ihrem Ehe-
herrn figt, auf dag die Haupibeſchuldigten nicht durch Beichenfprache oder
gehauchte Silben mit einander verfehren, Frau Katharina Oſſowska. Recht
behaglich, feine Todfeindin halbe Tage lang neben fich zu haben. Und welche
Larve! Halb Fromme Helene in hohen Semeftern, halb Wolfſchluchtviſion.
Ein Geficht, das dem Schöpfer nichtfertig gemorben ſcheint. Die Naſe nur an-
gedentet. Syn den Augenhöhlen etwas Glimmerndes, das gleich zu erlöfchen
droht. Dünne, ausgeblichene Haartrefjen ; wieeine Karilaturauf die für Hold»
heit bezahlte Cleo von Belgier: und Kongoland. Dürrundhartedig. Nichts von
den Malen der Weiblichkeit. Niemand würde dem Spufgebilde das zarte Ge⸗
wiſſen zutrauen, das freiwillig Kreuz und Zuchthaus auf fi) nimmt. Frau
Oſſowska hats. Lieber das Aergfte leiden, als die Meineidsſchuld noch weiter
Ichleppen. Der Schwurgerichtspräfident glaubts ihr und läßt Milde walten,
wenn fle einen ihrer Anfälle belommt. Denn diefe Märtyrerin ift nicht von
der fanften Art; Satanas ift noch betrübend mächtig in ihr. Sie nennt Zeus
gen Lügner und Säufer, pfaucht eine faſt Achtzigjährige an, die hinter ihr
im Sünderwintel fit, und wird dann glimpflid) vermahnt. „Vorbei! Vor-
bei!” Mephiſto felbft würde in diefem fahlen Gehäufe nicht lange weilen und
ſchickt wohl die Kleinften von den Seinen. Dann hockt nod) die Alte da, mit
dem Alleweltgeficht einer freundlichen Schaffnerin, die Penelopen und Do⸗
rotheen gedient haben fönnte; und ihre Tochter: ftumm, ftumpf, eine Slavin
und Sklavin ohne eigene Phylioygnomie. Und ganz vorn, dicht neben dem
jüngeren Staatsanwalt, Gräfin Iſa Wefiersta-Kwileda, geborene Bninska.
Hat man draußen vorher den Kleinen gejehen, to ift der erjte Trieb,
lachend aufzufchreien: Was wollt Ihr denn Alle? Desift Die Mutter! Wer zu
240 Die Zukunft.
amtlichem Gutachten berufen ward, mag zaudern und klauſuliren: von jeinem
Spruch hängt jadas Uriheilineiner Sache ab, die ſchon Unfummen verichlun:
gen bat und anderen Ende eine gamiliengruft dräut. Der Unbefangene wird
finden, daßer felten nocheineralten rau ein Kind fo ähnlich fah. Einer alten
Tran. Iſa iſt ſchneeweiß. Und jetzt auch ſchon müde. Der zehnte Haftmonat, die
dritte Verhandlungwoche. Sie regt ſich kaum noch. Am erſten Tag wars an⸗
ders. Da hatte ſie Charme, Leben, die Grazie der Herzoginnen aus Roloko⸗
büchern; auch, wie dieſe nic Welkenden, nieAbrüftenden, den Muth und den
Humor, fi) felbft ironisch zu nehmen. Trogdem ihr Deutſch mangelhaft ift,
war beinahejedes Wort gut, das fie Sprach; gut, weil menfchenverftändig und
aus einer gewiſſen Diftanz gefprodyen. Sinn für Alkuſtik. En Herr, derbe,
hauptet, Franzoͤſiſch zu können, und deshalb als Dolmetſcher beftalltift, quält
ſich mitdem parifer Deteltiveam Beugentifch ab. Paris: alfo Kinderfucheund
Oummibaud. Die mittelgroße Unbefannte, wir wiſſens fchon, Hatte einen
deutſchen Accent. Langwierige Erörterung, wie der ſich vom polntichen wohl
für den Franzmann unterfcheide. Endlich fteht Iſabella auf; wie ein Sou⸗
brettenſchmunzeln gehts über ihr Geſicht; fie führt die Lorgnette vors Augeund
fragt, franzöſiſch, den Seineſpitzel, der in Moabit ungemein reſpektirt und
ernſt genommen wird: „Spreche ich ungefähr jo Franzöſiſch wie der Herr,
der Ihre Ausſage überfegt?“ Dit einem Hohn in der Stimme, der durch
Guirlanden ftiht; und der denn auch unbemerkt bleibt. Sie redet faft nie,
läßt Freunde und Feinde erzählen, was ihnen beliebt, verzieht keine Miene.
Thut auch nicht prude, nicht damenhaft empört und marfirt beim Anblid
des Knaben feine Weuttergefühle. Das überläßt fie Frau Meyer. Mauvais
genre. Nur als fchon cine Stunde lang von ihren blutigen Hemden geredtt
iſt — mo die Flecke waren, ob auch ſicher von Deenftrualblutoder vielleicht von
Hämorrhoiden —, wird ihr zu. . bunt: fie rüdt den Stuhl und hält die
Hand vor die Augen, bi& auf die Wäſcherei endlich der nächſte Hebammen⸗
klatſch folgt. Und gleich danad) lacht fie wieder wie ein Mädchen beim erjten
Walzer. Die hohnothpeinliche Frage: Schwangerſchaft oder Schrorbeutel?
Ein paar fine Damen, Mütter, Sroßmütter, haben mit größter Entſchieden⸗
h:it befundet: Die Gräfin war „in anderen Umftänden“. Das kennt Unſer⸗
eins doch Alsein Symptom wird Anſchwellung der Händeermwähnt. Die Graͤ⸗
fin, jagt der Zeuge Nofinsti, litt an Gicht und hatte oft geſchwollene Hände.
Das beweijtaljo wieder nichts, meint der Präjident, will das gute Zeugniß noch
heller beleuchten und fordert Roſinski auf, mal zu ſehen, ob die Schwellung
nicht am Ende auch jetzt da iſt. Der Arzt zögert eine Sekunde. Er hat ſeiner
Kwileckis. 291
Patientin eben fo ziemlich das Schlimmfte nachgeſagt. Dann geht er hin.
Und Sa, als ſei ein beiferer Wig ihr nie zu Ohren gelommen, ftredt ihm,
mit übermüthigftem Lachen, die Hände entgegen. Nein; fie find nicht ge:
ihwollen... Die Frau ift nicht gewöhnlich. Sie muß ſehr ſchön geweſen fein
und hat noch heute einen perfönlichen Zauber, der ihr mehr nügen konnte als
der beredtefte Advolatenmund. Als die Verhandlung begann, war, außer
den Bninsfis, im Zufchauerraum faft Alles überzeugt: eine Verbrecherin.
Am Ende der erften Woche hatte fa die Mehrheit gewonnen. Ohne viel zu
reden. Sie hat Stil. Die Gevatterin nebenan ift für fie Luft. Und wenn fie
gegen Abend abgeführt wird, glaubt man, eine verblühte Marie Antoinette
in den Kerker fchreiten zu fehen. Das ifts: ihr Stil ift Rokoko. Ihres und
ihres Mannes, fo verſchieden die Beiden in Blüthe und Kern jind. Wahr-
fcheinlich wurde es ihr Verderben. So lebte, fo tändelte, zankte, fofte man, al3
der Adel allein Menſchenrechte beſaß; und Herrenrechte. „Warum jollich feine
Berhältnijje Haben?” Warum follich rechnen, ein Grafenkind, dem Krämer,
der Hausmagd ind Handwerk pfufchen? Nobel Geld ausgeben, die beften
Manieren und geniale Einfälle haben, die auszuführen Sache der Roture ift;
Muſik, Geſelligkeit, Hübfche Frauen. Rokoko. Und obendrein mit der jarma-
tiichen Neigung ing wildeſte Barod. Vorbei! Vorbei! So läßt ſich bei Wronte
nicht mehr Yandmirthfchaft treiben. Der jähe Klimawechſel verfcheucht auch
empfindliche Freunde leicht. Nur ſoll man nicht glauben, Das jei Polen. „Pol⸗
nische Wirthſchaft“ ift ein billiges Schlagwort; paßt aber längft nicht mehr,
blendet nur und drängt zu Ueberhebung, mitder die, Hebung des Oſtens“ nicht
zu leiſten iſt. So war die Slachta, als Mickiewicz ihr ſang. Heute baut ſie
Fabriken, meliorirt, kultivirt, ſpekulirt, folgt dem Beiſpiel des engliſchen
Adels, hält Ordnung, ſchickt ſich in die Zeit, — und iſt deshalb gefährlich;
nur deshalb. In Warſchau und Lodz, in Lemberg und Krakau ſollten die
Germaniſatoren polniſche Wirthſchaft ſtudiren. Kwileckis ſind Rokoko.
Drüben, auf den Zeugenſtühlen, ſitzt ſchon moderneres Polen. Zbi—
gniew und Iſabella hättens nicht fertig gebracht, in einem preußiſchen Ge⸗
richtsſaal Tage lang, Wochen lang zuzufchen, wie man ihren Verwandten
den Prozeß macht; einen Prozeß, der ins Zuchthaus führen foll. Graf Mie-
cislaw und feine Gattin bringens fertig; und fcheinen nicht darunter zu Ici-
den. Und Graf Hektor, Ulan, Bapftlänmerer, ReichStagsabgeordneter,ftreng:
gläubiger Junker, gejchmeidiger Prozeßregiffeur und ein Geſchäftsmann, der
aufden Pfennig berechnet, was erdem Anwalt, Agenten, Ausſpäher zu zahlen
hat: fo viel, doch nicht mehr... Ein Mann, der in die Welt paßt. Wer dieſes
294 Die Zukunft.
Üeberblidt man den Weg, den der Menſch zurüdgelegt bat, feit er
als Menſch zu denken und zu fchaffen begann, dann wird man bei allen
Volkern erlennen, daß nicht mit Hilfe der Gewalten, die als Gott ober
Bötter gefürchtet oder geliebt wurden, fondern trog Furcht und Angft vor
berfinnlichen Mächten der Menfch ans eigener Kraft manden Markſtein
erreichte. Trotzdem bebt auch der moderne Staat, deſſen Zwed doch vor
Allem in der Bewältigung großer Kulturaufgaben befteht, davor zurüd, die
Zuchtruthe kirchlicher Höllenfurcht fallen zu laflen. Lieber will er felbft dem
Einfluß der Priefter unterliegen, als auf da8 alte Schredmittel der Angſt
verzichten. Man bat die chriftlichen Kirchen und die von ihnen aufgebrungene
Moral mit einer Paliffade von Gefegesparagraphen eingezäunt, um fie zu
fügen, wie die antiken Götter durch menfchliche Berichte vertheidigt wurden,
fobald die Heilige, dem Glauben entſproſſene Scheu vor ihrer Herrlichkeit nicht
mehr ausreichte, fie für unantaftbar zu halten. Noch immer giebt es Berurtheil-
ungen wegen Gottesläfterung, Strafen für Handlungen, die nur der kirchlichen
Moral, aber nicht der Natur widerfprechen, und heute wie feit Jahrhunderten
greift die geiftliche Gewalt ungeftraft, fogar begünftigt in weltliche Angelegenheiten
ein. Aber der Nachdrud, womit die Staatögewalt vieler Länder ben Werth
und die Nothwendigkeit der Kirche öffentlich verlündet, erinnert an den Aus
fpruch, den Feuerbach während der großen Reaktion zu Mitte des vorigen
Jahrhunderts that: „Was ift das ficherfte Zeichen, daß eine Religion feine
innere Lebenskraft mehr befist? Wenn ihr die Fürften der Welt ihren Ar
bieten, um fie wieder auf die Beine zu bringen,“
Für die Zeitgenoffen felbft tritt diefe tiefe Wahrheit nur ſchwer deuiliqh
zu Tage, denn jede Firchliche Macht, jede veligiöfe Ueberzeugung ſcheint äußerlich
gefeftet und innerlid) unüberwindbar zu fein, fo lange der Staat gezwungen
ift, die Dienfte ihre8 Büttels zu verrichten. Aber wenn man erforfcht, warum
er die firchlihen Lehren mit feinen Gefegen fchirmt und durch feine Ver-
treter im Bruftton der Weberzeugung immer wieder ihren Werth für die
Menſchheit öffentlich verkünden läßt, zeigt ſich als wahrer Grund biejer
Bemühung die Angft, daß die Kirche in ihrer jegigen Geftalt ohne Schutz⸗
maßregeln an ihren Schäden zu Grunde gehen muß. Sie bedarf des
ſtaatlichen Schwertarmes; deshalb haben e8 ihre Reiter für gut gefunden, einen
Kompromiß, ein Schutz- und Trugbündnig mit der weltlichen Macht zu
fliegen. Die Schäden aller hriftlihen Kirchen Liegen aber in der Feind—
fchaft gegen Kunſt und Kultur, in dem Widerfprucd, der die Lehre der Eut-
fagung von dem Drang nad) Schönheit und Lebensgenuß fcheidet und die
ftarren Dogmen von dem Verlangen nah Fortfchritt auf allen Gebieten.
So lange der Priejter mehr gilt al8 der Künftler und der Krieger höher
geachtet ift al& der Erfinder, wird freilih ber Heerbann der chriſtlichen
Kunſt, Kultır, Kirche. 295
Orthoborie eben fo zahlreich bleiben, wie e8 der Heerbann der antilen Götter
war, fo lange fich die römischen Kaifer öffentlich zu ihnen befannten. „Das
Chriſtenthum entfland, um das Herz zu erleichtern” fagte Nietzſche. „Uber
jest muß es das Herz erſt befchweren, um es nachher erleichtern zu können.
Folglich wirb e8 zu Grunde gehen.“
Die modernen Menſchen wollen nicht8 mehr won den Kompromiffen
hören, mit denen Zweifel bisher befchwichtigt, Räthſel als unlösbar bezeichnet,
Beweiſe als erbracht angefehen wurden. Theologen und Philofophen können
nicht mehr vor ber ftaunenden Menge auf bem Schangerüft Ichöner Worte
klettern und mit Phraſen ober Spipfindigfeiten täuſchen. Die Welt will
nicht mehr eingefchläfert und geiröftet werden: fie will leben, ftatt zu hoffen,
da3 Erreichbare genießen, flatt das Unerreichbare zu erwarten. Bon der
Kultur verlangt fie, daß die Entdedungen der Wiflenfchaften dem täglichen
Leben bienfibar gemacht werden und daß die Menfchen endlich fähig werben,
auch ohne Furcht vor ewigen Strafen ji in einander zu fchiden und in
eine Moral zu fügen, die ein gemeinfames, angenehmes Dafein ermöglicht.
Der kirchliche Grundfag, daß der Menfh in Sünden empfangen und
geboren jet, hat noch niemals eine That der Kultur, eine That der Schön:
beit gefchaffen. Und er ift das Fundament der Religion, aus der jie ihre
ganze Berechtigung herleitet, ihre ganze Macht entwidelt hat. In der Heilig:
feit ber Liebe beruht die fiegreiche Größe, die unüberwindliche Kraft des
Menfchenthumes; in ihren Flammen fprüht auch der einzige „göttliche Funke,
der in uns die Luſt entzündet, etwas Schönes, noch nie Dageweſenes zu
ſchaffen. Selbft die antiken Pelfimiften ehrten die Liebe als eine fchöpferifche,
Kultur anregende Gewalt; und einer ber größten aus ihrer Zahl, Empe⸗
dofled, fah auf der großen Wiefe des Unheils nur eine einzige heilbringende
und boffnungvolle Erfcheinung: Aphrodite, in deren Schönheit er die Bürg-
haft erfannte, daß der Streit nicht ewig Herrfchen, fondern einem milderen
Dämon einmal das Szepter überreichen werde. Wie zum Hohn nannte bie
Kirche ihr Chriſtenthum die Religion der Liebe. Iſt der See von Menſchen⸗
blut, den fie forderte, ein Teich der Liebe? Iſt das Gefängniß, das ihr Ge:
bot aus der Erde machte, ein Raum, in dem Liebe gedeihen kann? Die
Liebe, in deren Namen ftille, friedliche Menſchen mit Feuer und Schwert be
fehrt worden find, ift nur ein furchtbares, fleifchlofe8 Totengerippe, das bie
Senfe in der Hand hält ftatt eines Schlüffel3 zum Leben. Unter den Laftern,
die dem Menſchen als Exbiheil feiner Entwidelung von Natur aus anhaften,
it Grauſamkeit eins der fchlimmften. Das Kind ift grauſam wie das Thier;
erft das Bewußtſein der Kulturaufgabe, das Berftändnig für Schönheit und
Güte können den erwachfenden Menſchen aus ben Klauen diefes Dämons
löfen. Die Kirche behauptet wohl, daß ihr fegenreicher Einfluß alle Leiden:
235%
296 Die Zuhmft.
ſchaften befänftige und befonders die Grauſamkeit unterdrüde, aber wenn
eine beihwörende Stimme in die Vergangenheit dringt und Schatten herauf
zuft aus der Kirchengefchichte, fo fteigen vor unferen Augen Verbrecher empor
in unabfehbarer Reihe, die im Namen Gottes morbeten und brannten, Kriege
führten und Urtheile fällten. Herzog Alba und Guſtav Adolf, Torquemada
und Calvin, katholifche und proteftantifche Priefter überboten einander in grau
famer Unduldfamleit und fäten Zwift, weil ihrer Lehre jeder Friede aufer
bem Frieden bes Grabes unbegreiflich erfchien. In den ausfichtlofen blutigen
Kriegen, in den an Geift armen geiftlichen Fehden, bie unter Chrifti Banner
die Anhänger der verfchiedenen Kirchen ausfochten, fchienen bie Fadeln von
ultur und Kunſt zu verlöfcen, wenn ihre Träger auch noch fo oft ver:
fuchten, fie am heiligen QTempelfeuer der Antike wieder in Brand zu fegen.
Berblendet ftehen noch heute gar Viele zu Füßen der Kanzel und lauſchen
andächtig auf die Worte des Haffes, weil fie wie Liebe klingen. Sie wollen
nicht darüber nachdenken, fie wollen blind und taub eingelullt fein, wie die
Väter und Ahnen. Ya, e8 ift wunderbar — wie Novalis ſchon faft vor
einem Jahrhundert ſchrieb —, „daß nicht längſt die Affoziation von Wolluft,
Religion und Graufamkeit die Menfhen aufmerkſam auf ihre innige Ber
wandtſchaft und gemeinfchaftliche Tendenz gemacht hat.“
ALS jüngft in einer Gefellfchaft freidenfender Menſchen Jemand dit
Behauptung aufitellte, dag die Anweſenden, wenn fie am Anfang umfen
Zeitrechnung gelebt hätten, wohl Ale Chriften gewefen wären, erwiderte Ein
mit Niegfches Worten: „Sobald eine Religion herrſcht, hat fie all Die za
ihren Gegnern, welche ihre eriten Jünger gewefen wären.“
Sit e8 der Geift des Widerfpruches, der in kräftigen Naturen gem
auflodert, oder ift e8 ein Beweis, daß eine Religion, eine Kirche, die zit
Herrſchait gelangt ift, ihren Zweck erfüllt Hat und jungen, auffpriegenden
Feen Raum geben mug? Die Antwort auf diefe Frage liegt in der Ge
ſchichte der Kunſt, die als höchſte Blüthe unferer Entwidelung nicht nur aus
dem tiefen religiöfen Bedürfniß der Menfchyeit hervorging, fondern auch aus
dem Zuſtand der allgemeinen Kultur. Die Kunft fuchte immer in den Er
ſcheinungen das ewige Geſetz, den göttlihen Lebensfunken mit gläubiger
Ahnung zu entdeden und darzulegen. Ihre Propheten empfingen die Ein:
drüde aus der Zeit, geſtalteten ſie, Jeder auf ſeine Weiſe, wirkten wechſelſeitig
auf einander und gaben dem Gewerbe, dem Geräth, der Tracht die Vor⸗
bilder oder doch die Geſchmacksrichtung. Wenn dann der felbe Sinn in de
bäuden und Bildwerken, in der reichen Eymphonie und im einfachen Kied.
im Gedicht und von der Bühne aus ich geltend machte, fo mußte er ſich
anfangs nur der gebildeten und dann, immer weitere Kreiſe ziehend, der
breiten Maſſe bemächtigen. Selbſt das unmittelbar Religiöſe der Naturauf⸗
Kunft, Kultur, Kirche. 297
faſſung, ob num die Welt als zufällige Spiel von Kräften betrachtet oder
ob das Walten eines höheren Weſens darin wahrgenommen wurde, ſprach
fich immer in den Werken der Kunft auch dann aus, wenn fie nicht „heilige”
Gegenftände behandelte. Klug, wie fie von je her waren, Tiefen aud die
Lenker der chriftlichen Kirche die große, nachhaltig wirkende geheimnißvolle
Kraft der Kunft nicht unbeachtet und fuchten fich ihrer zu bedienen, von nur
wenigen innerlich verrohten Kirchenvätern und Reformatoren abgefehen. Aber
die Kunſt kann auf die Dauer nicht lügen. Nur fo lange fie zu ihrem Be
ftehen der innigen Gemeinſchaft mit ber Kirche bedurfte, blieb fie im chriftliche
firchlichen Sinne religiös: Duattrocento. Die Kunft gleicht einer Sprache,
bie das Bewußtſein vorausfett, daß fie verflanden werde, und richtet ſich
daher nothgedrungen nach der Aufaffungweife Derer, zu denen fie ſpricht.
So mußte fie, als man in ber niedergetretenen Antile von Neuem Führer
des Lebens und Beifpiele der Schönheit erkannte, das Feld ber chriftlichen
Legende und bes Dogmas verlafien und wandelte auf eigenen, von Schu
beit gejchmüdten Bahnen. Ihre berühmten Werke waren unchriftlich ober
wenigftend unfirchlich, felbft wenn fie chriftliche Namen tingen. Naffaels
Madonnen find ein heiliger Ausdrud rein menfchlicher Mutterliebe, Michel⸗
angelo8 nadte Titanen fprechen von allem Anderen als von chriftficher Des
muth. Der Zwiefpalt zwifchen Leben und Kunſt auf der einen und Kirchen-
glauben auf der anderen Seite füllte die fommenden Jahrhunderte aus, in
benen ſich der Sieg Bald einer „Aufflärung“ zuneigte, bald einer „Reaktion“.
Aber wenn diefe auch noch fo weit ausgreifend ihre fchwarzen Flügel über
die Völker fpannte: es gelang ihr nicht wieder, eine vollempfundene naive
riftliche Kunft aufleben zu laffen, denn fie war kein Ausfluß überwältigender
Gefühle, jondern ein Rückſchlag alteingefefiener Gewalt. Die Kunft, in ber
bie feinften Schwingungen der Dienfchenfeelen wieberklingen, fand keine Stoffe
mehr in einer Xehre, die, aus der Weltanfchauung eines fremden Volfes ent-
flanden, ihre Kulturaufgabe erfüllt hatte und nicht mehr Führerin bleiben
konnte auf neuen, unbetretenen Bahnen. Die wahrhaft religiöfe Kunſt war
bereitö erjchöpft, als Naffael die vatifanifchen Zimmer malte; fie konnte nur
refleftirende, nicht mehr naiv empfundene Werke heroorbringen.
Die Kunft ift das große Barometer, das die Strömungen bes Geiftes
anzeigt, ehe fie zu allgemeiner Herrfchaft gelangen. Die Freude am Schönen,
die jubelnde Luft, mit der natürliche Dinge wieder als natürlich empfunden
und ausgefprodhen werden, Tünbdet die Richtung, in der die Kunſt der all«
gemeinen Kulturentwidelung ahnend vorangeht.
Die Berfuche find wohl noch taftend und die frifch entzündete Leuchte
Nadert no unruhig in der Dämmerung des neuen Tages; aber die Werfe
werden doch immer häufiger und bemerkenswerther, in denen fich der jugend⸗
298 Die Zukunft.
frohe Geiſt gegen die veralteten Begriffe auflehnt, bie gleich Fefleln . feine
Schwingen hielten. Nichts darf auf heiliger Höhe unantaftbar thronen, nur
weil e8 frühere Generationen angebetet haben. Das Wort des Carteſius:
„Mein Denken ift mein Sein“ muß endlich über Luthers Wort triumphiren;
„Dein Glauben ift mein Sein.“ Mit einem folgerichtigen Denlen ver-
fchwindet der negative, religiöfe Geift und giebt ber Ehrfurdt Raum, die
wir vor der irbifchen Natur und ihrer Größe haben müſſen. Weil die Kirche
einen Unterfchied zwifchen Geift und Materie, Gott und Melt, Ueberfinn-
lichem und Sinnlichem gefchaffen hat, wurde fie zu einer dem Leben feind=
lichen, negativen Religion, die Alles für eitlen, verderblichen Tand erflärte,
was Freude, Schmud und Glüd ind Leben brachte.
Wandelbar wie ein Chamäleon, konnte fie fich allerdings in Vieles
fhiden und dank ihrer Anpafjungfähigfeit manchen Angriff überwinden, ber
fie ins Herz getroffen zu haben fchien. Der Geift des Menfchenthumes
treibt einer umbefannten Vollendung entgegen, für die immer neue Yähig-
feiten auögebilbet, immer neue Kräfte entdedt und bezwungen werten. Ein
Glaube, defien Kern in dem Vers de8 Johann Amos Comenius enthalten
ift: „Du lerneſt, Liefeft, fchreibft und gleichwohl kommt der Tod, ftudire Jeſum
felbft, dies Eine ift Dir Noth“ hindert diefe Entwidelung, fobald alle Be—
griffe, die der Name Jeſu zufammenfaßt, tief genug ergründet find, um neue
Auffchläffe unmöglich zu machen. Aus dem Begriff der Exrbfünde entpuppte
fich die Lehre von der Förperlichen Vererbung und das Erlöfungbedürfniß der
Menfchheit Härte fich zu dem gewaltigen, unaufhaltfamen Trang nach Wifien,
das fein Genügen findet im Ahnen und Glauben.
Der große Pan ift aller Wunder mächtigfter Yeind. Die Natırr:
erkenntniß räumt mit allen übernatürlichen Offenbarungen gründlid auf und
die Kunft, die außer Schönheit auch Wahrheit ausdrüden will, verſchmäht
die kühle Allegorie, die nicht mehr Empfundenes nur noch mit glatter Routine
darftellt. Wie in die geweihten Andachtftätten das Licht gedämpft durch bunt
bemalte Fenfter fallen mußte, fo follte e8 felbft in den Zeiten, wo der Geift
wieder zum Denken erwachte und den Blid auf die Natur richtete, getrübt
und gebrochen durch die bunten Scheiben der Theologie in den Palaft der
Wiſſenſchaft dringen und in den reinen griechifchen Tempel der Kunſt. Aber
Lebenswille und Lebenskraft, diefe beiden Gegengewichte jeder Entfagungreligion
und jeder peflimiftifchen Philofophie, retteten noch immer Kultur und Kunft
vor dem Untergang im Dunkel einer Kirche. Wie nach indifcher Sage bie
Kunft als reizende Maja aus dem Haupt Brahmas Melancholie und Mi-
fanthropie vertrieb, fo führte fie feit dem Zeitalter der Renaiffance bie Menfchen
auf die oberften Zinnen der Kirche, wo fie aus beengter und geprefter Bruft
frei athmen lernten und, die Herrlichkeiten der Erde erblidend, die Welt der
Kunft, Kultur, Kirche. 299
Freiheit, Schönheit, Humanität und Wiſſenſchaft zu erfchließen gedachten.
Seitvem hat es immer Philofophen und Künftler gegeben, die mehr oder
minder offen Rückkehr zum Heidenthum predigten. Mochten fie von Göttern
Ihwärmen oder von einem freien Kultus der Natur: fie brachten das unklare
Derlangen nah Schönheit, Liebe und Lebensluft zum Ausdrud, dem ſich feit
ihrem Beſtehen die chriftliche Kirche entgegenftellte. Der moderne Menſch
fieht fein Ziel mit größerer Klarheit. Um „fi audzuleben“ ‚will er alle
Zähigfeiten_in fih entwideln und alle anderen Kräfte ſich —————
Ge hy a ea kam ar Vi "dig fein muß, kann ihn
die Stiche nicht mießt at ſie einen ge öcperlich
gebundenen Menſchen zur Borausfegung. As erften Führer auf dem
der innerlichen umd äußeren Befreiung fucht er eine Kunft zu erfpähen, die
zwar an die Vergangenheit anſchließt, aber ſtolz und vorurtheillos in neue
Länder geleitet. Es iſt die Kunſt, auf die Feuerbach hinwies, als er ſchrieb:
„So wenig der Baum, der auf einem Kirchthurm ſteht, aus ſeinem harten
Geſtein entſproſſen iſt, ſo wenig kam die Kunſt aus der Kirche und ihrem
Geiſt. Der ſchlaue Vogel des Verſtandes trug das Samenkorn auf ſie hin»
auf. Als es aufging und zum Pflänzchen gedieh, war es freilich unter⸗
ſchiedlich, als es aber groß, als es Baum wurde, zerſprengte es den alten
Kirchthurm.“ Mit ſolcher Kunſt kann erſt eine Kultur entſtehen, deren
ethiſche Grundlage und deren Moral nicht mehr auf der Vergöttlichung des
Todes und des Leides beruhen, fondern auf der PVergöttlichung des Lebens
und der Freude,
Was bisher als neues Prinzip in die Welt trat, mußte ſich als religiöfes
Prinzip verlünden, denn nur dadurch konnte e8 die Gemüther beherrichen.
Wenn e8 heute, von Schönheit umfloffen und von Erkenntniß bejchirmt, in
die Schranken treten kann, liegt darin der größte Yortichritt über das Beit-
alter der Kirche hinaus, in dem die Kunft als Magd, die Kultur als Teufels-
wert betrachtet wurde. Selbft Viele, deren innere Sehnſucht eines Glaubens
an überfinnliche Dinge bedarf, haben jich, erjchredt von der Starrheit und
Unduldfamkeit der Dogmen, von ber Kirche abgewandt und find zu der
myſtiſchen Weisheit Indiens geflüchtet. Der tiefe Zweck diefer Theoſophen,
aus dem Glauben ein „Willen“ zu machen, giebt ihnen die Möglichkeit,
jede Kulturaufgabe zu fördern und jede wiflenichaftlich gewonnene Erkenntniß
auch ethiſch und moralifch zu verarbeiten.
Das Wefen des Alterthumes mar: Einheit von Religion und Politik,
Geiſt und Natur, Gott und Menſch; da8 Weſen der Kirche war: Zwiefpalt
zwifchen Leben und Zod, Himmel und Erde, Luſt und Leid; das Weſen der
Zukunft foll die Harmonie all unferer Kräfte, Gedanken und Gefühle fein.
Münden. Alerander Freiherr von Gleichen-Rußwurm.
*
800 Die Zukunft.
Aenaiffance.*)
Sa einem ftol3 gemwölbten Saal, de Kuppel
I Dom Abendgold wie eine Krone leuchtet,
Und vor des zweiten Julius Heiligkeit
Sind Kardinäle, Feldherrn, dunfle Möndye,
Derträumte Künjtler zum Geſpräch verfammelt
Und von des Papſtes bleihen Lippen firömt
Die Rede wie ein windbewegtes Rauſchen:
„Aus Wünfhen nur wächſt Großes. Ungenägen
Un alten Gütern einer alten Zeit,
Auflodernd wilde Gluth der größern Ziele
Schafft Euch den ftolzen Bau des Datifans.
Aus meines Berzens ungeftimem Ehrgeiz
Steigt, wid ein Phönir, einig diefes Neid.
Wär’ ich nicht Papft, ich wäre gern Jehovah.
Und alfo frag’ ih Jeden jet von Euch,
Der er zu fein fih wünfchte, trüg’ er nicht
Der eignen Seele Dließ im eignen £eibe?”
Schon fan? Bibbiena hin und füänfelte:
„Wer zweifelt da? Auf meiner Stirne ſchimmert,
Dom Wunſch verflärt, dies eine Wörtlein: Papit. “
Der Herzog von Urbin, des Papftes Neffe,
Derfpann fich juft in einen füßen Traum
Don Mädchenlippen, rothen Mädchenlippen,
Gluthrothen, rofiarothen Mädchenlippen,
Die eines fränfifchen Gefangnen Braut
Su heigen Küffen — ah! — nidt öffnen wollte.
Und leife fprah der Herzog: „Zaufcht: ich wäre
Der Sultan gern und hätte einen Harem.“
Ein fchlanfer Mönch, des Herzogs ſchimmernde
Feldherrngeſtalt mit feinem Blick verfchlingend,
Sprach bebend jetzt zu ihm: „Ich wäre, Hoheit,
Ein Mädchen gerı, das Ihr zn lieben wüßtet.“
And Alle lähelten. Und Alle fchböpften,
Der Eine lachend, ftürmifch wild der Andre,
Aus ihrer Seele ein verborgnes Wünſchen.
Nur zweier Männer Kippen fibwiegen ncd.
„un, Michelangelo”, erhob der Pater
Jetzt feine Stimme, „warum jprichft Du nicht?“
Und Michelangelo erbebte. Lange
Dermweilte feines_ lies dunkle Gluth
Auf jenes Andern Locken, der noch ftumm war.
Und lange jah er bin zu Raffael,
*) Ein Stüd aus dem Gedichtband „Die lodende Geige“, ber vor Wei
nachten bei Albert Zangen in München erjcheinen wird.
Wien.
Aenaifjantce.
Der an des Fenſters leuchtend weißen Scheiben,
Don Gold umflofien, felbft ein Bildniß, ftand.
Er fah in Raffaels verträumte Augen,
Sah feiner Wangen pfirfichzarte Blüthe,
Der weichen Adern blaues Sarbenfpiel,
Und weiter flog fein Blid durch holde Gärten,
Wo weiße Mädchen, Gott im Angeficht,
Sih mild an Jenen ſchmiegten, dunkle Rofen
Sein Baupt, em Beiligenfranz, umblühten und
Der Kies von feinen Füßen leuchtend wurde.
Und lange fah er hin. Doc dann verſchloß er
Der Augen fchwere £ider wie mit Schaudern
Und fprah: „Ich, Heiliger Dater, wünfche mir,
Der Künftler Michelangelo zu fein.”
Jetzt, durch des Saales wunderbare Stille,
Bub leife Raffael zu ſprechen an:
„In meiner Seele”, fprach er, „weiſe freunde,
In meiner Seele alüht, den Tulpen gleich,
Die Gottes Sehnfuht aus den Wieſen heben,
Ein heißer Wunfch, fo wild verwegen, daß
Die Worte fcheu vor feinen Gluthen fterben;
Und diefer Wunfd heißt: Michelangelo.
Seht her! Was Eudy fo oft an mir entzüdte,
Die goldnen Koden, -morgenrothen Wangen,
Die ganze taufendmal gelobte Schönheit
Zerreiß ich hier vor Euch und bete zitternd,
So ſchön wie Michelangelo zu fein. \
Der Heilige Dater hats gefagt: aus Sehnſucht,
Aus wilden Wünſchen nur wächſt Ewigkeit.
Und ih? Ich bin vom Glücke fo umfchmeidelt,
Don holden Gaben alfo reich gekrönt,
Don Fraun verwöhnt, von Eurer Gunft verzärtelt,
Daß Peines einzigen wilden Wunſches Gnade
Die Wellen meiner fanftern Seele peiticht.
Ihm aber, den die Götter fo gefegnet,
Daß feine harten Hände Stein zu Blut
Und Nacht in Sonne wandeln, ihm doch bleibt
Dies eine Wünſchen ewig unerfüllt:
Nach Leibes Schönheit und nach Srauengäte.
Und aus der Sehnfucht wählt uns feine Größe.“
Er ſchwieg. Doc, Bibbiena neigte fi
Su Sadolet mit lächelnd offenem Munde:
„Seht, Eminenz, ift er zum Küffen nicht,
Wenn feine Augen fo im feuer funfeln?
Sit er nicht reizend, diefer Raffael?“
801
Bans Müller.
3
802 Die Zukuuft.
Selbitanzeigen.
Die Deutſche Kirhe. Eine Umfrage in Sachen des Zufammenfchluffes ber
deutfchen evangelifchen Landeskirchen. VBeranftaltet von den Wartburg⸗
ftimmen, Monatsfchrift für Deutfche Kultur, und beantwortet in Abhand⸗
lungen, Thefen und Betrachtungen von fechzig Perfönlichkeiten ber ver=
ſchiedenen veligiöfen und kirchlichen Beftrebungen. Preis 2 Marl. Thü-
ringifche Verlagsanftalt Eifenad und Leipzig.
Ueber die Notwendigkeit und über die Form einer Bereinigung ber deutfchen
evangelifchen Landeskirchen ftreiten ſich die proteitantifchen Kreife. Als Heraus-
geber einer Beitichrift, bie die religiöfe Arbeit als nethivendiges Stüd nationaler
Kultur und die Stärfung bes Protejftantismus als die wichtigfte Aufgabe einer
beutihen Kulturpolitif im Gegenjage zu unferer vom Ultramontanismus bes
berrichten Regirungpolitif betrachtet, empfand ich es als eine Gewiſſenspflicht,
dte firchenpolitifche Verlage am Prinzip des Proteitantismus in der chriſtlichen
Meltanfhauung zu mellen. Sch Eonnte die Bewegung nicht jo recht als ein
organiſches religidjes Wahlen am Baum des beutjchen Bolfsthumes anerkennen.
Um aber bie Borlage mit größeren Naddrud und in weiteren Wirlungfläden zu
einer Frage zu machen, veranjtalteten die Wartburgftimmen eine Umfrage, die
fih aus folgenden Einzelfragen zufammenfeßte:
1. Entipridt die Bewegung zum Zuſammenſchluß der deutichen evange-
liſchen Landeskirchen ber religiöfen Weltanſchauung des Proteftantismus im
Gegenſatze zu Rom und entipridt eine Centralifation der kirchlichen Kräfte dem
Bedürfniß der deutichen religiöfen Vollsanlage?
2. Bleibt nicht die Beranftaltung unter der Führung des preußiſchen
Oberfirchenrathes eine vom Proteftantismus nicht ernft zu nehmende, fo lange
Preußens Staatsregirung die noch unvergefjene Stellung zur Jeſuitenfrage bewahrt ?
3. Sind Sie nicht aud der Meinung, daß in unjerer Zeit, die eine Ver⸗
ſöhnung der Kulturfämpfer der verjhiedenften politiihen und kirchlichen Bar-
teien auf dem Boden einer verjüngten religiöjfen Weltanfhauung gewiß vorbe»
reitet, viel nothiwendiger als Konferenzen von ſtaatlich-kirchlichen Religionarbeitern
ſolche Kongreſſe find, auf denen religiöje Kulturarbeiter aus allen geijtigen Lagern
eine Berfühnung zwiihen altem Glauben und neuem Willen zum Zwecke einer
erneuerten, das ganze Volfsthum durchdringenden Slaubensfreubigfeit verſuchen?
Wie denken Sie fich die Berufung einer folden unabhängigen Konferenz?
Dad die Methode einer. Umfrage auch eine Möglichkeit war, der litera-
riſchen Weberproduftion in diefer Sache zu jteuern, beweift der Erfolg der Um⸗
frage. Bon jehzig Beantwortern wurden zehn vor eigenen Büchern oder Bro
churen bewahrt. Das entitandene Buch wird allgemein als ein reizuolles Doku»
ment für das religidöje Drängen unferer Tage beurtheilt. Da es mir nicht
darum zu thun war, den kirchlichen Tendenzen zu dienen, jo 30g ich auch Männer
beran, deren antilirchliches Wirten oder Denken mir befannt war.
Eiſenach. Hans K. E. Buhmann.
Selbſtanzeigen. 303
Bud in die Welt. — Thiergeſchichten. J. F. Schreiber in Eßlingen.
Für die Kleinen ſchreibt es ſich nicht ſo leicht wie für die Großen. Das
liegt zunächſt daran, daß die Wahl der Stoffe ſo ſehr beſchränkt iſt. In einer Welt,
in der man ſich noch Alles wünſchen kann, ſpielt das Geld keine Rolle; und damit
iſt die ſoziale Frage von vorn herein ausgeſchteden. Die Kinder philoſophiren
nicht; käͤme man ihnen mit Nietzſche, jo würden fie in ihrer eingebildeten und
abſprechenden Art einfach jagen: „Das ift Unfinn.” Ch fi) Zwei Eriegen oder
nicht, intereffirt fie nur, wenn die Sade in allerhöchſten Kreifen ſpielt, e8 um
einen Prinzen und eine Prinzelfin ſich Handelt und, ehe fie fich Triegen, eine
Entzauberung ftattfindet. In ber großen Welt aber gebt es nicht jo zu; ba
erfolgt die Entzauberung gewöhnlich exft nach dem Sichkriegen. Erſt recht hätte
es feinen Zweck, ein rührendes Seelengemälbe vor Denjenigen zu entrollen,
bei denen ſchon das Weinen losgeht, wenn eine Puppe den Kopf verliert oder
wenn man vom Apfelbaum fällt und fich die Holen dabei zerreißt. Dazu fommt,
daß die Keinen Leſer und Lejerinnen viel ftrenger in ihrem Urtheil find als
die großen Leute. Sachen jelbft, die von dreinal gefiebten Rezenjenten für
beachtenswerth erllärt und, wenn es fi) au um Bilder handelt, von geaichten
Kunſtkritikern gelobt werden, lehnen fie einfach als „langweilig ab. Wenn
ihnen aber Etwas gefällt, jo.jagen fie ed nicht geradezu, ſondern es zeigt fich
darin, daß fie es, wenn fie es gelefen Haben oder e8 ihnen vorgelefen ift, behalten.
Nie bin ich fo ftolz auf ein von mir verfertigtes Werk gewefen wie an dem
Tage, da ein kleines Mädchen, das noch nicht leſen konnte, mit den Worten:
„Jetzt will ich vorlejen!” ein iluftrirtes Kinderbuch von mir in die Hand nahım
und dann, indem es jo that, als läſe es, und richtig die Seiten umſchlug, ein
Gedicht nah dem anderen vortrug, ohne ein einziges Mal fteden zu bleiben
oder ein unrichtiges Wort zu jpreden. Das foll Einer von fi fagen fönnen,
der für bie Großen fchreibt! Ich glaube aber, die Kinder urtheilen deshalb fo
ftreng über Bücher, weil fie fih auf das Dichten fo gut verftehen. Ober ift
Das etwas Anderes als Porfie, wenn ein Sind, das nod die Flaſche bekommt,
fein hölzernes Thierchen füttert oder ein Fleines Ding fein Püppchen bemuttert?
Unter dem diesjährigen Weihnachtbaum wünſchen zwet Kinderbücher zu
liegen, die „Sud in die Welt” und „Thiergeſchichten“ heißen. Der Text des
eriten Büdhleind rührt von Egon H. Strasburger und dem Unterzeichneten ber,
der des zweiten von Cornelie Techler und Anderen. „Sud in die Welt“ ent:
hält natürlih in Verſen und Proſa, was fo in der Welt der Kleinen vorgeht
in Ernft und Spiel; in ben Thiergeſchichten wird felbitverftändlich erzählt, was
jo in der Welt der Katzen und Hunde, der Füchſe, der abgerichteten Bären, der
Hafen, Hühner, Schwalben, Fröſche und anderer Angehörigen des TI hierreiches
fi) ereignet. Beide Büchlein find ſehr hübſch illuftrirt von 2, Meggendorfer,
Mathilde Ude, Leo Kainradl, 3. Mukarowsky und anderen Künftlern. Mehrere
Bilder find nah Skizzen von Specht gemacht.
Die Zertverfafler und SUujtratoren beider Büchlein Hoffen, daß dieſe,
wenn fie unter dem Tannenbaum zur Beicherung gelangen, das Scidfal der
guten Bücher auf diefem Gebiet erleiden, Das heißt: in nicht allzu langer Zeit
zerlefen fein werden. Der Berleger — vertrauensfelig, wie alle Buchhändler
find — theilt ihre Hoffnungen. Johannes Trojan.
s
804 Die Zukunft.
Pro patria.
St Rolle |pielt unfere hohe und höchſte Finanz bei ber Anlage deutichen
Stapitals in fremden Staaten und Unternehmungen? Diefer Frage galt
einer der letzten Kämpfe, die Georg von Stemens auszufechten hatte. Deralte Streit
war von Agrariern wieder aufgenommen worden und Siemens, der jeine Deutiche
Bank gegen den böfen Borwurf vertheidigen mußte, fiehabe Deutſchlands Interefien
geihädigt, war genöthigt, für jämmtliche Banken eine Lanze zu Bredden. Seitdem ift
das Thema in Theorie und Praxis oft erörtert worden. Die Teorie hat Adolf
Wagner und den übrigen Gegnern finanzieller Weltpolitif keinen allzu günftigen
Kampfplatz geliefert. Doc muß man offen fagen, daß die praftifchen Erfahrungen
aud nicht gerade für Siemens entjchieden haben. Wenn der tapfere Riıter Georg
noch lebte, würde er, unter dein Eindrud neuerer und neufter Vorgänge, als
ebrliher Mann den Yreunden gewiß felbft rathen, feine Vertheidigung der nadh
Erpanfion luſternen Hochfinanz nicht ganz kritiklos hinzunehmen.
Bon den Vorgängen, die kritiſche Regungen wecken konnten, erwähne ich
zunächſt die Angelegenheit der Transvaalbahn, die ich, fo weit fie geeignet iſt,
Mipftände im Syftem ber „Schugvereinigungen“ zu zeigen, bier ſchon beleuchtet
babe. seht aber bat fih ein Greigniß abgeipielt, das nit nur irgend eine
Bereinigung fompromittirt, fondern die ganze deutfche Haute Finance, — bie
jelbe Großmadt alfo, für die fid Georg von Siemens jo kameradſchaftlich ius
Zeug gelegt Hat. Das britiſche Kolonialminiftertum, dem das deutihe Schug-
fomitee durch das Londoner Haus Rothſchild feinen ganzen Aktienbeſtand zur
Einlöfung überreichen ließ, fordert, für jede einzelne Aktie müſſe durch den Schluß»
fein der Beweis erbracht werden, daß fie am neunten Oftober 1899, als ber
Burenfrieg begann, in Privatbejig, nicht in den Händen der Transvaalregirung
war. Dieſe Forderung fagt — mehr deutlich als höflich —: „Sch, der Miniſter
Seiner Dlajeltät, glaube Euch Deutjchen, troß all Euren Berficderungen, nicht; und
weil ich Euch der Borjpiegelung falſcher Thatſachen für fähig Halte, verlange ich
den fchriftlicden Beweis Eurer Ehrlichkeit." Wie parirt nun das deutfche Komitee
biejen Streih? Geheimniſſe hat es von je her geliebt; alſo wird wieder eine geheime
Sitzung einberufen. Mit dem Autor der „Fürſtlichen Schatz, und Rentkammer“
iſt es offenbar der Anſicht, daß „alle großen Deſſins durch Verſchwiegenheit zu
einem glüdlihen Ende gebradt worden, während Das, was die ſchwaätzhafte
Menge weiß, eine verrathene Sade ijt“. Und das „große Deifin“? Eine
kümmerliche Rejolution, die zwar betont, daß die neufte Zumuthung der lon⸗
boner Regirung nicht der eriten englifhen Ablöfungofferte entipreche, den dentſchen
Aktionären trogdem aber den Verſuch empfiehlt, die Forderung zu erfüllen. Das
Komiteeſteckt aljo die Beleidigung ruhig ein; es läßt fih, ohne Die Hand zum Gegen-
Ichlag zu erheben, vor Europens lachendem Auge eine Obrfeige verfegen. Dabet
weiß das Komitee, daß e8 die Forderung Englands gar nicht erfüllen kann; denn es
beiteht erjt jeit Ende 1900 und wäre faum im Stande, das frühere Borleben
der einzelnen Aktien zu fontroliren. Daß es, aus triftigen Gründen, auch wenig
Luft dazu haben wird, braudt uns Heute bier nicht zu fünmern. Dennoch wird
nad) London geantwortet: Hübſch ijts nicht, daß hr fo viel verlangt, aber wir
wollen ung nad beiten Kräften bemühen, Euch zu gehorden. So berrlidhe
Pro Patria. 8305
Offenheit fann fi neben der vielgefhmähten Heuchelei der Briten immerhin
ſehen laflen. Der engliiche Dlinifter wird fich, als er dieje fanfte Antwort bekam,
gedacht haben, offenbar fei die Abfidt geweien, ihm Aktien anzuhängen, die er
nit einlöjen wollte, weil fie nach Ausbruch des Krieges noch im Beſitz der
Burenregirung waren, die fie erſt päter, um für den Feldzug Geld zu erlangen,
in Europa verfaufte. In diefem Glauben mußte England beftärft werben,
denn Inſulten pflegt mar in Demuth nur hinzunehmen, wenn man ein fchlechtes
Gewiſſen hat. Schon der vorher vom Komitee gefaßte Beichluß, die ganze von
England auszuzahlende Einlöſungſumme folle auf alle deutfchen Aftien, bie
zurüdgewiefenen jo gut wie bie angenommenen, vertheilt werden, mußte in London
wie das Geftändniß wirken, das Komitee fühle fi im Befig gewifler Aktien
minbeftend recht unficher. Und wer erfahren hat, mit welcher Rüdfichtlofigleit gerade.
in der Finanz meijt die Kleinen von den Großen behandelt werden, fonnte aud
bamals ſchon ahnen, baß bie Aftienpadete, um beren Schidjal das Stomitee
äitterte, nicht in ſchwachen Händen fein mochten. Die Briten fünnen alfo mit
einigem Recht behaupten, das Berhalten bes deutſchen Komitees felbit habe fie
zur Borfiht gemahnt. Diefem Verhalten haben wir zuzuichreiben, dat England
fih erlauben durfte, die Deutjchen als Betrüger hinzuftellen. Die Verdächtigung
— anders fann man die engliſche Nachtragsforderung nicht nennen — trifft ja
nicht nur das Haus Warfchauer und die Berliner Handelögejellichaft, jondern die ganze
deutſche Jinanzwelt. Nah allen Widermwärtigfeiten, mit denen die Transvaal-
bahnſache ung jchon erquicte, hat dieſer Schlußeffeft gerade noch gefehlt. Das
Schutzkomitee hatte einfach darauf zu beitehen, daß England alle deutjchen Aktien
bezahle; alle ohne Unterſchied: denn die Burenregirung war auch während tes
Krieges zum Verkauf ihrer Aktien durchaus berechtigt. Natlirlich hat der erfte Fehler
fih jchnell gerät. Noch haben die deutfchen Altionäre, die ſich vertrauensvoll
von der Hochfinanz führen liegen, feinen Pfennig erhalten und ihr Befig tft heute
mehr als je gefährdet. Der Beſchluß, den Geſammterlös für die Aftien gleich-
mäßig zu vertheilen, bindet auch die Kopitaliften, die in der günftigen Qage
find, die Vergangenheit ihrer Aktien big zum Oktober 1899 jeder Kontrole unter:
breiten zu können. Wie viele deutiche Aktien wird jegt die engliſche Negirung
überhaupt noch einlöjen? Ohne kräftigen Drud von außen vielleicht nur ſehr
wenige. Und woher ſoll der Drud fommen? Graf Bülow wird faum Luft haben,
fi von dem nad) Thaten dürftenden Nachfolger Chamberlains eine zweite Auflage
des Refus zu holen, mit dem oe der Große ihn abgefpeift Hat. Er könnte jegt auch
nicht mehr viel thun. Früher vertrat er eine Rechtsauffaſſung, die fich hören ließ.
Nun aber, feit das deutiche Komitee fih auf den englifchen Redtsftandpunft
geitellt hat, fönnte der Reichskanzler nur noch befcheinigen, daß ſämmtliche deutjche
Altienbejiger untadelhaft ehrliche Dienichen find und daß feiner von ihnen nad) -
dem neunten Oftober 1899 auch nur eine einzige Aktie der Transvaalbahn ge-
kauft hat. Zur Austellung eines folden Sittenzeugniijes, deffen Grundlggen er
gar nicht prüfen künnte, iſt aber wohl felbft Graf Bülow nicht höflich genug.
Woher alſo fol der Retter foımmen? Aus den Hallen der Deutſchen Bank
und der Disfontogejellfchaft wahricheinlich nicht. Diefe beiden Snftitute Haben genug
mit der Aufgabe zu thun, das von ihnen in fremde Unternehmungen geitedte
deutſche Kopital zu ſchützen. Sie müfjen verfuchen, die Rentabilität ihrer djter-
306 Die Zukunft.
reihiichen und rumänifchen Petroleumgeichäfte, von denen ich neulich erzählte,
zu fihern. Geplant war ein großer Truft, der alles von den beiden Banken in
Rumänien produzirte Petroleum und den ganzen Exportüberſchuß des neuen
öjterreichifch-ungarifchen Kartells, an dem beide Inſtitute bireft oder imdireft be
tbeiligt find, zum Bertrieb in Deutfchland Übernehmen follte. Dann hätte Deutid-
land endlich fein „nationales“ Petroleum gehabt und Rockefeller ausgeladt. Dem
Direktor der Ungarifchen Kreditbank, Herrn Kornfeld, war die Mifjion zugefallen,
dem deutichen Betroleumtruft ins Leben zu helfen und zunächft einmal zwiſchen der
Deutfhen Bank und der Diskontogeſellſchaft zu vermitteln, deren Leiter nicht mehr
allzu Herzlich mit einander zu verkehren feinen. Zu diefem Zweck fam er nad
Berlin. Er bat es in Bubapeft nicht nur zum erften ungariichen Financier,
ſondern, was noch viel ſchwieriger zu erreihen war, zum Mitgliede der Magnaten⸗
tafel gebracht, wo er mitten unter den Sproſſen ber älteften Adelsgeſchlechter
fit. Der Mann ift längft gewöhnt, zu fommen, zu fehen, zu fiegen. In Berlin
aber, an der Stätte, wo er vor Sahrzehnten als befcheibener Nemifier — ber
Stand war damals faum noch erfunden — eines wiener Haufes feine Yaufbahn
begann, verließ ihn die Sicherheit des Siegers. Die Verhandlungen zerichlugen
fih, Herr Kornfeld reifte, ohne einen Erfolg mitzunehmen, heim und becilte fid,
dem amerifanifchen Truſt beizutreten, der ihn ſchon fehnfüchtig erwartet hatte.
So foll denn, nachdem ſich beutiches Kapital an ber öſterreichiſchen Induſtrie
beteiligt hat, der Standard Oil Trust den öfterreichtichen Export nad) Deutſch
land übernehmen. Damit tft die Komoedie aber noch nicht zu Ende. Auch die Did
kontogeſellſchaft verhandelt jet mit dem amerikaniſchen Truft. Deutjchland hat,
wie man fieht, ben pfychologifchen Augenblid verjäumt. Eine ftattlicde Summe
beutichen Geldes wird an die Herftellung fremden Petroleums verwendet, das
beftimmt war, dem deutjchen Konſumenten al3 nationale Waare angeboten zu
werben und ihn in patriotiſcher Wonne allmähliche Preisfteigerungen verjchmerzen
zu laffen; aber NRodefeller ift der Stärfere geblieben und bat die Hand darauf
gelegt. Ich glaube nicht, daß es ſchon Zeit tft, den Herren Gwinner und Hanle
mann, als den Befreiern von fremden Joch, an der Wejermündung ein Doppel-
ftandbild zu errichten. Doc eben fo wenig glaube ich, daß Georg von Siemens
zum Verteidiger jeder ausländifchen Anlage geworden wäre, wenn er bie Tragi-
fomoedien der Transvaalbahn und des Petroleumhandels erlebt hätte.
Auch ein ſchlimmeres Aergerniß blieb ihm erjpart: ber Anblid des Zwei
bundes Dresdemer Bank-Schaaffhauſen. Denn ber Deutfchen Bank, die ihren größten
Moment erlebte, als fie, die Breußin, vom Magiftrat der ſächſiſchen Hauptjtadt um
Auskunft über die Solidität der Dresdener Bank erfucht wurde, kann es nicht gerade
angenehm fein, die Macht der Konkurrentin jegt fo gewachſen zu ſehen. Daß der
Schaaffhauſenſche Bankverein einen Bundesgenoffen juche, war don im Sommer
befannt; und jeit die Dresdenerin die Aktien der Kölniſchen Wechslerbank und der
Rheinischen Ban erworben hatte, lagder Gedanke anein Bündniß mit Gutmann nah.
Trotzdem hat die Berfündung der „Intereffengemeinjchaft" ‚die über das größte Kapi⸗
tal verfügt, wie eine fenfationelle leberraihung gewirkt. Vielleicht lernen Deutſche
und Disfonto einander nun wieder Ichwefterlich lieben. Den im neujten Riefenpool
Vereinten muß man jedenfalls dafür dankbar fein, daß fie nicht befaupten, dem
teuren Baterland, nur ihm, das Opfer ihrer freiheit gebracht zu haben.
Dis,
s
Lieutenant Bilfe. 307
$ieutenant Bilfe.
6 zu dreiundneunziger Mouton Rothichild Flettere ich; drüber bes
ginnt das Reich der Geheimen Kommerzienräthe. Nichts mehr für
Unjereinen mit Stab8offizierspenfion und Kartoffelllitiche. Aber ein Fran⸗
zole muß es Beute fein. Dreug, mein Junge! Keinen Dunſt? Natürlich. Ol
sont les neiges d’antan? Son Lieutenant von heute denkt nicht einmal im
Traum mehr an unfer 70. Verfchollene Choſe. Nachbarfchaft von Mantinea.
Uebrigens war Dreux ja keine von den großen Sachen. Für ung, die dabet
waren, immerhin Etwas. Siebenzehnte Divifion, fiebenzehnter NRovember70.
Profit, Fränzchen: die beiden 17! Daß Dir bald Aehnliches befchieden fei,
darf man nicht wünfchen; in Weltfrieden planfchen, Heißt jet die Ordre.
Mir kanns recht fein. Auch, daß wieder die Wäfferigen gefiegt haben und bie
Armeevermehrung, die dem armen Goßler den Magen verbarb, auf Eis gelegt
wird, bis die neuenSchiffe von Tirpitz oder Büchſel durch die allgemein Gewahl⸗
ten bugſirt ſind. Aber fchön wars doch, Kleinet. Sogar Dreux. Dein geehrter
Ohlim hatte damals den hijtorifchen Klaps. War noch Bischen jung für fo
was? Macht nicht8 ; verwächftfich. Item ich ſchwelgte an der Blaiſe; trotzdem
auch bei ung ’neachtbare Portion Blut gefloſſen war. Derliebe Feind hatte uns
die Eroberungnicht leicht gemacht. Als wir aber drin faßen : Heiliger Bädeker!
Dreur, Drocae, Druidenftadt. Karnutengebiet. Hier hielten die Druiden
Gerichtstag. Kirche die reine Bauftilmufterlarte. Erinnerungen an fämmts
Tiche Hugenotten (Du weißt doch: „hr Wangenpaar!”), an Condé (nee:
kommt in der Oper nicht vor); Henri den Vierten, Habys in Gott ruhenden
Vorgänger, und jo weiter bis runter zu Louis Philippe, der ſich da, ohne
Bipp zu fagen, begraben ließ. Ein famojes Neft; fabrizirt nebenbei Stiebel,
in denen felbft ein wegen hohen Adels des Schreibens unkundiger Garde du
Corps feiner Liebfien unter die Augen lönnte. Und, fiehft Dur, ſeit donnemals
breche ich an jedem fiebenzehnten Novembertag einem Franzoſen den Hals.
Lächelft und dentft, bei Einem bleibe e8 nicht. Kommt auf dieSortean. Der
Stoff ift nicht zum Begießen der werthen Naſe. Wenig, aber nobel. Schon
fatt? Canis finis aus Potsdam ift wohl an feineres Futter gewöhnt? Wird
nicht verabreicht. Perigord- Trüffeln hätte ich allenfalls fpendirt; hier bei
Borchardt 'ne Nummer. DaeinTalleyrand-Perigord aber mit den anderen
Nhodes- Stipendiaten von S. M. nad) Oxford gefchict ift, mache ich vor»
läufig Schicht. Auch für Dich befjer, feiner Knabe. Ueber Maloſſol, ein Fa⸗
fänden und andere Hausmannstoft barfs nicht hinausgehen. Du mußt ins
808 Die Zukunft.
Haveliparta zurüd; und werm man Dich ſcharfe Ecken nehmen fähe, käme
der Bruder Deiner Deutter ſchließlich noch in den Ruf eines Schlemmlehrers.“
„Keine Angft, Ontel; bin hölfifch ftill geworden.“
„Seit geftern? Einem Kaſinomümmel willft Du doch nicht erzählen,
daß Ihr heute nicht noch ’ne felddienftfähige Flafchenbatterie auffahren laßt?"
„Wo denkſt Du hin! Sollteſt mitlommen, wenns nicht jo lebern wäre,
Drüben Zecherei überhaupt nur, wenn die Luft ganz rein tft; weil mannie
wiſſen kann. Undgar jegt! Seit acht Tagen figen die flottftenleute beim Schöpp-
chen Laubenheimer undlefen Rangliſte, Wochenblatt oder Norddeutſche. Nach⸗
her bei Weiß Kaffee mit halb verſtecktem Cognac und in die Klappe. Der
Laſinodirektor rauft ſämmtliche Haare. Kein Umſatz! Kein Betrieb! Hier
ſolls ungefähr eben fo fein. Alles maufeftill. Der lange Wolf von den Zweiten
bat ſchon vorgefchlagen, die Sache fünftig Kaſynode zu nennen.“
„Nanu? Macht hr denn die ganze Woche Bußtag? Das riecht ja
nach Rrankenftube. BeiS. M. handelt fichs, Sottfei Dank, doch um eine Klei⸗
nigkeit. Solche Polypchen läßt man fich abfnipfen und geht fidel nach Hauſe.
Nicht der Rede werth. Blos von zweigliedrig formirtem Neflamebedürfniß
ber Quakſalber und Beitungfchreiber zum Ereignißaufgeblafen. Jede Grippe
hat mehr in fih. Nächftens auf Ded. Das kanns alfo nicht fein. Seid Ihr
Alle Schufter geworden? Es muß doch auch Gäule geben, denen nicht Kar»
mefinbeine um den Hals baumeln. Eıkläre mir, Graf Oerindur ...“
„Forbach!“
„Was denn? Nicht mitgemacht. War die Dreizehnte unter Glümer.
Wir hatten im Auguſt andere Hunde zu peitſchen. Uebrigens bin ich nüchtern,
Kleiner. Was, zum Deibel, geht Eud) Potsdamer Forbach an?“
„Nicht die Schlachtnatürlich: der Prozeß. Du weißt dod. Na: Bilſe!
Hat wie das Donnermetter eingefchlagen. Die von unferen Bengels bie
längſten Ohren haben, erzählen, die gräuliche Gejchichte werde Thema ber
nächjten Nefrutenrede fein. Mächtiger Erlaß zu erwarten. Jeder Kom
mandeur hat die Hofen voll. Nachtreviſionen in der Luft. Tiſchoffiziere
ichwiten Blut beim Auszichen der Schuldfonten. Wenn plöglich alle Kafino-
rechnungen eingefordert würden! Richtige Kataftrophe, Onkel. Alle Kör
hängen. Dean weiß thatfädjlich nicht, was man noch darf. Traut auch fein
Kameraden mehr,dernicht als ganz zimmerrein erprobt ift. Am Endefchrei
er morgen. Läßts druden. Und man ift im Wurftfeffel mit Eichenfaub ur
Schwertern. Die Preffe ift ja aus Rand und Band. Die Droſchkenkutſch
fehen Einen von der Seite an. Zwei Ulanen, die noch dazu von mäßig d
Lieutenant Bilſe. 309
gofjener Familienſimpelei kamen, mußten an der Linkitraße durch ein fürm-
liches Spalier und ein Kunde von ber Bebelfippfchaft ſchrie ihnen nach: ‚Det
18 was vor Bilfen!‘ Da foll Einer noch Luft an einem guten Tropfen haben!
Dante ganz gehorfamft. Man kommt ja um Ehre und Reputation.”
„Aus der Luke wehts? Bilfel Hätte nicht gedacht, daß der Name noch
mal fo unangenehm populär werben würde. Vor fiebentaufend Jahren ging
man zu Bilfe ins Konzerthaus und ſah fich für fieben Groſchen Entree nette
Bürgermädchen an, die da Verlobens halber Deckchen und Bettvorleger ftickten.
Ungeheuer harmlos. Womit nicht etwa behauptet werden foll, wir hätten
damals wie ein Eremit oder Wallach gelebt. Aber gar nicht. Orpheum oder
Arkadia: ohne Mädel fcheint die Sache nun mal nicht zumachen. Namentlich
nicht für Soldaten. Schon der felige Schiller hat erzählt, wie dem großen
Guftav Adolf (der mir übrigens bei Deutfchen ein Bischen zu beliebt wird)
die Leute wegliefen, weil er fie runterpußte, fobald fie Iuftig wurden. Kafy-
node darum nicht übel. Aber Nerven habt hr wie Jungfern nad) Dreißig.
Wir! Ein Hinterzimmer, dad man verrammeln kann, ift immer zu haben.
Schlappiers find reif für die Heilsarmee. Schließlich werdet hr doch er»
zogen, um vor dem Feind beider Stange zu bleiben. J dem Stand, bitte,
feine Moral. Wer einen Zug Kerle gegen rauchlofe Bohnen führen foll,
muß andere Begriffe im Schädel haben als Einer, deffen Lebensziel ift, als
Superintendent mit dem Sammetfäppchen Blumen zu fprengen. Aber
revenons & notre mouton Rothichild. Bimmele, mein Kind. Nod) Eine;
nur von wegen Dreur. Syn diefer Nifche Eift Du bombenficher. Und kannt
morgen bis in die afchgraue Bechhütte Bußethun. Eigarre? Die Heine Henry
Clay kann ein Säugling vertragen. Die Temperatur der Greifenmilch ift Is;
die Originalflajche können Sie getroft zu ihren Schweftern verfammeln....
Nun fage mal: Du haft einen gerührten Paftoralton... Der nomme Bilfe
imponirt Dir am Ende? Offen, Kleiner. Vereidigt wirft Du hier nicht.“
„Bott... Train, Onkel! Was foll man da Großes verlangen?
Sreffalienfuhrmann; beinahe ſchon Civik. Gehört doch faum noch zur Waffe.
Kein befjeres Re’ment verkehrt mit den Herrfchaften. Sechs Monate Ge-
fängniß ift ein ordentlicher Happen. Der arme Teufel hats wohl nicht fo
ſchlimm gemeint. Roman gefchrieben. Wer auf fo was fommt, hat natür-
lich den Rod anszuziehen. Das wollte er ja auch. Der Gedanke, in Forbach
zu figen... Brr! Da fagen die Füchfe einander Gute Nacht. Saarbrüden
als Weltftadt, dieman noch dazu nicht betreten darf, wenn der Kommandeur
Ichlecht gefchlafen hat. In ſolcher Garniſon könnte jelbft ein richtiger Soldat
21
310 Die Zukunft.
verrückt werden. Daß er Kameraden abmalte, auf die nım jeder Budifer mit
dem Finger zeigt, war ja nicht Honorig. Aber eirie üble Raſſelbande muß da
unten ſchon verfammeltfein. Rittmeiftersfrauindredigen Handſchuhenl Und
bas Rriegsgericht hat was von guten Abfichten ins Urtheil gejchrieben.“
„Trotz derRückwirkung alſo Mitgefühl. Großartig. PotsdamerSchloß—
abzug Sonnenſeite. Ich bin kein fo edles Gewächs. Nee, mein Junge. Gegen
Train babe ich nichts. Muß auch fein. Aber den Lieutenant a.D., Maler und
Tichter in spe kannſt Du Dir fauer kochen. Mit Kapernſauce. Gejegnete
Mahlzeit! Das geht num doch nicht. Wenn der Schäfer wenigfteng jelbft ein
Unſchuldslämmchen geweſen wäre, das, weiß wie Schnee, auf die Weideging!
KeineSpur. Schulden nah Noten, gepfändet bis auf den legten Knopf; und
in puncto Frauenzimmer wahrſcheinlich nicht fauberer als andere Fünfund⸗
zwanzigjährige in zweierlei Tuch. Dabei ein rechtfchaffener Renommiſt, der
den Batentftuter fpielt, fich ein Automobil hält und den Leuten von Vierer»
zügen und Vollblütern vorfchnurrt, die er zum Sieg führen werde. Das ge:
hört doc) auch zum Milieu‘, das er malen wollte. Für fich felber hat er abet
nur Roſenfarbe. Gute Abficht! DieAbficht war: Geld zu machen. Und dazu
brauchte er einen Skandal. Zwölfhundert Mark hat der Verleger ihm für
die erfte Auflage beim Erfcheinen aufs Brettgezahlt. Ich habe das Zeug geleien
und — entichuldige gütigft! — genug mit Leuten vom Schreibermetier ver
fehrt, um mitreden zu fönnen. Ein unbelannter Jüngling kann fange mi
jeinem Manuffript rumlaufen, ehe erein Gemüth findet, das fich auch nurent-
ſchließt, die Druckkoſten zutragen. Monſieur Bilfe hat ſchon dreitauſend Marl
eingeſackt Warum? Weil der Verleger Spektakel roch. Damit ift die Sad
für mid) eigentlich abgethan. Weder enorm edel nod) nad) der ‘Mode Fromm.
Im Gegentheil. Aber epliche Grundfäge, die fo wenig diskutirt werben wie
die Frage, ob man fich täglich das hochwohlgeborene Piedeftal abjcheuern
ſoll. Wer den Nächſten — e8 braucht fein lieber zu fein — an den Pranger
ſtellt, um Geld zu verdienen, hat bei mir ausgefpielt. Und hier Liegt der Fall
befonders ſchlimm. Hätte ein forbacher Apotheker oder Schnittiwanrenhändler
das Buch gefchrieben, fo liche fich drüber reden. Der p. Bilſe aber gebörte
zum Bau. Die Kameraden vom Trainbataillon Nr. 16 ſchenkten ihm Ber-
trauen. Das hat er getäufcht. Und wie traurig benahm er fich bei Dem ga
zen Handel! Das Pieudonym Heinrid) von der Kyrburg follte ihn deden,
fo lange er noch im Militärverhältniß ftand; ber appetitliche Titel, Auseinet
Keinen Garnifon‘ würde Schon feine Schuldigkeit thun. Der Wunſch, da?
Ding nicht in Lothringen verkaufen zu Laffen, natürlich Sonntagnachmit—⸗
nd
»
Lieutenant Bilfe. 311
tagslomoedte. Und vor dem Kriegsgericht ſchlankweg geleugnet. Die Fi⸗
guren find der Wirklichkeit fo tren nachgebildet, daß jeder Hausknecht in For⸗
bach die Originale erkennt. Ritter Bilſe aber hat keinen Lebendigen gemeint.
Nur um das ‚Milieu‘ wars ihm zu thun. Trotzdem nachgewieſen wird, daß
im Manuſtkript zuerft Namen ftanden, die faft wie die wirklichen Hangen,
ftreitet er Stein und Bein: Es find feine Portraits. Als ob die Nichter ihre
erften Hoſen trügen und nicht müßten, worin der Wit eines roman & clef
befteht! Bon grozer kuonheit zeugt das ganze Berhalten nicht.“
„Aber, ſieh mal, Ontel, die Namen find doch nicht genannt und das
Meifte, was den Leuten im Roman nachgefagt, hat fich als wahr heraus»
geftelit. Ich weiß nicht, wie da eine Berurtheilung möglich war.”
„Haft Deine Zeitung brav gelefen. Nur vergefien, daß zwei Delikte
vorlagen: erſtens heimliche Herausgabe einer Drudichrift, ohne der Militärs
behörde Meldung zu machen, und zweitens Beleidigung Vorgeſetzter und im
Dienftrang Höherer; fünf Fälle. Der Beweis der Wahrheit (den Bilje nicht
antrat und für wichtige Bunlte gar nicht führen konnte) ſchließt Strafbar⸗
keit nicht aus, wenn nad) den Umftändenanzunehmen, daß Beleidigung vor:
handen. Stimmt hier. Sechs Donate nicht übermäßig. Die Richter konnten
bis zu fünf Jahren gehen. Und ein leichter Fall wars doch nicht. Gröbfter
Vertrauensbruch. Ein Halbdugend Eriftenzen vernichtet. Eine fterbende
Frau als Ehebrecherin angenagelt. Pfui Deibel! Namen find allerdings
nicht genannt, aus Vorſicht, und Kleinigkeiten mit Abficht unähnlich gemacht.
Das ändert nichtS, verfchlimmert den Kram höchftens. Ich will Dich, mein
"unge, ablonterfeien, daß Dein Bambuſe Dir, wenn er morgens den Slaffee
bringt, in die Zähne feirt: und kein Buchitabe Deines uralten Namens ſoll
genannt, jogar die Farbe Deines Kommißkragens, Deiner Nachthemdchen
und die Adreffe Deiner Steinen falfch angegeben fein. Um fo bequemer : dann
kann ich weglaſſen und zufegen, was mir paßt, und Du dürfteft, nach Deiner
Theorie, nurgebuldig dieHände falten. Mal, Hamlet‘ gelefen? Schön. Glaubſt
Du, daß Ihre Majeſtäten von Dänemarkfich nicht getroffen und beleidigt füh-
len, weil der Kronprinz fie in feiner Komoedie nicht Klaudius und Gertrud
nennt? Oder weilder Mörder bemp. t. Galapublilum nicht ausdrücklich jagt,
daß erSaftverfluchten Bilfenfrants im Fläfchchen hat, fondern Hekates Fluch
aufmarjchiren läßt? Gehüpft wie gefprungen. Und Gift bleibt Gift, 068 nun
aus ſchmierigen Bilfenblättern oder aus Helates ſechs Hunden ftammt.”
„Na... Ich habe für den Trainpaffagier wirklich nichts übrig. Nur,
ſcheint mir, muß man ihm mildernde Umfiände zubilligen. Frachtkutſcher.
2°
812 Die Zuhmft.
Ruppige Garnifon. Keinen rechten Sinn fürs Milttärifche. Schlecht ber
handelt. Urlaub verweigert. Und was er um fich hatte, Herren und Damen,
von einem Kaliber, wies Unferetner denn doch nicht kennen lernt.“
„Das ift ein anderes Dianfchettenpaar. Bimmlegefälligft. Kaffeeund,
weil wir fo jung nicht wieder zufammenlommen, anderthalb Tropfen Srand
Marnier; den fechziger, cordon rouge. ©o... Ganz einverftanden. Im
Großen und Ganzen wenigftens. Trogdem Forbach noch nicht das Schlimm-
fteift. Sch Du mal nach Gumbinnen, Inſterburg, Lyck: da lernt man Lo:
thringen ſchätzen. Wald, gothifche Kirche, Schloßruine und zwei Bataillone
Infanterie;: läßt fich aushalten. Freilich duftets in ſolchen Grenzgarniſonen
immer ein Bischen nad) Straflolonie. Wer was Ekliges im der Konduite
bat, fliegt hin. Der franzöfifche Zroupierjargon nennt ein Neft diefer Sorte
Biribi; der Ueberfeter Hat die Wahl zwischen Mörchingen und Forbach. Ich
wäre für Zweite; denn Alles, was recht ift: die blaue Gejellichaft konnte
nicht viel gemifchter fein. Die diverjen Ehebrühe... Du bift jung, mein
Knabe. Aberglaubeeinem alten Mann und Stabskrüppel, daß, fo lange man
Kriege führt, noch fein Heer erfunden wurde, deffen Lieutenants im Ehebruch
nicht eine Entlaftung ihres Budgets für Erotifa fahen. Der Alte Fritz zahlte
ihnen noch was Geruchlofesdrauf, wen fie zur Verbeſſerung der Raſſe beitru⸗
gen. Nichts zu wollen. Ihr feinen Gardehunde ahnt nicht, wie fon Wurm vege-
tirt. Abends fürn Groſchen Wurft oder Hering aus der großen Tonne, weil
man im Kafıno nicht in die Puppen borgen kann und nächſtens wieder ein
Mahl der Liebe Opfer fordert. Für Galanteriewaaren bleibt nichts, wen
man nicht mit feinem Burfchen abwechſeln will. Was dann die Erinnerung
an.die Schwägerſchaft einigermaßen in die Ränge zieht, die Dienftfähigkeit
nicht fteigert und eine nütliche Ehe hindern Tann, wenn der aufs Korn ge-
nommene Schwiegerpapa mit dem Stabsarzt gut fteht. Lieber birjcht man
in fremdem Privatrevier. Im Allgemeinen allerdings nicht im Bereich der
Kameradfchaft. Kommt aber auch vor. Das unddie Frauenzimmergejchich-
ten.. Kinder, wir jteden Alle nadt in unferen Hemden und die Serualheuchelei
war mir von je her die widerwärtigfte vonallen. Selbft wenn dem forbacher
Habenicht fein Stundenmädcdhen mal als Nabatt zu der bezahlten Fleiſch
waare Schinken und Käjemitgebradht hat: ift ein Oberlieutenant nicht nur zu
bedauern, deſſen Orgien fo ausſehen? Und ifts anftändig, ſolche Dingean die
große Glocke zu hängen ? Anſtändig von einem Offizier, dem Sn: und Aus:
land die Frauen zu zeigen, die feinen Kameraden die Ehe gebrochen haben?
Da hört der Spaß auf, Kein Wunder, daß Herr Bilfe in franzöfifchen Bet-
Lieutenant Bilfe. 813
tungen portraitirt und als Märtyrer verherrlicht wird. Aber auchindentichen ?
Geht über meinen Horizont. Mißftände enthüllen: wunderjchön. Fehlen nir-
gends; und in Forbach wimmeln fie. Daß ein Bataillonsfommandenr einem
Apotheler, der gut fchießt, eine Beleidigung abbittet, vom Civil gejchnitten
wird, unter der Fuchteleiner Hittmeifterin fteht, die ihm das gefährliche Duell
eripart hat und feit diejer Leiftung Dienftpferde reiten, Unteroffiziere an-
pfeifen und das ganze Bataillon tyrannifiren darf, ift ein Skandal. Ein noch
größerer, daß zwei Offiziere einander Wechjel unterfchreiben, die fie'nie be-
zahlen koͤnnen. Und dergrößte, daß der Gedanke, die Schwadronskaſſe zu Gun⸗
ften Einzelner anzugreifen, überhaupt auftauchen kann. In Gottliebs Corps!
(Unfinn ihn drum zu ſchelten; ſelbſt ein Haeſeler lonnte nicht jedem Trainbuben
in die Nieren gucken und mußte zufrieden fein, wenn im Dienft Alles klappte
und der Brigadier ihm nicht mit Meldungen in den Ohren lag.) Oswald
Bilfe konnte alfo zum Helden lobebaeren werden. Offen hintreten und fagen
— oder fehreiben —: So gehts hier zu. Der Dienftweg, der nicht über den
Markt führt, Hätte genügt. Jedenfalls mit feiner Perfon eintreten. Nicht
fo fehlimm, da er die Jacke ja doch ausziehen wollte. Hätten ihm fein Härchen
gerümmt. Die Bowlen aber, den Dämmerfchoppen, Die Öardinenpredigten,
Eheirrungen und Broftituirtengefchichten masklirt an alle vier Eden des
Neftes Ichlagen, unterm Franzoſenauge, und dafür drei braune Lappen ein⸗
ftedden: nee; kann nicht mit. Ich war nie beſonders wüſt und bin längft fo
weit wie der olfe gute Kaifer Ferdinand, der, als er im Gebüfch was gepaart
ſah, den Adjutanten fragte, ob Das denn noch immer gemacht werde. Aljo
nicht pro domo. Wenn man aber die Dächer von den Häufern hebt, werden wir
nette Enthüllungen erleben. Im Offiziercorps ſicher noch nicht die ärgften.“
„Sicher. Das ifts eben. Auf uns hadt Alles. Man hat, weiß Gott,
als Offizier heute nicht zu lachen. Und weil irgendwo beim Zeufel der ver-
ehrte Train fi) unanbändig aufführt, regnets ung in die Bude und man
muß feinen Burfchen wie ein rohes Ei behandeln, damit er nicht petzt, daß
mal ein paar Heine Mädchen bei Einem zum Kaffee waren!”
„Keine Konfidenzen, Sranzistus! Noch bin ich Dein Oheim. Mach
Dich übrigens nicht8 draus, Sohnten, würde Wrangel jagen. Auch in der
Armee regiren ftrenge Herren nicht lange. Da namentlich nicht. Auch diefer
Standal geht vorüber. Daß junge Leute von ftarker Vitalität, die den ganzen
Tag in Bewegung find, leicht ins Saufen, Spielen und — na, Du weißt .
ſchon — kommen: alte, ewig neue Geſchichte. Daß jet Alles öffentlich“ jein
muß, Loſung: Geſchwüre ausdrüden, Feldgefchrei: Hier wird nicht$ ver-
812 Die Zuhmft.
Auppige Sarnifon. Keinen rechten Sinn fürs Milttärifche. Schlecht bes
handelt. Urlaub verweigert. Und was er um fich hatte, Herren und Damen,
von einem Kaliber, wies Unſereiner denn doch nicht kennen lernt.”
„Das ift ein anderes Manfchettenpaar. Bimmle gefälligft. Kaffeeund,
weil wir fo jung nicht wieder zuſammenkommen, anderthalb Tropfen Grand
Marnier; den fechziger, cordon rouge. So... Ganz einverftanden. Im
Großen und Ganzen wenigftens. Trogdem Forbach noch nicht das Schlimm-
fteift. Sch Du mal nach Gumbinnen, Inſterburg, Lyck: da lernt man Lo:
thringen fchäten. Wald, gothifche Kirche, Schloßruine und zwei Bataillone
Infanterie: läßt ſich aushalten. Freilich duftets infolchen Grenzgarniſonen
immer ein Bischen nad) Straflolonie. Wer was Ekliges in der Konduite
bat, fliegt hin. Der franzöfifche Troupierjargon nennt ein Neft diefer Sorte
Biribi; derUeberfeßer hat die Wahl zwiſchen Mörchingen und Forbach. Ich
wäre fürs Zweite; denn Alles, was recht ift: die blaue Geſellſchaft Tonnte
nicht viel gemifchter fein. Die diverfen Ehebrüde... Du bift jung, mein
Knabe. Aber glaubeeinem alten Mann und Stabskrüppel, dag, fo lange man
Kriege führt, noch Fein Heer erfunden wurde, deſſen Lieutenants im Ehebrud)
nicht eine Entlaftung ihres Budgets für Erotifa fahen. Der Alte Frig zahlte
ihnen noch was Geruchlofesdrauf, wenn fie zur Verbeſſerung der Raffe beitru⸗
gen. Nichts zu wollen. Ihr feinen Gardehunde ahnt nicht, wiefon Wurm vege
tirt. Abends fürn Grofchen Wurft oder Hering aus der großen Tonne, weil
man im Kaſino nicht in die Puppen borgen kann und nädjftens wieder ein
Mahl der Liebe Opfer fordert. Für Galanteriewaaren bleibt nichts, wenn
man nicht mit feinem Burſchen abwechfeln will. Was dann die Erinnerung
an die Schwägerſchaft einigermaßen in die Länge zieht, die Dienftfähigfeit
nicht fteigert und eine nügliche Ehe hindern kann, wenn der aufs Korn ge⸗
nommene Schwiegerpapa mit dem Stabsarzt gut fteht. Lieber birfcht man
in fremden Privatrevier. Im Allgemeinen allerdings nicht im Bereich der
Kameradfchaft. Kommt aber aud) vor. Das unddie Frauenzimmergeihid
ten... Rinder, wir fteden Alle nadt in unferen Hemden und die Sexualheuchelei |
war mir von je her die widerwärtigfte vonallen. Selbft wenn dem forbadjet
Habenicht fein Stundenmädchen mal als Rabatt zu der bezahlten Fleiſch
waare Schinken und Käſe mitgebracht hat: iftein Oberlieutenant nicht nur zu
bedauern, dejfen Orgien fo ausfehen? Und iſts anftändig, folche Dingean die
große Glocde zu hängen ? Anjtändig von einem Offizier, dem In: umd Aus
land die Frauen zu zeigen, die feinen Kameraden bie Ehe gebrochen haben?
Da hört der Spaß auf. Kein Wunder, daß Herr Bilfe in franzöfiichen Bei
Lieutenant Bilfe. 313
tungen portraitirt und als Märtyrer verherrlicht wird. Aber auch in deutſchen?
Seht über meinen Horizont. Mißftände enthüllen: wunderfchön. Fehlen nir-
gends; und m Forbach wimmeln fie. Daß ein Bataillonskommandeur einem
Apotheler, der gut ſchießt, eine Beleidigung abbittet, vom Civil geſchnitten
wird, unter ber Fuchtel einer Rittmeifterin fteht, die ihm das gefährliche Duell
erfpart bat und feit diejer Leiftung Dienftpferde reiten, Unteroffiziere an-
pfeifen und das ganze Batatlion tyrannifiren darf, ift einStandal. Ein noch
größerer, daß zwei Offiziere einander Wechſel unterjchreiben, die fie nie bes
zahlen können. Und bergrößte, daßder Gedanke, die Schwadronglafjezu &un-
sten Einzelner anzugreifen, überhaupt auftauchen kann. In Gottliebs Corps!
(Unſinn ihn drum zu ſchelten; ſelbſt ein Haeſeler konnte nicht jedem Trainbuben
in die Nieren gucken und mußte zufrieden fein, wenn im Dienft Alles klappte
und der Brigadier ihm nicht mit Meldungen in ben Ohren lag.) Oswald
Bilfe konnte alfo zum Helden lobebaeren werben. Offen hintreten und jagen
— oder ſchreiben —: So gehts hier zu. Der Dienftweg, der nicht über den
Markt führt, hätte genügt. Jedenfalls mit feiner Perfon eintreten. Nicht
fo ſchlimm, da er die Jacke ja doch ausziehen wollte. Hätten ihm kein Härchen
gefrümmt. DieBowlen aber, den Dämmerjchoppen, bie Garbinenprebigten,
Eheirrungen und Proftituirtengejchichten maskirt an alle vier Ecken des
Neftes fchlagen, unterm Franzoſenauge, und dafür drei braune Lappen ein-
ſtecken: nee; kann nicht mit. Ich war nie befonders wüft und bin längjt fo
weit wie der olfe gute Kaiferyerdinand, der, als er im Gebüſch was gepaart
ſah, den Adjutanten fragte, ob Das denn noch immer gemacht werde. Alfo
nicht pro domo. Wenn man aber die Dächer von den Häufern hebt, werden wir
nette Enthüllungen erleben. Im Offiziercorps ficher noch nicht die ärgften.“
„Sicher. Das ifts eben. Auf uns hadt Alles. Dan hat, weiß Gott,
als Offizier heute nicht zu lachen. Und weil irgendwo beim Teufel der ver-
ehrte Train fi) unanbändig aufführt, regnet3 uns in die Bude und man
muß feinen Burfchen wie ein rohes Ei behandeln, bamit er nicht petzt, daß
mal ein paar Heine Mädchen bei Einem zum Kaffee waren!“
„Keine Konfidenzen, Franziskus! Noch bin ich Dein Oheim. Mach
Die) übrigens nichts draus, Sohnken, würde Wrangel fagen. Auch in der
Armee regiren ftrenge Herren nicht lange. Da namentlich nicht. Auch diejer
Standal geht vorüber. Daß junge Leute von ftarfer Bitalität, dieden ganzen
Zag in Bewegung find, leicht ins Saufen, Spielen und — na, Du weißt ..
ſchon — kommen: alte, ewig neue Gejchichte. Daß jetzt Alles „öffentlich“ jein
muß, Loſung: Geſchwüre ausdräden, Feldgeſchrei: Hier wird nichts ver-
816 Die Zutunft.
fennen lehren. Daneben werden die Erörterungen über die Handelspolitik und
die internationale Stellung des Heiches fortgeführt werden, die ja nach keiner
Seite zu bindenden Entfchlüjfen drängen. Der Hinweis, daß wir zu allen
Großmächten freundfchaftliche Beziehungen unterhalten und im Dreibund⸗
vertrag auch fernerhin dieunerschütterliche Bafis des Weltfriedensjehen, wird
nicht zu entbehren fein. Auch glauben wir, ein vorjichtiges Wort über den
gedeihlichen Fortgang der handelspolitiichen Aktion empfehlen zu dürfen.
Günftige Momente erbliden wir in der erfreulicheren Geftaltung des
deutihen Wirthichaftlebens,deren Rückwirkung auf die Reichsfinanzen bereits
fühlbar iſt, vor Allem aber in der Thatſache, daß wir, wenn ein foͤrderliches
Zuſammenarbeiten ſich nicht ermöglichen ließe, tn der bequemen Lage wären,
den Reichstag aushungern zu können. Da die großen gejeggeberiichen Ar-
beiten des abgelaufenen Jahrzehntes erledigt jind und zuletzt aud) noch der
Bolltarif angenommen worden ift, zwingt ums nichts, um den Preis werth-
voller Opfer oder innerer Krifen eine Verftändigung mit Mlajoritäten zu
fuchen, die, unmittelbar nach den Wahlen, gefonnen’jein dürften, fich in dem
Schein ftolzer Selbjtändigkeit ihren Wählermajjen zu empfehlen. Was das
Reich als Lebensbedarf braucht, wird unter allen Umftänden bewilligt werden ;
unddarüber hinausgehende Wünſche können wir beim Eintritt ſchlechten Wer-
ters in das angenehmere Klima der bundesftaatlichen Yandtage tragen. Auch
diefe Erwägung rieth zuder Diät, mit derjegtein erjter Berjuch gemacht wer⸗
den ſoll und auf die derVolkskörper ſchon während der parlamentarifchen Ruhe⸗
pauſe ſorgſam vorbereitet worden iſt. Nicht ohne Erfolg. Die Leidenſchaften,
die vor und in der Wahlbewegung den Patrioten erſchrecken konnten, jind
ipurlos verſchwunden und dem erfahrenen Auge kann nicht entgangen fein,
daß die politifchen Debatten niemals mit ruhigerer. Nüchternheit geführt
wurden alsindiejem Herbit, für den ung kritijche Tage angejagt worden waren.
Diefer für Regirung undVolfgleich behagliche Zuſtand wäre nicht erreicht wor-
den, wenn wir nicht mit äußerfter Gewiſſenhaftigkeit vermieden hätten, dem
Intereſſenſtreit einen großen Gegenſtand zu liefern. Seit Monaten hat die
öffentliche Meinung fich faum miteinem politiichen Thema beichäjtigt, beidem
das Anjehen der Regirung irgendwie engagirt war. Diejen Erfolg kann auch
das Bedenken nicht verkleinern, daß die rednerifchen Bedürfniffe, die feine
Ausſicht auf andere Befriedigung haben, jic während der Berathung des
Neihshaushaltes geltend machen werden. Hier wird doch nur wiederholt
werden, was vorher in den Zeitungen ftand und ſchnell und wirfjam zurück⸗
zuweiſen ift. So haben wir denn die Zuverjicht, daß unjer Programm...
3
Thomas und Jane Earlyle. 317
Thomas und Jane Earlyle.
Br darf vorausgeſetzt werben, daß Carlyle in Deutſchland unvergefien iſt.
In vielen Beziehungen fteht er zu und. Zu Schiller und Goethe,
zu Fichte, Hegel und Kant hat er fich, in verehrender, ſtürmiſcher Liebe, wie
es in feiner Art lag, bekannt. Ihnen verbanle er ja, dem Abgrımd der Ber:
neinung und des Zweifels entriffen worden zu fein, in dem, Sabre hindurch,
feine Seele fich zermarterte. Auf Jean Paul, wenn nicht auf Novalis, führen
manche Eigenthümlichkeiten des Stiles zurüd, in dem Carlyle, die Geißel
feines unnachahmlichen Wortes fchwingend, fein Gefchlecht zu züchtigen kam.
Denn zum Propheten glaubte fich dieſer Sohn fchottifcher Bauern berufen.
Nicht im Sinn ber Verkündung zukünftiger Dinge, fondern als Richter der
Zeit und des Gefchlechtes, denen die utilitarifche Botſchaft materiellen Wohl-
ergehens wie angenehme Mufil in den Ohren Hang. Nichts war Carlyle
verhafter als eine folche Melodie. Sein ganzes Werk, ob philofophifch
und kritiſch, ob Hiftorifch, das fih im Ernft, der ihn nie verließ, in Zom
und Unmutb, in bitterer Satire, in grimmen Humor, in beredfamer Schwer-
muth und leidenfchaftlicher Rhetorik Luft machte, ift gegen die Utopie irdi⸗
her Glückfäligkeit gerichtet. „Das Wort des Weifeften unferer Tage“,
daß Leben im eigentlichen Sinn nur mit Entfagen beginne, ift ihm aus der
Seele geſprochen. Er fragt, was es benn eigentlich fei, woritber auch er
feit feinen früheften Jahren fich aufgeregt und erhigt, beflagt und in Dual
verzehrt habe. „Sage es mit einem Wort: ift es nicht etwa, weil Du nicht
gladiih bift? Weil Dein Du (o füßer Gentleman) nicht genügend geehrt,
genährt, fanft gebettet und liebend beforgt iſt? Chörichte Seele! Welche
geſetzgeberiſche Maßregel verbürgte denn, daß Du glücklich fein folltet? Eine
Heine Weile: und Du batteft gar fein Recht, überhaupt zu fein. Und was
hätteft Du dagegen zu jagen, wenn Du geboren und dazu vorbeftimmt wäreft,
nicht glädlich, fondern unglüdtich zu fein! Biſt Du wirklich nichts Anderes
als ein Raubvogel, der das Weltall durchfliegt, um Etwas zum Freſſen zu
finden, und ein Klagegeſchrei erhebt, weil nicht genug Aas vorhanden ift?
Schlage Deinen Byron zu und Deinen Goethe auf. E38 leuchtet mir ein.
Sch ſehe einen Kichtftrahl davon. Es ift im Menſchen etwas Höheres als
die Liebe zum Glück: er kann ohne Glück durchkommen und flatt befien
Segen finden! War e8 nicht, um diefes Höhere zu verländen, daß Weife
und Märtyrer, der Dichter und der Priefter zu allen Zeiten geſprochen und
gelitten haben, um im Leben wie im Tode Zeugniß für das Gottähnliche
im Menfchen und auch dafür abzulegen, wie eben in diefer Gottähnlichkeit
allein er Kraft nnd Freiheit finde? Und bift nicht auch Du dazu auser-
wählt, diefe gottgegebene Lehre zu empfangen und unter barmberzigen
25°
318 . Die Zutunft.
Prüfungen zufammenzubrechen, bis Du fie reumüthig verftanden haft? Beim
Himmel: danke Deinem Schidfal dafür und trage dankbar, was zu tragen
bleibt. Es thut Dir noth, das Selbft im Dir auszurotten. Durch wohl:
thätige Fieberparorysmen wird das Leben über das tief figende chronifche Uebel
Herr und befiegt den Tod. Die braufenden Wogen der Zeit verfchlingen
Dich nit, fondern heben Dich in ewige Klarheit. Das ift daß immer:
währende Fa, in dem aller Widerſpruch fi auflöfl: wer darin wandelt
und arbeitet, Dem wird e8 wohl ergehen.“
Diefer fefte Glaube an die Offenbarung Gottes in der Menſchenſeele,
der ihn zum Ausspruch veranlaft, Dem, der Gott nicht in feinem Inneren
finde, werde er in der Welt der Erfcheinung niemals zum Bewußtſein kommen,
ift der Grundton und Inhalt der Botſchaft Carlyles. Darauf ift fein Heroen⸗
kultus begründet, feine Verehrung des Helden al3 des Mannes, bem eim
göttliche Sendung anvertraut ift und der fie, allen Gefahren trotzend, fig:
reich zu Ende führt. Nicht die unweiſen Vielen, fondern bie einzelnen
Weifen find die geborenen Führer, gleichviel, ob auf dem Schlachtfeld oder
fonft im grellen Licht irdiſcher Machtftellung oder in ber Vergeſſenheit und
Weltabgefchiedenheit der Zelle; denn was den Heros Tennzeichnet, ift mid
die intellektuelle, fondern die moralifche Ueberlegenheit. Der Herrſchaft der
Majoritäten fest Carlyle den Kultus der Superioritäten entgegen, Derer,
die im innerften Wefen der Dinge, im Wahren, Göttlichen, Ewigen leben
das, immer vorhanden, den Meiften, die nur das Zeitliche, dad Triviale z
entdeden vermögen, unfichtbar bleibt. Seine ganze Lebensarbeit ift eine Heraus
forberung, eine Sriegserflärung an bie ihn umgebende Zeit und Welt, „deren
Sott der Mammon, deren Herr der Gewinn ift.“ arlyle, der fi im
frühem Mannesalter den von frommen Eltern ihm auferlegten Feſſeln ber
ftrengften kalviniſchen Selte entwunden und nie einem Kirchenweſen ange:
fchloffen hat, ift dennoch 6i8 zum Ende Puritaner geblieben. Sein Meifter:
werk, der „Cromwell“, ift die Verherrlihung der puritanifchen Seele; fit
beſchränkt fih darauf, den Tert zu fommentiren, den der größte ihrer Söhne
dem Biographen hinterließ. Dem achtzehnten Jahrhundert blieb es eben fo un
verjtändlich wie befremdend, daß Heerführer, die in Thränen den Herrn fuchten,
in der Bibel Verwaltung: und Kriegskunſt entdedt haben Sollten. Die Auf:
Härung hielt Cromwell, wo nicht für einen Gaufler, fo doch für einen ehrgeizigen,
zanffüchtigen Fanatiker und feine puritanifchen Anhänger für traurige Narre
Die Zeitgenoffen Bolingbrofes begriffen nicht, wie diefe von Gewiſſensängſt
gefolterten, bornirten Köpfe dazu gefommen waren, Triegerifche Erfolge |
erringen, den König zu richten, da8 Parlament zu reinigen, Europa Sta
zu halten, die Freiheit zu erkämpfen, die Meere zu beherrfchen, neue Rei
und Kolonien ind Dafein zu rufen. Das Räthſel Löfte Carlyle. Er i
Thomas und Kane Carlyle. 319
kannte ſich zu Männern, bie dem Ruf des Gewiſſens gefolgt waren und
nach Gerechtigkeit verlangten; er erflärte die Größe ihrer Thaten durch daB
Weſen ihres Pflichtideals umd begriff den Geift, der dem feinen verwandt
wor. Zaine, als er diefen „Erommell“ las, wünfchte, es möchte künftig alle
Geſchichte fo wie dieſe gefchrieben werden, und wollte alle regelgerechten Abs
bandlungen, alle ſchönen, farblojen Schilderungen der Robertfon und Hume
dafür bingeben. Denn bier fei der Menſch felbft auferweckt. Kein Bericht:
erftatter trete zwifchen ihn und die Thatfachen und verfuche, flatt feiner zu
benfen. Die Wahrheit ſpreche. |
Mehr als dreißig Jahre lang, von der Veröffentlichung des Sartor
Resartus bis zur Vollendung ber Gefchichte Friedrichs des Großen, gehorchte
Carlyle dem Ruf in der eigenen Bruft, Wahrheit zu verlünden. Damit
war fein Schidfal befiegelt. Im viltorianifchen England wurde der Prophet
nicht gefteinigt und auch nicht verbrannt. Er ärgerte nur und wurde wieder
geärgert; und Das war das Schlimmfte, was einem Mann, der zeitlebens
an Dyspepfie litt, widerfahren konnte. War es billig, etwas Anderes zu er
warten? Während Carlyle feinen widerfpenftigen Magen mit Hafergrütze
berubigte, bereitete er den Beitgenoffen mit zumehmend erregter Galle und
bitterftem Humor die unverdauliche Koft feiner Paradoren und Invektiven.
n Den fiebenundzwanzig Millionen Dienfchen, meift Narren“, die das England
von 1830 bis 1840 bevöfferten, erzählte er mit nicht mißzuverftehender “Deut:
fichkeit die Gefchichte von den Schweinen, „den vierfüßigen“, wie er, jedes
Mißverſtändniß ausfchliegend, Hinzufügte: |
1. „Borausgefeßt, es ſei denkenden Schweinen möglich, von ihrem Be-
griff des Univerfums, ihren Intereſſen und Pflichten darin Rechenſchaft zu geben.
Wäre Das nicht wiſſenswerth, vielleicht auch überraſchend für ein zur Unter
ſcheidung fähiges Publikum und anregend für den etwas darnieberliegenden Bücher-
markt? Die Stimmen aller Gejchöpfe, jo heißt es ja, follen abgegeben werben,
damit e3 dadurch möglich werde, mit beilerer Einficht für fie Gefege zu Ichaffen.
‚Wie ließe fi ein Ding regiren, ohne daß man vorher jein Botum einholte‘?
fragen jeßt Viele... Schweinevorichläge lauteten in Kürze ungefähr: So welt
nach gejunder Schäßung zu erkennen, ift das Univerfum ein riefiger Schweine-
trog, gefüllt mit Flüſſigem und Feſtem, auch anderem Zeug und jonftigen Gegen-
lägen, ganz belonderd aber mit Erreihbarem und Unerreihbarem, — das Un:
erreichbare in für die meilten Schweine überwiegender Menge.
2. Das moraliid Schlechte befteht in der Unmöglichkeit, das moraliſch
Gute in der Möglichkeit des Wälzens für die Schweine.
3. Was ift dad Paradies oder der Zuſtand der Unihuld? Nad der
Meinung geiftig ſchwacher Schweine beitand das Parabied, auch Zuſtand ber
Unſchuld, Goldenes Zeitalter und noch anders genannt, in der unbegrenzten Fähig—
feit des Genuſſes von Spälicdht, in der Erfüllung jedes Wunſches, fo daß bie
Einbildungäfraft des Schweines die Wirklichkeit nicht mehr überbieten konnte:
eine Fabel, eine Unmöglichkeit, wie jebt alle vernünftigen Schweine einjehen.
320 Die Zukunft.
4. Beitimmen Sie die Gefammtpflicdten der Schweine? Es ift die Miſſion
bes gefammten Schweinegeſchlechtes und die Pflicht aller Schweine, zu alle
Beiten die Maſſe des Unerreihbaren zu vermindern, die des Erreichbaren zu
vermehren. Alle Wifienichaft, Findigkeit und Kraftaufbietung muß darauf und
darauf allein gerichtet bleiben. Schweinewiflen, Schweinebegeifterung und Auf—⸗
opferung kennen kein anderes Biel. Es begreift alle Pflichten ber Schweine in fid.
5. Die Dichtkunſt der Schweine fol allgemeine Anerkennung und Lob
preifung ber Bortrefflickeit von Spülicht und gebrochener Gerſte, die Glückſäligkeit
ber Schweine, bie gefättigt find und beren Trog in Ordnung ift, zum Ausdınd
bringen. rung!
6. Das Schwein kennt das Wetter; es fol Ausſchau halten umb fehen,
woher der Wind bläft.
7. Wer erichuf das Schwein? Unbekannt; vielleicht der Schweinefchlädter?
8. ‚Giebt es Geſetz und Ordnung im Schweinereih?‘ Mit Beobachtung
gabe verfehene Schweine haben herausgefunden, daß ein Ding, das man Ge—
rechtigkeit nennt, exiftirt oder doch einmal als vorhanden vorausgeſetzt wurke.
Wenigftens giebt e3 unleugbar in der Schweinenatur ein Gefühl, das, Entrüftung,
Made u. f. w. genannt, in mehr ober weniger zerfiörender Urt und Weile los
bricht, wenn ein Schwein das andere Herausfordert: in Folge Deſſen find Gelepe,
ja, ift eine überwältigende Anzahl von Geſetzen nothwendig. Denn Streitig
feiten ziehen Blutverluft, Einbuße des Lebens, vor Allem eine erjchredend
Ausgieung des Spülihts und damit den Ruin (dem zeitweiligen Ruin) ganze
Abtheilungen bes allgemeinen Schweinetrogs nad fi: deshalb müſſen Ned
und Geredtigfeit walten, damit ſolche Neibereien möglichjt vermieden werden
9. ‚Was ift Gerechtigkeit?" Dein eigener Antheil am allgemeinen Schweine
trog, nicht ein Theil meines Anſpruches an ihn.
10. ‚Aber worin befteht mein Anfpruch?‘ Ach ja, barin liegt thatfählid
die größte Schwierigfeit, über die dad Schweinewiflen, nach fo langem Simen,
noch durchaus gar nichts beichloffen hat. Mein Antheil ... Grunz! ... mein
Antheil ift im Ganzen Alles, was ich zu erwijchen vermag, ohne gehenkt ode
auf bie Galeere geſchickt zu werben“.
Dur ſolche Spannungen fatirifeher Laune mußte der Humorift Gar
Iyle dem Eittenprediger und Neformer Carlyle Gehör erzwingen. Das ging
nicht ohne harte Schläge und nur un den Preis ab, die Opfer feiner Zorn:
ausbrüche durch gewollte Webertreibungen des Stils, durch ein unausgeſetztes
Feuerwerk, oft’ chnifcher und brutaler, oft gänzlich phantaftifcher, aber et}
origineller, überrafchender Gedanken in Athem zu halten. Nur wenn er bie
Menschen durch den Anblid ihrer Verfehrtheiten gedemüthigt, des Irrthumes
überführt und zum Lachen gebracht hatte, Konnte es gelingen, fie mit ſich
fortzureißen und für Ideale zu begeiftern, die, feiner peſſimiſtiſchen Welt
ſchauung nad, der Kirche und den Staat, der Schulmeisheit der Thilo:
fophen und der Routine der Gefeggeber, vor Allem den fiegeöfrohen Ber
fündern ber utilitarifhen Moral verloren gegangen waren.
Thomas und Jane Cariple. | 391
Nach den felben Weeihoden wie feine Kritik und feine ethifche Lehre
baute Carlyle Gefchichte auf. Es ift bezweifelt worden, ob er überhaupt ein
Recht darauf bejige, unter den Hijtorilern im eigentlichen Sinn feine Stelle
einzunehmen. Nicht etwa, meil er unterlaffen babe, Dokumente zu prüfen,
Terte und Daten zu vergleichen, Duellen auszunügen. Die Maſſe des
hiftorifchen Details hat vielmehr die Wirkung feiner vielbändigen Gefchichte
des großen Friedrich, diefe „lebende Bildfäule*, wie Bismard fie nennt, be-
einträchtigt, weil endlich die Kraft verjagte, fo viele einzelne Zügejzu einem
einheitlichen Bild zu geftalten. Aber um. offizielle, diplomatifche, politijche
oder ölonomifche Gefchichte allerdings ift es diefem Seher nicht zu thun. ‚Die
Thatfachen find der Aufbau für das Berftändnig des Menſchen; „ber;große
Mann verkörpert die Zeit. Die Seele Luthers erjchlieht das Geheimniß ber
Reformation ; den Salvinismus verlörpert nor; die Revolution ift Fleiſch ge-
worden und verurtheilt in Mirabeau, in Robespierre. Nichts von Allem, was
dazu beitragen kann, folde Menfchen zu erklären, ift gleichgiltig; um fie zu
verftehen, iſt es nothwendig, ihr Benoffe zu werden, in ihre Empfindungwelt
fich zu verfegen, mit ihrem Herzen zu fühlen, zu leiden, zu wollen, ihren
Schatten aufzumeden und niemals zu vergeflen, daß diefe Dienfchen ewig
leben und wie er felbft, ihr Biograph, Nechenfchaft geben mäfjen von den
Thaten, die fie hienieden vollbrachten. In diefem Licht gefchaut, wird die
Geſchichte lebendig. Sie ift für Carlyle die Chronik Deſſen, was der große
Menſch auf Erden gearbeitet, gethan und geleiftet hat im ‘Dienfte ber ge=
heimnißvollen Macht, die ihn vorwärts trieb nach unbelannten Zielen und im
ihm fich offenbarte: „Sie waren die Führer der Menfchheit, diefe Großen“,
ruft er begeiftert aus, „die Bildner, die Muſter, im weiteften Sinn die Schöpfer
Deſſen, was die Mafle der Menfchen zu thun und zu erreichen vermochte;
alle Dinge, die wir in der Welt vollzogen fehen, find nichts Anderes als
das äußere materielle Ergebnig, die praftifche Verwirklichung und Verkoörpe⸗
tung der Gedanken, die in großen Menſchen lebten... . Verſucht immerhin
das Werk eines ſolchen Mannes unter Guanohügeln und Erkrementen von
Eulen zu begraben: es wird nicht, kann nicht untergehen. Was von Heldens
muth, was vom Kicht der Emigkeit im Menfchen und in feinem Leben war,
Das wird mit genauefter Meſſung den Emigfeiten hinzugefügt, bleibt für immer
ein neuer göttlicher Theil der Summe aller Dinge... . Deshalb iſt der
Heroenkultus zu diefer Stunde, zu allen Stunden bie belebende Kraft des
menfchlichen Dafeins ; die Religion beruht auf ihm, die Geſellſchaft ſtutzt fich
auf ign. Denn was bedeutete fonft Loyalität, die der Lebenshauch aller Gefell:
ſchaft iſt, wenn nicht den Ausdruck dieſes Kultes, die unterwürfige Bewunde⸗
rung für Solche, die wahrhaft groß ſind?“
Nichts war unpopulärer als eine folche Theorie. Sie verurtheilte die
323 Die Aufnft.
franzöfifche Revolution — Das mochte hingehen —, aber fie brach aud im ||
Stab über da8 moderne England; und Carlyle wußte, was er zu gewärtigen
hatte, als er mit unbändigen Zorn fi anfchidte, alle vaterländifchen Göken
zu zerfchlagen: die moderne PBhilanthropie, die parlamentarifche Uebermacht,
das Self:Sovernment, das ölonomifhe Evangelium, das Stimmrecht, das
den „Quashee Nigger Sokrates oder Shalefpeare gleichſetzt“, die Jagd
nach dem Golde, die Weberihägung bes Komforts, die Unerfättlichkeit im
Genießen, Horsehood, Doghood, wie er fagt. Die Leute hielten ihn für
wahnfinnig. Es beftärkte fie nur im dieſer Abficht, als er nach dem Krim⸗
trieg die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht empfahl und in „Past
and Present“ nicht das geringfte Hehl aus feiner Ueberzeugung machte, daB,
wer nicht arbeite, auch nicht befigen folle. „Ein richtiger Tageslohn für eine
richtige TageSarbeit gehört zu den gerehtfertigften Forderungen, bie Regirte
jemals an ihre Regirer geftellt Haben“, fchrieb er, aber er fügte Hinzu, ber
gerechte Anfpruch bes Arbeiters fei damit nicht erledigt, Geldentlohnung nicht
das einzige Bindeglied zwifchen Menſchen. „Um Gerechtigkeit ringt der
arme Arbeiter, um einen gerechten Kohn, nicht nur in Muünze. Obwohl er
es jelbft noch nicht weiß, möchte ber an die Arbeit gebunbene Unterthan
einen weifen und liebenden Vorgefegten finden. ft nicht etwa auch De
billiger Kohn für geleifteten Dientt? Eine männlich würbige Stellung und
Beziehung zur Welt, in ber er fi als Mann fühlt: dafür kämpft er. Deu
Liebe kann nicht durch Duittungen erlauft werben und ohne Xiebe Fönna
Menſchen das Zufammenfein nicht ertragen“.
Widerſpruch konnte einen Dann, der fo dachte wie Carlyle, nur iz
Bewußtſein, daß ihm eine Sendung geworden fei, beftärfen. Die legte feine
Schriften, deren Titel den Inhalt verräth, war heftiger und zürnender aß
alle vorhergegangenen. „Shooting Niagara and After“ nannte er felht
„höchſt grimmig, übertrieben, rauh, ungelämmt und mangelhaft.“ Aber et
freute fich, „den heulenden Hundepad“, das ihn herausforderte, fein legte?
Wort über Das, was er von ihm dachte, zu fagen, und blieb dabei, daB
England ſich dem Teufel verfchrieben habe. Was er wollte, waren offent,
ehrliche Ueberzeugungen, eine ſtarke Regirung der Fähigften und Beſten im
Dienfte göttlicher Gefege, eine reinliche Scheidung zwifchen Recht und Unredt,
die Herftellung eines &emeinwefens, dem die ethiihen Aufgaben als die
höchften galten. Was er fah oder zu fehen glaubte, war eine ſteptiſche,
utilitarifche Welt, die zum Evangelium des Goldes und zu einer Fonventionellen
Sittlichfeit ſich befannte, der korrekte Manieren mehr als gute Thaten galten,
die fich unterhalten und genießen wollte und deren praftifche Weisheit er die
Verneinung Gottes nannte. Man fchrieb 1867. D’Ffraeli, bald daran)
Gladſtone regirten; oder vielmehr: nach Anficht Carlyles regirte Niemand.
Thomas ımd Kane Carlyle. 993
Whigs und Tories überboten einander im Werben um Majoritäten unb
wiegten fi in der angenehmen Selbittäufchung, es genüge „einige Deillionen
Stimmen unwifjender Tölpel“ zu gewinnen, um die Räthjel der Staatskunft
mit Hilfe eines Parlamentes zu löfen, da8 Carlyle mit einer fprachlichen
Windmühle verglich, in der Intriganten fi die Lungen ausfchrien, um
Lärm zu machen. Er aber wollte einen Herricher, deſſen Wille über jeinem
Willen ftand, den Charakter, Fähigkeit und Beruf zum Führer vorbeftimmten.
Ohne Unterwerfung unter einen folden Auserwählten de8 Himmels fei
Freiheit nicht denkbar.
Es hieße, Sarlyle verfennen, wollte man ooraußfegen, es jet etiva perfön=
liche Bitterkeit oder die Enttäufchung des Alters gewefen, die ihn veranlakten,
fo zu reden. In der Jugend ſprach er nicht anderd. Auf der Höhe feiner
ſchriftſtelleriſchen Laufbahn wintte ihm N Eine kleine, aber be:
geifterte Gemeinde fchaarte ih um ihn. Em großes Publikum, das der
Prophet nicht überzeugte, ließ fih durch den Künftler gewinnen. Carlyles
„Branzöfifche Revolution“ errang einen ungeheuren Erfolg. So plaftifch, fo
lebendig hatte, bei allen Erzentrizitäten, noch Keiner zu erzählen gewußt.
Man verglich Carlyle mit Michelet und das Wort des franzöfifchen Meiſters:
„sch nenne Gefchichte Auferftehung“ galt auch vom englifchen Genius. So
hingeriffen wurden die Menſchen von dieſer Darftellungsfunft, die längft
Bergangenes wie ein Gegenmwärtiges, Selbfterlebtes, Selbfterfahrenes fchauen
ließ, daß nicht Wenige, unter ihnen. hervorragende Männer der Zeit, die Mühe
nicht [deuten und, den Band der „Nevolution”, der „Varennes“ enthielt, wie
einen Murray oder Bädeler gebrauchend, den Weg von Paris über Chalons,
Saint-Menehould bis zum Städtchen einfchlugen, an defien Brüdentopf der
Boftmeifter Drouet mit der Nationalgarde am zweiundzwanzigften Juni 1791
im Hinterhalt gelegen und die Kutfche abgefangen hatte, worin der arglofe
Ludwig XVI mit den Seinen zum Heer Bouillés zu fahren glaubte und,
ftatt dorthin, in die Falle feiner Feinde geriet. Nicht Enttäuſchung alfo
wars, die den 1795 geborenen, 1865, nach zweiundbreißig Schaffensjahren,
noch leiftungfähigen Mann bewog, die ihm zugewiefenen fechzehn letzten Jahre
in Schweigen zu verbringen. Vielmehr ftand über den wahren Grund diejes
Schweigens eine Enthällung bevor, die nur wenige nähere Belanunte geahnt
batten. Carlyle ftarb am fünften Februar 1881. Bereits zwei Jahre Tpäter,
1883, veröffentlichte fein jüngerer Freund und Biograph, der Hiftorifer
J. A. Froude, auf Carlyles Wunſch, wie er fagte, die „Briefe und Erinne-
rungen von Jane Welſh Carlyle“. Die Welt wurde von der Funde über:
rafcht, daß Carlyle nicht nur feit dem 1865 erfolgten Tode feiner Gattin
ih in Gram um fie verzehrte, fondern auch, daß ber tieffie Grund diefes
Grams Reue geweien ſei. Man fland vor einem Roman, richtiger gefagt:
26
324 Die Zutunft.
vor einem Drama, das zwiſchen der Gattin, einer Märtyrerin, und dem
Gatten, ihrem Quäler, ſich abſpielte. Der unerbittliche Sittenprediger, der
das Mene Tekel bevorftehenden Zufammenbruches einem verderbten Geſchlecht
an die Wand gefchrieben hatte, flüchtete zur Beichte und that öffentlich Ab:
bitte. Der Standal war eben fo groß wie das Erftaunen.
Thomas Garlyle, der Sohn des ftrengen, in dürftigen Verbältniften,
nicht in Armuth lebenden Maurers von Ecclefechan, hatte eine ungewöhnliche
Frau zur Mutter gehabt. Der Junge, der, wie die Seinen, von Hafermehl,
Kartoffeln und gefalzener Butter lebte, erhielt eine vortreffliche Bildung, die
ihn befähigte, die Univerfität Edinburg, faum fünfzehnjährig, zu beziehen.
Der Wunfch der Mutter, er möge Talvinifcher Prediger werden, ging nicht
in Erfüllung. Gegen Theologie empfand Garlyle einen eben fo grofen
MWiderwillen wie eine niemals ganz erfchütterte, begeiftert wieder aufflam-
menbe Liebe für aufrichtig gephte Religion. Nur in Mathematif leitete der
Student Ungewöhnliches. ALS Lehrer in diefem Bach erwarb er fich zuerit
Unabhängigkeit und verwandte fie zur Unterftügung der Familie, der er mit
rührender Liebe und Aufopferung zugethan blieb. Aber felbft dem Lehrberuf
empfand er wie eine unerträgliche Feſſel.“ Nach Jahren jchmerzlichen geiftigen
Ningens, nad Serankheit und materieller Noth, durch die ein vorwurfsfreies,
ftrengeö Leben zur inneren Befreiung und Wiedergeburt hindurchhalf, ent:
ſchloß er fich, den unabhängigen Beruf des Scriftfteller8 zu wählen. Un
diefe Zeit, 1821, führte ihn fein Freund Irving, ein Theologe, in das Haw
der Wittwe eines angefehenen Arztes, Mrs. Welfh, ein. Seit dem km
vorher erfolgten Tod ihres Gatten lebte fie auf dem ihrer Tochter Jane Baillie
Welſh gehörigen Beſitz Eraigenputtod, in Haddington nahe bei Edinburg.
Mrs. Welſh, eine noch ſchöne Frau, galt als erregbar und eigenfinnig; dieſe
Eigenfchaften hatte die Tochter geerbt, war aber dabei außerordentlich begabt,
fehr unterrichtet, vom Ehrgeiz, ih in der Kiteratur einen Namen zu machen,
befeelt und von großem Selbſtbewußtſein getragen. Sie nannte ſich „drei
Viertel Nömerin, ein Viertel Fee“. Im ber Gegend hieß fie „die Blume
von Haddington* und wurde wegen ihrer Schönheit, ihres Geifted und ihrer
Mitgift viel gefeiert und ummorben. Irving war ihr Xehrer geweſen und
hatte für fie eine leidenjchaftliche Neigung, die eben fo erwidert wurde, ge:
faßt. Aber Irving hatte fich bereit3 vor Jahren mit einem anderen Mädchen
verlobt, das ihm feine Freiheit nicht zurüdgab und das er fpäter heirathete.
Mit Welfh wußte e8; Irving ging und an feiner Stelle verfah jest Carlyle
die junge Dame mit Nathichlägen und Büchern, erhielt die Erlaubniß, fie
öfter aufzufuchen, und korrefpondirte mit ihr. ES währte nicht Lange, fo trat
er auch mit dem Herzen die Ueberlieferungen feines Vorgängers an. „Ich
habe geträumt und gehofft, aber welches Recht hatte ich, zu träumen umd zu
Thomas und Jane Cartyle. 325
Hoffen?“ fchrieb er fchon im erften Jahr 1821. Miß Welfh verwies
ihn, wie vor ihm Irving, auf Freundfchaft und erflärte, fie wolle feine
Freundin fein, feine Yrau niemals. Und wäre er fo reich wie Kröſus, fo
geehrt und berühmt, wie er e8 noch werden ſollte. Er mußte nicht, daß fie
nicht Lange nachher ihr Vermögen der Mutter und nad deren Tode ihm
ſelbſt teftamentarifch vermachte. Den Mißgriff, ihre eigenmwillige, ſtolze Natur zu
verkennen, beging er nicht. Er befchräntte fich nach ihrem Wunſch vorläufig auf
Breundfchaft, lobte ihre Verſe und ermuthigte fie zu fchriftftellerifcher Thätig⸗
keit. Einen Roman, fo meinte er, follten fie zufammen fehreiben. „Literatur“,
ſchrieb “er ihr in Bezug auf folhe Zufunftpläne, „vermehrt unfere Em-
pfindungfähigkeit, aber Glüd ift nicht unfer legter Zwed auf diefer Welt...
. Ich wollte, ich dürfte Ihnen die Mittel angeben, alles Vortheiles, der in der
Arbeit zu finden ift, fich zu verficdern und alle dabei drohenden Uebel zu
vermeiden. Aber es foll nicht fein. Das Geſetz des Lebens verbindet Gutes
und Schlimmes unzertrennlih. Das Herz, da8 Taumel des Glückes Tennt,
muß auch Dualen koſten. Harren Sie aus. Jeder Lichtſtrahl des Genius,
und fei er noch fo ſchwach, ift ein Geſchenk Gottes. Die Milton, die Staöl
find das Salz der Erde". Zur Weihnacht 1822 überfandte ihm feine „dear
and honoured Jane“ einen Heinen Schmudgegenftand. So lange er Lebe,
verficherte er, werde er den Edelftein, der glänze wie fie, auch wenn fie
getrennt jein follten, zur Erinnerung an begrabene Hoffnungen behalten.
Bald darauf mußte er Irving gegen „graufame Spottreden“ der jungen
Dame fehügen, bis fie ihm 1824 fchrieb, welche Idiotin fie gewefen fei, den
Mann jemals fo hochgefchägt zu haben. Carlyles künftige Größe erfannte fie
früh; es machte fie nicht irr, daß feine erſten Leiftungen, Schillers Leben,
die Ueberfegung von Goethes „Meiſter“, ihm zwar etwas Geld, aber feinen
Ruhm eintrugen. In ihren Adern floß das milde Blut ihres Ahnherrn
John Knox; zum Opferlamm war fie nicht geboren. Sie quälte ihren
Riebhaber, zankte fi mit ihm, entriß ihm das Geftändniß, der „Meifter“
jei al3 Roman fo gut wie nichts werth, verföhnte jich wieder und verſprach,
wenn Sarlyle einmal fein Glüd gemacht habe, e8 mit ihm zu theilen. „Ich
habe feinen Funken von Genie, ich habe a tibbit (einen Teufel) von Laune“,
jammerte Carlyle, dem Dyspepſie „wie eine Watte in der Höhle feines
Magens nagte.“ Allein er liebte Jane und erfparte ihr gute Kehren nicht:
„sch beſchwöre Dich“, fagt er, der feine Mutter anbetete, dem jungen Mädchen,
„ich beſchwöre Dich, fahre fort, Deine Mutter zu ehren und zu lieben und
ihre Gefeljchaft jeder anderen vorzuziehen. Die Uebung bdiefer ruhigen
Neigungen ift das ficherfte auf Erden erreichbare Glück, die befte Nahrung
für das Ebelfte in der Seele... Zwei Wege ftehen Dir offen: Du fannft
eine fafhionable Dame werden, die Zierde der Salons, die Gattin eines
26°
326 Die Zukunft.
erfolgreihen Mannes, oder Du fannft das Streben nah Wahrheit und tit-
licher Schönheit als das höchſte Gut wählen und in Bezug auf Anderes dem
ESchickſal vertrauen.“
MiE Jane Welfh war vorläufig ein Heiner Freigeift; „eigenitung
wie ein Maulthier*, nannte fie fich, aber Carlyles Stimme drang zu ihr
„wie das Gebot eines zweiten Gewiſſens, nicht weniger furchtbar als das⸗
jenige, welches die Natur meiner Bruft eingepflanzt hat. In meinen ernjteren
Stimmungen glaube ich manchmal, es fei der Zauber, womit ein guter Engel
mein Herz wider das Böſe ftärkt.“
Carlyle Hatte in der Nähe feiner Familie einen Heinen Pachthof ge
miethet. Dort erhielt er einen Brief von Jane, worin jie ihre einflige Liebe
zu Irving befannte. Als er darauf entgegnete, daß feine geiftigen und Förper:
lichen Schwächen ihn nicht befähigten, ihr Gatte zu werden, und fie ſich ihm
nicht opfern dürfe, erfchien fie felbft, „fah das rauge Bauernelement“, in dem
Carlyle und die Seinen lebten, gewann für immer die Zuneigung der Fanlie
und ließ fich felbft nicht abfchreden, eine8 armen, niedrig geborenen Mannes
Frau zu werden. Am fiebenzehnten Dftober 1826 hielten die Beiden file
Hochzeit. Vierzig Jahre hindurch währte ihr Zufammenleben. Gegen des
Ende fiel das Wort der Frau: „Ich heirathete aus Ehrgeiz. Carlyle ai
meine wildeften Hoffnungen weit übertroffen und ich ... bin elend*.
Durch einen eigenthümlichen Zufall follten diefe und viele ähnlich
Aeußerungen au pied de la lettre vom fünftigen Biographen Carlyld
und dem ihrigen genommen und fo der Welt ein durchaus falfches Dil
diefer Beiden geboten werden. Der Urheber der Wirrfal war J. A. Froude,
der begabte und bekannte englifche Hiftoriter. Er war ein glänzender Schritt
fteller und zugleih ein Menſch, in dem die Einbildungsfraft alle anderes
Fähigkeiten überwog. E3 war ihm unmöglich, ein Dokument fo zu lafler
wie er es fand. Gelehrte Fachgenoffen, die jeine Quellen und Eitate nad
prüften, fanden fie an den wichtigften Stellen verändert und nach Bebarf
dramatijirt. Königinnen, deren Schickſale er zu fchildern hatte, ſchickte er in
Scharlachgewändern aufs Schaffot, obwohl er wußte, daß ihre legte Kleidung
ſchwarz gemwefen war; Helden und Böfewichter ließ er mit Worten auf ben
Rippen fterben, die fie nie gefprocden hatten. Der Geſchichtſchreiber Fronde
war zum Romandichter geboren; Ehrfurcht vor den Thatſachen blieb ih
ftet8 unbelannt. Diefe Eigenthümlichkeit, die feine Kritiker mit einem härteren
Ausdrud bezeichnen, war das Gegentheil Defien, was Carlyfe, dem Wahr:
heit über Alles ging, im Leben, im Wiſſen und im der Literatur wollte
Froude befaß jedoch eine hinreißende Darftellungsgabe; er war ein gewinnendet,
fiebenswürdiger Menfch; er bewunberte Earlyle und feine Frau. Auch lag
es in feiner beweglichen, aneignungfähigen Künftlernatur, in ben farben
Thomas und „Jane Eartyfe. 327
Derer, die er bemunderte, zu fchillern. Was ja nicht ausſchloß, daß er viele
Anſichten Carlyles aufrichtig theilte. Anfangs ein bloßer Belannter, wurde
er von 1860 an Hausfreund des Ehepaars, das jeit 1834 und bis zum
Ende in einem altmodifchen, Heinen abgelegenen Haufe in Eheyne Row,
Chelfen, nah bei der Themfe, lebte. Carlyle war danals fünfundfechzig, feine
um fünf Sahre jüngere Frau bereits jchwer leidend und immer kränkelnd. Im
Jahr 1865 ernannten die edinburger Studenten fat einmüthig Thomas Carlyle
zum Neltor der Univerjität. Im April 1866 trennte er fi, wie immer
mit zärtlihem Abfchied, von feiner Frau, die ihn nie auf feinen Reiſen zu
begleiten pflegte und auch diesmal, ſchon ihrer Gefundheit wegen, zurüdblieb.
In Edinburg erwarteten ihm begeiiterte Huldigungen. Er ſprach zur ala:
demifchen Jugend mit der gereiften Weisheit des Alters. Wie einſt die
Covenanters, fo follten au fie das Evangelium Chriſti zur Regel ihres
täglichen Lebens machen, das Rechte thun, ohne jih darım zu kümmern,
ob fie im Leben Erfolg davon hätten, dem Studium, vor Allem der Gefchichte
jich zumenden, aber die Ausbreitung der Kenntniſſe nicht überfchägen. Frönmig-
feit und Furcht vor den Göttern habe das alte Gemeinweſen groß gemacht,
Demofratien feien der Natur der Sache nad nie von langer Dauer gemwefen.
Weſentlich fei, dag in einer Welt wie der unferen die Edelften und Weifeften
Teiten, die Uebrigen gehorchen follten.
Der Erfolg diefer Rede Carlyles war ungeheuer. Vom „Sartor
Resartus“, der 1833 al8 „das Werk eines literarifchen Tollhäuslers“ feinen
Berleger hatte finden lönnen, wurden jest zwanzigtaufend Exemplare ver:
tauft. „Ein vollitändiger Triumph”, fo lautete das Telegramm von Freunden
an Mies. Carlyle, die mit Didend und Willie Collins u. U. bei einem
fröhlichen Mahle auf die Gefundheit ihres Mannes trant. In einem Brief
an fie Hagte er am neunzehnten April darüber, nichts von „feinem liebften
Herz" gehört zu Haben. In einigen Tagen fei er wieder bei ihr. Er fchidtte ihr
feinen Segen und fein Lebewohl. Am Morgen des einundzwanzigften April
ſchrieb fie ihm noch, wie fait jeden Morgen, „den heiterften, fröhlichiten Brief
von allen“. Seit zwei Jahren hatte Carlyle feiner von fchwerer Krankheit
genejenen Frau eine Equipage gefchentt. Sie ließ an jenem Nachmittag an-
fpannen und fuhr, ihr Händchen auf dem Schoß, in den Hyde-Park. Dort
fegte Nie den Hund heraus und ließ ihn laufen. Ein vorüberfahrender Wagen
ging ihm über den Zuß und er lag, mehr erjchredt als verlegt, heulend auf
dem Rüden. Cie ließ halten, fprang heraus, nahm das Thier in ihre Arme
und lieg weiterfahren. Der Kutfcher fuhr zweimal um den Serpentinfee.
Bei der Achillesftatue drehte er jich, verwundert, daß er noch immer feine
Weiſung, nad Haufe zurüdzufchren, erhielt, nad feiner Herrin um. Die
Sache ſchien ihm fonderbar,; er bat einen in der Nähe befindlichen Herrn,
- U _-
328 Die Zukunft.
einen Blid in den Wagen zu werfen. Da faß Mrs. Carlyle mit gefalteten .
Händen, — eine Leiche.
Man brachte fie in daB nahe Georgsfpital. Die erften Freunde, bie.
gerufen wurden, Froude und Miß Jewsbury, vergaßen den Anblid nie wieder: .
„Die Stimm, bie bei ihren Lebzeiten von immerwährenden Schmerzen zu: .
fammengezogen war, hatte ſich geebnet und jett zum erften Mal ſah ich, wie
wundervoll fie war. Der geiftreiche Epott wie die traurige Weichheit, womit
er abmwechfelte, waren verfchwunden, ihre Züge in ernfter, majeflätifcger Ruhe
geglättet. Manches fchöne Antlig Habe ich im Tode gefehen, aber feins war
fo großartig wie das ihre.“
Mit aller Schonung wurde Carlgle in Kenntniß geſetzt. Er bittete
feine Heine Seannie in der Abteifirhe zu Haddington in die heimathliche
Erde und tröftete fih nie wieder. Wenn er an bie Stelle kam, wo Mis.
Carlyle zum legten Dial lebend gefehen worden war, entblößte er jtet3 ta8 Haupt.
Mit feiner ES chriftftellerei ging e8 nad) ihrem Tode zu Ende. Craigenputtcd
vermachte er in ihrem Namen der Univerjität Edinburg. Des Lebens blieb
er überdrüflig. „Der unbeilbare Kummer, die in Thränen getränkte Liebe
um ſie“ befchäftigten ihn ganz und nahmen die Wendung zu bitterer, ſelbſt⸗
quälerifcher Reue: „Ach, ich war blind, ftodblind*, Hagte er unaufhörlich;
„ich hätte willen follen, wie nah meine helle Sonne dem Untergang war!"
Münden. Lady Blennerbaffet.
I‘!
Das Buch eines Arbeiters.
EREs iſt ſchon längft gejagt, daß die geſellſchaftlichen Klaffen einander heute
END gegenüberftchen wie zwei ganz fremde Nationen; denn troßdem Heute,
wo nur gejellichaftliche, nicht auch rechtliche Schranken die Bevölkerung trennen,
der Uebergang von einer unteren Sicht in eine Höhere und umgefehrt viel
leichter ijt als früher und daher in jeder Klaſſe mehr Mitglieder als früher
ftehen, die in einer anderen geboren und erzogen wurden, jo war dod die Un—⸗
wijjenheit der einen Klafje über Denken und Yühlen der anderen nie jo groß
wie jet; der Grund iſt, daß unjer gefeljchaftliches Teben in immer ſteigendem
Drake aufhört, eine Beziehung von Perſonen zu fein, und zu einer Beziehu |
von Funktionen diejer Perfonen wird. Wo aljo Dlitglieder zweier verjieden« ı
Stlafjen einander berühren, lernen fie fid nicht mehr menfdlich kennen, fonde ı
fie betrachten und, da faft immer ein Taufchverhältniß zu Grunde liegt, bewertl ı
nur gewilje Aeußerungen des Anderen. Aus ihnen fonftruiren fie fi ba. :
einen typiſchen Charakter: des Arteiters, des Unternehmers, des Hausbefigen
des Krämers u. ſ. w.; in diefen Typus gehen aber nur die Züge ein, die fi »
aus den genannten Meußerungen ergeben und mit der ihr entipreddenden Get
nung des anderen Theils beobaditet werden, fo daß naturgemäß-Zerrbilder |
Das Bud) eines Arbeiters. 329
Hafles und Mißverftändnifies entftehen. Unter ſolchen Umftänden ijt es mit
großer Freude zu begrüßen, wenn wir charalteriftiiche Selbftbefenntniffe der
einen oder anderen Klafſſe befommen. Uns Gebildeten ift befonders fremd die
Arbeiterklaſſe, in welcher der Einzelne zugleich, da der Arbeiter am Unfreieften
den Lebensbedingungen feiner Klaſſe gegenüberfteht und fomit jtärker und direkter
von ihr beeinflußt werden muß als der einzelne Beamte, Bürger, Ariſtokrat
oder Gelehrte, uns fozial viel Lehrreicheres erzählen fann als Andere. Das
im Verlag von Eugen Diederichs erſchienene Buch „Denktwürbigkeiten und Erinne-
rungen eines Arbeiter“ hat hierdurch einen fehr großen Werth und verdiente
wohl, von Bielen gelejen zu werden.
Aber es hat auch eine große äfthetifche Bedeutung.
Wir, die Gebildeten von heute, haben eine große Freude an einfacher und
naider Erzählung, bei der der Erzähler, um einen Ausdrud Goethes zu gebrauchen,
nur ganz treuberzig in die Natur verliebt ift; und fo fuchen wir jchöne alte
Bäder zufammen, verfegen ung in fremde Zeiten und Sitten und haben vicle
Schwierigkeiten der Sprade; denn unfere heutigen Echriftiteller befigen nicht
mehr die Einfalt und treuberzige Liebe zum MWirklicden, jondern fönnen ihre
Gedanken, Deutungen und Folgerungen nicht zurüdhalten, wollen jeeliihe
Schwierigkeiten aufdeden und Unerhörtes und Neues bringen, möchten durd)
Beichreibungen glänzen und fuchen, indem fie bald nachahmen, bald tem Schein
der Nahahmung ausweichen, fich für ihre eigene Perſon bervorzuthun, ftatt nur
Das, was fie jagen wollen, in das rechte Licht zu jeßen. So wenden jie ſehr viel
Begabung und noch mehr Fleiß an eine doch zuleßt undankbare Aufgabe, —
was ja wohl überhaupt ein Merkmal unferer gegenwärtigen Kultur fein mag.
Die Urbeiterklaffe, die in raſchem Aufiteigen begriffen ift und vermuth-
(id) zwar durchaus nicht all ihre Erwartungen befriedigt jehen kann, aber doch
ſicher manche Thätigfeiten auf fih nehmen wird, die heute den höheren Klaſſen
eigen find, befißt, al8 ein jugendliches Weſen, noch rechte Einfalt und Treu-
herzigfeit und fönnte an fich unſere Literatur verjüngen, nicht nur durch eine
neue Begeilterung für Ideale der fittlicen Freiheit, die ja fie recht eigentlich
bewegt, jondern auch durch neue Kraft und Friſche der Anſchauung und Dar-
ftelung; aber die Kampfmittel, die fie nach den heutigen Umftänden anwenden
muß, find leider von einer Art, daß gerade den Begabten und PVorfämpfenden
dieſe Yähigkeit verloren gehen muß, ta fie die Kampfmittel erwerben müſſen
aus dem üblen Abhub der Bildung, den man popularifitte Wiſſenſchaft nennt,
und aus den Beitungen: hierdurch aber geht ihnen die Friſche und Kraft, zwar
nicht des Gefühle, aber des Gedankens, der Anſchauung und des Ausdrudes
verloren, jo daß, was man von ceigentlider Arbeiterliteratur in die Hände bes
fommt, in dieſer Hinficht viel ſchlechter ift als alle andere.
Das Bud, auf das diefe Zeilen aufmerkſam maden wollen, ift nun zum
großen Glück von einem Mann geichrieben, der zwar die Wandlungen unjeres
Wirthichaftlebeng aus kleinbürgerlichem Wefen zum Induſtrialismus gerade
mit erlebt hat, aber doch nech nicht in den Bannkreis der Sozialdemofratie und
damit in das Lejen von Echriften und Leitungen hincinfam, fentern feine
Sprade und Anſchauung an der Bibel gebildet Kat, die neben den griediichen
Klaffifern das befte Mufter ift. - Co hat ihn zwar die Unruhe fo weit erfaßt
330 Die Zukunft,
baß er fein Leben niederjchrieb, was einem gleichen Dann aus der Generation
unjerer Eltern nod nit tn den Sinn gelommen wäre, aber er hat ſich den-
noch wahrhafte Einfachheit und Größe des Stild erhalten. Freilid: was er in
dieſem Stil jagt, Das hat nur foziologifches Intereſſe und kein wahrhaft fünft-
lerijche8, denn es find nur gemeine und werthloje Dinge, die höchſtens einmal
gelegentlich durch einen dünnen Strahl bürftigen Gemüthes verſchönt werben;
und dazu fehlt jeder Aufbau, Unterordnung, Vorbereitung oder Zuſpitzung; bod
genügt die bloße Einfachheit und Reinheit des Stils, in dem der Dann nur
erzählt, nie ſchildert und nie refleftirt, um fein Buch fo feflelnd zu machen, wie
jelten Bücher find. ch wenigftens babe es in einem Zuge mit dem größten Ber:
gnügen und ohne einige Unluft durchgeleſen.
Wie ein ſolches Vergnügen entftehen mag, ift wohl recht ſchwer zu erklären;
denn wenn wir die Dinge, die in dem Buch ftehen, vor uns in ber Wirklichkeit
jähen, fo würden wir uns ganz gleichgiltig von ihnen abwenden; und fo wenig
Neues, was nicht ſchon in der MWirklichleit gewejen wäre, fondern aus feinem
Inneren hätte fommen müſſen, hat ber Erzähler hinzugethan, daß er felbft oft
nicht die feelifchen Urſachen der erzählten Gejchehniffe verfteht und der Leier
fie fi aus feiner fpiegelllaren Objektivität ſelbſt ſuchen muß.
Aber nicht nur der Stil der Erzählung, fondern auch der Stil des Aus
drudes ift vorzüglich, in der Einfachheit umd Sicherheit der Worte, in dem aus
gezeichneten Bau der einzelnen Säße und der Sapverbindungen. Auch bier
bat es dem Mann genügt, daß er von Gedrudtem nur die Sprache Luthers
kannte und fonft nur gefprochene Sprache geübt hat. Immerhin muß er aud
bier, wie in dem ſtarken Stilgefühl feiner Erzählungmweife, eine befonders große
Begabung haben, denn er überwindet Aufgaben, die ſich Luther noch nicht ftellte,
und zwar immer aus dem Geiſt unjerer Sprache heraus.
Mer unfere deutfche Sprache liebt, weiß, in welcher Berwilderung fie fi
beute befindet, gegen die gar feine Hilfe möglich ſcheint. Vielleicht licgt deren
legter Grund in der Behandlung, die unjere Klaſſiker ihr zu Theil werben ließen;
eine Beilerung, wenn fie überhaupt möglich wäre, müßte wieder an Quther an-
Inüpfen; vornehmlich würde Das für den Periodenbau gelten, denn unfere heutigen
Schriftiteller, weil fie jehr oft ihre geichriebenen Säge ſich nicht mehr laut vor«
lejen, vergeflen nicht jelten, daß das Deutſche unter ganz anderen Bedingungen
Perioden bauen muß al® jede andere Sprade; ſchon, daß wir fehr langſam
ſprechen und eine jchwerfällige Auffaflung haben, ſchafft eine eigene Borausjegung;
zum Beiſpiel erklärt fich wohl unjere Freiheit der Wortftellung aus dieſer Mühe
des Berftehens. Leicht aufjaflende Völker haben eine grammatifalifch geregelte
Stellung; jehen wir doch ſchon unfere deutſchen Juden, gegen den eilt der
deutihen Sprade, injtinktiv das Objekt Hinter das Prädikat fegen; und diejer
Inſtinkt iſt durch Nachwirkung des Hebräifchen jedenfalls nicht zu erklären.
Was mit Alledem gemeint wird, zeigt fi wohl am Beſten durch den
Abdrud einiger Sätze aus dem Bud:
„Das tit nichts Seltenes geweſen, daß die Gutsherren und Amtsleute, wenn
fie meinen Vater ndıhig hatten, daß fie ihm das Reitpferd ſchickten, und mandmal
haben fie ihn aud in der Kutſche holen lajlen. Uber mein Vater ift doch ein
jonderbarer Dann gemefen. Wenns eilig geweſen ift, wie an diefem Morgen,
Das Buch eines Arbeiters. 331
dann hat er ſich freilich aufs Pferd geſetzt und iſt in ſchlankem Trabe rausge—⸗
ritten; aber wenn er merkte, daß ſie ihm das Pferd blos deswegen geſchickt hatten,
daß er nicht ſollte ſo weit zu Fuß gehen, dann ließ er den Reitknecht wieder
aufſitzen und ging ſelbſt nebenher. Aber die Knechte wollten Das auch immer
nicht thun; dann find fie Beide den ganzen Weg neben dem Pferd hergegangen
und haben fi was erzählt. Aber wenn er hat müſſen in der Kutiche fahren,
dann iſt er allemal ärgerlich geworden, und wenn er binausging zum Einjteigen,
da hat er die Hausthür Hinter fih zugeworfen und hat fein Sind dürfen mit
zaustommen. Aber wenn fie Haben einen Zeiterwagen gejchict, der gar feinen
Sit gehabt Hat, weder für ihn noch für den Knecht, dann iſt er freundlich ge
wejen, dann haben die Kinder dürfen mit rauslommen und hat ihnen die Hand
gereicht und hat Adje gejagt, und wenn er bat auf dem Wagen geftanden und
die Pferde find Iosgegangen, dann hat er ihnen noch zugelacht.”
Nicht fo ganz erfreulich und rein wie diejes Aeſthetiſche ift der eigentliche
Inhalt des Buches, injofern man aus ihm unverfälichte Arbeitergefinnung kennen
lernt. Zwar ift eg im Ullgemeinen fein geradezu übles Bild, das man befommt.
Der Sinn für Ehrbarkeit und Tüchtigkeit, der fih in unferem Volk entwidelt
bat, leuchtet auch bei diefem Mann immer wieder hervor, der doch auf die fer
niedrige Stufe des Erdarbeiters gejunfen ift und eine faſt majchinenmäßige
Thätigkeit ausüben muß zwilchen Leuten, die aus allen Gegenden zuſammen—
geftrömt find und ohne Anhalt ar Verwandtſchaft wie ohne Weib und Kind
blos für ihre rohe Arbeit leben; auch feine Genoſſen ſcheinen nicht böfe zu fein,
und wenn auch die bejchriebenen Lebensumſtände ſicher nicht dazu angethan find,
brave und tüchtige Menſchen zu ſchaffen, jo Haben fie doch auch Bravheit und
Tüchtigkeit wenigſtens nicht vernichtet, die einmal vorhanden waren. Was be-
fonder8 hoch zu ſchätzen iſt: unter den Biegeletarbeitern, zwiſchen benen er ſpäter
beihäftigt iit und die bier auch aus zujammengewandertem Volk beftanden, gab
e3 doch eine Menge, die troß drüdenden Alkordfägen aus Ehrgefühl ihre Arbeit
fo gut machten, wie fie konnten, und lieber mit unzureihendem Lohn zufricben
waren, als daß fie ſchlechte Arbeit geliefert hätten. Solche Sefinnung bei folden
auf der tiefſten gejellfchaftlichen Staffel ftehenden Leuten, die eine Achtung Anderer
faum zu verlieren haben, verdient doch die höchſte Anerkennung.
Immerhin muß man fi klar machen, daß, wie jede Klaſſe, fo auch bie
Urbeiter ihre befondere Sittlicjleit haben; Manches, was uns unerhört vor-
kommt und deshalb von ben Gejegen hart geahndet wird — benn die Geſetze
entiprechen heute ja im Wejentliden den Anfchauungen der mittleren Klaſſen —,
erſcheint biefen Leuten als gar nichts Schlimmes. Einmal befommt der Erzähler
bei einem Bahnbau Quartier bei einem fleinen Bauern, wo er mit einem an⸗
deren Arbeiter zufammen jchlafen muß, der die Krätze Hat und ihn damit anjtedt.
Hierüber ärgert er fich jo, daß er fortgehen will; und wie er Das dem frägigen
Genofjen jagt, erklärt Der, er wolle aud fort, und ſchlägt ihm zugleich vor, fie
follten ihren Wirth nicht bezahlen, bei einem Kaufmann fchnell noch tüchtig
borgen und dann heimlich durchbrennen. Das thun bie Beiden au und unſer
Mann jagt: „Im Quartier fam mir die Sache freilich ſchändlich vor, wegen
den Übrigen Kameraden ſowohl wie wegen den Unternehmern. Aber die Krätze
triegen war eben fo ſchändlich; und ging nun Wurft wider Wurft“. Wir werden
332 Die Zukunft.
nie verftehen, wie ein ſolcher Gang ber Gebanten und fittliden Urtheile möglid
ift; wer aber Gelegenheit gehabt hat, mit Arbeitern zuſammenzukommen, wir
Aehnliches ſchon oft erlebt haben; vielleicht Itegt bier ein Reſt urthümlicher
Empfinden? vor. Dabei ijt unfer Damm in anderen Fällen durchaus korrekt
und fogar fittlich feinfühlend. &o erzählt er, daß fein Großvater von ber Manni
felder Gewerkſchaft ausgebildet wurde, damit er bei ber Waflerhaltung verwende
werden Eonnte; als er aber genug wußte, machte er fich jelbftändig al8 Brunnen
mader. Darüber jagt der Erzähler: „Diejes Stüd, das bat mir in meine
Jugendzeit und auch viele Jahre naher gar nicht gefallen und ich wünldte
oft, da ich ohnehin fo wenig davon wußte, ich hätte Das aud nicht gehört;
benn mir kams nicht anders vor als unredt und undankbar. Erſt jpäter, als
ich felbit jchon viele Jahre gearbeitet hatte, da machte ich mir andere Gedanker
davon und da fah ich ein, daß ich meinem Großvater fein Richter nicht bin”.
Wahrſcheinlich würde viel Ungeredtigleit und Erbitterung aus ber Bel:
verichwinden, wenn man bie Geſchworenen Immer aus der Slajle der mgeflagten
nehmen würbe; unfere heutige Art iſt Jedenfalls ganz finnlos; und es ift gems
nicht zu fürchten, daß folche Gerichte im Ganzen laxer urteilten; in vielm
Fällen würden fie ſogar fchärfer fein. 7777
“En Üllgemeinen herrfcht bei unferem Erzähler eine gewiſſe Kinbdlichfer
vor, die fehr oft auch übler Natur ift. Recht bezeichnend ijt da der Schluß des
Budes. Seinen unmittelbaren Vorgeſetzten mißtraut der Mann faſt immer.
Das fcheinen die anderen Arbeiter auch zu thun. Am Ende geräth er iiber des
einen Meiſter, wie e8 fcheint mit Recht, in eine bejondere Einpdrung, weil ba
ihn gegen die Anderen benadhtheiligt, aber er weiß nicht, wie er fich helfen fei:
da betet er in feiner Noth zu Gott und hat einen Traum, in dem ibm Gr
ericheint und jagt: „Wenn Du heute nad Deiner Arbeit fommft und fiet
den Meifter, jo fprehe feinen Kamen aus und nimm die Form und baue *
auf den Tiſch und rufe laut aus: Hier Schwert bes Herrn und Gideon! Is
will monatlich über hundert Mark verdienen! Hier ift feine Ordnung! Hier
muß man ja bei der Arbeit verreden!" Nach diefem Traum handelt er um
daranf kündigt ihm der Meiſter. Hiermit ift er ganz zufrieden; dann aber erbäli
er jeinen Kündigungichein, der bie Unterjchrift des Direktord trägt. Den fenzt
er gar nicht; und daß der unbefannte Mann ihm, der viel länger auf dem Wert
war als der Tireftor, kündigen will: Das bringt ihn in Aufregung; deshalb
will er den Ingenieur vor dem Direktor anflagen, baß er nichts verjtände: „und
wenn mir der Tireftor etwa dumm fäme, da wollte ich glei alle Beide an bie
Luft fepen und felbjt Direktor fein.“ Den Ingenieur ftellt er denn auch glüd-
lich, redet allerlei Thörid;tes zu ihm und fordert ihn auf, er folle mit ihm gehen;
nad) einigen gewechjelten Worten fagt Der: „Nein, ich gehe nicht mit”, und vie
unfer Mann nach dem Grund fragt, antwortet er wegwerfend, er habe feine ! ıft.
„Aber Dieſes fand ich gar nicht ſchön und war jeßt in Berlegenheit, derm id
Hatte nicht darauf gerechnet, daß er mitfäme; aber da machte er fi meine I cr
legenheit fogleich zu Nugen und wandte ſich um und ging fchnell in der, Richt ng
nah feinem Bureau hinweg. Ta friegte ich Mitleiden und lich ihn ruhig lauf n;
denn mitkommen mollte er ja doch nicht.” Den Direktor ſucht er dann pr ter
nicht zu einer gewollten Zeit auf, weil er mit einem Male ganz friedlich geftir mı
Das Bud) eines Arbeiter, 333
ift, und kommt erjt, al3 er wieder die richtige Berfaflung in fi ſpürt. „Ihn
wegjagen ging nicht, dazu war ich allein no zu wenig und hatte mich brein
ergeben. Das Hatte ich auch geitern an dem Inſchenjöhr ſchon erlebt, wie er
feinen Sit behauptet hatte. Da wollte ih Herrn Boos thun, wie er mir ge
than Hatte, und wollte ihm unbefannter Weife kündigen.“ Herr Boos hat aber
Beſuch und unfer Mann muß drei Stunden lang warten, die er mit Betrachtungen
über die Tagebieberei der Beſucher und mit Berfuden, die Thür einzutreten,
und Aehnlichem ausfült. Endlich kommt er vor und der Direltor jagt ihm natür-
li, daß er fi hätte beſchweren müflen, und entläßt ihn. „Da rief ich laut:
„Nanu?“ Da warf er die Zeitung auf den Tiſch und fprang vom Stuhl auf
und ftellte fih nahe der Thür an die Wand und zeigte mit beiden Armen nach
der Thür umb fah mich babei durch bie goldene Brille ganz verflucht ernithaft
an. Da blieb mir nichts Anderes übrig, als ihm den Willen zu thun und aus
dem Bureau zu gehen." Draußen ftellt er fi) auf und fängt zu fchimpfen an;
ber Direktor drinnen macht ſich an einem Telegraphen zu fchaffen, wohl um
Polizei zu rufen; und zwar meint unfer Erzähler: „Du lieber Gott im Himmel,
da wollte mich der Mann bang machen mit der Polizei! Der dachte wohl, ih
fäme erſt von Muttern”; dann aber geht er doch fort, und zwar, wie er ans»
giebt, aus Schonung für den Polizijten, Damit Der nicht etwa einen Mißgriff made.
Diefer ganze Vorgang ift typifch; und Sozialpolitiker — wenn fie fi
mit noch anderen Dingen bejchäftigen wollten als mit Statiftifen und Enqueten —
würden ihn mit großem Nußen für ihre Xhätigfeit bedenken. Auch wer große
Politik treibt, Fönnte hier lernen: fi vor einem Gefchrei der Arbeiter nicht gleich
zu fürchten, den Arbeitern aber auch zu geben, was fie in Wahrheit verlangen,
nämlich relative Sicherheit der Exiſtenz, Einfiht in die Dinge, die fie unmittel«
bar angehen, damit fie ihre nicht verwendete geiftige Kraft an deren Bedenken
und Berbeflern verbraudyen fünnen, und endlich das Bewußtſein einer ordent«
lihen und ficheren Negirung, die nicht allzu jehr über fich ſchimpfen läßt.
Schwere Anklagen enthält das Bud: es ift eine Schande, daß man
Menſchen zufammentreibt wie das liebe Vieh, nur daran denkt, welche Urbeit
fie liefern follen, und vergibt, daß fie unfere Brüder find, in Manchem zwar
geringer, in Manchem aber auch beſſer als wir; und es ift ein Glüd, nicht nur
für fie, fondern für unfer ganzes Volk, daß fie heute durch die Sozialdemofratie
und durch die gewerkſchaftlichen Organiſationen fi die Möglichkeiten geichaffen
haben, ihre Klagen anzubringen und Verbeſſerungen durchzuſetzen; nur follten
Alle, denen die Leitung unjere® Volkes anvertraut ift, aus dieſen Beitreburgen
der Arbeiter die rechte Lehre ziehen, daß jede Klaſſe nur fich felbft helfen kann
und deshalb vom Staat erwarten muß, daß er ihr die Formen verſchafft, in
denen Das möglich ift. Uber auch eine andere Lehre enthält diefes Buch für
jeden, der fie noch nicht kannte: die ”ehre, daß die Arbeiterflafie an den großen
Aufgaben unjeres Volles nicht felbftändig mitarbeiten kann, weil ihre Qebens-
verhöltniffe fie nicht zu der nöthigen Einficht und Weite des Blickes kommen laffen,
und daß deshalb die große Partei im Reichstag heute Jein Unglüd für une ift.
Weimar. Dr. Baul Ernie.
Er
334 Die Zukunft.
Boya.
SE" feit langer Zeit von allen Kunftfreunden ſchmerzlich empfundene
Rüde ift endlich ausgefüllt worben: wir haben eine Monographie über
Goya. Das erfte Buch über den Spanier in deutfcher Sprache ift gefchrieben
worden. Ueber Velatquez, den größten Maler der iberifhen Halbinſel und
einen der größten Dealer aller Zeiten und Länder, haben wir das grund:
legeude Werk von Juſti und anderes Vorzüglihe. Ueber Goya hatten mir
bisher nichts. Nun Hat uns VBalerian von Loga, einer der jungen Kuftoben
des königlichen Kupferſtichkabinets, das Langerfehnte Buch gefchenft. Es mil
nicht mit Juſtis ungleich breiter angelegtem Werf verglichen werden. Aber
wir freuen uns, daß der geniale Aragonier, den fo Viele lieben und ber
für die Kunft unferer Tage und der jüngften Vergangenheit von fo weſent⸗
liher Bedeutung geworden ift, endlich auch feinen deutfchen Darfteller ge:
funden hat. Logas ſchönes Bud zeugt von gutem PVerftehen und tft de
Frucht grünblicher Forſchung. Es ift in erfter Linie gelehrt und den Ans
forderungen der Wiffenfchaft genügend. Dabei nicht troden, fondern mit Ge:
ſchmack, nicht gerade geiftreich, doch in einer vernünftigen Sprache gefchrieben.
Loga hatte die wenig dankbare Aufgabe, einzelne von uns gelichte,
aber falfche Gerüchte über die Perfon des Künitlers, die durch das ſprühende
Buch des Franzofen Mriarte verbreitet waren, zu korrigiren. Diefe Korrekturen
verdriegen und, denn die Vorftellung von dem Menfchen Goya, wie jie bisher
in uns ruhte, bricht damit in fih zufammen. Wir trugen ein Bild von
dem Spanier in uns, das wir im Grunde nicht weniger Tiebten als die
grogen Aeußerungen feiner Kunft.
So fahen wir ihn: fhön, elegant und ewig jung, mit dem Lächeln
des Eroberers, an der Seite den fcharfen Degen, mit deſſen Spige er Alk
tigte, die feinen Launen ſich nicht fügen mwollten. Hochmüthig, rückſichtlos,
von den fchönften Frauen umringt, die ihn fürdhteten und fich ihm bengten,
ftolz und felbfibewußt den Königen gegenüber, denen er diente. Wir fahen
ihn auf heimlichen Lagern in den Boudoirs glühender Herzoginnen, fahen
ihn in glüdlihen Duellen mit feinen Nebenbuhlern und dann wieder vor
der Staffelei oder der Kupferplatte, mit einer Leichtigkeit fchaffend, wie fie
die Gunft der Muſen nur ihren ertorenften Lieblingen verleiht. Eine Herren:
natur, ladend über die Welt und ihr Treiben, kühn, ironifch und unmider
ftehlich; fo fahen wir Goya, den Bildner der Caprichos. Es giebt ein
feines Gedicht von Richard Schaufal, das diefer Vorftellung Ausdrud verleitt:
Goya.
Ich Habe die lange ſchwüle Nacht
Bei einer jungen Dame verbradtt:
Goya. 335
Sie liegt und träumt mit offenen Lippen von meinem Naden....
Ich will jeßt malen, hr ſollt Euch paden!
Steht nit herum und gafit jo ledern!
Sonft zer’ ih Euch an Euren Agraffenfedern
Oder kigle Eure dünnen Waben
Mit meinem Degen. Ich bin von Gottes Gnaden,
Ich bin ein Grande im offenen Hemd,
Ich liebe das Licht, das die Welt überſchwemmt,
Sch Liebe ein Pferd,
Das bäumend fih gegen den Zügel wehrt,
Sch Liebe den Juden, den Keiner befebrt.
Dem König lafje ich jagen, er folle
Klopfen, wenn er mich ftöre wolle.
Ach, der wirkliche Francisco de Goya war ein Anderer. Einen Troft
zwar "haben wir: für feine Jugend bleiben viele Züge des uns vertraut ges
wordenen Bildes beftehen. Das Wort über den König freilich hat nie gegolien.
Boyas langes Leben umfchließt die Zeit von 1746 biß 1828. Er
wird als Sohn eines Bauern in dem aragonefiichen Neft Fuentetodos ges
boren. Seine Lehrzeit abfolvirt er in Saragoſſa. Der lebensdurftige Jungling
mit dem ftarfen Körper und fchönen Gelicht, der den Mädchen den Kopf
verwirrt, bezeugt mehr Freude an der Süße des Weines und den Aben-
teuern der Liebe als an der langweiligen Luft des Ateliers. In einer nächtigen
Rauferei, an der er betheiligt ift, fommen drei Menſchen ums Leben. Er
flieht mit Hilfe feiner Freunde nach Madrid, wo damals Naffael Mengs,
der kühle Naffael aus Sachſen, am Hofe Karls des Dritten die erfte Rolle
fpielte. Auch Tiepolo malte damals in der faftilifhen Hauptfladt, aber man
beachtete ihn wenig. Mengs verbunfelte ihn. Es ift nicht Mar zu erweifen,
ob Goya in perfünliche Beziehungen zu dem greifen Italiener getreten ift.
Felt fteht, daß er ihm künſtleriſch Manches zu danken hat.
Nach ein paar Jahren geht e8 gen Rom. Dan berichtet, auch biefe
Abreiſe fei nicht freiem Willen entfprungen. Goya foll bei einem galanten
Abenteuer zwei Mefferftiche in die Bruft befommen haben; und wie einft in
Saragofja, fol ihm auch jest der Boden unter den Füßen zu heiß geworben
fein. Und nun wird etwas Wunderſames erzählt, das zwar nicht mit Bes
ftimmtheit verbürgt if, woran wir aber gern glauben möchten, weil es fo
töftlich in diefe Jugend paßt: er foll jich, mittellos, als Stierlämpfer ver:
dungen und auf diefe Weife langjam in das füdliche Spanien durchgefchlagen
haben, von wo aus er zu Schiff nach Ytalien hinüberfuhr.
Er lat in Rom über das blöde Treiben an der Akademie, ſlizzirt
Iuftig im Getümmel des Volles, verübt allerlei tolle Streiche, darin ber
Jugendliche Meiſter ift, und als er endlich wagt, von Liebe hingerifien, im ein
836 Die Zukunft.
Nonnenkloſter einzubrechen, ift e8 wiederum hohe Zeit, daß er fich den Füngen
der Polizei durch eilige Flucht entzieht. Er kehrt in bie Heimath zurüd und
erhält einen erften großen Auftrag in Saragoffa, wo er ein Tonnengewolbe
der berühmten Kathedrale mit religiöfen Fresken ausmalt, die bezeugen, wie
innig er Tiepolo bewundert. Dann zieht er fi, vermuthlich wieder durch
eine Mefierangelegenheit gezwungen, zwei Jahre in ein Kloſter am Ehe
zurüd, wo er feinen größten Cyklus religiöfer Bilder al fresco malt.
Er geht nach Madrid, verheirathet fi und die bunten Tage feiner
braufenden Jugend jind beendet.
Die Vermählung ift der Punkt, an dem fein Leben ſich wendet, an
dem ein neuer Goya zu werden beginnt. Ruhe und Stete fommen in fein
Dafein und er füngt an, eine ungeheure Arbeitkcaft zu entfalten. Wir hören
nicht3 mehr von Abenteuern, in die er verftridt ift, nichts mehr von eiligen
Abreifen, zu denen er gezwungen wird. Das pilante Berhältniß, in dm
er zur Herzogin von Alba, einer Freundin feiner Kunft, gejtanden haben
fol, gehört ing Neich der Fabel. Auch die häflichen Dinge, die man übe
fein ehelicheS Verhältniß erzählt hat, find offenbar erfunden. Die fchöne Frau
mit dem rothgoldenen Haar fcheint nur den günftigften Einfluß auf die Thätig:
keit Franciscos gewonnen zu haben: Bild auf Bild entfteht in emſiger Arbeit
Nachdem die heißerſehnten Beziehungen zum königlichen Hof im einer alla
unterthänigen Weife angebahnt find, verfchwendet er auf lange Jahre hinaus
einen guten Theil feiner Kräfte an eine ftattliche Aeihe von Kartons, di
im Auftrage des Hofes für die Teppihmanufaltur entworfen, dort für dit
föniglichen Gemächer im Prado und Eskorial gewebt wurden. Da hängen
nun diefe großen Gobelins an den Wänden der einfamen Schlöfler, und wen
man vor fie hintritt, wird man das Bedauern nicht los, daß gerade Gohya ſeine
Zeit an diefe koſtſpielige Liebhaberei eines Königs verzetteln mußte. Denn ſeien
wir offen: diefe Gobelins machen ung nicht warm und nicht felten möchten
wir und gegen den Gedanfen fträuben, daß fie von Goyas Hand flammen. Zwar
zeigen fie eine gefunde und ficherlich derbere Realiftl, als fie dem Zeitgefcmod
geläufig war; aber fie tragen nicht die Wefensfpur des Genies und der Ein
flug Watteaus ift deutlich) bemerfbar.
Goya lebt in Madrid recht behaglih. Er ift muſikaliſch begabt umd
in den Salons feiner Gönner willtommen. Er liebt eine vornehme Leben?
führung, ift pafftonirter Jäger und giebt viel Geld aus, wenn er e8 hit.
Er ift ein treuer Freund, ein taftvoller Menfh und im Grunde bebärfnik
108. Seines Nimbus als eines Degenhelden ift er längft entlleibet, — fit
immer. Dem Hof zeigt er fi von einer Devotion, die wir verwünſchen,
da fie wenig zu dem Bilde paßt, da8 wir früher von dem Helden hatten
Mit den Jahren bildet fi eine Schwerhörigfeit heraus, die ihm oft mike
Goya. 337
trauiſch werben läßt, wie fo viele von ſolchem Leiden Geplagte: es iſt der
Anfang völliger Taubheit, der ſich andere langwierige Krankheit gefellt. Goya
ift fchnell gealtert. In den Jahren feines Lebens, wo wir ihn und nod)
als Troubadour und ftolzen Kavalier vorftellten, ift-er ſchon müde Mit
fünfundvierzig Jahren Hört er nichts mehr. Diefe Taubheit, die ihn auf fein
Inneres, auf die Gebilde feiner Gedanken und Träume Tonzentrirte, fcheint
mir beſonders wichtig zu fein, wenn man die ſpäter ins Ungeheure entwidelte
Phantafiethätigkeit des Meiſters erklären will. Erſt feit den Tagen der Taub-
heit treten die grandidfen Phantafiegebilde, die ihm dauernden Ruhm fichern
follten, in feinem Werk auf.
Goya malt in Madrid neben den Kartons zunächſt viele Portraits.
Sie find von merkwürdiger Ungleichheit. Es find Tafeln darunter, flach
und langweilig gemalt, die irgend ein Anderer feiner Zeit eben fo oder beſſer
fertig gebracht hätte. Manche find recht flüchtig und offenbar in fchlechter
Laune gemacht, wohl nur, um Geld zu verdienen. Diefe Bilder haben von
Goyas Weſen nichts. Aber es giebt andere Portraits, die er in glüdlichen
Stunden mit Luft und Liebe ſchuf und die ihn als einen bedeutenden Cha-
rafterifliler und feinen Durchforfcher des Menfchengelichtes zeigen. Das ziem-
Lich früh anzufegende Bildniß feiner Frau Joſefa mit den großen dunkeln
Augen und dem freien Hals (jet im Prado) hat ſchon etwas Meifterliches.
Er hat bie Herzogin von Alba gemalt, einmal in Weiß, mit loſem, üppig
berabwallendem Haar, einmal in Schwarz, mit Föftlicher Mantilla; beide
Bilder find mit einer Feinheit gemacht, die Goya nah bei Velasquez den
Play anweiſt. Freilich darf man nicht vergefien: Velasquez war vor ihm.
Goya hat ihn mit großer Liebe und Hingebung ftudirt, und was der Bauern:
john aus Aragon dem Wriftofraten zu danken hat, ift nicht zu umterfchägen.
Goya ſelbſt fagte, feine Lehrmeifter ferien neben der Natur Velasquez und
Rembrandt geweſen. Der Ton ift auf den erften der beiden Namen zu legen.
Rembrandt bat ihn wohl zum Radiren angeregt, aber in feinen Spuren ift
er faum gewandelt und ein Bild von ihm hat er vielleicht nie gefehen. Don
den Schöpfungen des Velasquez aber war er umgeben. Auf diefen Bildern
ſah er die berühmten wundervollen Lufttöne, die duftige, graufilberige Atmo-
iphäre (el ambiente, fagt ber Spanier) der Umgegend von Madrid, die Keiner
nad) ihm jo wundervoll wiederzugeben vermocdt hat. Bon ihnen lernte der
Kolorift: auch bei ihm zeigt fich gern ein feines Grau in Verbindung mit
Roſa oder einem goldigen Gelb. Bon ihnen hat er gelernt, das Portrait
mit der Zandfchaft zu verbinden. Manchmal, befonder8 in den Bildniflen
Karl des Dritten und des Vierten und auf der großen, an Yiguren reichen
und doch fo leeren Tafel, die die Familie Karls des Vierten darftellt und den
Maler an der Staffelei im Hintergrund zeigt (wie Velasquez auf den Meninas),
one J
338 Die Zukunft.
iſt die Kompoſition auch in auffälligen Einzelheiten auf Velasquez zumit:
zuführen. Zwiſchen den Meninas und diefem repräfentativen Familien
liegt freili eine Kluft, über die feine Brüde führt. Das Bildniß
de3 Dritten mit der Guadaramalette und dem Eskorial im Hintergrund ı
vorzüglich, trog der Erinnerung an Belasquez. |
Ein wundervolles Bild ift die Romeria de San Isidro. Es if}
Ueberblick über ein Vollsfeit vor den Thoren von Madrid; im Mittelgru
der Manzanares, hinten auf der Anhöhe die Stadt. Bor diefem Verl h
man ein ähnliches Gefühl wie vor den Meninas: man möchte hineinfchreiten.
Man möchte ſich im diefes fröhlich plaudernde, tanzende, fcherzende Getüm
mifchen und weiß fchwer zu jagen, was eigentlich das Bedeutendfte an
Bilde ift: die Lodere, Taftilifche Luft, hier Löftlicher gelungen als je, bie gläd
lichen perfpeltivifchen Wirkungen oder die famofe Kompofition des Border
grundes. Zu meinen Lieblingen gehört die berühmte Maja (Schöne), di
Goya zweimal in der gleichen Lage dargeſtellt hat: bekleidet und nadt. &
wartend, fehnfüchtig, liegt fie auf weißen Spigentifien, bie Hände unter dem
ihwarzlodigen Haupt. Wie fü verlodend ift das Geficht, zumal der Be
Heideten; mit welcher freudigen und heherrichenden Kunſt ift der gragi
Heine Körper der Nadten gebildet! Etwas unendlich Kiebliches blüht au
den Bildern diefer fpanifhen Schönen auf.
Die religiöfen Darftellungen, die er in einer Neihe von Kirchen u
fresco gemalt hat, zeigen feine ftarke Seite nit. Amufant find die Eng
an den Gewölben in San Anton de la Florida zu Madrid: fie fehen am
wie hübfche moderne Cocottchen in Morgentoilette, mit geſchminkten Auge:
brauen und Flügeln zmwifchen den Schultern. Man meiß nicht, woräbe
man mehr flaunen fol: über die Keckheit, folhe Engel an bie Wänbe eine
Kirche zu malen, oder über die Thatfache, daß fich der Klerus diefe Geſtalte
als Vertreter der himmlischen Heerfchaaren gefallen ließ. Einige Tafelbilder
mit religiöfen Themen aus der fpäteren Zeit erweifen ſich dagegen als Im-
preffionen von genialem Vermögen, fo ein Chriſtus am Delberg, fo namen:
lich eine Heilige Elifabeth, die Kranke pflegt.
Den größten Theil feines Ruhmes dankt Goya feinen Rabirunge.
Die erften Verfuche mit der Nadel fallen in eine ziemlich frühe Zeit. &
reizt ihn, die geliebten ‘Dleifterwerke des Velasquez mit der Nabel wieder
zugeben. Ein ganzer Cyklus folder Blätter entfteht, aber die Kane de⸗
Löwen ift hier faum zu verfpüren. Der große Radirer, den wir lieben, ent-
wicelt fich exrft in den Jahren der Taubheit, in den fiebenziger Jahren de
achtzehnten Jahrhundert3 alfo. Es find die Jahre, in denen daß innere Weſen
Goyas ſich umgeftaltet. Er ift oft, in Folge von körperlichen Schmerzen,
unglüdlih und verbittert und fein Gemüth verbunfelt fi mehr und met
Goya. 339
im ber dauernden Taubheit. Die Phantaſie beginnt, ihre Rieſenflügel zu
regen, umd trägt ihm in Gebiete, wo ihm künftlerifche Offenbarungen von ben
wahnmigigften Dingen werden, wie fie kaum eim Anderer vor ihm Hatte. Er
fchwelgt in den tollfien Borftellungen, wirft fie aufs Papier und bringt fie
dann auf die Kupferplatte; denn es ift bezeichnend für ihn, daß er faft Alles,
was er radirt, vorher zu zeichnen pflegt; und zwar fchließt fich die Radirung
meift in der minutiöfeften Weife an die Zeichnung an.
Zuerft entfiehen die Caprichos, die technifch von kaum zu übertreffender
Bollendung find. Goyas Griffel bildet Vögel mit Mienfchenköpfen, die
grinfend durch die Luft Hinfchwirren; fie werden von Frauen gefangen, gerupft
und die desplumados (man beachte die Haltung und die Bewegungen dieſer
unendlich drolligen Geftalten!) werben mit Beſen bearbeitet. Fragen von
nie gefehener und dabei überzeugend glaubwürdiger Scheufäligkeit grinfen
uns an. Wir fehen Menſchen mit Schweinsköpfen und Thiere mit Menſchen⸗
töpfen. Eine Fran bricht bei Naht im Mondlicht einem Erhängten bie
Zähne aus dem Mund, vermuthlich, um fie zu einem Zauber zu brauchen
(a caza de dientes); Pfaffen Inufchen verzüdt der Predigt eines Kakadus;
irgend ein Unthier fpielt Fangball mit Menfchen. Wir fehen elelhafte alte
Kupplerinmen, mit Gefichtern, die das Lafter geformt Bat; zwei, von Fleder⸗
mäufen umflattert, nehmen eine Prife und neben ihnen fteht ein Korb, ber
mit zu früh verendeten Kindern gefüllt if. Brei Kupplerinnen faufen wie
Geier durch die Luft und über ihnen thront eine geſchmückte Schöne (vo-
laverunt). Durch die Luft fliegende Heren zerfleifchen einander die Gefichter.
Goya hat eine merkwürdige Vorliebe für Wefen, die die Luft durchſchwirren,
zumal für reitende. Auf einer Eule reitet ein Teufel, auf dem Teufel ein fettes,
viehifches Weib, an das wieder andere Scheufale fih Hammern. Hexen mit
ſchwammigen Körpern reiten auf Befen; eine jugendliche Schöne wird von
geilen fliegenden Ungethümen verfolgt, bie fie bedrohen; teuflifche Spuk⸗
geftalten mit riefigen Fledermausflügeln faufen umher, andere befchneiden
fi die Fußnägel. Schredensgebilde, Ausgeburten einer vertradten Phantafie,
Unheimlicyes und Grauenhaftes: Das find die Caprichos. |
Dean hat viel an dem Inhalt diefer achtzig Blätter herumgedeutelt,
befonderd zu Goyas Zeit. Allerlei Anfpielungen auf politifche Vorgänge
und beftimmte Perfonen hat man erkennen wollen; ob und wie weit mit
Recht, entzieht fich heute unferer Beurtheilung. Daß ſtarke Satiren darunter
find — befonders gegen bie Frau und die Pfaffen richtet ſich manche Spige —,
ift offenbar. Es find die erfchredenden Bifionen eines genialen, von graufigen
Borftellungen verfolgten Geiftes, ber in Stunden des Bornes, da ihm die
Welt fo ekel erfchien, fich berufen fühlte, der Menfchheit einen Zerrfpiegel vor
dad Auge zu halten.
27
840 " Die Zukunft.
Der berühmte zweite Mai des Jahres 1808 kommt. Das Bolt ve
Madrid erhebt ſich rebellirend gegen Murat, der es in einem furdtbars
Blutbad niedermetzeln läßt. Für den Künftler Goya ift diefer Tag vu
böchfter Bedeutung: hier fieht der Sechzigjährige zum erfien Mal die Schreden
bilder, die zunächft auf Tafeln, dann, zwei Jahre fpäter, in feinen radim
Desastres de la guerra fo fürchterlid wieder erftehen.
Die ahtzig Blätter des „Kriegsſchredens“ find im ihrer äufen
Wirkung vielleicht noch gräßlicher als die Caprichos, weil Hinter ihnen de
Wahrheit grinft, während die Caprichos doch meift nur Phantome zeig
Hier dringt einer Geftalt ein Beil in den Kopf, dort ſpießt fich ein Bajome
in ein Gefiht. Männer ringen mit Frauen, um fie zu überwältigen, un
die Weiber wehren fih mit Meſſern. Wir erbliden wimmernde Sind,
ducchbohrte Leiber, Wagen mit Leichenhaufen, die man auf den Kirchhei
ſchafft. Eine befondere Vorliebe hat Goya für Exhängte: immer wiede
fieht man Körper mit hängenden Köpfen an Galgen oder an Bänmu
baumeln. Andere werden an den Pfahl gebunden und erſchoſſen. Leike
werden beraubt und entkleidet. Und überall verzerrte Gefichter, Geberiet
des Wahnſinns, — und immer wieder Erhängte. Hier wird Einer lehnt
mit dem Schwert gezweitheilt, dort ein Anderer auf einen Baumaſt geipiert
Eins der fürchterfichften Blätter: an einem entlaubten Baum hängen nadt |
Körper und einzelne Gliedmaßen; ein paar Arme; ein Rumpf; ein Kopf.
Die dritte Folge der Radirungen unterfcheidet fi) von den Caprido—
und Defaftres in auffallender Weife. Es ift die Tauromaquia, die vie
Blätter umfaßt. Ein Siebenzigjähriger hat fie gefchaffen, doch einer, is
Händen eine ewige Jugend befhieden war. Stierfämpfer werden in al im
Phaſen und Möglichkeiten dargeftellt. Goya muß den Stierfampf als GE
haber ftudirt haben; denn mit allen Künften und Kniffen der Toreros zei
er fich genau vertraut. Wie weiß er das machtvoll fehnige Wefen, den Tim
des angreifenden Stieres herauszubringen! Die mannichfachen, oft jo m
ziöfen Spiele mit der capa werden geſchildert; Banderilleros fegen I
Fähnchen im Stehen und Sigen; hier wird ein Torero von dem toro m
gefpießt; dort fpringt ein Anderer, Tollkühner, mit gefeflelten Füßen aber
den Rüden des Stieres; und ein Eſpada tötet von feinem Stuhl ans der
Stier. Einmal bricht der Stier aus und ſpießt eine Perſon aus den
Publikum auf die Hörner. Und in al diefen Szenen herrſcht eine Jater
fität der Bewegung, eine Sicherheit in der Kompofition, die doppelt bemuf
dernswerth find, da fie der Hand eines Greiſes entflammen. Bis er Dr
legten Tage feines Lebens hinein ift Goyas Kunft noch gewachſen. Re
haben feine Kräfte nachgelaſſen, nie hat ber vielfach Leidende ein Bedürhaij
nah Ruhe empfunden, nie bat der Alte das Intereſſe an der Gegenwan
_ a
Goya. 341
verloren und nicht in einem einzigen ſeiner Werke läßt ſich die Spur des
Greiſenthumes nachweiſen.
Was die Radirungen Goyas ſo groß macht, iſt die wunderſame Ein⸗
fachheit ber Technik, die nichts verſchweigt, ohne das Geringſte zu ſagen, was
überflüffig wäre; die abfolnte Beherrſchung von Licht und Luft; die immer
malerifhe Art, in der fie gejehen find, und die eine großarlige Abftraktion
der zerftreuenden Einzelheiten zur Folge Hat (was wir bei Hogarth fo fchmerz-
ich entbehren); und endlich, aber nicht dem Werth nach zulegt, die fabel-
hafte Intenfität der Bewegung. Alle diefe Momente fchaffen vereint den Stil
dieſer Werke.
. Seit der Meifter das Gehör verloren hat, befchräntt fich fein finn-
icher Verkehr mit der Außenwelt auf das Auge, das, da es da8 Auge eines
Malers ift, die Fähigkeit erhält, die flüchtigften Bewegungen in all ihren
Nuancen mit faft unglaublicher Schnelligkeit aufzufaugen und die Werthe
des Lichtes zu erkennen. Nur mas fich bewegt, ift von Intereſſe für Goya.
Deshalb pflegt er die Umgebung feiner Seftalten nur leife anzudeuten; häufig
it & ein gänzlich uferlofer Raum, in den fie verfegt find. Er liebt die
Unendlichkeit im Raum, er ift ein Freund grofier, beſonders dunkler Flächen,
die er durch einen breiten, ruhigen Auftrag der Aquatinta erzielt. Diefe
war, gerabe als er zu radiren anfing, von Xeprince erfunden worden und
noch fein Spanier hatte fi ihrer bedient. Sie wird ihm zu einem wichtigen
und geliebten Mittel, große, von mächtiger Schlichtheit getragene Wirkungen
zu erzielen. Immer mehr wird der Ton auf die Behandlung der Fläche
gelegt. Er läßt auch gern große weiße Stellen ftehen, auf denen er das
Licht einfängt. Man erkennt, wie feine ganze Art, ohne das Moment der
Impreſſion zu verleugnen, nach der deforativen Seite hin neigt. Je älter
er wird, defto ftärker entwidelt fich diefer Sinn für die großen Umriffe. Die
Ausdrudsweife wird immer ruhiger und gewinnt dabei an Größe. In feinem
festen, unvollendeten Cyklus, den herrlichen „Proverbios“, ift fein Stil auf
die ruhigfte und ficherfte Formel gebradt.
Der alte Goya hatte ſich ein Landhaus vor den Thoren von Madrid
‚erworben, das von dem Volle bald die quinta del sordo (das Haus des
Tauben) genannt wurde und von deſſen Yenftern er eine Ausficht hatte, wie
die Romeria de San Isidro fie zeigt. Diefes Hans fchmüdte ſich Goya
mit Bildern, die zu dem Wüfteften und dabei Werthuollfien gehören, was
feine ımfeligen Träume geboren haben. Die legten fchaurigen Tiefen feiner
Phantafie thun fh auf. Wenn Du zum erften Mal vor bdiefe Allegorien
trittft, die jegt im Prado hängen, wird Dir fein, als ließe fi auf Deinen
Schädel ein kagenartiges Unthier nieder, da8 langſam feine Pranfen in Deine
Stirn gräbt. Du fiehft zwei Burfchen auf einem Aderfeld: fie fchlagen,
27°
342 Die Zukunft.
wie die Befeffenen, einander mit Knuppeln ins Gefiht, all ihre Sehnen find
‚gefpannt von brutaler Wuth und Kraft und ihre Körper find bei der An-
firengung bis zu den Knien in den Boden gefunfen. Saturnus, ein um«
gefüger Riefe mit Glotzaugen, frißt einen Menſchen: er beißt ihm gerabe
einen Arm ab. So find die Gefichte und Träume diefes Alten, die er num
malerifch unübertrefflich zu bändigen weiß. Die Farben find auffallend faftig,
ungemifcht und mit einer Sicherheit hingefegt, die niemals irrte.
Das Alter wird immer trüber; die Gicht ift eine arge Plage. Im
Fahre 1824 verläßt ber Kranke Madrid, um in ein franzöfifdyes Bad zu
reifen. Doc diefer Grund wirb nicht der einzige gewefen fein, der ihn trieb,
bie Heimath zu verlaffen. Mean fchägte ihn offenbar am Hofe Ferdinauds
nicht nach Gebühr; es heißt auch, ex habe wegen feiner radirten Satiren Ber-
folgungen zu fürchten gehabt. Ex kommt auf kurze Zeit nach Paris und gründet ſich
ein neues Heim in Bordeaur, wo der befreundete Dichter Moratin in Ver
bannung lebte. Und nun entfaltet der Nimmermüde auch in der Fremde
eine Thätigleit von fo intenfiver Kraft, als ftünde er auf der Höhe bes
Lebens. Er zögert nicht, die neue Kunſt der Kithographie zu erlernen, unb
ſchafft fo eine Reihe von Stierlämpfen, die zu den beften feiner graphifchen
Ürbeiten gehören und nicht ahnen laſſen, daß ihr Schöpfer- ein armer, ber
Heimath beraubter Greis ift, ein Tauber, halb Blinder, der fih gezwungen
fieht, zwei Brillen und häufig noch ein Vergrößerungsglas zu benugen.
Der Neunundfiebenzigjährige fieht noch einmal auf Kurze Zeit die Lafti-
liſche Hauptftabt wieder. Dann, 1828, flirbt er in Borbeaur, aus Freude
über einen Brief feines Sohnes, der ihm feine beborftehende Ankunft meldet.
Goya war Spanier vom Scheitel bis zur Sohle Das nationalfte
Vergnügen feines Volkes, den Stierlampf, hat er mit dem Pinfel, dem Stift
und der Nadel feitzuhalten gewußt wie kaum ein Anderer. Er verlörpert
ein wichtiges Stüd der maleriſchen Kultur feines Baterlandes, bie in Velasquez
ihren König verehrt. An die Tradition diefes Größten Enüpft er fein Wert,
ſchwingt fi von dort aber auf neue Gipfel. Er ift einer der erſten Radirer
aller Zeiten. In dem Abftrufeften und Perfönlichften, da8 er gefchaffen Hat,
erweift er ſich als ein Mitglied der tollen Familie, zu der die Breughel,
Bofch und Hogarth gehören. Von ihnen fteht er unferem Gefühl am Nächſten;
Hogarth empfinden wir ja fchon als veraltet. Die Einflüffe des Spaniers
auf lebende Künftler find unverkennbar: die Anfänge des Radirers Klinger
führen auf ihn zurüd, der ſchwediſche Radirer Zorn hat in technifcher Hinficht
einen Theil feines Erbes angetreten, Rops hat ihm Manches zu banfen und
ber Baske Ignazio Zuloaga ift ihm in malerifchen Dingen fehr verpflichtet.
Der große Tote Dianet gar, der fo auffallend nah Spanien bin tendirte,
bat viele Bilder geichaffen, die aus der Verliebtheit in ganz beſtimmte Werte
des Spanier herausgewachſen find.
5 — —
Auf zur Sonne, | | 843
Goyas Kunft ift ein Born, aus dem noch Mancher mit beglüdtem
Schauder fchöpfen wird. Diefer herbe Born quillt nicht für Jeden; aber
Vielen bedeutet er eine Welt.
Man hat gerade jetzt Gelegenheit, in Berlin eine Reihe von fehr ver⸗
Schiedenen Werken Goyas zu betrachten. Die Nationalgalerie hat foeben zwei
außerordentliche Malereien des Spanier erworben: einen wundervoll bewegten
Stierfampf und die köſtliche Cucaña, eine in fatten Farben hingefirichene Land⸗
fchaft. von befonderer Schönheit. Unter den Bilbniffen, die Eaffirer in feinem
Salon zufammengebracht hat, ift manches Schwache; zugleich freilich ein Lecker⸗
biffen erfter Ordnung: das aus dem Jahr 1819 ftammende Portrait des
Architekten Antonio Cuervo, mit einer Delilatefle gemalt, von ber die jungen
Ampreffioniften unferer Tage lernen mögen. Man beachte das Haar. Weber
Belasquez noch Frans Hals noh Manet haben Haar befjer gemalt.
Steglik. Hans Bethge
1!
Auf zur Sonne.*)
9 Sonne hat drei lange Wochen in dem kleinen Dorfe Gerſau am Vier⸗
waldſtätterſee nicht geſchienen, nicht mehr geſchienen ſeit Anfang Oktober,
als der Föhn kam. Nah Sonnenuntergang wurde es ganz windſtill und ich
ſchlief die halbe Nacht, bis ich von dem Läuten der Kirchenglocke und von einem
Geräuſch geweckt wurde, das ſich in das eigenthümliche Brauſen des Sturmes
auflöſte, wie er ſich über die Alpen auf ben ſüdlichen Seeſtrand warf, im Keſſel
bes Sees zufammengepreßt, in bie Gaſſen unferes Dorfes hineingebrängt wurde,
an Schildern riß, Fenſterladen fchüttelte, an Dachpfannen rüttelte, in Baum⸗
fronen und Gebüſchen rafte. Die Wogen des Sees fchlugen gegen die Hafen-
defeftigungen, jchäumten über die Einfafjungen und platjchten gegen Boote. Der
Sand peitſchte gegen Tyenjtericheiben, das Laub tanzte in Wirbeln, das Ofen-
blech riß und das Haus zitterte. Als ich hinausgudte, war es Hell in der Kirche
und die Glocke läutete in Einem fort, um Die zu weden, bie nicht bereit3 er-
wacht waren; denn der Föhn wird für fo gefährlich angejehen wie ein Erdbeben,
weil er ſelbſt Häufer niederreißen und, was fchlimmer ift, Felsblocke von den
Bergen berabftürzen Tann, und wir wohnen gerade an ber Wurzel eines, ber
allerdings nur fünfzehndundert Dieter hoch tit, deilen Gipfel und Grate aber
einen lockeren Ballaft von Felsblöcken tragen, die zu einem Steinwerfen in
größerem Stil befonders geeignet find. Nach dreiftündigem Toſen iſt die &e-
fahr vorüber. Und am folgenden Morgen tBeilt die Dorfchronik mit, daß in Schwyz
*) Die legte der „Schweizer Novellen”, die in Scherings Ueberfegung
bei Hermann Seemann Nachfolger erjcheinen. Strindberg hat auf diefe Arbeit
ftetö beionderen Werth gelegt und joll einmal gefagt haben: „Das kleine Stüd
giebt die ganze Gleichung, nach der mein Leben gelöft werben kann.“
7 Die Zuhmft.
ein Steinblod mitten durch ein Bauernhaus gefahren fei unb ben rechten Flügel
fortgenommen babe, ohne gefährliche Folgen für die Menſchen, die im Linken wohnten
Dod nad biefem warmen und heftigen Winde bat fich ein Nebel übe
das Dorf und den PVierwalbjtätterfee gelegt. Der Himmel fieht bemölft aus,
doch es fällt fein Regen und es kommt auch fein Sonnenidein. So geht &
drei Wochen fort; und hat man begonnen, Alles in Grau zu fehen, Hört man
damit auf, es in Schwarz zu ſehen. Die Alpenlandichaft, die vorher. aufrichtete,
bat ihren Charakter verloren, feit mar nicht mehr weiter als hundert Meter die
Wände hinauffieht; und das Herz wird fchwer, beflommen. Alle Reiſende haben
fi heimgewandt, die Hotels ftehen leer und der November ift da, finfter an
hoffnunglos. Die Tage jchleppen fi Hin und man jehnt fig, Licht anzünde
zu dürfen; der Himmel ift troſtlos grau, der See iſt grau, die Landſchaft gran.
Kein Wind, fein Regen, kein Donner. Die fonft an Wbwechfelung jo reich
Natur ift unerträglich einförmig, ruhig, ftill, jo friedlich, daß man fich nad einen
Erdbeben fehnt. Wo die Lichtquelle zu wirken aufhört, hört alle Farbe auf
das Auge wird ſtumpf und die Seele hüllt fih in eine Schläfrigfeit, die der
Faulheit nah kommt.
Als ich mid) eines Abends im Geſpräch mit dem Amtmann über be
langen Abſchied beklagte, den die Sonne genommen, antwortete er mit der Rule,
die einem Deutſch⸗Schweizer eigen ift: „Die Sonne! Die kann man Ku auf
der Hochfluh den ganzen Tag jehen.”
Die Hochfluh ift einer der kleineren Alpenitöde, die den <halteffet bilden,
in dem wir wohnen, und nur zweihundert Meter niedriger als der Sulitelm
weshalb er auch von jungen Engländern zum Promenadenplatz benutzt win
Ich beichloß daher als Sonnenverehrer, die Wallfahrt auf zur Sonne zu unie
nehmen. Eines frühen Morgens im November ſetzte ich mi in Bewegung.
Am Fuß eines Alpenftodes lebend, der, wie erwäßnt, als Vulkan mi
Steinregen aufwarten kann, bereiten fi) die Leute von Gerſau ſtets barauf vor,
in die Ewigkeit einzugehen, und bejuchen daher die Kirche ale Tage morgens,
mittags unb abends. Darum begegne ich jetzt um acht Uhr morgens den Kirch
gängern mit ihren Büchern in den Händen. Zwei alte Weiber, die eine halbe
Meile bis zum Morgengebet wandern, beten einen Rofenfranz auf der Land
ftraße. Die Eine fpricht den Engelgruß Ave Maria vor und die Andere lebt
mit dem Refrain ein: In saecula saeculorum, Amen! Und fo dem ganzen
Weg fort! Thut diefes Rojenfranzbeten weiter fein Gutes, jo jcheint es Die
Bunge von Mißbrauch abzuhalten, wie das bekannte Pfeifen im Weinkeller, das
in der Anekdote dem Bedienten des Grafen auferlegt wurde.
Wie ic) die Alten und die Landſtraße verlaffe, um ben Wufftieg zu be
ginnen, ftoße ich fofort auf einige ftarfe Eindrücke, die grell und daher dauerhaft find.
Bei der eriten Biegung fteht ein Walnußbaum mit angenagelter Chriſtusfigut
und einer Botivtafel, die den Wanderer darliber aufklärt, daB von dieſem Wal⸗
nußbaum während der Ernte der Bauer Seppi (ober jo ähnlich) herabſtürzte
und fi totihlug. Gott fei feiner Seele gnädig! Bete für ihn! Amen!
Bei der nächſten Biegung fteht eine Eleine, wunderliche Niſche aus weiß⸗
geleimten Ziegeln, fo klein wie eine für Kinder gezimmerte Spielftube. Und
durch die Stacketſproſſen ſieht man Bilder der Heiligen Familie, vielleicht im
Auf zur Sonne. 345
Techzehnten Jahrhundert gemalt, und daneben den Aufiluß, daß die zum Tode
Berurtheilten auf dem Wege zum Nichtplag bei diefer Kapelle ftehen bleiben
und ihre legte Andacht halten durften. Es ift aljo der Galgenbergweg, den ich
wandere; und nad einigen Minuten bin ich auf dem Nichtplage felbit. Es ift-
ein offener Plan auf einer gegen den See vorfpringenden Spige mit der herr
lichſten Ausficht, jo daß man es ſich als einen wirklichen Genuß vorftellt, vom
Leben mit einem Anblic zu fcheiden, wie man ihn bier auf Pilatus, Axenftod,
Buochſerhorn, Bürgenftod dat; und jelbft Voltaire würde hier nit Unbehagen
empfunden haben, im Berborgenen (obscur&ment) gehängt zu werden. Das
verabſcheute er am Allermeiften, weshalb er auch jehr folgerichtig Rouffeau be-
fchuldigte, fo eitel zu fein, daß er fih gern hängen ließe, wenn nur fein Name
an den Galgen angeſchlagen würde. Bon bier fieht man unten am Strande
ein Stüd weiterhin einen Schimmer der unheimliden Kapelle Kindlimord, wo
ein befümmerter Bater fein bungriges Find getötet haben joll. Das find zu-
fammen vier düftere Gemälde in der grauen Morgenbeleudgtung. Und von den
blutigen Bildern fteige ich mit größerer Geſchwindigkeit aufwärts, lichteren Ge
genden zu, wo die Sonne wartet.
Die Negion der echten Kaftanie ift Bald durchichritten, eben jo die der
Walnußbäume; der Buchenwald beginnt. Nachdem ich bei einer Sennbütte
mit ſchönen Kühen und einem garftigen Hunde ausgeruht habe, trete ich ins
Gewölk ein, das fih ald Das, was man einen Nebel nennt, erweift, der immer
dichter wird und die Landichaft unerträglich macht. Die Schwierigkeit, zu jehen,
verurfadht ein Brennen ber Augen; Bäume und Büfche find wie in Rauch ge
hüllt und die Millionen Spinnengewebe zwiſchen den Zweigen find mit Wajler-
tropfen beſetzt, jo Dicht, das es ausfieht, als hätte die Waldfrau, wenn e3 wirklich
eine giebt, Taujende von Spitzentaſchentüchern zum Trodnen aufgehängt.
Der Nebel madt Einem das Athmen jchwer, jchlägt ſich auf die Wolle
des Nodes, auf Bart, Haar und Augenbrauen nieder, verbreitet einen eflen,
ſchalen Geruch, macht bie Steine flebrig und glatt, daß man nicht darauf gehen
fann, und verdunfelt Alles im Innern des Waldes, wo die Stämme ſchnell
wegtönen und in einem Grau-in-Grau verſchwinden, da8 den Geſichtskreis auf
ein paar Klafter zufammendrängt. Dieſe Nebelihidt von etwa taufend Metern
muß ich durchklettern, ein nafjes und faltes Fegfeuer, ehe ih zum Himmel
fomme, und ich thue es mit vollem Vertrauen zu dem Ehrenwort des Amt-
mannes, daß fie ein Ende nehmen wird, ehe die Alpe aufhört und das graue
Nichts anfängt.
Ich Habe kein Barometer bei mir, fühle aber, daß ich geitiegen bin, daß
die Nebelichicht fi vermindert hat und ich mic) reiner Quft nähere. Ein &e-
fühl wie von einem edeln Weinraufch fängt mich zu paden an; und jebt...
Im Hohlweg, von oben, leuchtet es ſchwach wie das erfte Grauen des Tages
auf der Zandichaft eines Rouleaus ; die Baumjtämme jtehen klarer da, das Auge
fieht weiter und das Ohr Hört Kuhſchellen, von oben her. Und jebt: ganz hoch
oben fteht eine goldene Wolle; ein paar raſche Schritte und das niedrige Buchens
unterholz leuchtet in Gold, Kupfer, Bronze, Silber, wenn ein Strom gebrochenen
Sonnenlichtes auf das vergilbte Laub fällt, das bis heute erhalten blieb. Ich
ftehe noch im Herbittag, in Feuchtigkeit und Kälte, ſehe die von der Sonne be.
346 Die Zukunft.
leuchtete Sommerlandſchaft und erinnere mich in einem Ru an eine Segeljaht
auf dem Mälar, wo ih im Sonnenidein faß und den ſchwarzen Hagelicene |
eine Sabellänge ſeitwärts in Zee vorbeiziehen ſah. Und jet ftehe ich mitten m
der Sonne, fehe oben eine nordifche Landſchaft, mit Fichten und Birken, ick
grüne Matten mit rothen Kühen, Eleine braune Hütten mit alten rauen, be
auf den Schwellen Strümpfe für Batern ftriden, der unten im Kanton Zeifm
auf Arbeit tft; jehe Kartoffelgärten und Zavendelbüfche, Dahlien und Ringelblumen
Und ich lafje die Sonne mein Haar und meinen Ueberrock trodinen, meine
noch froftigen Körper erwärmen; Lüfte meinen Hut vor dem glühenden Urheber
und Grhalter des Weltalles, er mag nun aus ewig brennenden Waflerftof-
flammen oder aus dem nod nicht anerfannten Urftoff Heltum beftehen. De
Alvater, der ohne Weib die Weltkorper gebar, der Allmächtige, der Leben un
Tod jchenkt, über Eis und Wärme, Sommer und Winter, Mißwachs und Gm:
jahr beſtimmt!
Als mein Auge an Sommerftimmung und grünem Gras gelabt if,
ſehe ich unter mir in das Dunkle, Tiefe hinab, das ich durchſtreift Habe. Dort
über dem See, der nicht zu fehen ift, Liegt das Dunkel und die Kälte, aber nid:
mehr dunkel und kalt, fondern wie eine Lichtglänzende, weiß gefämmte Wolk,
auch fie von ber Sonne beleuchtet und die Dämmerung und die ſchmutzige Erde
drunten verbergend, und Über der weißen Dede erheben ſich glitzernd einik
Schnecalpen, gleichſam aus verbichtetem Silbernebel gebildet, aus einer Löjun
von Luft und Sonnenlicht Friftallifirt, Treibeis auf einem Meer von friider |
fallenem Schnee umberfhwimmend. Es iſt buchſtäblich eine überirdiſche Lar!
haft; die Kuhſchellenidylle droben unter den Birken wird dagegen banal.
Doch jet hört man von unten, nachdem es Bier oben totenftill geworde
ift, von unten, wo trifte Menſchen zitternd im Grauwetter gehen, einen plätjcher
den Laut, der ſich nähert und den das Auge unter der Wolkendecke verfolgen #
fönnen glaubt. Es Elingt wie ein Mühlfall, ein Regenbach, eine Fluthwogt.
Seßt fteigt ein Schrei von unten herauf, ein Schrei, wie wenn alle Cinwohne
der vier Kantone um Hilfe gegen Uri-Rothftod riefen. Doch es ift nur das Kar
boot, das pfeift, und die Hochfluh, die das Echo wervielfacht, daß im ber reine
Luft anſchwillt, nachdem es durch den Wolkenboden gedrungen tft.
Und da ift es Mittag.
Sch muß wieder binunterfrieden, hinunter durch den Nebel, zum Grau
wetter, zum Dunkel, zur SFeuchtigfeit und zum Schmug, — und vielleicht wieder
drei Wochen warten, ehe ich die Sonne zu jehen befomme.
Stodholm. Auguft Strindberg-
$
Selbitanzeigen.
Ueber Maltechnik. Ein Beitrag zur Beförderung tationeller Malverfahren
A. Foerfterd Verlag, Leipzig, 8 Marl.
Ich Habe in meiner Schrift zunächſt die auf bem Gebiete der künftleriſchen
und gewerblichen Maltechnik herrſchenden Mißſtände, die Verfälſchungen der
Farben und Malmittel, den gänzlichen Mangel an ficherem theoretiſchen und
Selbſtanzeigen. 347
praktiſchen Unterricht, das Fehlen aller nützlichen Traditionen und die vielfach
ablehnende Stellung der Akademien und der Künſtler gegenüber den dieſe
Mißſtände bekämpfenden Beſtrebungen eingehend erörtert. Insbeſondere habe
ich die Wege gezeigt, auf denen dieſe Mißſtände beſeitigt werden können und
die von der „Deutſchen Geſellſchaft zur Beförderung rationeller Malverfahren
in München“ betreten worden ſind. Auf die Exiſtenz, die Beſtrebungen und
die Kämpfe dieſer Geſellſchaft, deren Erſter Vorſitzender Franz von Lenbach iſt,
und auf ihr Organ, „Techniſche Mittheilungen“, will ich hinweiſen; eben ſo auf
Sie von der bayeriſchen Regirung proviſoriſch übernommene und an der Ted).
niſchen Hochſchule in München untergebrachte „VBerfuchdanftalt und Auskunft
stelle für Maltechnik“. Die Gejellihaft und die Verjuchsanftalt prüfen alle Pro-
bleme der Maltechnik, alle Konjervirungmethoden; alle Auskünfte werden unent-
geltlich ertheilt. Die Verſuchsſtation beſchäftigt fich auch mit der Ausarbeitung
von Vorſchlägen für den Unterricht in ber Farben- und Maltechnik und joll
fünftig auch die Ausbildung von Lehrkräften für den Unterridt in der Mal-
technik übernehmen. In der Beitfchrift „Technische Mitteilungen für Malerei“
iſt ein Organ geſchaffen, das alle Fachfragen gründlich erörtert und die wiſſen⸗
Tchaftlihen und praftiichen Ergebniffe der Forſchung und ber Erfahrung ſammelt.
Auch hier wird von der Redaktion auf Anfragen unentgeltlid — mündlich und
ſchriftlich — Auskunft ertheil. Damit find denn Central- und Sontrolftellen
für das ganze Gebiet der Maltechnik, des Malmittelbandeld, der Hilfswiffen-
haften und techniſchen Methoden geſchaffen. Mein Buch fol dazu beitragen,
daB der „VBerfuchsanftalt für Maltechnik“, die ſchon feit zwei Jahrzehnten arbeitet
und um ihre Eriftenz kämpft, endlich von den maßgebenden Stellen und Perſonen,
bon den Künſtlern, Runftfreunden und Gewerbetreibenden u. ſ. w. endlich bie
Beachtung, die materielle und moralifche Unterftügung zu Theil wird, deren fie,
ihrer Bedeutung und Nüblichleit gemäß, würdig ift und zu einem erfolgreich
burchgreifenden Wirken unbebingt bedarf. Mein Werk wird jedem Tinterefjenten
voljtändige Drientirung über den heutigen Stand der modernen Maltechnik
bieten und zu einem zwedmäßigen Studium und zur richtigen Bearbeitung
maltechnijcher Fragen anregen.
Grünwald bei Münden. Adolf Wilhelm Keim.
3
Streiflicter. Dito Meißners Berlag, Hamburg.
Ganz naiv ift man im Leben nur einmal. Große Enttäufchungen find
ed ganz befonders, die aus dem naiven Menſchen den anderen — wie joll id)
ihn nennen: Schaufpieler oder Diplomaten? — maden. Am Wejen der Liebe,
weil fie Jeder kennt, will ich dartdım, wie ich Das meine. Nur die erjte Liebe
eines Menfchen ift reine, unverfälfchte Liebe. Hat nun ein Menſch dad Pech, in
feiner erften Liebe unglüdlich zu fein, fo verfällt er gar bald in die eifrigite Ber
trachtung jeiner ſelbſt. Er konſtatirt: Hier warft Du ungeſchickt, dort albern.
Könnteſt Du den ganzen Rummel noch einmal von vorn anfangen: Du wüßteft
nun, wie man fi) aufzufpielen bat, um Erfolg zu haben. Bleibt nun ein Menſch
vor bem eigenen Herzen ehrlich, fo Hat er in ſolchen Zeiten allerlei Luftige Launen.
€3 liegt nah, daß das Vergnügen an der Selbftironifirung fein Erftes ift. Liegt
848 Die Zukunft.
e3 nicht aber eben fo nah, daß er in folden Stunden mit Vorliebe der Luft fröhnt
auch Denen, denen er die Enttäuſchungen dankt, ihr Fett zu geben?
* Paul Schröder.
Jüdiſche Künftler. Herausgegeben von Martin Buber, Joſef Iſraels von
Fritz Stahl; Leſſer Urn von Martin Buber; E. M. Lilien von Alfred
Gold; Mar Liebermann von Georg Hermann; Solomon %. Solomer
von ©. 2. Benfufan; Jehudo Epftein von Franz Servaes. Mit 139 Ab:
bildungen. Jübifcher Verlag. Berlin 1903.
Richard Wagner konnte noch der finnliden Anſchauungsgabe der Juden
das Bermögen abiprechen, bildende Känftler hervorgehen zu laſſen. Seiner Be
bauptung ftand damals als Thatſache faft ausfchlieglic eine Schaar bedeutung
loſer Nachahmer gegenüber. Heute kann auf einige jädifche Künſtler hinge
wiefen werden. Dieje Künftler find ein Anfang. Das Beſte ift, fie ohne lange
Theorien in ihren Schöpfungen vorzuführen und auf ihre Art aufmerkjan zu
maden. Das iſt die Abficht des Sammelwerkes, deſſen erjte Folge in dieſem
Bande vorliegt. Es fol zeigen, was an bildneriichen Fähigkeiten im heutigen
Judenthum lebt. Hier und da wird auch das Nadjwirken von Volkseigenſchaften
in dem Weſen der SKünftler und ihrer Werke aufgedeckt werden können.
3 Martin Buber.
Univerfität und Volksſchullehrer. C. Marrowsky in Minden. 60 Pfennig.
Als das nothwendige Endziel ber Bildungbeftrebungen des deutſchen Bolt#
ſchullehrerſtandes wird „die vollftändige und vollgiltige akademiſche Bildung für
jeden Volksſchullehrer“ nachgewiejen. Da dies Ziel für abfehbare Zeit unerreichbat
ſcheint, muß den ſtrebſamen und befähigten Lehrern die Fortbildung durch ale
demiſches Studium ermöglicht fein. Nicht erftrebenswerth erjcheint eine ver
minderte alademifche Bildung, eine von fürzerer Dauer und mit verminderten
Rechten. Deshalb wird durch Vergleich der heutigen Seminarbildung mit dei
Oberrealfchulbildung nachgewieſen, daß auf Grund des Seminarabgangszrug
niffes und einer Ergängungprüfung in einer fremden Sprade und in Mathe
matik dem Lehrer ein Reifezeugniß ertheilt werden könnte, das die felben Studiew
berechtigungen in fich fchlöffe wie das Neifezeugniß einer Oberrealſchule.
3 Dr. Otto Gramzow.
Dad Notenbantweien in den Vereinigten Staaten von Amerila.
Karl Ernſt Poeſchel, Leipzig. 1903.
Nach langer, wegen bes Fehlens von Material nicht immer leichter Arbeit
ift die Schrift zu einer Zeit beendet worden, wo die Bankfrage in Folge dei
geplanten Notenbankreform in den Vereinigten Staaten bejonderes Intereſſe
findet. Im erjten Theil habe ih in knappen Umriffen die gefchichtliche Enb
wickelung des amerifanifchen Bankweſens geſchildert. Im zweiten Theil wird
die Technif des Noten, Depofiten-, Disfont- und Vorſchußgeſchäftes geſchildert
und die einzelnen Zweige des Bankgefchäftes werben mit unferen und engliſchen
Verhältniſſen verglichen. Der dritte Theil giebt eine Kritik des Vielbankſyſtem⸗
im Allgemeinen und des nordamerikaniſchen Bankſyſtems im Befonderen. Im
Selbſtanzeigen. 349
Schlußkapitel war ich bemüht, zu zeigen, welches Intereſſe wir Deutſche daran
haben, daß bie Vereinigten Staaten ein gutes, elaſtiſches Bankſyftem beſitzen.
Mit einem praktiſch wohl durchführbaren Reformvorſchlag ſchließt die Arbeit,
die, wie ich glaube, auch für den Laien klar genug geſchrieben iſt.
8 Dr. Georg Obſt.
Glück und Unglück der berühmten Mol Flanders, die, im newgater Zucht⸗
haus geboren, während eines unruhvollen Lebens von jechzig Jahren fünfs
mal verheirathet gewefen, darunter einmal mit ihrem leiblichen Bruder,
dann zwölf Fahre lang Dirne in London war, fpäter eine Diebin, die
dann auch acht Jahre lang nad Virginia zur Strafarbeit verfchidt wurde,
und endlich dennoch reich, fromm und ehrbar flarb. Eine Gefchichte, auf:
gezeichnet nach ihren eigenhändig niedergefchriebenen Memoiren von Daniel
de Foe und jest zum erſten Male in die deutſche Sprache übertragen und
dann herausgegeben von Hedda und Arthur Moeller-Bruck, verlegt von
Albert Langen in München im Jahre 1908.
Daniel de Foe, geboren 1661, geftorben 1731," hat neben den Verbieniten,
daß er der eigentliche Begründer der englifchen Preife war und damit der Preſſe
überhaupt, daß er ferner ben fchönen „Cruſoe“ verfaßt bat, auch noch andere.
Bor Allem bat er außer feinen Ylugblättern, jeiner Zeitung und feinen Ro—
binjonaden noch Romane geichrieben. Hier ift jein bedeutendfter. Er iſt aud
eine Robinjonade; aber eine aus ber Großſtadt. Man darf in ihm fogar eigent-
lich den erjten aller Großftadtromane ſehen. Das allein würde dem Bud; einen
gewiſſen literarijch-turiofen Werth von vorn herein fihern. Es bat aber aud
noch einen weiteren Werth, der in dem Buch jeldit ruht, einen rein menfclichen,
rein dichterifchen Werth. Diefer Hocdftaplerinnenroman gehört nämlich zu den
ehrlichiten, herzhafteften Bekenntnißbüchern, die wir bejigen, und fteht ganz in
der Nähe unjeres lieben „Simplizius Simpliziffimus’’: jo lebendig wahr und
ſchön ift er und dabei fo gradlinig im Bau, jo fchlicht, aber tief in der Er-
zählung. Ein dur und durch gefundes Bud, fein perverjes Inzeſtbuch, wie
vielleicht vermuthen fünnte, wer de Foe nicht kennt. Es handelt ausfchließlich
von ftarfen Lebensgefühlen und iſt jo ein ebenbürtiges Erzeugniß engliſcher
Nenaiflance, aus ihrem raufchenden Geiſt Eräftig geboren. Mit feiner erft-
maligen deutfchen Ausgabe befommen wir, was nicht verwundern darf, zugleich
einen jehr modernen Roman, deſſen Stoff auch aus dem Treiben unjerer Tage
gefunden jein könnte. Nur ift eben alles Menjchliche, und gerade Das, was
wir das Unmoralifche nennen, vollftändig unnervds genommen, ganz unraffinirt
und naiv, jo, als ob es etwas ganz Selbftverjtändliches wäre. Dieſen Vorzug
der Friſche, der unbedingten Natürlichkeit in gorm und Inhalt Hat der Roman
dor unſerer pſychologiſch verzwidten zeitgendffifhen Epif voraus. Sie kann
von ihm wieder lernen, wie ji im Roman gerade die Einfachheit zur Monu-
mentalität zu erheben vermag. Und im Uebrigen mögen fi} die Menſchen an
dem Buch herzlich des Menfchlichen freuen.
Paris. Arthur Moeller-Brud.
850 Die Zukunft.
Race für Leipzig.
Stan ift um einen Markſtein reicher. Bisher hatten wir die Negirumg
Karls des Großen, Luthers wittenberger Thefenthat, die Kaiferfrönnung im
Spiegelfaal von Verfailles und die Premiere von Subermanns „Ehre“. jetzt aber
ift, 1903, Etwas geichehen, das all diefe ewig denfwärdigen Wendepunfte ber deutjchen
Kultur und Geſchichte noch übertrumpft. Die Dresdener Bank und der Schaaff-
baufeniche Bankverein haben fich zum Bunde fürs Leben vereint. Vorläufig menigfiens
für dreißig Jahre; fo lange, ein ganzes Menſchenalter lang, foll die „ntereffengemein-
haft”, von der ich vor acht Tagen nur kurz ſprach, minbeftens dauern, Diefe neue
Wendung der Weltgefehichte kam fo plößlich, daß vom Rhein bis zur Weſer, von
der Elbe zum Belt, weiter noch, bis über Deutfchlands weltpolitiſche Grenzen bin
aus, Jedermann verblüfft war und erft eine Weile tief Athem fchöpfen mußte. Schon
um dann rufen zu können: Videas consulem! Bon allen Konfuln, Caefar und
Bonaparte nicht etwa ausgenoinmen, it Gutmann der größte. Heil Dir, Eugen!
Der Eheichließung war feine Berlohunganzeige, Tein Aufgebot vorangegangen. Nichts
wußte man von zarten oder unleufchen Annäherungen, von Verträgen und liebergabe.
Nichts. Hat es fehon vorher heißer als Kohle (aus Rheinland natürlich) gebrannt,
fo wars heimliche Liebe, von der Niemand nichts weiß. Und das ſüße Geheimmnif
blieb fo fireng gewahrt, daß auch die dem jungen Paar Nächſten, die Sippen, bie
doch jede Bewegung, jeden Athemzug der Verwandtſchaft eiferfüchtig überwachen,
nichts von den Dingen ahnten, die fommen follten und kamen. Selbſt die Deutfche
Bantk, die fonft befanntlich Alles weiß, Alles nahen fieht, das Gras wachfen Hör
und das Wetter von übermorgen vorausjagt, felbft fie wurde diesmal überrumpelt;
fie gerade am Allermeiften. Im Kreis gewöhnlicher Sterblichen find heimliche Ber-
lobungen, fogar heimliche Trauungen nicht ganz felten. Ward aber erhört, daß
zwei Liebende aus den höchſten Sphären die Welt erft ins Bertrauen ziehen, wenn
Alles Thon fir und fertig ift? Eines Sonnabends, ganz fpät: — die Somntag-
bormittagsprebigten der Handelsredakteure waren längft im Sat —, flog den Blättern
die Botſchaft zu: Dresdener Bank und Schaafihaufen empfehlen fi) als Vermählte.
Statt jeder beſonderen Anzeige... Wie eine Bombe fiel diefe Neuigfeit auf den
Schreibtifch der Herren, die fchon den Paletot anhatten und dahin heimkehren wollten,
wo Jeder die häusliche Sorge wwiederfindet, auch wenn er eben ber leidenden
Dienichheit auf wenigftend einer Spalte den unfehlbaren Weg gewiefen bat, auf
den fie fich des Lebens freuen, an der Börfe das eigene Geld vor Schaden bewahren
und da$ der minder gut Berathenen dazu erwerben kann. Ihre Ruh war hin.
Jetzt hieß es, den Ueberrod und die fabbathliche Familienfiimmug raſch wieder an
ben Kagel hängen und in das Falten- und Spaltengewand der Begeifterung jchlüpfen ;
zum Glück ift diefes beliebtefte Kleidungftid in den Preßgarderoben immer para..
Auch diesmal hüllte es die Verftörten mohlthätig ein. Heutzutage läßt ſich auch
Begeifterung einpöfeln ; glaube mir, lieber Leſer, nicht dem veralteten Dichter. Sonntag
früh hatte Klio in eine nagelneue Tafel gegraben: „Died war der Tag des Herr
Gutmann. Großes Heil ift durch ihn der Welt widerfahren; die Dresdener Banl
und der Schaaffhaufeniche Bankverein find feit geftern im Ehebunde vereint. Mit«
gift 120 Millionen, Widerlage 164 Millionen, macht zufammen ein Vermögen von
Rache für Leipzig. 351
284 Millionen Marl.” Und in ber Ranglifte, die diefe fleißige Göttin führt, wurde
unter dem felben Datum vermerkt: „Die Deutfche Bank, bisher die mächtigfte der
deutichen Banken, die deutiche Bank xar’ EEoynv, iſt vom erften Pla verdrängt
und rückt auf Nummer Zwei; an ihre Stelle tritt die Dresdener Bank“.
Macht und Anfehen find im Wefentlichen auf Ueberlieferung gegründet. Ein
Geſchlecht nad) dem anderen wirft fi) in den Staub vor einem Götenbild, we
die Sage geht, daß es allmädtig ſei. Dann kommt plöglich ein Wanderburſch da>
ber, ftößt den Götzen übermütbig um: und zum Staunen der Menge bleibt die
Welt auf dem alten led. Nichts gefchieht, kein Blitzſtrahl fährt aus heiterem
Himmel nieder, um den revler binzuftreden, die Sonne wendet ihr Antlig nicht
von folcher Frechheit, die Blüthe verdorrt nicht am abfterbenden Aft, aus dem Duell
fprudelt reines Waſſer, — Alles ganz wie vorher. Ein Böke weniger; fonft hat
nichts fich verändert. Wichtiger wäre, zu fagen: flatt des alten ein neuer Götze.
„Ber alte fiel, Der bat verthan; ein neuer Narr zu neuer Pein.” Geſtern noch
war die Deutiche Bank ‚der Inbegriff aller wirtbfchaftlichen Größe des Deutfchen
Nleiches. Ein Kind des Krieges, das den via Berfailles und Frankfurt ins Ger-
manenland gebrachten Milliardenfchats beffer auszunutzen verftand als Alle, die vor
ihm waren und nad ihm famen. Ihr Schöpfer, Ludwig Bamberger, der jo beforgt
flehte, „das Reich der Hohenzollern möge vor dem zweibeutigen Segen fpanifcher
Gallionen bewahrt bleiben” und nicht, wie die ſpaniſche Monardie nad) dem Zu-
tritt des peruanifchen Golbftromes, bald nach dem Sieg über Frankreich und der
Abzahlung der fünf Milliarden Niedergangsiymptome zeigen, biefer Getreue brauchte
fih im Grabe nicht umzubrehen, wenn ihm der lette Kurs ins letzte Bette tele-
phonirt wurde. Die Deutſche Bank wuchs, blühte, gedieh. Riefige Bilanzziffern,
immer neue Rapitalsherhöhungen, immer höhere Dividenden. Ahr Palaſt behnte
fih. Mauer⸗, Behren,, Kanonierftraße. Zwing-Uri. Und während an fritifchen Tagen
ringsum Blätter, Zweige, Aeſte fielen und durch die Stämme jelbft ein Beben ging,
fand fie, eine ehrmwitrbige Eiche, unerfchüttert im Sturm, — unerſchütterlich ſelbſt
Orkanen trogend. Doch Ziffern fprechen bier deutlicher ala Bilder. 160 Millionen
Mark Kapital, 55 Millionen Darf an Referven: Das konnte Keiner nachmadjen;
felbft die ehrmürdige Distontogefellfchaft nicht, einft Preußens Stolz und Wonne. Die
franzöfiigen Muftern angepaßte Organifation, die — damals ganz neuen — Depofiten-
kaſſen, die die Deutfche Bank überall aufthat: der Erfolg war nod) fchneller gelommen,
als die Väter des Gedankens zu hoffen gewagt hatten. So ſchnell und mit jo nad)-
baltiger Wirkung, daß fehließlich fogar Herr von Hanfeınann feine lange, junferhaft zähe
Dppofition gegen die „Neuerung“ aufgeben und fich entichließen mußte, Depofiten-
faflen zu eröffnen. Er war freilich der Letzte. Denn Fürftenberg arbeitet mit
anderem Werkzeug und Material. In den Neichsgrenzen wurde der Deutichen Bant
der Borrang längft nicht mehr beftritten. Der Ehrgeiz ihrer Leiter fand aber aud)
jenfeit3 der Srenzpfähle des lieben Vaterlandes volle Befriedigung. Kein Land war
ihnen zu weit, feine Sprache zu unausſprechlich, kein Geſchäft zu fremd: Alles wollten
fie an fih reißen; und an Eifer, Fleiß, Klugheit ließen fies nicht fehlen. An den
entlegenften Küften kannte jeder Geſchäftsmann die Deutfche Bank, fah jeder in ihr
die Berförperung deutfcher Geldmadt, deutfchen Unternehmungsgeiſtes, deutfcher
Ubiquität. Daß diefer Glorienfchein ihr jemals entriffen werden könne, ſchien ganz
undenkbar. Wer follte den MWettlampf wagen? Wer ſich folcher Kühnheit vermefjen?...
⁊ .
852 Die Zukuuft.
Da kam das „Wunderbare“. Dresdener Bank und Schanffhaufen empfehlen fi als
Bermählte. Eine Minute banger Beſtürzung, ftarrer Verwunderung. Dann treibt
man die Augen, blict um ſich und fragt, wo denn der alte Gotze geblieben fei. Nicht
lange. Der neue ift fon da. Das ift am Ende die Hauptfadde. „Sogleich mit wunder:
barer Schnelle drängt fi ein andrer an die Stelle; gar !öftlich ift er aufgeputt.”
Nur die Beforgniß, der Lefer könne Hinter dem Pfeudonym, dag am Schluß
diefer Zeilen ftebt, den Grafen Bülow vermuthen, hält mich ab, nod ein anderes
Sitat berzufegen; eins von der Vergänglichkeit alles Ruhmes. Doch das Schau⸗
ſpiel, wie fchnell die Dienge dem Idol von geftern den Nüden fehrt, hat Jeder ja
ſchon einmal erlebt. Antereffant ift eine andere Seite der Sache. Ich hoffe, Herr
Konful Gutmann, der Bielerfahrene, der göttliche Dulder und meltlihe Bändiger,
fehreibt jeine Memoiren. Und, bitte, nicht nur für die Nachwelt, Auch wir Mit:
lebenden möchten aus dieſem reichen Born fhöpfen. Ich für mein armes Theil
möchte nebenbei noch beſonders gern willen, wie und wann ihm zuerfi der Gedanke
an eine Verbindung mit Schaaffhaufen fam. Auf pofthume Enthüllungen lann ich
nicht warten. Wenn den Lobgefängen der Preffe zu glauben wäre, müßte dte
Frucht an dem Truſtbaum gereift fein, den die Amerikaner zum größten Wunder
der botanischen Wirthichaft entwickelt haben und den der gelehrige Michel mit wach⸗
ſendem Erfolg in Deutfchland afffimatifirt bat. Für diefe Annahme fpricht Mancherlei.
Aber nicht ausnahmelos alles Gebrudte braucht wahr zu fein; und in mir lebt
ein anderer Glaube. Ich denke mir nämlich, daß die Ehe der Dresdener Banf mit
dem Schaaffhaufenfchen Bankverein vom Zorn einer tief Gekränkten gefhloffen wurde.
Mer ein halbwegs treues Gedächtniß Hat, mußte ſich bei dem Streih, den die
Dresdener Bank gegen das Inſtitut der Herren Gmwinner und Steinthal führte,
ohne langes Beſinnen des Schlages erinnern, den Herr Kommerzienrath Steinthal
dem Konful Gutmann verfegte, als die Leipziger Bank in die Brüche ging. Das
mals fprang die Deutfche — ihre Bewunderer fagten: wie ein Löwe, ihre Neiber:
wie ein Tiger — hervor und etablirte fi) an der Stelle des eingeflürzten Karten-
baufes der Erner und Gent, mitten in der ureigenften Domäne der Dresdener
Ban, die man obendrein noch allerlei fhlimmem Auf überließ. Die Dresdenerin
fitt, ohne zu Magen, unter den recht Ablen Gerüchten und unter der leoninifhen Kon-
furrenz; fie ſchwieg, weil fie, machtlos, jchweigen mußte. Gutmann fonnte nur
knirſchen und die Fauft in der Taſche ballen. Selbſt die Loyalität, die ihm der
Neihsbankpräfident in diefer fchweren Zeit zeigte, vermochte ihn nicht Aber den Tort
hinmwegzutröften, , den ihm die „mächtigfte aller Banken“ in dunkler Stunde ange
than hatte. Und die Bitterfeit wurde wilder Haß, als er erfuhr, daß die Deutjche
Bank ihre Dividende aufrechterhielt, während die Dresdener Riefenfummen ab.
fchreiben und von 8 auf 5'/, Prozent heruntergehen mußte. Mit verbaltenem In⸗
grimm ſah Eugen das Publikum von feinen Schaltern weg zu benen des Gwinners
laufen. Seitdem fann er auf Rache. Setzt hat er fie. Und um fie zu haben, ift
ex, glaube id), aus feinem ftrogenden Parvenupalais an der Hedwigsfirdhe als Freier
in daS befcheidene Haus der Franzöſiſchen Straße geſchritten. Es mar fein Neinfall
bei Schaaffhauſen. Wehe Jedem, den Eugen Gutmann haßt!... Nun ift die Reihe
an Gminner und Steinthal. Sie werden fehnell zurädzufchlagen verfuchen. Warten
wir ab, wie der nächſte Markftein deutfcher Wirthichaftgefchichte ausfehen wird.
Dis,
Redatteur: DE Barden in Berlin. — Verlag der Zukunft in Berlir
Drud von Albert Tamde in Berlin- Schöneberg.
Berlin, den 5. Dezember 1905.
— — —— — —
Prozeß Rwilecka.
Re Momente haben fid) während der Hauptverhandlung wider Kwi⸗
ledis und Genoſſen in mein Gedachtniß gedr u ckt. Aus der im vorletzten
Heft erzaͤhlten Prozeßgeſchichte weiß der geduldige Leſer, daß derfiebenjährige
Streit von der Frage ausging, ob der am dreißigften Januar 1897 auf dem
berliner Standesamt als Joſeph Stanislaus Adolf Graf Kwilecki ange-
meldete und jpäter von dem Päpftlichen Hausprälaten und Stiftspropft Lud⸗
wig von Jazdzewski getaufte Knabe das eheliche Kind des Grafen und der
Gräfin Wefierski-Kwiledi ift oder von Caecilie Parcza in außerehelichem
Geſchlechtsverlehr ihrem Liebften, einem öfterreichifchen Hauptmann, geboren
wurde. Der Hauptmann war aus Krakau als Zeuge geladen worden; er
folfte ausfagen, ob er in dem Kinde fein Fleiſch und Blut erkenne. Zwiſchen
den zwei Knaben ftand er vor dem Schwurgericht; rechts ber Meine Graf,
linls der rachitiſche Junge, den der edle Bahnwärter Meyer, als er Caecilie
Parcza geheirathet hatte, an Kindesftatt annahm. Prufend haftet das Auge
des Zeugen auf dem Kümmerling und ſchweift dann, ein Bischen ſcheu, nach
derrechten Seite hinüber. Spannungim Saal. Wirddie Stimmedes Herzens
jest Iprechen ? Kurze Pauſe. Leis hebt der Zeuge die Achjeln, fchüttelt facht
den Ropf: unmöglich; er kann nichts jagen. Caecilie war fein Liebchen und hat
zwei Knabengeboren; für den erften hat er Alimente geliefert, für ben zweiten
nicht. Den hat das Mädchen bald nad; der Geburt an vornehme Leute weg«
gegeben und der Vater hatte feinen Grund, breinzureden. Niemals hat der
Herr Compagniechef die Kinder gefehen; woher foll er alſo wiſſen, ob der
hübfche Knirps zur Rechten fein Sohn ift? Die Spannung löft fi. Ein
Schaudern huſcht durch die Reihen; „der Menfchheit befter Theil“. Ein Ges
3
354 Die Zulunft.
tnfchel. Das Baupdlerwv, in dem Plato den Anfang aller Weisheit ſah. Ohne
Täünche, ohne den Iſochromfirniß, ben die foziale Heuchelei als Glanzdecke
über alle menschlichen Beziehungen des Europäerkulturkreiſes breitet, zeigt
fich, in graufamfter Natürlichkeit, dem Blick hier das Leben. So ifts. Jahre
lang hat diefer Mann biefe Frau in heißen Stunden an ſich gepreßt, mit
bränftigem Geftöhn fie umfchlungen, mit gieriger Xippe ihren Athem ge-
ſchlürft: die Frucht fo zärtlicher Bereinung ſah er nie. Das älteſte Bübchen
leidet an ber Englifchen Krankgeit? Da find zehn Gulden, mein Schäfchen ;
für Doktor und Apotheker. Der Zweite — hatteſts ihn ja wohl Leo genanut? —
tft von einer feinen ‘Dameaboptirt? Recht haft Dusgemacht; ihm wird nichts
abgehen und Du Haft die Arme frei. Ein Haupttreffer. Servus, Zichaperl!...
Nach öfterreichiichem Geſetz Hat dag außereheliche Kind Anſpruch auf eine
bem Vermögen des Vaters angemejjene Erziehung und Berjorgung. Wenn
Caecilie aud) einartiges, bequemes Mädel war: für alle Fälle iſts angenehm,
wenigftens den einen Jungen loszuſein. Doppelt angenehm, daß die jüße
Kleine auch noch unters Ehedach fommt. Die Folgen folches Verhältnifies
mag man doch nicht fein Leben lang mitichleppen. Wahrſcheinlich hat das
ſchoͤne Stüd Geld, das Cilchen für den fauberen Kleinen erhielt, den Freier
berangelodt. Ein Weichenfteller! Die Leute kennens nicht anders, find am
Ende noch ftolz darauf, daß ihre Frau einem Kavalier genügte. Nun ift
Alten geholfen. Und weſſen Verbienft iftS denn, daß der Leo fo fauber wurde
und Blaublütigen keine Schande macht? Von wem hat er das Adelige? He?
Seh, ſei nicht fad! Aus is; und aus mußte e8 ja einmal fein. Kriegft einen
feihen Dann und wirft mich vergefien. Servus, Katzerl; ich muß zum Ta⸗
tod... Der Vater, der feine „natürlichen“ Kinder nicht kennt, nicht kennen
will, im Gerichtsfaal zum erften Mal fieht: ein Stoff für Tolftoi. Doch
Nechljudow war aus anderem Holz als der krakauer Compagnicchef. Der
reift forgenlos nad) Galizien heimund ſchreibt, als er nocheinmal vorgeladen
wird, an das Gericht, er ſei bei der erſten Fahrt nichtauf die Koftengelommen,
habe aus ſeiner Taſche zugelegt und verzichte, da mit der Zeugengebühr fo ge-
knauſert werde, auf die Wiederholung des theuren Spaßes. Ein paar Tage in
Berlinfindganz nett; eine Hauptmannsgage reichtaber nicht ſehr weit. Der
BriefiftderMann. Auf der Bühne würdeer nicht nur dieFrauen ein arger Böſe⸗
wicht dünken. Im Schwurgerichtsſaal, wo Akuſtik und Optik ſtets an Schau
ſpielhäuſer erinnern, gehts ihm wie Gretchen im Dom: „Die Hände Dir zu
reichen, fehauertS den Reinen.” Und doch ift der Offizier gewiß ein guter
Dann und ein frommer Chriſt; und wie ers mit aecilie hielt, haltens aber-
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Prozeß Kwilecka. 865
taufend Kavaliere (und Bürgerliche aller Stände und Proletarter fogar) mit
ihren Mädchen. Der Menſchheit befter Theil ift nichts für ftrupellofe Gemü⸗
ther. Schnell wieder die Glanzdecke her! Gott ſei Dank: die hauptmännliche
Epijode ift abgethan. Schon wird am Tiſch der Ankläger und Richter wieder
von der „zerrütteten” Ehe der ®räfin Iſabella geſprochen. Berrüttet ift fie,
weil die Grau manchmal fchalt, der Mann fi) manchmal an fremden Reiz
wärmte. Andere Männer bleiben ftandbaft auf dem ſchmalen Tugendpfabe
der Monogamie; anderersrauen lafjen nie ein zänkiſches Wort über die Lippe:
alfo ift dieſe Ehe zerrüttet und diefem Ehepaar ein Kind, die Frucht zeugen⸗
der und empfangender Liebe, nicht zugutrauen. Iudex ergo cum sedebit,
quidquid latet,adparebit. Das Schanderniftder Andacht gewichen. Ganz
hinten nur höhnt Einer: Woher, Ihr Herren, nähme ber König feine Rekru⸗
ten, wenn alle à la Kwilecki zerrütteten Ehen Einderlosblieben? Und weil er
ſchon einmalbeim Nörgeln ift, fragter weiter: Warumriefet Ihr den Haupt»
mann weither, da Ihr doc) wußtet, daß fein Knabe in der fünften vebens-
woche von der Mutter verlauft ward, vom Vater alfo, felbft wenn er ihn je
gefehen hätte, nicht wiedererfannt werden konnte? Beitverluft und Koften
feien Euch verziehen. Aber muptet Ihr nicht die Folgen fo zwedlofen Thuns
bedenken? Der armen Frau Meyer wird künftig feine Gevatterin den Rück⸗
biid auf das Militärverbältniß erfparen; und der Hauptmann kann froh
fein, wenn er fich im dunkelften bosnifchen Winkel vor der Klatjchfucht ver-
fteden darf, froh, wenn der Widerhall der Gerichtsverhandlung ihm nicht eine
Braut, eine Mitgift, eine&rbhoffnung raubt. Das habt Ihr erreicht. Iſts nicht
ſchon ſchlimm genug, daß die Angellagten während des Prozeſſes oft Rechts»
güter verlieren, die der Freiſpruch ihnen nicht zurüdbringen kann? Müſſen
auch noch Zeugen, diezur Aufhellung des Thatbeftandesgar nichts beizutragen
vermochten, mit ihrem guten Auf, ihrer Exiſtenz die Gerichtszeche zahlen?
Zweite Impreſſion. Siebenzehnter Tag der Hauptverhandlung. Noch
immer tft nichts bewiefen, noch nicht da8 Allergeringfte, und im Saal, in der
Stadt wächſt die Gewißheit, daß die Jury nad) all dem Wortaufwand ſämmt⸗
liche Schuldfragen verneinen wind. Da tritt Graf Heltor Kwiledi an den
Zeugentiih. Das Geſumm hört auf, die Zufchauer drängen an die Holz
ſchranke, die den Gerichtsraum abſchließt, von der Vertheidigerbant richten
ſechs Augenpaare ſich auf den Kämmerer Seiner Heiligleit. Der ift nerpöfer
als vor drei Wochen; von Weitem fchien der Sieg leichter als nun auf der
Walftatt. Die Stachta verzeiht nicht, daß die ſchmutzige Wäfche aus Wro-
blewo vor ein Preußentribunal gejchleppt worden ift, und wird dem Guts⸗
28°
856 Die Zukunft.
herrn von Kwilcz die fchädliche Ausftellung eintränfen. Die Stimme bes
alten Garde⸗Ulanen klingt heute nicht hell. Er will Etwas „erflären“. Die
Hälfe vecten fich Höher. Wenn Einer hier Etwas erflären kann, ifts biefer harte
Agnat mit den geſchmeidigen Verkehrsformen. Vielleicht will er fagen, die
Hauptverhandlung habe ihn überzeugt, daß feine Anfchuldigung nicht zu
beweijen fei; folche Chamade lönnte ihm die Gunft ber Standesgen oſſen zu-
rüdgewinnen. Nein. Er will ſich gegen Berdächtigung wehren. Nicht unfere
Schuldifts, meines Vaters und meine, baß die Sachevor den Richter kam; wir
wären ftill geblieben, wenn Graf Zbigniew die Kindesunterfchiebung einge»
ftanden hätte. Staunend bliden die Nachbarn einander an. Was erzählt
benn ber Mann da? Was foll jest die Nednerei von einem Geſtändniß, da
faft ein Jahr doch Schon das Verfahren ſchwebt und nicht einen einzigen Halt-
baren Beweis ans Licht zu bringen vermocht hat? Wennerfte Drohung fchon
die Beichuldigten ins Mausloch triebe, fäme e8 freilich nie zu langwierigen
Serichtsverhandlungen. Gerade in diefem Fall aber tragen die Grafen Mie⸗
cislaw und Heltor die Hauptſchuld; ftatt einenneuen Civilprozeß anzufangen,
haben fie die Staatsanwaltichaft aufgefordert, „energifch und ohne Anſehen
ber Perſon einzuſchreiten“... Pit! Die Erklärung geht weiter. Wird jet fogar
„Teterlich” ; Graf Heltor jagt es jelbft. Er verzichtet „für feinePerfon“ anf
bie Herrichaft Wroblewo. Die er noch nicht hat. ‘Die ihm erft zufiele, wenn
Zbigniew geftorben und dem Heinen Joſeph das Erbfolgerecht abgeiprochen
wäre. Möglich, daß die Fideikommißbeſtimmung joldhen Verzicht geftattet.
Dann füme das Dlajorat an Herrn Heltors Sohn, bis zu deifen Mündigfeit
ber Bater e8 zu verwalten hätte. Ein ungeheures Opfer alfo und der „Elarfte
Beweis, daß nicht das Streben nach pekuniärem Vortheil mein Handeln geleitet
bat.” Saure Trauben, brummt ein Pole in den Aſſyrerbart. Das müde
Auge Zbiginews ſucht unter den Entlaftungzeugen, bei Herren und Diägden,
Leidensgefährten; das Schauerdrama,dem erbeiwohnen muß, hat ja manche
ftarfe Szene gebradjt: diefe legte aber war ſchwach, überfläffig, ohne jeden
Effelt. Um Iſas Mundwinkel zudt es mehr jchelmifch als boshaft ; dürfte
fie reden, fie riefe wohl in den Saal: Da habt Ihr Euren Heltor, votre
garcon tres fort! Und ganz hinten fragt der Nörgler: Was hat die Feier⸗
lichfeit denn mit dem Gegenftande diefer Verhandlung zu thun? Liegt eim
Verbrechen vor, dann braucht der Kwilczer ſich der Anzeige nicht zu ſchaämen.
Ob er, ob fein Sohn oder Neffe ins Schloß von Wroblemwo einziebt, ift für
den Wahrfpruch ber Gejchworenen gleichgiltig. Welche Rolle jpielt der Herr
eigentlich hier ? Den Privatbetheiligten, derin Defterreich dem Unterfuchung-
Prozeß Kwilecka. 357
richter und dem Staatsanwalt das Material liefert, kennt unſer Strafprozeß
nicht. Ein Nebenkläger hat ſich nicht gemeldet. Warum alſo muß Hektor
fi ewig zu und wenden? Warum fteht fein Stuhl fo nah beider gury? Mit
welchem Recht ergreift diefer Graf das Wortzu Erflärungen, diegar nicht zur
Sache gehören? Täglich) hat der VBorfigende gefagt, die Verhandlung baure
zu lange und müſſe in jchnellerem Tempo vorwärtsgeführt werben. Jetzt
aber läßt er den kwilczer Zeugen belangloje Privatgefchichten erzählen.
Nummer Drei. Herr Dr. Rofingfi aus Wronte als Zeuge und Sad)»
verftändiger. Ein finfteres, barjches Geficht. Der gelbgraue Schnurrbart
Tantig wie ein Balkın. Unter ftarrem Buſch das Auge; hat es je lächeln ges
lernt? Aus diefen dien Thränenſäcken kam wohl nie eine Mitleidszähre.
Straffe Haltung. Fließendes, um feine Ausdrucksnuance verlegenes Deutſch.
Ein Dann, der zu Kaifergeburtstagsfeiern geht. Einer von Denen, die Bis:
mard ralliirtePolen nannte. Und der befte Redner imSaal. Jede Wirkung
ift vorgewogen, jedes Wort fteht, ohne Phrafenbehang, an der richtigen Stelle.
ALS formale Leiſtung ift die Ausſage mufterhaft. Dererfte Theil ift der Anklage
nicht günftig. Die Gräfin, deren Hausarzt Roſinski Jahre lang war, hatte
immer, nicht nur bei zFrauenleiden, eine unüberwindliche Scheu vor jeder
Betaitung der ſchmer enden Körpertheile; daß fie ficd während der Schwans
gerichaft nicht unterfuchen ließ, fonnte alfo dem Doltornidht auffallen. In der
Wochenftube wihihmderlegte Zweifel. Der Knabe ſah aus wiecinneugebore-
nes Kind, die Mutter wie jede Wöchnerin; fein Grund zum Verdacht. Auch die
Angaben, dieder Zeuge über dieehelichen und wirthichaftlichen Verhältniſſe des
Grafenpaares macht, bieten der StaatSanmaltichaft feine Stüge. In der Ehe
gabs Regen und Sonnenjchein ; ſchlimmem Gezänt folgten Tage inniger Ein
tracht. Die Gräfin hat feinen ungebührlichen Luxus getrieben, fondern ihre
Mitgift für die Gutswirthſchaft verbraucht ; und die Geburt des Majorats⸗
erben hat auf Wroblewo die Geldfnappheit nicht vermindert. Sehr günftig:
denn die Anklage behauptet ja, der Mangel an Geld und Kredit habe Iſa in den
Blan der Kindesunterfchiebung gedrängt. Das Alles war ruhig, knapp,
konzinn vorgetragen worden. Nur ein Zug verrieth die Nervofitätdes Zeugen:
während er mit kurzen Schritten vor den Geſchworenen auf und ab fpazirte,
ließ er einen Haus- oder Stubenfchlüffel um den rechten Beigfinger kreiſen;
vom erften bis zum legten Wort. Wie bei einem Alltagsgefpräd) über Wetter-
prognojeund Sfatverluft. Vielleicht glaubt der Sanitätrath fo feit andie Un⸗
schuld feiner Batientin, dag dieBerhandlungihnnichterregt ? Nein:ertrautder
Gräfin Weſierska⸗Kwilecka die That zu, trogdem aucher fein einziges ſicheres
358 Die Zunft.
Thatbeftandsmerimalanzuführen vermag: nur nad) der Kenntniß ihres Cha⸗
ralterd. Der Sachverſtändige Roſinski hat mehr zu jagen als der Zeuge; und
der Schlüſſel kreift jet jchneller. Eine fehr leidenjchaftliche Frau. Künſtler⸗
temperament. Als Sängerin hoch über dem Dileitantendurcdhfchnitt. Schön,
verwöhnt, ftolz. Ueberwuchernde Phantafie. Keinen Sinn für Ordnung, für
Korrektheitim Reden. Den beiten Willen zwar, doch nicht Die geringfte Fähig⸗
feit zu fparfamer Wirthichaft. Im fteten Kampf ums ftandesgemäße Dafein
ift ihr ethifches Empfinden nad) und nad) morjch geworden. Was zum Erfolg
führt, fcheintihr erlaubt. Dir Gedanke, Wroblemo verlaffen und von fremder
Gnade abhängen zu follen, mußte ihr unerträglich jein. Was fie jagt, ift nicht
gelogen, aber objeftiv unglaubwürdig, denn ihre Gedächtnißbilder find oft im
Wefentlichen falich. Keine Verbrecherin aus Gewinnfucht — diefe Wendung
ſoll, ftatt der Zuchthausſchmach, wohl die mildere Strafart oder Dalldorf em-
pfehlen —, jondern „eine pſychiſche Abnormität”. Yeichte Verbeugung. Schluß
... Das Hang nicht jehr wiſſenſchaftlich; in Traftätchen fürs gläubige Herze
mag jo von Geiſteskrankheit geredet werden. Woran fol Frau Iſabella denz
leiden? Paranoia? Folie circulaire ? Und was follder Laienrichter mit dieſer
Ausfageanfangen ? ALS Leumundszeugniß bietet ſie wenig Wägbares; und als
piychiatrifches Gutachten ift fie erſt recht nicht zu brauchen. Wenn alle rauen,
die Schlecht wirthichaften, deren Gedächtniß trügt, deren Phantafie ohne Hem-
mungenarbeitet und deren Zunge im Affelt nicht zu zügeln ift, in den dunkla
Bezirk der Anomalien verwiejen würden, ftünden bald viele Normalhäuje
leer. Lieber Pſychoſen weiß man heute doch ſchon ein Bischen mehr, als Herr
Dr. Roſinski zu ahnen jcheint. Merfwürdig: fchon ſpotten verftändige Aerzte
jelbjt über den modischen Aberglauben anSpezialiftenweisheit, überden Wahn,
der Naſendoktor habe die Finger von Diundund Ohren zulaffen; und in dieſem
Rieſenprozeß, zudem, ohne Furcht vor den Kloften, aus drei Reichen die Zeugen
herbeigefchleppt erden, tritt als pſychiatriſch Sachverftändiger ein Praftifcher
Arzt aus Wronke auf. Ein offenbar kluger Herr, der aber, als Iſabella noch
unbehelligt im Scjloß befahl, feine Diagnofe tief in des Bufens Tiefe ver-
barg. Am erjten Verhandlungtag hatte die Gräfin gerufen: „Dr. Roſinski
war immer von meine beiten Freunde!“ Diele Frau hat wirklich mehr Bha »
tafie als Sinn für die Realitäten des Lebens. Der Freund fand fie fittlich ır. >
ſeeliſch morbid und eines gemeinen Verbrechens fähig. Oder find auch fen ı
Gedächtnißbilder nicht ganz zuverläffig? Sah er die Hochgeborene erft, fe t
fie angeflagt ward, in der Schredienstammer ber Abnormitäten? Ehe. :
wieder Spazirgänge als Sadjverftändiger unternimmt, ſollte er. ben Mäthje
Prozeß Kwilecka. 359
fragen der retroaltiven Suggeftion nachdenken. In Mußeftunden daneben
einfältiglic) erwägen, was dem Hausarzt erlaubt, was verboten ift.
Die vierte Erinnerung führt zu dem trüben Tag zurüd, deſſen furzer
Lichtſchein Hektors perjönliches Majoratsrecht im Lethe verfinken ſah. Donars
Tag, des Gewittergottes. Der Himmel pechſchwarz bewölkt. Die Geſchwo⸗
renen fehen ſchon gar nichts mehr. Plötzlich wirds hell. Coup de foudre.
Herr Steinbredit, derden Titel (nicht das Amt) eines Erſten Staateanwaltes
mit niederfächfiicher Würde trägt, hat die Schlußfenfation, dielängfterharrte,
ausden Falten der Robe geſchüttelt. Das Licht kam, natürlich, von Diten. Aus
Warſchau. Dort — dentit Du auch noch dran, lieber Leſer? — Icbte und ftarb
die Hebamme Ewell, die dem Schoß der Gräfin den ftreitigen Knaben entband.
Wirklichentband? Bisheutemufßtemansglauben. Runaber... Der Staat3s
anwalı hat Herrn von Tresckow, den eleganteften, weltmännijchiten der ber⸗
liner Kriminallommiljare, heimlich nad) Warſchau geſchickt, auf daR er den
Cohn der Madame well vernehme, und diefer Sohn hat Wunderdinge ent-
hüllt. Seine Mutter ſei im Januar 1897 in Berlin geweſen, bald aber krank
und oynedaserhofftehohe Honorar heimgefehrt ;jic habe der Gräfin das Kind
nicht entbunden, auch nicht gewußt, ob und welcher Erſatz in die Kaiſerin
Auguita-Straße74geholt ward, und auf dem Sterbebett noch, leider zu ſpät,
den Wunſchausgeſprochen, ihre Seelevon einem Geheimniß zuentlaften. Alles
horcht auf. Der&laubeandıe Finalüberraſchung, dBielommen werde, kommen
müſſe, hat alſo nicht getrogen. Iſt die warſchauer Botſchaft erweislich wahr,
dann iſt die Angeklagte im wichtigſten Punkt auf einer Yüge ertappt; dann
gabs, ohne Entbinderin und ohne Arzt, keine Entbindung. Iſabella blickt zur
Saaldede empor; mıt dem Augdrud jpöttiicher Nejignation, mie in einem
Pflichtkonzert, während Stümper ihr Wefen treiben. Wieder was N:uesalfo;
vor den Jüngſten Tag wird die Sadje wohl nicht mehr enden. Herr Zbigniew
hat in feinen Schalltrichtern offenbar nur einen Theil der neuen Mär aufges
fangen; blinzelnd jchaut er nach rechtS, nach links und fcheint fragen zu mollen,
ob in dieſem merkwürdig altmodifchen Dielodrama denn zwei Sterbebetten auf
die Bühnegebracht werden. Rechts und linfSaber, vorn und Hinten iſt Alles in
froher, in bangerBewegung. Die Cwell wars alſo nicht ! Jetzt geht die Geſchichte
ſchief. Habt Ihr auch gehört, wie der feine Tresckow erzählte, dem Sohn der Heb⸗
amme ſei für ſeine Ausſage Geld angeboten worden, dreitauſend Rubeh und noch
mehr? Die Vertheidiger fordern in unſicherem Ton eine Pauſe, um über die neue
Wendung zu berathen. Ein Geſchworener verlangt die Feſtſtellung der Perſon,
die das Geld geboten habe; wenn ſie den Angeklagten befreundet war, müſſe
860 Die Zuhmft.
Etwas zu vertufchen geweſen fein. Nach der Anficht des Herrn Steinbredht ifi
ber Berjucher nicht fern: Herr von Koczorowsfi wars, ein Syntimer von Wro⸗
blewo ; ruhigen Blutes fpricht der Staatsanwalt den Berdacht aus, deſſen Be⸗
ftätigung einen unbefcholtenen Edelmann ins Zuchthaus bringen lönnte. Auf
jeden Fall muß der Sohn der Hebamme schnell nach Berlin. Der Gerichtshof
befchließt, ven Mechaniker Thomas Cwell und defien Ehefrau Magdalena für
Montag vorzuladen und bis dahin die Verhandlung auszufegen. Montag alfo
wirds endlichtagen. Aufder Treppe, die, anden Schöffenniederungen vorüber,
ins Freie führt, funmt der unbelehrbare Nörgler: „In einem Omnibus ſaß
ein Mechanitus... Der Mann will entweder aus einer der beiden &rafen-
familien raſch noch ein Bischen was Blankes herausfigeln oder nur gratis
mal die Reichshauptſtadt deuticher Intelligenz beſehen; vielleicht auch das An⸗
benten der lieben Dlamavon Schmugfprigern ſäubern und fi vor Ver wandt⸗
haft und Kundichaft wichtig machen; bequeme Reklame: auf preußijche
Staatstoften. Ganz ausgefchlojjen,baß er jet noch Enticheidendes zu jagen
bat. Aber auf drei Retourbillets Warſchau-Berlin nebft Gebühr für zwei
neue ausländische Zeugen kommts nun aud) ſchon nicht mehr an. Und welche
Wendung durch Tresckows Fügung! Bis heute früh gehörte die Cwell zum
Abſchaum der Menfchheit. Ein wüſtes Weib; berüchtigte Bordellwirthin;
für ein paar Rubel zum Schändlichiten, zu jedem verbrecherifchen Schwindel
bereit. Das war Monate lang ein Eckſtein der Anklage. Dieſe beſcholtene Ber:
fon, diefes allerliebfte Schmutzpflänzchen importirt die Gräfin aus Ruſſiſch⸗
Polen, um eine zuverläffige Hehlerin ihres Truges zu haben. Der Edftein
Ioderte fich auch nicht, al von der warfchauer Polizei gemeldet wurde, die
Cwell fei eine ordentliche Frau geweſen, gegen die nichts vorgelegen babe.
Polakenflauſen. Das kennt man fon. Fünf Rubel: und ſolcher Tſhinownik
giebt jedes gewünſchte Atteſt. Und nun Ver wandlung bei offener Szene. Die
jelbe& well wird zur Ehrenfrau, deren Ausſage lauteres Gold iſt. Wahrſcheinlich
hat ſie die Krankheitdamals nurfimulirt, um nicht an einem Verbrechen mit⸗
wirken zu müſſen. Dieein Borbeil halten? Lächerlich. Siebefommtein Sterbe=
bett undein ganz befonders zartes Gewiſſen und die Königliche Staatsanwalt⸗
Schaftiftentichloffen,igr den Himmelzuöffnen. Montag kanns Iuftigiwerden!*..
Es wurde n.cht luftig. Das Ehepaar Cwell war pünttlich zur Stelle, hatte
aber nichts Beträchtliches zu erzählen. Mama hat den Kindern aus Berlin
nichts mitgebracht und, um nicht knickerig zu jcheinen, behauptet, fie ſei vor
der Entbindung erkrankt und mit Inapper Entſchädigung heimgeſchickt wor»
den. Sohn und Schwiegertochter hieltens gleich für eine Ausrede. Much mit
Prozeß Kıvileda. 361
dem Sterbebett ift nichts anzufangen. Die Frau wollte ihren Thomas noch
einmal fehen; doch von einem Geheimniß und von Gewiffensbiffen war nie»
mals die Nede. Die dreitaufend Aubel hat Herr Hechelski, Hektors Vers
trauensmann, dem Mechaniker angeboten; er wollte jogar bis zu zehntaufend
gehen. Herr von Koczorowsti hat alle Annäherungverjuche abgelehnt. Nies
mand giebt diefem grundlos Verdächtigten eine Ehrenerllärung. Niemand
fragt Ban Hechelsti, wer ihm geftattet habe, über ſolche Summen zu ver:
fügen. Niemand fcheint für möglich zu halten, daß ein Privatipigel, der für
eine Ausſage zehntaujend Rubel anbietet, den Zeugen zum Meineid verleiten
will und, als eines im 8159 StGB mit Zuchthaus bedrohten Verbrechens
dringend verdächtig, in Haft genommen werden könnte. Niemand. Der Fall
Ewellifterledigt. Die ſcham loſe Kupplerin verfchwindet ; nur die „der Gräfin
gänzlich unbefannte Hebamme” bleibt und genügt am Ende auch für die
Plaidoyerbedürfnijfe. Das Licht aus Often Hatnicht langegeleuchtet. Immer⸗
hin fieht jeßt auch ein myopifches Auge, auf welchen Zragbalfın die Anklage
ruht. So unerſchütterlich waren die, Feſtſtellungen“ der StaatSanwaltichaft,
daß jchon das wirre Echo eines Kleinleuteklatſches ausreichte, um die Yeft-
ſteller ſelbſt ins Wanken zu bringen. Zwei Brofurotoren waren bereit, die ver-
blicheneftabelentbinderinauffeurigen Armen inden®lorienhimmelzu heben.
* *
æ*
Die vier Szenen aus der langwierigen Kriminallkomoedie wurden hier
ausführlich erzählt, weil fie paradigmatijch beweifen, wie viel überflürfige Ars
beit in dieſem Prozeß geleiftet ward; nur paradigmatifch: leicht wären zwei
Dugend ähnlicher Vorgänge anzuführen. Drei Viertel aller Zeugen, aller
Koſten, allen Zeitaufwand Ss waren zwecklos, fonntın unterfeinen Umftänden
die Entſcheidung der Richter determiniren. Tage lang wurde verhört und vers
Bantelt, um feitzuftellen, ob eine Frau von fünfzig Jahren noch gebären fönne
undobim vierten, fünften Monat der angeblihenSchwangerfchaftin den Hem⸗
ben der Gräfin Menftrualblutflede gefunden worden jeien. Jedes Handbuch
der Gynäfologie konnte ſchon im Vorverfahren die nöthige Auskunft geben.
Und wer das furiftifche Staatseramen beftanden hat, ſollte, ehe er fic an den
Richtertiſch jet, eigentlich auch jo viel Medizin gelernt Haben, daß er weiß: bis
zum Eintritt derDienopaufe kann, während der ganzen Zeitdauer der Men⸗
ſtrualfunktion, imbefruchteten Schoß einer fonftgebärtüchtigen Frau ein Kind
wachen. Die Katamenialblutungen ſprächen alfonıchtgegen, jondern jehrlaut
fürdie Möglichkeit der Schwangerſchaft; laut ſogar noch, wenn jie wirklich bis
362 Die Zukunft.
in den fünften Monatgebauert hätten. Spiegelberg rechnet in feinem Lehrbuch
der Geburthilfe dag Aufhören der Menſes nicht zu dem ficheren Zeichen der
Schwangerſchaft; dieſes Zeichen, jagt er, ift zwar werthvoll, kann aber fehlen
oder fo undeutlich fein, Daß es nicht zur Diagnoſe zu benugen ift. „In ſeltenen
Trällen erfcheint eine Blutung noch nach der Konzeption einmaloder mehrere
Male; gewöhnlich in fh wachen Grade und unregelmäßig; doch liegen: auch
Berichte von Weibern vor, die nur während der Schwangerſchaft menftruirt
geweſen fein ſollen ... Die Mehrzahl ſolcher Abgänge ift nur pathologiicher
Natur und häufig ſtammt das Blut nicht aus dem cavum uteri, jondern
aus Erofionen und Gefäßeltaften des collum.” vaienirrthum aljo leicht mög:
lich. Haben die am Prozeß Kwilecka beiheiligten Herren nie von den Yaımen
der regles surnumeraires gehört, von den Hämorrhagien, die als Folge von
Uteruemyom auftreten, von all den Genitalblutungen, die mitder Menftrua
tion nicht3 zu thun haben? In ihrer eigenen Familie nie von Frauen, deren
Menfes noch famen, als der Leibesumfang ſchon unzweideutigdie Schwangere
verrieth ? Daß eine Frau über Fünfzig Mutter wird, tft nidit alltäglich; doch
auch nicht unerhört. „rauen von fünfzig, ja, von ſechzig Jahren haben noch
Kinder geboren“, ſagt der berliner Gynäkologe Profeſſor Gebhard in Veits
Handbuch. Barker hat von einer Achtundfünfzigjährigen berichtet, der ein Kind
entbunden wurde. Depaſſe hat 1891 den Fall einer grossesseäcinquante-
neuf ans beſchrieben. In Eulenburgs Realencyklopädie der Heilkunde giebt der
prager Profeſſor Kiſch das Reſultat der Unterſuchungen, die er an fünfhundert
Frauen verſchiedener Nationalität vorgenommen hat; davon kamen hundert⸗
undſechs erſt nach Vollendung des funfzigſten vLebensjahres ins klimakteriſche
Alter; in neunundachtzig Fällen trat die Menopauſe zwiſchen dem fünfzig-
ſten und dem fünfundfünfzigſten Lebensjahr ein; „in den nördlichen Ländern
im Allgemeinen päteralsinden ſüdlichen.“ Als wichtig gilt: Raffe, Berebung,
Klima, Beginn der Pubertät, äußere Yebensverhältniffe; mit ſchwerer Arbeit
bepackte Frauen pflegen früher ing Rlimafteriumzufommen als reiche müßige
Damen. Graf Weſierski-Kwilecki war 1896 zweifellos zeugungfähig, ift3 (er
könnte feinetheuer bezahlteKeputation gefährdet glauben!) vielleicht heute noch.
Die Gräfin hatte die Menſtrua, fonntealiogebären. Dagegen war mit Waſch—
weibergeſchwätz nichts auszurichten. Freilich: „ Die Angeflagte hat feinen Arzt
zugezogen". Höchft verdächtig. Warum dennverdächtig? Braucht eine yrau,
deren Schwangerjchaftnormalverläuft,durchauseinen Arztundiftdie Unter»
ſuchung des Uterus ein ſolches Vergnügen, giebt fieauch nurfolcheBeruhigung,
daß die nach dem goethiſchen Wort doppelt Schöne, in der zwei Leben wohnen,
a
Prozeß Kroileda. 363
ſich danach fehnen follte? Die Anllage fand einen ohne die Annahme böfen
Trachtens unerklärlichen Widerſpruch darin, daß Iſa gejagt Hatte, fie reife
nach Berlin, weildortgute Frauenärztezuhaben feien, und dann doch den Pro⸗
feffor Renvers, den ihr Herr von Jazdzewski empfahl, nicht rufen ließ. Der
Schwurgerichtspräfident fam über diefen ungeheuerlichen Widerfpruch (ohne
dasimmerparate Wort Widerſpruch“ gäbe es für unfere Alltagsfriminaliiten
überhaupt feine Beweigaufnahme) gar nicht hinweg. Merlwürdig. Eine Frau
kann wünfchen, in ihrer fchweren Stunde für den Nothfall berühnte Spes
zialiften in der Nähe zu haben, und braucht jie, wenn in der Wochenftube
Alles glatt geht, dennoch nicht rufen zu lafien. Vom Nollendorfplat, wo Pro⸗
ſeſſor Renvers wohnt, dauert der Weg in die Kaiſerin Augufta-Straße fnapp
fünf Minuten. Gynäkologen jeglichen Ranges find durchs Telephon rafch
herbeizuflingeln. Ganz jo bequem hat mans in Wroblewo nicht. Darbende
T oftorenerjehnen vielleicht eine Beftimmung, die jede Schwangere verpflichtet,
beim Beginn der Wehen einen Arzt „zuzuzichen” (auch ein hübſches Wort;
Sprachgebrauch: Er bat fid) eine Krankheit und dann einen Arzt zugexogen).
Noch aber ift ſolche Pflicht von feinem Geſetz vorgejchrieben ; noch gebären
jelbft in civilifirten Yändern gewiß neun Zehntel aller Frauen ohneärztlichen
Beiſtand; noch hält man das Reifen und die Erpulfion des Kındes für einen
natürlichen Prozeß, der den gelehrten Helfer erft fordert, wenn die Puerperal.
borgänge vonder Normabmeichen. In Wroblewo warenerwachjene Töchter,
vor deren neugierigem Auge eine fünfzigjährige Mutter ſich nicht gern ing
Wochenbett legt; war ein franfes Faltotum, eine Hausfranzöfin, deren Ges
breiten die Gräfin nie recht zur Auhe kommen ließen; war, wenn Kompli⸗
fationen eintraten, ein namhafter Spezialarzt nicht ohne gefährlichen Zeit:
verluft herbeizuichaffen; und eine nervöſe Dame, deren higiger Phantafie
während der Schwangerichaft alle Hemmungen fehlen, konnte wohl zu der
Siwangsvorftellunggelangen, die feindliche Ewilczer Linie werde die Möglic)-
feit finden, in Wroblewo dem Kind oder der Mutter ein Reid anzuthun. Srüns
de genug, nicht zu Haufezu bleiben; zumal für die launıfche,ercentrifche, reife
Iuftige Jſabella. Ein Wochenſchwindel war, unter Affiftenz der in folchem
Geſchäft erfahrenen Hebamme Oſſowska, auf einem entlegenen polnijchen
Gut leichter durchzuführen als im berliner Weſten. Die Gräfin nahm eine
andere, al8tüchtigempfohlene Hebamme und bot ihren Hausarzt telegraphiſch,
zu kommen; nur ihren Hausarzt: denn die „Zuzichung einer Autorität” war
eben nicht nöthig. Das Alles konnte in der Borunterfuchung feftgeftellt wer»
den und bot, als volllommen normal, nicht das geringite Verdachtsmoment.
364 Die Zufunft.
In der Borunterfuchung hat auch die Amme, gegen deren Beugniß fein Bes
denken ſprach, ausgefagt, das Kind, das ihrer Bruft anvertraut war, ſei ohne
Zweifel ein neugeborenes gewefen; fie jelbft Habe das Würmchen von dem
meconium, dem Kindspech der erften Lebensſtunden, gefäubert und es habe
erft ordentlich getrunfen, als ihm von Roſinski das Zungenband gelöft war.
Der Abgeordnete Propft von Jazdzemwsti, der Hunderte von Kindern getauft
hat, erklärte mit äußerfter Beftimmthelt, der Knabe, deſſen Leib er als Täufer
betaftete, fönnenurein paar Tage vorher geboren worden fein. Während des
Geburtaltes war Iſas Tochter neben, Iſas Freundin auf der Schwelle der
Wochenſtube geweſen. Wenn diefe Ausfagen nicht durch neue Gravantien er»
ſchüttert ſchienen, konnte der ganze Fragentompfex für die Hauptverhandlung
nicht mehr erheblich fein. Und, nur nebenbei: ift Humanität, Ritterlichfeit,
Germanenkeuſchheit — und mie die [hönen Zierwörter noch heißen mögen —
in Gerichtsfälen denn zum leeren Wahn geworden? Iſts nöthig, vor den
Kindern, den Feinden, der Iungernden Senfationiucht das Geſchlechtsleben
einer Angeklagten, Gräfin oder Taglöhnerin, zu entjchleiern, wenn diefe Er
hibition für die rechtliche Beurtheilung des Thatbeftandes doch werthlos
bleiben muß, dem Erfenntniß juchenden Richter nicht den Weg weifen kann?
Eben fo unerheblid) war der aus Paris eingeſchleppte Plunder. Eine
Dame hat 1896 bei einer Iutctifchen Hebamme ein Kind zu kaufen gefucht;
fein irgendwie ernft zu nehmendes Indizium fpriht dafür, daß Iſabella
Kwilecka dieieDame war; höchſt unwahrſcheinlich, daß eine Polin einen Gallier⸗
baſtard in ihre Sippe ſchmug zeln will. Thut nichts: die Hebamme wird auf
Staatstoften nad) Berlin fpedirt. Sieht die Gräfin und fagt: Die wars nicht.
Wird der Quark nun wenigftend weggeräumt? Nein: er wird in der Haupt»
verhandlung noch einmal aufgetiſcht, würde vielfeicht als ein beſonders feiner
Leckerbiſſen empfohlen, wenn die sage-femme nicht fo weiſe geweſen wäre,
für die zweite Fahrt nad) Berlineine Entf hädigung zu fordern, deren Höhe ein
preußiiher Staatsanwalt nicht zu verantworten wagt. Natürlich wird nicht
das winzigfte Butterfügeldhen gefunden. In der felben guten Stadt Paris
hat im felben Jahr eine Ausländerin einen Gummibauch gefauft. Auch hier
iſt jede Moͤglichkeit, die Jdentrtätfeitzuftellen, von vorn herein ausgefchloffen,
trogdem ein Freund Hektors, des Allumfaſſers, Maler von Metier,anderSeine
als Amateurdeteltive in der Sache eifriggearbeitet hat. ZurHauptverhandlung
aber wird auch für diefes Beweisthema aus Paris ein nicht klaſſiſcher, doch ro⸗
mantifcher Zeuge geholt, das Gerede ſpinnt ſich über Stunden Hin, halbe Tage,
unddas Ergebniß ift, wıc zuerwartenmwar: Null. Was bleibt noch? Eine De
Prozeß Kwileda. 365
pejche, deren Rortlautneben der harmlofeften auch eineüblere Deutung zuliehe.
Aber die Angeklagte kann nicht Hipp und klar angeben, warum fie 1896 über-
haupt nach Paris gereift ift. Ungemein verdächtig. Einer polniſchen Gräfin,
die den Werth des Geldes nie wägen lernte und von der rage du chiffon
beſeſſen ift, darf man gewiß nidjt zutrauen, fie jei jo weit gereift, nur um bie
Boulevards und die Läden der Aue be la Paix wiederzufehen, ſich zu amus
firen und die neuften Errungenſchaften der Kosmetiler heimzubringen. Noch
verbächtiger: fie weiß 1903 nicht mehr, wo fie 1896 in Paris gewohnt Hat.
„Aber, Frau Gräfin, wollen Sie ung im Ernſt...?“ Bald danach erzählt
der Zeuge Rofinsti, er habe Namen und Straße des berliner Hotels ver»
geſſen, in dem er 1897 abgeftiegen jei. Niemand horcht erftaunt auf; ein
Zeuge, fein Angellagter! Und wenn die Gräfin nım wirklich in Paris Etwas
zu verbergen gehabt, fich unter faljchem Namen einquartirt hätte und jet
Gedächtnißfchwäche heuchelte, weil ſie ihrer Familie gern verfchweigen möchte,
was damals geihah? Wäre damit das Geringfte für eine Kindesunter;
ſchiebung bewiefen? Kann jelbft der Sauberfte jedem Schritt, den er einmal
that, von Millionen Augen nachjpären lafjen? Und willen unfere Krimi-
naliften nicht, nach Pitaval, Richer, Feuerbach noch immer nicht, wie oft dag
einzelne Verdachtsmoment den Betrachter narıt? So lange nad) Jean Paul
nicht, daß feltfamere Zufälle, als die reichfte Phantafie der Romanſchreiber
auszufinnen vermag, das paufenlos dichtende Leben erfindet?
Sie wiffen, wenn fie im ſchwarzen Talar auf dem Richterftuhl figen,
von diefem Peben nicht viel. Im Prozeß Sternberg hielt der Vorſitzende für
ganz unglaublich, daß eine Proftituirte den Namen eines Kunden nicht kenne,
der mehr als einmal zu ihr gelommen ſei; der alte Herr glaubte wohl, auch
ſolchen Damen jchide man vorher die Bifitenkarte ing Zimmer. Im Prozeß
Kwileda erlebten wir noch höhere Wunder. Das Unzulängliche ward Er:
eigniß ; Unmögliches fand schnell willigen Glauben. Die Gräfin hat Tücher um
den Leib gewidelt, Schrotbeutel, einen Gummibauch — Alles zufammen oder
der Reihe nach? — und neun Monate lang durch geheuchelte Schwanger:
ſchaft die Erfahrenften, Mütter und Großmütter, getäufcht. Sie hat aus
Wroblewo in Bordeaurflajchen Schweineblut, aus Krakau eineNabelfchnur
nebft Nachgeburt nach Berlin gefchafft, mit ſchrillem Gekreiſch fünfftändige
Wehen marlirt, vor zwei verheiratheten Srauen, vor Amme und Hausarzt
mit vollem Erfolg die müde Wöchnerin gemimt. Am Kneiptiſch, beim Balls
flat würde der Richter jolche Erzählung ins Fabelreich weifen. „Seit fieben
Fahren jchleicht daS Geraun über ein Hintertreppendelift durch die Leute⸗
866 | Die Zukunft.
fammern zweier polnischen Rittergüter: fein Wunder, wenn der Klatſch ind
Rieſenmaß wuchs. Laßt mid) in Frieden! Einer Frau, die man genau kennt,
fieht man, auch ohne den Bauchumfang zu mefjen und ben Foetalpuls zu
fühlen, an, ob fie in anderen Umftänden ift; meift ein ganz verändertes Ge⸗
fiht. Die Ausftopfung allein thut es alfo nicht. Wer diefe Bantomimil ſo
lange, ohne fich je zu vergejien, vor mißtrauifchen Blicken durchführt, könnte
ſich für Geld jehen laſſen. Und nun gar die Buerperallomoedtenor Amme und
Arzt, das Schweineblut, der krakauer Import, — nein: lieber noch her mit
dem Blumenmedium. Die nächſte Wunde!” In foroiftsanders. Da ſchweigt
der ſchlichte Menichenverjtand, das Unterfcheidungvermögen ſchwindet und
aus dem Dunkel taucht, nur von irren Flämmchen uralten Aberglaubens
noch umzuckt, die Kolportagewelt mit all ihren Wonnen und Schredeen, ihren
roftgen Engelchen und pechichwarzen Teufeln. Alles Menſchliche wird fremd.
Kann ein Engel das Kind eines Teufels fein? Sicher; Hugo, Sr,
D’Ennery haben mit ſolchen Rontraften gern die Nerven gerüttelt und in den
Groſchenheften wachen auf Mifthaufen immer die weißeften Lilien. Auch
dieſes Schaufpielesdurften wir und in Moabit freuen. Aniela Andrufzemste:
eine Beitie; Jadwiga, ihr Töchterlein: die Bier jeder Menſchengemeinſchaft
Aniela hat das Kind nebſt Zubehör in Krakau eingehandelt, nach Berlin gebracht
und auf dem Sterbebette die Tochter verpflichtet, dem Grafen Hektor das Furcht⸗
bare zu melden. Trotz dem Gelöbniß hat Jadwiga zwei Jahre gewartet und, nach
erfüllter Kindespflicht, viel von dem großen Stück Geld geredet, das fie be
kommen werde, befommen müffe. Sie ift mit Hechelsft, Heftors Spürhund,
verivandt, hat mit feiner Hilfe ihr Beihtiprüchlein zu Papier gebracht; und
brauchte, mitihrem halb eingedriliten, halb wirren Geſchwätz, ernften Maͤn⸗
nern nicht dieBeit zu ftchlen. Im Schwurgerichtsfaal hat fie die Hauptrolle.
Ungefähr Johannes vor Herodias und dem Tetrarchen. Was fie jagt, iſt un
zweifelhaft wahr, wer ihr frevelnd widerspricht, des Meineides dringend ver
Dächtig. Kann gar nod) feftgeftellt werden, daß Mutter Aniela im Januar
1897 vier, fünf Tage lang nit in Wroblewo war, dann find Kwileckis und
Genofien verloren. EinSchod Zeugen zu diefer hochnothpeinlichen Frage., Die
Alte war da." „Die Alte kann weggeweſen fein.” „ch erinnere mich nicht."
Und wenn fie num verreiftgemejen wäre? Das hätte, Hoher Gerichtshof, au
noch nichts bewiefen. Das gab nicht einmal hinreichenden Grund zur Eroͤ
nung des Hauptoerfahrens. Zu bemeifen mar, daß die Gräfin Wefierdt '
Kwilecka nicht geboren, in gewinnfüchtiger Abficht ein Kind unterſchob
hatte. Wenn andere haltbare Indizien fehlten, bewies eine Reife der Wir '
Prozeß Kwileca. 367
ſchafterin gar nichts. Und doch hätten die Geſchworenen die Schuldfragen
wahrſcheinlich bejaht, wenn dieſe Reiſe ihnen glaubhaft gemacht worden wäre.
„Gott, Gott, auf welchen Fundamenten ruht die menſchliche Gerechtigkeit⸗
pflege!” Hebbels Wehruf ſoll nie verhallen... In der aluſtiſchen und op⸗
tiſchen Wolle, die in heißen, von keuchender, ſchwitzender Menſchheit über⸗
füllten Schwurgerichtsſälen entfteht, wird jede Schallirrung, jede Luftſpie⸗
gelung möglich. Wie Altoholdunft legt ſichs um das Hirn. Als ich, ſchon in
ber erften Woche, über den Inbegriff dieſer Verhandlung leiſe zu lachen wagte,
ftarrten die Nachbarn mich beinaheentfegtan. Sie warenim Raufch. Später
haben fte auch gelacht. Zu Ipät. Hätten die Zuhörer, die Preßgloffatoren —
und namentlich die Vertheidiger — bie Hechelskiade früher lomifch genommen:
die Schauermär wäre nicht vierzehn Tage lang lebensfähig geblieben.
Drei Biertel der Beweisaufnahme waren zwedlos, mindeitens drei
Bierteldes Koftenaufwandesnutlos verthan. ALS Iſa ich fürs legte Wochen-
bett vorbereitete, ließen die Verbündeten Regirungeneine Strafprozeßnovelle
fcheitern, weil der Reichstag die Berufunginftang mit fünf, nicht, wie fie vor»
fchlugen, mit drei Richtern befegen wollte. Fünf: Das würde zu theuer. Ich
glaube, daß die ergebnißloſen Prozeſſe gegen die Direltoren der Bommern»
bank und gegen Kwileckis den preußischen Fiskus größere Summen geloftet
haben, als der 1896 verweigerte Mehraufwand im ganzen Reich für zwei
Etatsjahreverjchlungen hätte. Und der Servilfte felbft wird nicht jagen, dieſes
Geld habe ven Ruhmesglanz deuticher Rechtspflege gemehrt.
% *
*
Die öffentlich Meinenden haben den Staatsanwalt Dr. Müller zum
Sündenbod erwählt. Einen ſehr jungen Herrn, der im Pommernprozeß
noch als Affeffor dem Staatsanwalt Bee half und dem die Vorgejetten
wohl befondere Fähigkeit zutrauen müſſen, da fie ihn jet fchon zum Haupt-
vertreter einer jo weithin interejfirenden Anklage beftellten. Das Vertrauen
ſcheint mir beffer begründrt als die Anklage. Herr Dr. Müller ift nicht fo,
wie er in den Zeitungen ftcht. Gar nicht fchneidig, fein Profuratoreniypus;
nicht einmal eigentlich preußiich. Er macht den Eindrud eines für Strafges
richtSverhältniffe ungewöhnlich foignirten, der fröhlichen Wiffenfchaft nicht
fremden Herrn, der in reichen Häusern verkehrt und großfaufmännifch fühle
Höflichkeit Schäten gelernt hat. Vielleicht hörte er als Neferendar noch Herrn
Fritz Friedmann plaidiren und merkte, welche erfriichende Wirkung diejer
unerſetzte Stimmungmadjer aus einer jalopp fcheinenden und doch ſchlau be-
368 Die Zu kunft.
rechneten Redeweiſe zog, die ſich nach der ſteifen Kriminalſprache ausnahm
wie im Mumienkabinet ein lebendiger Menſch. Auch Herr Dr. Mäller liebt
Wendungen, die man in Bankbureaux und Kaffeehäuſern öfter Hört als in Alt⸗
moabit. Er ift nicht grob, nicht hochfahrend, nicht unnahbar und hat nicht dem
Ehrgeiz, die Angeklagten zu beleidigen. Das iftleider fchon viel. Dabei offenber
intelligent und von dem Streben geleitet, piychologiidye Zufammenhänge zu
ertaften. Während der Beweisaufnahme war er ruhig und höflich ; Faft jede
Trage Hug vorbedacht. Ins Plaidoyer glitten freilich faljche Metaphern umb
ſchlimme Behauptungen; die jchlimmfte war wohl, daß jedes Civilgericht nach
ſolcher Verhandlung gegen die Gräfin enticheiden würde (fein einziges; bie
„Civiliſten“, die ja noch Syuriften find, hätten fich auf dieſe Bemeisanträge gar
nicht erft eingelaffen). Das bliebe verzeiblich, felbft wenn es für ben Verlauf
der Sache nicht belanglos geweſen wäre. Ein blutjunger Beamter, der feinen
zweiten Rieſenprozeß entgleifen ſieht und fürchten muß, daß liebe Kollegen
morgen fein Kindspech beiwigeln... Trotz mandyemblunder hat er in beiden
Fallen wirkfamer plaidirt als die älteren Herren, neben denen er faß. Lind
Herr Steinbredit, der fi) von Altona aus wohl durd) unerichante Talente
für Moabit empfahl, hat jeden Fehler des Sfüngeren redlich mitgemacht.
Unfaßbar, unbegreiflich wie ein Räthſelbild aus weltenfernen Kultn⸗
ren war mir nur der Eifer, den beide Herren aufboten, um vier Menſchen
ins Zuchthaus zu bringen. Zwei Männer, die al8 Privatperjonen gewij
eines Spätchens Flügellähmung mitleiden, ihrem Dienftmädchen nicht ohm
zwingenden Grund einen Sonntagsausgang verbieten würden. Ich muß
annehmen, daß fie von der Schuld der Angeklagten überzeugt waren. Doch
fonntefich, mußte nicht in diefe Heberzeugung manchmal wenigftens ein Zwei⸗
fel drängen? Berryer, nur ein Advolat, deifen Hilfe aber von Louis Napo⸗
leon und Ney, von Lamennais und Chateaubriand geſucht ward, und, Alles
in Allem, ein Dann, hat gefagt: Il vaut mieux laisser dix coupubles
en libert& que de frapper un innocent. Schien den Staatsanwälten
nicht einen Augenblic möglich, daß die Gräfin, der Graf, die Dienerinnen
unfchuldig fein? Niemals, beim Kaliber diefer Zeugenfchaar? Welche Prau⸗
gerftrafe hätte fie jchimpflich genug gedünkt, wenn, etwa in einem Meineids⸗
progeß, diefe Bölfer zur Entlaftung Beichuldigter vorgeſchickt worden wären?
CaecilieBarcza. fahre lang dieLuſtdirne (jo reden Staatsanwälte ſonſt oft von
jolhen Dlädchen) einesOffiziers,derihre Zärtlichleiten bezahlt. Ein entmenſch⸗
te8 Gejchöpf, das jein Kind (hier macht fich ber Hinweisaufbie Lowin und ihr
Junges gut) für ſchnödes Geld verfchachert, fich nie mehr drum lümmert und
Prozeß Kmileda. 369
das Muttergefühl erft entdeckt, als wieder Geld zu verdienen fcheint. Würde
eine redhte Mutter, meine Herren Geſchworenen, nicht Hundertmal lieber auf
alles&lüdverzichten,als ihrigleiich und Blutaus dem Glanz einer Grafen herr⸗
Ichaft in die dumpfe Bahnwärterhütte holen? (DieBarbara in Hebbels „De-
metrius“ ift wirklich aus cdlerem Stoff als diefe unbeilige Taecilie). Frau _
Oſſowska. Eine Berjon, die, weil die Sache verjährt ift, ſchamlos gefteht, daß
fie an einer Kindesunterjchiebung mitgewirkt hat, die auf Kaffibern von den
Summen ſpricht, die ihre Ausſage ihr eintragen wird, und der Gottes Finger
das Schandimal auf die Stirn gebrannt hat. Jadwiga Andruſzewska. Eine
Hyfterifche, die nicht weiterfann, wenn ihre Textwalze abgeleiert ift; die von
der eigenen Schweiter des Meincides bezichtigt wurde; eine Kreatur Hech
elsfis, die auf das zu erwartende Sündengeld ſchon Schulden gemacht hat.
Hechelskiſelbſt, der als gewerbmäßiger Verleiter zum Meineid längft ing Zucht⸗
haus gehört. Und dieſer Graf Hektor, der, ſtatt die Ermittlungen der zu⸗
ftändigen Stelle zu überlaſſen, feine Agenten mit voller Börfe durch Europa
best und mit den feinen und groben Mitteln ber Korruption für einen Ver-
mögenevortheil ficht! Solche Zeugriffe, nebft Waſchfraubaſereien und Heb-
ammenklatfch, follen den blanken Ehrenſchild einer uralten Adelsfamilie, für die
Standesgenofjen, Prälaten und treue Diener die Hand zum Schwur heben,
auch nur mit dem Eleinfter Fleck beſchmutzen? Nein, meine Hirten, od)...
Ungefähr fo wäre es gefommen. Und nun kein Zweifel, nicht das Teijefte Bes
denken, wo vier Menſchenleben auf dem Spiel ftehen und das Schickſal eines Ge⸗
ſchlechtes entſchieden werden ſoll? Unſere Staatsanwälte find nicht mehr im al⸗
ten Wortſinn procureurs, deren Hauptſorge fein mußte, der Staatskaſſe moͤg⸗
lichſt viele Vermögenskonfiskationen und hohe Geldſtrafen zu beſcheren. Auch
Kläger in der Bedeutung, wie noch die Karolina und der ganze Parteiprozeß fie
kannte, find ſie heutzutage nicht mehr, ſondern auf dem Strafrechtsgebiet Ver⸗
treter der Staatshoheit und verpflichtet, die entlaftenden Thatbeſtandsmerk⸗
male mit nicht geringerem Eifer als die belaſtenden ansLicht zufördern Warum
ſehen wirs jo ſelten und müfjen doch glauben, daß jeder Staatsanwalt ſeine
Pflicht zu erfüllen ſucht? Suggeftion der Gewohnhett,die nurnoch Nummern,
nicht Menſchen kennt und den Verdacht zur Gewißheit aufbläft? Berufskrank⸗
heit, wiedteBäderbeine und die Phosphornekroſe? In der, Rothen Robe“ fagt
der Schwurgerichtspräfident zum Staatsanwalt: „Sie find aufgeregt; vers
ftehe; vor dem erften Todesurtheil! Das giebt ſich mit der Zeit." Mag jein.
Aber im Fall Kwileda, nach diefer Beweisaufnahme, nicht ein Blick auf die
Fülle de8 Entlaftungmaterials, nicht ein armes Wörtchen, das die Unschuld
29
370 Die Zuhnft.
der Angeklagten immerhin möglich erfcheinen läßt? Stattrurhiger Abwägımg
ber Ergebniffe in fchroffftem Ton die Behauptung, jedem Juriften, jedem ver-
nänftigen Menfchenfogar müffe ſolcher Beweiszum Schuldfpruch vollaufge
nügen? Den Vertheidigern wird oft vorgeworfen, ſie dienten ber Honorirenden
Partei, nicht derWahrheit, deren Bettlerblöße zur Honorantenrolle nichttaugt.
Die Gefchmähten ſollten in einer SSahresftatiftik feftftellen Laffen, wie oft
StaatSanmwälteinder Hauptverhandlung die Anklage zur ückgezogen oder min-
deftens im Schlußvortrag die entlaftenden Umftände nachdrücklich betont
haben. Der höchfte preußifche Orden trägt das Motto: Suum cuique; und
patriotiſche Schreiber betheuern, dieſes Wort ſei ſtets Preußens Wahlſpruch
geblieben. Bei Cicero, der es wirllich noch vor Friedrich dem Erften ſprach, hieß
es: Justitia in suo cuique tribuendo cernitur. Der Urſprung ſcheint ver:
geſſen. Markus Tullius und Ulpian werden nicht mehr geleſen. Noch heute aber
iſt das ſichtbarfte Weſenszeichen der Gerechtigkeit, daß ſie Jedem das Seine giebt.
Doch um nicht ſelbſt in den eben gerügten Fehler zu fallen, muß id
auch hier die mildernden Umftände anführen. Als Inſtigator, als treibende
Kraft, war Graf Hektor Kwiledi thätig. Ein ungemein gewandter Herr, da
ohne Verlegung der Eidespflicht jagen fonnte, er glaube, daß die Ermittlungen
— bie nad) Frankreich, Rußland, Defterreich führtenund gierige Gelchäfts-
leute Monate lang in Athem hielten — ihn nicht mehr als fieben- bis adıt-
taujend Mark gefoftet hätten. Ein Mann, der mit Anjehen und Bruftten
jelbft Staatsanmälten zu imponiren vermochte. Am fiebenzehnten Berhand-
lungtag war er, nad) fiebenjähriger Spürarbeit, feiner Sache noch ficher; am
neunzehnten bat er der Gräfin die Verdächtigung ab, forgte aber dafür, dab
den Geſchworenen die Abbitteerft nach bem Wahrfpruch befannt werde. Herzig
nicht wahr? Er Hatte fich, recht plöglich, vonder Unſchuld feiner Verwandten
überzeugt und wußte, daß an eine Berurtheilung nicht zu denfen war, went
er die neue Ueberzeugung ſo offenmwie vorher diealte ausſprach. Das märe ja
aberein Verſuch zur Beeinfluffungder Richter geweſen; und ſo was thut man
doch nicht. Wurde die Schuldfrage von der Jury bejaht: dann konnte Hektor zu
Iſaſprechen:, TheuresWeib, gebiete Deinen Thränenl Ich bat Dir geftern ſchon
Alles ab“. Undzu den zürnenden Landsleuten: „An mir liegts nicht; ich habe
Sehnen und Groll in des Lethe ſtillen Strom verſenkt; aber ſo ſind dieſe Preu⸗
Ben.” Glissez, poète, n'appuyez pas... Noch wichtiger mar, daß nach den
Ergebniſſen der Vorunterſuchung gelehrte Richter den Verdacht, hinreichend
gefunden und die Eröffnung des Hauptverfahrens beſchloſſen hatten.(Hoffent-
lic) ändert die Strafprozeßreform die Beſtimmung, wonach die „Nichteröff:
!
!
Prozeß Kwilecka. | 371
nung” mit thatfächlichen und rechtlichen Gründen, die Eröffnung nur mit
der Feftftellung binreichenden Verdachtes zu motiviren ift. Denn biefe Be-
ftimmungkann felbft gewiſſenhafte Richter auf ben Gedanken bringen: „Ganz
klar ift die Sache nicht; lehnen wir, mit ausführlichen, alfo leichter anfecht-
baren Motiven, die Eröffnung ab, dann geht der Staatsanwalt ans Be-
fchwerdegericht und unfer Beichluß wird am Ende noch aufgehoben ; mag fich
die Spruchkammer felbft Klarheit ſuchen.“ Auf die erkennenden Richter drückt
dann aber ſchon wieder die Thatſache des Eröffnungbeſchluſſes, gegen den es
übrigens nicht, wiegegen die Ablehnung, ein Beſchwer derechtsmittel giebt.) Und
nun kamen nochdie Sachverftändigen. Herr Dr. Roſinski Hältdie Gräfin der
Thatfürfähig. Herr Dr. Störmerglaubt nicht an die Entbindung. Der Titu⸗
Larprofeffor Dr. Dührffen, der, inder Stadt Olshauſens und Guſſerows, von
Staatsanmwälten undhöheren Reportern als „gunäfologifche Autorität erften
Ranges" angeftrahltwerden kann, ift beinahe ſicher, daß Iſa, die er 1903 kennen
Ternte, 1896 nicht ſchwanger war. (Wer mag wohl der Staatsanwaltſchaft als
Gutachter gerade diefen Herrn empfohlen haben, den fie vor wenigen Monaten
noch eines groben Kunftfehlers dringend verdächtig fand und öffentlich an-
Hagte?) Nur der greife Brofefjor Freund, der ſeit Jahrzehnten im Elſaß der
beliebtefte?frauenarzt ift, fagt: Hier fehlt jede Grundlage für ein Gutachten,
denn wir haben nurgehört, nicht gefehen, was vor fieben Jahren geſchah; das
Behörte aber liefert jedenfalls nicht den geringften pofitiven Beweis gegen Die
Schwangerſchaft und Geburt; ;undden Bereich derBermuthungenüberlajjeich
neidlos dem Kollegen Dührfjen. Doch der alte Praftilus Freund iſt ja vonder
Verteidigung geladen. „Merkwürdig, daß die vom Vertheidiger geladenen
Sadperftändigen während der Hauptverhandlung nie anderen Sinnes wer»
den.“ (Merkwürdig: dievonder Staatsanwaltichaftgeladenen auchnicht ;troß-
dem Aktenkenntniß das mündliche Berfahren niemals erjegen kann.) Die Ver-
treter der Anklage hatten aljoftarfeStügen. Die ftärkfteindem Schwurgerichts-
präfidenten, Herrn Landgerichtsdireftor Leufchner. Der hätte auf Iſas Schuld
geſchworen; fand deshalb jeden Entlaftungzeugen des Mleineides und der Bes
günftigung verdächtig; ganz unglaublich, daß Gutsinfaffen, fürdieein Orts:
wechfel ein Ereigniß, die Eifenbahnfahrt eine Lebenserinnerung ift und die
in engen Raum zufammengepferdht find, heute noch wiſſen wollen, die Wirth
ſchafterin Andruſzewska jei im Januar 1897 vier, fünf Tage weggewefen;
durchaus glaublich dagegen, daß ein berliner Droſchkenkutſcher heute be:
ſchwören kann, mit weldyer Geberde ihm vor fieben Jahren eine Frau das
Sahrgeld gegeben habe. Die aufmarfchirende Edelmannfchaft, der Propft,
29* Ä
372 Die Zutmift.
bie Amme, rauen, denen die Schwangere fich im Hemd gezeigt hatte: Alles
unglaubwürdig oder bethört. „Wenn Sie nun aber hörten, unter dem Hemd
fei ein Summileib geweien? Sie werben nachher einen Eid zu Teiften haben!“
Ueber allen Zweifel erhaben fcheint aber, was Herr Hechelsli und die Damen
Andrufzewsta undOſſowska ausſagen. Der Vorfigende fragt nach der Schnur
die Anklage ab, fieht in jeder von dieſem ehrwürdigen Schriftftüdl abweichen
den Darftellung die Mbficht, zu „leugnen“, verbirgt feine Auffaſſung der
Sache keinen Augenblidund beanftandetjchließlich fogar noch in den Schluf-
porträgen der Vertheidiger Sätze, die ihm nicht gefallen. „Das können Sr
in biefer Allgemeinheit doch nicht behaupten.” „Ich muß bitten, die Sache
nicht fatirifch zubehandeln.“ Undfo weiter. Das Plaidoyer wenigftens pflegte
bisher, jo lange der Redner nicht den Anftand gröbtich verlegte, vor Unter
brechung geſchützt zu fein. Herr Direktor Leuſchner ift vielleicht ein vortriff⸗
licher Juriſt. Sicher kein Pſychologe; und zur Leitung folchen Prozeſſes ganz
ungeeignet. Die Aufgabe, bie der Borfigende nachder Strafprozeßordnung
in der Hauptverhandlung zu bewältigen hat, geht ja faft über Menſchen.
kraft. Kein europäifcher Monarch hat Ähnliche Macht. Der Bräfident ift im
Saal der Herrgott. Das läßt ſich nicht aus Altenbündeln lernen. Götter
werden geboren... Leiſe, — nein, lieber ganz laut muß es geſagt werden:
Wir haben feine Nichtertalente mehr; nicht Die Männer, die mit moderner
Bildungundeiner aus freier Anſchauung erworbenen Kenntniß des Dieu ichen
und feines Erlebens das ſtolze Bewußtſein ihres majeftätifchen Berufes ver:
einen. Die nur Richter fein wollen und ſich cher tothetzen ließen, als da
fie dem Nächften, dem Belaftetfien auch nur um Haares breite fein Hecht ver,
fürzten. Wir haben arbeitjame ®erichtsbeamte, die „mitder Sache vorwärtd
fommen möchten”. Darum fennt das Volk auch keinen von ihnen, ift ihr
Name ihm Schall und Rauch. Einft zog man auf der Straße den Hut vor
Einem, ber üb:r Neben und Ehre des gefährdeten Bürgers verfügt.
... Als der Freiſpruch verfündet war, jauchzte im Saal, jubelte vor dem
Gerichtshaus die Menge. Begeifterung für die — nicht allzu faubere — Sadıt
der polnischen Gräfin? Nein. Triebhaft ſprach in Hunderttaufenden das Ge:
fühl: Hier war, in diefem Prozeß, Alles betfammen, was in unferem Rechta
weſen greifenhaft ift, völlig unbrauchbar für die formen modernen Europä
lebens ; und diefen Prozeß hat der Staat verloren. Hurra! „Der Staal.
Wenn im rothen moabiter Palaft ein Fenſter geöffnet war, muß dod mi
deſtens ein Nobenträger vernommen haben, daß des ſeltſamen Jubelrun
Sinn nicht war, den Sieg der Gräfin Iſabella Kwileda zu feiern.
— —
all
Thomas und Jane Carlyle. 378
Thomas und Jane Carlyle*).
Sn Beriraute von Carlyles Witweriahren war Froude. Carlyle und feine
Gattin führten Tagebücher und wechjelten, wenn fie von einander gem
trennt waren, faft täglich Briefe. Die Duchfiht und Ordnung diefer Pa⸗
piere befchäftigte Carlyle. Belenntniffe, die er jetzt zum erften Male las, bes
ftärkten ihn in der Ueberzeugung, er habe durch Selbftfucht und Nachläfiig:
feit gegen feine Frau gefehlt. Einmal las er in ihrem Tagebuch, er habe fie bein
Arme gepadt und Spuren feiner Heftigkeit Hinterlafien. Bon Neue gepeinigt,
fchrieb er feine Selbitbelenntnifje nieder und beauftragte Froude, ſowohl dieſe
als die Briefe und Aufzeichnungen von Mrs. Carlyle, die er ihm einhän-
digte, einige Zeit — drei oder fieben Jahre, wie er es für gut fände —
nad feinem Tode zu veröffentlichen. Dadurch wollte er Buße thun.
| Er war immer ein mufterhafter Sohn, ein aufopfernder Bruder ge
weſen. Um die Briefe an feine Mutter beneidete fie feine Frau. “Mitleid
mit Anderen, Theilnahme an fremden Leid, befonders an ſolchen Formen bes
© chmerzes, die weder Gaben noch Worte lindern konnten, war ihm eigen-
thamlich und folterte ihn fein ganzes Leben hindurch. Die ihn am Beften
tannten, bezeugen übereinftimmend, niemal3 habe er über Einzelne hart ge-
urtheilt. Die Schale ſeines Zornes goß er über allgemeine Berkehriheiten
und Öffentliches Unrecht aus. Gegen die Individuen blieb er mild und nad-
fihtig. Die Neigung zur Uebertreibung, die in allen feinen Schriften durch⸗
dringt, verfpottete er oft felbfl. Seine eigenen Fehler und Schwächen ver:
urtheilte er jedoch mit der felben Maflofigfeit. AU diefen Charakterzügen
trug Froude im „Leben Carlyles“, das bald nach defien Tode erfchien, im
Ganzen billig Rechnung. Mit geringen Ausnahmen zeichnete ex ein wahres,
liebevolle8 Bild des merfwürdigen Mannes. Er vergaß es um fo vollftän-
diger bei der gleichzeitigen Veröffentlichung der „Letters and Memorials of
Jane Welsh Carlyle“. 1871 hatte ihm der Witwer 262 Briefe und
die Tagebücher übergeben. Froude gab aus dem übrigen Nachlaß noch 71
andere Hinzu, im Ganzen 333 Briefe, aber gekürzt und fo abſichtlich aus⸗
gewählt, daß der Eindrud blieb, alle Schuld an dem. Schidjal, über deflen
Härte Mrs. Carlyle klagte, trage Carlyle. Seines Teſtamentsvollſtreckers
Phantaſie Hatte ſich fo völlig in die von ihr konſtruirte Seele von Mrs. Carlyle
verſenkt, daß er die Gefchichte, die er erfand, am Ende felbit glaubte. Carlyle,
ein Galeerenfträfling der Feder, arbeitete mit Außerftem Sraftaufwand. Er
mußte allein fein, -wenn er fchrieb, wenn er betrachtete. Weder bei Tag noch
*) &. „Zukunft“ vom 28. November 1903.
374 Die Zukunft.
bei Nacht ertrug er, ohne außer fich zu gerathen, das leiſeſte Geräuſch. Ein
Hahnenfchrei brachte ihn zur Verzweiflung, ein &lodenton zur Raferei. Man
baute ihm fpäter eine Zelle mit doppelten Wänden und Oberliht, um ihn
vor jedem Lärm und allen ungebetenen Befuchern zu fchügen. Seine Mit⸗
arbeiterin konnte und durfte feine Frau nie werden. Über eben fo wenig
erniedrigte er fie zur Magd. Niemals hörte er auf, fie zu lieben, und fagte
es ihr mit Kofenamen und in jedem feiner Briefe in ben zärtlichften, innigften
Worten, die davon Zeugniß geben, wie er ſtets für ihr Wohl, ihre Zer⸗
ſtreuung und ihre Gefundheit beforgt war. Sie erwiderte im gleichen Ton,
ertrug jede Trennung von ihm fchwer und freute fi auf das Wieberfehen.
Carlyle blieb, was er immer gewejen war, „ber echtichaffenfie, befte der
Menſchen, ein Mann in des Wortes voller Bedeutung”, wie Emerfon ihn nannte,
beroifch im Großen, märrifch, oft verfiimmt und am fich verzweifelnd, fchwierig
in Heinen Dingen, ein Hypochonder, aber von rührender Herzensgäte und
mafellofer Lebensführung. Der Eindrud, den zahlreiche Fremde Carlyles
und feiner Fran vom Zuſammenleben diefer Beiden behielten, ſtimmte im
feiner Weife zu der Wirkung, die Froudes dreibändige Brieffammlung auf das
große Publikum übte. Schon 1886 und wieber 1889 fuchten die Pro:
fefloren Norton und Ritchie dem angerichteten Unheil zu fteuern, indem fie
weitere Briefe Carlyles veröffentlichten. Er hinterließ eine Nichte, die ihn bis
zu feinem Tode pflegte und nach Froudes Ableben die alleinige Befigerin von
Carlyles Titerarifchem Nachlaß blieb. Obwohl fie Froudes Vorgehen Heftig
tabelte und ihm mehr als einmal Vorwürfe machte, glaubte fie ſich durch ihres
Onkels Aeußerungen gebunden, vor zwanzig Jahren nichts mehr zu publiziren.
Sie ftarb vor Ablauf der Frift und erft ihre Gatte, Dir. Alerander Carlyle,
unternahm 1903 die Herausgabe aller noch vorhandenen, von Carlyle felbft ge
ordneten und mit Noten verjehenen Briefe von Mrs. Carlyle.
Obwohl auch jegt noch, nach eines klugen Kritikers Aeußerung, die
durch Froude bewirkte Scheidung der Anhänger des Gatten und der Anhänger
der Gattin nachwirkt und in Streit fi äußert, liegen nun doch die Dinge
für alle Unparteiifchen Har genug. Mrs. Carlyles Charakter, ihren früh zer-
rütteten Nerven, nicht Carlyle ift e8 zuzufchreiben, wenn fie fich unglüdlich fühlte.
Seine Selbftanflagen beſchränken fich darauf, ihrem phyfifchen Zuftand nicht ge=
nügend Rechnung getragen zu haben. ‘Der Schleier, der gewöhnlich die Intimität
des Zufammenlebens zweier Menfchen dedt und den er felbft mit ſchonungloſer
Hand Lüftete, zeigt durchaus nicht das Bild ehelichen Zerwürfnifies. Der
Mann und die Frau, die einander vierzig Jahre lang faſt täglich, wenn fie
getrennt waren, Briefe fchrieben, fpielten weder eine Komoedie noch hörten
fie jemals auf, einander zu achten und zu lieben. Aber Beide hatten harte
Köpfe und manchmal gab es Stürme Den Grundton ſchlägt ein 1825
datirter Brief Carlyles an feine Jane, damals noch feine Braut, an:
‚ı ww . _n
Thomas und Jane Carlyle. 875
„O Du, meine fchöne Schußbeilige, mein freundlicher, heißblütiger (hot-
tempered) Engel, mein geliebtes, zanfendes Weib, Du ſollſt mir zu Erfolg ver
helfen und in Enttäufchungen mich tröften. Liebe mich mit Deiner ganzen Seele!
Und wern Ruhm. uns geichenkt wird, jo wollen wir ihn willkommen heißen,
wenn nicht, uns nicht darum lümmern, weil wir unendlich Werthvolleres als
Alles befigen, was er uns geben oder nehmen fönnte. Seien wir wahr und gut.”
Weber in Edinburg, wo das eıfte Jahr der Verheirathung verlief, noch
tn Eraigenputtod, wo das Ehepaar, mit längeren und kürzeren Unterbrechungen,
auf dem Befig von Mrs. Carlyle die nächften ſechs Jahre zubrachte, fühlte
Jane fih unglüdlih. Aus eigener Wahl hatte fie, durch Ueberlaſſung ihres
übrigens Meinen Vermögens an die Mutter, fich mittellos gemacht. Care
lyles ſpärliche Einnahmen aus literarifhen Arbeiten und die Farm, bie fein
Bruder ungefchidt führte — er ging darauf zu Grunde — lieferten ihr ganzes
Einfommen. Durd den eigenen Geldmangel ließ fich jedoch Carlyle nie
abhalten, feine Mutter und die Gefchwifter, diefe mit verhältnißmäßig großen
Summen, zu unterftügen. Das Märchen aber, das Froude in Umlauf fepte,
Mrs. Carlyle habe in Eraigenputtod Fein Dienftmädchen zur Verfügung ge-
habt, beruht auf Erfindung. Ihre Korrefpondenz aus diefen erſten Zeiten
der Ehe beftätigt ſchon das Urtheil einer Freundin ihrer Jugend, „es fei ihr
Beruf, Briefe zu ſchreiben.“ Sie wußte Alles, was ihr begegnete, anmuthig
und wigig zu ſchildern. Dennoch blieben, ihr ganzes Leben hindurch, auch,
al8 feine Noth fie mehr bebrängte, Haushaltungforgen das bevorzugte Thema.
Sie fam nie mit ihren Dienftmädchen aus, wechfelte fie wie die Wäfche, lag
beftändig mit ihnen in Fehde und Carlyle war e8, der fie fpäter zwingen
mußte, eine zweite Dienerin aufzunehmen. Er hatte fein Theil an diefen
häuslichen Unannehmlichfeiten, mußte ihr Mädchen von Schottland nach Kondon
mitbringen, die er in den Eilwagen fegte, während er außen faß und fror,
und deren Heimweh er zu tröften hatte. Es half nicht. Stöbern und Ordnen,
die Hausfrauenthätigkeit im weiteften Umfang blieb die Leidenfchaft feiner
Frau. Richtig ift nur, daß er felbit, der Mutter und Schweftern immer
bei harter Arbeit gefehen hatte, es als etwas zu felbfiverftändlich hinnahm,
wenn auch Mrs. Carlyle fich plagte, während er für fie Beide verdiente.
Craigenputtod wurde behaglich eingerichtet und hatte felbft Plag für Gäſte,
die auch mitunter famen. Aber e8 lag in rauher Gegend und fehr verein⸗
famt. Der nächite Bäder war meilenweit entfernt und fein Brot fand Car⸗
lyle, der höchſt einfach lebte, aber biefes Einfache fehr gut haben wollte, un⸗
zuträglich für feinen empfindlichen Magen. So kam «8, daß Mrs. Carlyle
fi in der Kunft des Broibadens- Üben mußte. Einft, erzählt fie, wachte jie
nachts in peinlicher Ungewigheit Deffen, was im Badofen fi zutrug. „Ein
Gefühl der Entwürdigung“ kam über fi. Es war drei Uhr morgens; fie
376 ' Die Zukunft.
legte den Kopf auf die Hände und ſchluchzte. „Da fill mir Benvenuto
Cellini ein, der bie ganze Nacht wachte, während fein Perfeus fi im Ofen
befand, und ich fragte mich plöglih: Was ift denn im Grunde in den Mugen
ber höheren Mächte für ein ungeheurer Unterfchied zwijchen einer Perſeus⸗
flatue und einem Brot, fobalb nur bie Vollendung des einen oder des anderen
fi als unfere fpezielle Aufgabe erweiſt?“ Diefer Gedanke gab ihr Troſt und
fie bewies damit, daß fie eine ungewöhnliche Frau war. Auch follen bie
Deühfäligkeiten ihres damaligen Lebens feineswegs verfchwiegen werden. Nur
ziemt e3 fich, nicht zu vergeflen, daß fie auch Entfchädigungen Hatte. Sie
liebte ihren Dann. Morgens ritten fie bei fchönem Wetter zufammen aus.
Nachmittags trieben fie Italieniſch und Spanifch, Iafen den Arioft und ben
Don Duirote. Es gab Stunden, wo Carlyles Beredfamleit fie hinriß und
alles Andere vergeffen machte. Sie fritilirte feine Arbeiten, freute ſich der
Briefe, die von Goethe cinliefen, fandte dem Dichter, ben fie glühend ver:
ehrte,. eine Locke ihres ſchwarzes Haares und glaubte, mit dem Scharfblid,
der fich lohnen follte, an Carlyles Stern und an feine fünftige Gräfe. Im
Ihlimmften Jahr ihrer pefuniären Schwierigkeiten rief er fie liebevoll nad
London, wohin er Geſchäfte halber vorausgegangen war; dort fand fie Ge—
felligfeit, Unterhaltung und bie Bewunderung von Freunden, wie John Stuart
MIN, Jeffrey und Anderen, die der „Rofe von Haddington“ niemal8 zugänglich
gewejen wären. Ein Aufenthalt in Edinburg, der 1833 das Stilleben des Ehe-
paares in Sraigenputtod abermals unterbrach, miffiel Beiden. Aus Rückſicht
auf feine Frau jiedelte Carlyle 1834 für immer nad Kondon über: „Warum
nicht aus diefen Torfmooren, aus all diefen rußigen Erbärmlichkeiten und
Lügengeweben von Stallmädchen, aus allec Bereinfamung, Verzweiflung und
Verwirrung weglaufen und fogleich nad) London gehen, fagten wir zu einander.”
So fchreibt Carlyle. Es war nicht feine Schuld, wenn der Mangel
da8 Paar auch dorthin begleitete. Ex wollte nicht gegen feine Ueberzeugung
Ihreiben und mußte dennoch das tägliche Brot verdienen. „Eine Erbin“
wurde Mrs. Carlyle erft 1842, nach dem Tode der Mutter, mit einer Rente
von faum mehr al3 zweihundert Pfund, die bei den fparfamen Gewohnheiten
des Ehepaares Wohlftand bedeutete. „Sein armer Liebling“, „feine Heldin“,
wie Sarlyle, in ben fchönen, innigen Briefen an feine alte Mutter, feine
Frau zu nennen pflegte, war fchon damals leidend, befonder8 von Kopf
ſchmerzen und Influenza gepeinigt und oft genöthigt, bei den Ihrigen oder
bei Freunden Erholung zu fuchen, ohne, wie Carlyles zärtliche Briefe Hagten,
„Ruhe für ihre müde Seele zu finden“. Da traf ihm ein ſſeltenes Miß⸗
geihid. Nach ungeheurer Anfpannung lag der erſte Band der" Franzöſiſchen
Nevolution* in Manuffript vollendet. Er gab e8 feinem? Freunde Mill
zur Durchſicht. Der ließ e8 ſorglos herumliegen und das Zimmermädchen
- Thomas und Jane Carlhle. 877
zundete das Kaminfeuer damit an. Carlyle mußte feinen verzweifelten Freund
tröften. Er trug den Berluft mit wunderbarer Faffung: „DO hätte ich Glauben!
Dann wäre mir nichts zu hart und fchwer“, fchrieb er in fein Tagebuch.
Ohne Notizen, „wie ein Beſeſſener“, fing er in Gottes Namen von vorn
an, während er Mrs. Carlyle durch einen Beſuch ihrer Mutter zu tröften
fuchte. „Was er großartig geduldet, bleibt für ihn und für uns beftehen“,
fchrieb fie. 1837 wurde das Werk vollendet. „Ich weiß nicht, ob es etwas
werth if“, fagte er zu feiner Frau, als er ihr da8 Manufkript übergab.
„Das aber könnnte ich der Welt fagen: Seit hundert Fahren habt Ihr fein
Buch gehabt, da8 geraderen Weges und flammender aus dem Herzen eines
lebenden Menfchen gelommen if. Thut damit, was hr wollt, Ihr ...!“
Bon jest an wurde Carlyle berühmt und, mie Goethe vorausgefagt
ha:te, „eine neue moralifche Kraft in Europa*. Nach dem Heinen Haus in
Cheyne Rom pilgerten die Berühmtheiten des Tages, einheimifche und fremde.
Mrs. Carlyle gab eine ihrer beften Schilderungen, die des Beſuches des
Grafen d'Orſay, des Fürften der Dandies:
„Zum Glüd war es nicht einer meiner nervöfen Tage, jo daß ich bie
ganze Sache von meinem Prie-Dieu aus betrachten Tonnte, ohne von feiner Auf
regung ergriffen zu werden, und es war ein Anblid, als ob das Millennium
angebroden fei und ber Löwe mit dem Lamm und alle unverträglicen Dinge
zuſammen verkehrten. Carlyle in feinem gtauen Plaid Anzug und in feinem Arm⸗
ftuhl blickte mild auf den Yürften der Dandies. Der, blitzend wie ein Diamanten
täfer, blidte mild auf ihn zurüd. D'Orſay ift wirklich ein Schöner Mann, wenn
man ihn einmal gehört und herausgefunden hat, daß er Witz und gefunden
Menihenverftand befigt. Im erften Augenblick aber tft feine Schönheit eher
von der abjtogenden Sorte, die, wie ber Genius, geſchlechtslos fcheint. Und
dieſen Eindruck verftärkt fein phantaftifcher Anzug: Himmelblaue Atlaskravatte,
ellenlange goldene Ketten, weiße franzöfiiche Handſchuhe, rehfarbiger, mit Sammet
von der felben Farbe gefütterter Ueberzieher, unfihtbare Unausſprechliche, haut—⸗
farbig und figend wie Handſchuhe u. |. w. Das Alles tft abfurb genug; aber
die Manieren find männlich und einfach; mit einem Wort: man ift überzeugt,
er jei, aller Wahrſcheinlichkeit nach, ein verteufelt gefcheiter Burſche ...“
Ein anderes Mat ſchreibt Mrs. Carlyle dem Gatten, der ältere Sterling
babe zu ihr gefagt: „Cie wären unendlich liebenswürbiger, wenn Sie nicht
fo verdammt gefcheit wären.“ Sie beutete die Bemerkung im Sinne des
Lobes, nicht der Mritil. Man müßte, von 1840 ab befonders, faft jeden
ihrer Briefe citiren. Banal oder langweilig ift feiner. Die meiften über-
Arömen von Komik und farkaftifcher Laune, ſcharfen, treffenden Aeußerungen,
freilich fehr oft auf Koften der Anderen. Sie ſchonte Keinen, weder die
Freunde noch die Familie, felbit nicht die eigene Mutter, „die bereit ift,
Alles herzugeben, nur nicht Das, was man braucht, und Alles zu thun,
nur niht Das, um was man bittet.“ Bon Darwin berichtet fie |pottend
378 Die Zukunft.
einen Zug der Herzlofigfeit, von Miß Martineau einen folchen der Eitelfeit
James Martineau veranlaft fie zur Auslaflung: „Einen tieferen Zug ber
Schwermuth fah ich niemals auf einem menfhlihen Antliz. Sch Halte ihn
für daS Opfer des Gewiſſens, was beinahe fo ſchlimm if, wie das Opfer
des grünen Thees zu fein. Sein Herz und fein Berftand proteftiren gegen
diefe Feſſel und fo iſt er ein mit fich entzweiter Menſch. Ich möchte ihn be-
fehren, — moi! Könnte er ſechs Donate hindurch in einen gefunden Zuſtand
plöglicher Schurkerei verfet werben, fo käme er, ‚ein ftarler Mann‘, aus dieſer
Erfahrung. So aber fühlt er, es fei wenig verdienftlich, geiftig froh in feiner
gegenwärtigen, unbefledten Berfaffung fi zu wiflen. Und in Folge Deffen
ift er eben fo traurig wie irgend einer von uns Sündern!“ Das Alles nad
einer Predigt, die ihr und James Martineau mißfallen und Beide zum Wider:
ſpruch gegen „all den Unfinn von Tugend und Glüdfäligfeit“. gereizt Hatte.
Dann wieder tanzt die Taglioni „auf ihrer großen Zehe, den anderen
Fuß in der Luft, viel höher, als Anftand es jemals träumte, ... immer
wieder, bis zur Langeweile. Aber Herzoginnen warfen Blumenfträuße umd
nicht ein Dann (Carlyle ausgenommen), der nicht bereit gewefen wäre, ſich
felbft zu werfen. Ich zählte fünfundzwanzig Sträuße. Aber mas bedeniet
Das? Die Kaiferin von Rußland, in einem Anfall von Begeifterung, warf
ein Diamantenarmband diefer felben Zaglioni zu Füßen: Tugend belohnt
ſich felbft (in diefer Welt)?" Mrs. Carlyle war unerbittli in ihrer Satire,
Nur Einer entging ihren Sarkasmen: ihr Mann. Mit taufend Küffen und
Liebesworten, Dank für feine Liebe und Betheuerungen, nie werde fie ihm
wifjentlich ein Leid verurfachen, beantwortete fie feine täglichen Briefe. Das
änderte fich für einige Zeit in Folge der Belanntfchaft des Ehepaares mit
einer fehr geiftreichen, vornehmen Frau, Lady Harriet Baring, fpäter Lady
Aſhburton. Mrs. Carlyle war fi ihrer geiftigen Weberlegenheit fehr wohl
bewußt. Nach einem Diner bei dem Dichter Monkton Milnes fchrieb fie:
es jei ein fehr angenehmer Abend geweſen; womit fie jagen wollte, man Babe
fie anerfannt und audgezeichnet. In Lady Afhburton trat ihr 1845 eime
geiftig ebenbürtige Frau, nicht weniger felbitbewußt, als fie e8 war, enigegen.
Obwohl fie es an ausgeſuchter Höflichkeit nicht fehlen ließ, Fchrieb Mrs. Carlyle
nach dem erften Befuch in ihrem Haufe an den Gatten: „Wir werben, benfe
ih, ganz gut zufammen ausfommen, aber ich fehe, die ‘Dame bejitt bas
Genie, zu herrfchen, während ich das Genie, nicht beherricht zu werden,
befige." Das Ende war, daß Mrs. Carlyle die Andere haßte und bem
Gatten die Qualen der Eiferfucht nicht erfparte. Der Herausgeber ihrer
Briefe, Der. Alerander Earlyle, ließ ich die Mühe nicht verdrießen, dieſen
zwei Bänden eine endlofe Einleitung, das Gutachten eines Arztes, voraus⸗
zufchiden. Diefer, Sir James Crighton-Browne, vertritt die Anfiht, Mrs.
Thomas. und Jane Carlhyle. 379.
Carlyles Eiferfucht fei anf Geiftesftörung zurfdzuführen. In jenen Jahren,
fo behauptet er, war fie durch übermäßigen Genuß von Thee und Cigareiten
und in Folge neuralgifcher Schmerzen hochgradig neurafthenifch, eine Mor:
phiniftin, mit einem Wort: unzurechnungfähig. Sie fagte ja felbft, „es fei
ihre befländige, dringende Sorge, to Keep out of Bedlam.
Der Urzt übertreibt ganz eben fo, wie Froude übertrieben hatte. Bon
getrübten Bewußtfein verrathen die Briefe der Mies. Carlyle nicht das
Geringſte. Wohl aber fam e8 1846 zu einem heftigen Auftritt zwifchen ihr
und dem Batten: und fie reifte ab. Der Hausfreund, Ginfeppe Mazzini, wars,
der fie in zwei merfwürbigen Briefen zur Vernunft und zu dem Bewußt⸗
fein zurüdrief, daß fie feinen Grund zur lage habe. Carlyles Verhalten
gegen fie änderte fh nie: „OD meine liebe Heine Jeannie! Denn im Ganzen
ift Keine von ihnen Allen werth, neben Dir genannt zu werden, wenn Dein
befierer Genius Dich nicht verlaffen hat“, fchrieb er 1850; „verſuche, zu
ſchlafen und Dein armes Meines Herz, Deine Nerven zu beruhigen und mid
wie früher zu lieben, wenigftens nicht zu haflen! Mein Gerz ift ermüdet
und von den dreiundfünfzig rauhen Jahren, die hinter mir liegen, erfchöpft;
aber e3 ift jo mit Dir verbunden, arme Eoeele, wie e8 mit feiner anderen
möglich ift; Hilf mir, Das, was mir vom Leben noch übrig bleibt, richtig
verwenden, und ich will Dir auf ewig dankbar fein. Gott fegne Dich alle
Zeit.” Auch Mis. Carlyle fand den alten Ton wieder; aber e8 bleibt der
-Eindrud, daß das Verdienft dafür zum nicht geringen Theil Lady Aſhburton
gebührt. Die vornehme, geiflreiche Weltdame ließ fi den Umgang mit
Carlyle nicht durch die Launen feiner Frau verfümmern. Sie jagte nach wie
vor in Janes Revier. Das heißt: fie ließ fich weder an eilt noch an Wit von
ihr übertreffen und hielt ihr Etand. Aber fie gewann aud) ihre Achtung, wenn
nicht ihre Freundfchaft, und empfing fie fehr liebenswürdig mit-Carlyle bei fich
auf ihren Landfigen und Schlöſſern. „Id; war eine Woche hindurd mit
Lady Harriet Baring, von der Ihnen Earlyle ohne Zweifel mit Begeifterung
gejprechen haben wird*, fchrieb Mrs. Carlyle an die Echwiegermutter; „Sie
ift eine fehr gefcheite und dazu eine fehr Tiebenswerthe Frau, mit der es fich
höchſt angenehm lebt, wenn fie die Leute mag. Wenn fie fie aber nicht mag,
fo würde fie fie lieber mit Schiekpulver in die Luft fprengen, als fi in
ihrer Geſellſchaft langweilen“. Unter ber felben Bedingung kamen die beiden
Damen fchließlich jehr gut zufammen aus, denn feine langweilte die andere, aber
es war nicht Lady Afhburton, die das Kürzere zog. Eines Tages fragte fie
Mrs. Carlyle über Darwind Meinung von den Dentwürbigfeiten Blanco
Whites, eines Mannes, ber durch merkwürdige religiöfe Erfahrungen ge:
gangen war. Mrs. Carlyle, die erft fehr fpät im Leben vom Ernſt der Ueber-
zeugung ihre8 Mannes ergriffen wurde und ſich zu jener Zeit Heine Gottlofig-
380 Die Zunft.
keiten noch nicht verfagte, antwortete, Darwin fei der Anficht, es „beeinnträdhtige
die Theilnahme an den religiöfen Skrupeln eines Menfchen, wenn man et:
dede, daß diefe nur Symptome eines Leberleidens geweſen fein.“ „So lange
fi) der Antheil der Leber nicht beſtimmt feftftellen läßt, dürfte e8 fich empfehlen,
mit Ehrfurcht von folchen Dingen zu reden“, entgegnete Lady Alhburton. „Das
iſt ſehr richtig“, fügt Mrs. Carlyle hinzu, die e8 gerathen fand, bis zum
Tode der Dame, 1857, in Frieden und Eintraht mit ihr zu leben.
Bon da an verfagte die Gefundheit Yanes mehr und mehr. Sie
duldete ihre Schmerzen mit ftoifcher Ergebung, verbarg fie ihrem Gatten
und nur felten, fehr felten entfchlüpfte ihr ein Wort der Klage. Im Llebrigen
blieb fie biß zulegt, was fie immer gewefen war: fcharf, eigenwillig, far-
Yaftifch, mit einer Zunge, deren fpige Ausfälle mit Moskitoftihen verglichen
worden find und die eins ihrer Opfer, den Dichter Browning, zu dem
Urtheil veranlafte, fie fei hart und lieblos. Das war fie nicht; eben fo
wenig war fie bequem im Verkehr, aber unterhaltend, geiftreich, hoͤchſt witzig und
eine Birtuofin des Briefſtils. Und von einem großen Manne geliebt, ter,
Alles in Allem genommen, ihre in einer Stunde des Unmuthes gefprocheren
Morte: „Meine Liebe, was Sie auch immer thun mögen: heiraten Sie
nie einen Dann von Genie!“ durch die Treue feiner Neigung und den Schmerz
um ihren Berluft in einer Weife widerlegte, die ihre fühnften Hoffnungen über:
traf und die lange Kontroverfe zu Beider Ehre ſchließt.
München. Lady Blennerhaffett.
Fr
Danama: Berlin.
24 Panama, ber alten Spanierftadt voll Schnut und Romantik, wo der Boden
I für Ränkeſchmiede und Daher fo günftig ift, fitt Philippe Bunau Barilla,
ber jitngfte der Staatengründer, an feinem Schreibtiſch und überfliegt majeſtätiſchen
Blickes den Einlauf. Bittfchriften, nichts als Bittichriften; wie einft in Guafalla.
Jeder will haben, Niemand will geben. Panama aber hat die Fahne der Freiheit,
die Philippe Bunau Barilla meint, auf einen Hügel von Dollars gepflanzt und
lebt, um zu verdienen. Ueber Varillas Züge gleitet ein Lächeln. Er „hats“. Bald
darauf vertraut in Berlin ein Bankdirektor feiner rau das jüße Geheimnıig an,
daß er Konful geworden fei, Generaltonful — Das macht ſich befier — von Panama.
Wer jolls merden? Hätte ich ein Borfehlagsredht, fo würde ih primo loco
Herrn Direktor Rudolf Kod) von der Deutihen Bank vorſchlagen. Das if ein Mann,
von dem man mindeftens feit den bayreuther Gerichtstagen weiß, daß er nur feinem
Panama-Berlin. 381
Beruf lebt. Doch niemals wird die Deutſche Bank zugeben, daß dieſer Direktor,
deſſen unermüdliche Hingebung ihr in jeder Stunde Troſt und Stütze iſt, auch nur
ein Theilchen feiner Arbeitfraft und feines Eifers anderen Dingen zuwenbe, und
wären es jelbft die Konjulatsgefchäfte von Panama, - von deren tüchtiger Führung
fo viel Glück in der Welt abhängt. Diefe Kandidatur kommt alfo nicht ernftlich
in Betradt. An die Deutfche Bank ift wohl überhaupt nicht zu denken; welcher von
ihren Leitern möchte denn auf einem Poften ftehen, wo er fi) Tag vor Tag durch
den Gedanken an die fiberragenden Eigenſchaften des Kollegen Koch beihämt fühlen
müßte? Und außerdem: noch iſt Bagdad nicht verloren; bis zur Bollendung der
mefopotamifchen Bahn kann eine neubabylonifche Dynaftie erftehen, in deren Dienften
Gwinner viel höherer Ruhm befchieden wäre al8 in denen von Panama. Secundo
loco: BDireftor Dernburg. Ich hoffe, er wird die Beſcheidenheit, die er in wahr-
haft rührender Weife bei der niedrigen Einſchätzung der Pommernbant- Aktiven
zeigte, nicht etwa fo meit treiben, daß er die Konſulatswürde ausfchlägt, wenn fie
ihm im Namen des ifthmifchen Volkes angeboten wird. Barilla müßte jedenfalls
mit der mimofenhaften Scheu rechnen, die der treffliche Sanirer vor der Deffent-
lichkeit nun einmal empfindet, und ihn bei einer anderen Seite zu paden fuchen..
Das Klügfte wäre vielleicht, Herrn Dernburg daran zu erinnern, daß das ncue
StaatSwejen aus der Relonftruftion einer vormals berühmten Geſellſchaft entfland,
deren Aktionäre bis auf die Haut fanirt worden find. Aber ich zerbreche mir den
Kopf, um zu erfinnen, wie Herr Dernburg für Panama zu gewinnen wäre, und
am Enbe ift er gar ſchon gewonnen. Als er im Spätherbfi wie auf Soden durch
Amerıfa wanderte, feinen Laut von ſich gab, auch feinem Interviewer fein Herz
enthällte, tauchten in der Heimath über den Zweck jeiner Reife Bermuthungen auf,
von denen noch feine als richtig erwiefen ift. Er ift doch gewiß nicht als Trabant
des Herrn Hans Winterfeldt Hinfibergegangen, um mit feiner Unterfchrift als formeller
Ergänzung Abmachungen zu zeichnen, die der kommende Dann von Hallgarten & Co.
vollzog. War er etwa von diefer Firma als ein Schätmeifter von Weltruf hinüber-
gebeten worden, um bei der Sanirung ber unglüdlichen Realty Company mitzu-
wirken, die von Hallgarten erft im Sommer des vorigen Jahres mit 60 Millionen
Dollars gegründet wurde und ſchon im nächften Sommer argem Siechthum verfiel?
Glaubwürdiger wäre immerhin noch die Annahme, Herr Dernburg fei übers Wafier
gegangen, um insgeheim die Gründung der Republit Panama mit deutichem Ka⸗
pital zu unterfiüten. Das wäre fein übler Coup. Die als Darınflädterin bekannte
Bank für Handel und Induſtrie, die durch ihre portugiefifchen Emiffionen ſchon feit
Jahren in eben fo innigem wie ſchmerzhaftem Kontraft mit den iberifchen Völkern
fieht, hätte damit wieder einmal den Beweis erbradt, daß in Darmftadt nicht nur
die Zamilienbande der größten Herricherhäufer, fondern auch die Fäden der Welt-
politit und der Weltfinanzen zufammenlaufen. Die Bereinigten Staaten von Nord»
amerifa haben fi an der Gründung der iftgmifchen Republik mit 160 Millionen
Markt betheiligt. Solches Partners braucht jelbft die Darmftädter Bank fi nicht
zu f[hämen; und wenn Herr Dernburg nur halb fo tüchtig ifl, wie die Herren
Schulz und Romeick von ihm behaupten, wird er wiſſen, wie er die befruchtende
Kraft diefer Dollarfchäge für den eigenen Boden nutbar zu machen hat. Geld zieht
Geld an. Und der Bankdireltor, ber ein paar Millionen wagt, um ins Panama-
gefhäft hineinzufommen, würde als ein ordentlicher Kaufmann handeln, der die
382 Die Zukunft. NG
Größe des Nifilos an ber Eröße des zu erwartenden Geminnes mißt. Und dam
noch der Glorienſchein des panamitifchen Generaltonfulates! Der Abglanz fiele au
das ganze Inſtitut. Man müßte dann endlich, warum das Haus anı Schintelplak
allen anderen Banken fo auffällig den Rücken lehrt.
Das Alles ift ja nicht fehr ernſt gemeint, braucht darum aber nicht als gan
unhaltbare Kombination verfpottet zu werden. In unferer Finanzwelt find heut.
zutage noch viel mwunderlichere Einfälle denfbar und ich würde nit ohne Weiteres
an eine Utopie glauben, wenn ich hörte, daß zunächſt die Erde mit dem Mars, bann
die Sonne mit allen Planeten zu einer einzigen Attiengefellfchaft vereinigt und daß
die Subifription auf jedem Stern mit einem Agio von eben fo vielen Prozenten
eröffnet wird, wie die Strede zwiidhen Norb- und Südpol Meilen mit. Ba fireiten
die wertfälifchen Stahlwerkbeſitzer mit den lothringifchen und fchlefiichen iber den Schläfiel,
nach dem ihre Stahlproduftion und ihr Zufchuß zum Erportverluftaufgetheilt werden ſoll:
und richtig finden fich Leute, denen diefes Gepläntel ben Glauben fugnerirt, der Plan bes
Stahlwerkverbandes fchwebe in Lebensgefahr. Die felben Befürdtungen gingen ber
Bildung des neuen Koblenfundifates voraus, das num mächtiger dafteht als je em
anderes Syndikat, fo mächtig, daß es ſchon wenige Wochen nach feiner Gründung
breien der angefehenften Mitglieder die eiferne Fauſt zeigen konnte, als fie in den
Befigverbältniffen Berfchiebungen vorzunehmen wagten, die dem Geiſt des Syndi⸗
kates widerfprachen. Bald wird ein eben fo ftraff disziplinirter Deutſcher Stahlwerl
verband uns befchert werden. Gegen die Gewalt, die im modernen Wirthfchaftleben
die Individualitäten zufammenziwingt und zufammtenfchmiebet, giebt e8 feinen Wider:
ftand. Deshalb follte man den Zweifel an dem Gelingen des Stahlfyndilates der
Megirung überlaffen. Sie muß zweifeln oder wenigſtens „fo .thun”. Denn im
Reichsamt des Innern if die berühmte Enquete über das Kartellmejen, die der Legis⸗
lative die nicht minder berühmten „neuen Geſichtspunkte“ liefern ſoll, noch nicht ab-
gefchloffen. Iſts fies einft, dann wirb das Iehte der großen Syndikate, auf das es bie
Einberufer abgefehen hatten, fertig fein; mahrfcheinlich ſchon früher. Und was herauf:
gefommen ift, wird fo neue Wefenszüge tragen, daß die Enqueteberichte veraltet er:
feheinen werden. Wer heute von Kartellen und Syndilaten fpricht, mäfelt höchſtens
noch an ben Ziffern herum. Leber die Trage, ob foldye Organifationen erfaubt ot
verboten fein follen, ift man längft zur Tagesordnung gefchritten. Längft; mir fieben
ja bereit in der Wera der Fuſionen. Noch wird die Sache vielfad) als Sport betrieben,
aber der Exrnft wird ſich fchon melden. Warte nur: balde höreft Du mohl von der
Fuſion PBadetfahrt-Norddeutfcher Lloyd. Das dünkt Manchen das Nächſte. Und wenn
der neufte Wertheim-Palaft erſt unter Dach if, forgt die Disfontogefellichaft, al?
Obhiiterin der Wertheimgründung, vielleicht für eine rafche Fufion mit Tietz; und
Jandorf. Dann könnte den fpefulativen Sinn unferer fonfufen Zufionfchnüffeler feine
Schranke mehr hemmen. Und ſchließlich muß ja einmal der Tag kommen, wo Zörle
und Bank fi wieder mit einer anderen Frage bejchäftigen als mit der, ob der
Stahlwerfverband gefährdet oder gefichert iſt. Vielleicht aber merkt man dann, daß
den Fragern die Sache nicht fo wichtig war wie die durch den ewigen Zweifel ge
ſchaffene Möglichkeit, die Kurſe nedifch nad oben oder nad) unten zu treiben.
Dis.
Be
Notizbuch. 388
Notizbuch.
er Reichstag iſt wieder ba; und endlich wird ber Bürger, in ber fünfzigſten
Woche des Jahres, wieder die tröftende Runde vernehmen, daß auch in ben
deutfchen Grenzen nod Politik getrieben wird. Faſt Hatte ers ſchon vergeffen, trotz⸗
dem eben erft im größten Bunbesftaat ein neues Parlament gewählt worden ift; daB
freilich nicht anders ausſieht, als das alte ausſah. Auch der fteichdtag wird ſich nad)
Menſchenermeſſen von dem achtundneunziger nicht weſentlich unterfcheiden. Rechts
fehlen ein paar tüchtige Leute, links find ein paar belle Köpfe Hinzugelommen; und
die bekannten Redner werben bie befannten Reden pünktlich nicht unterdrücken. Die
Mehrheit kann fofort zeigen, ob fie klug handeln oder das Hochgefühl ihrer Macht
zunächſt einmal auskoſten will. Iſt fie Tlug, dann trennt fie aus eigenem Xrieb
flinf die Notbparagraphen ab, bie während der Tarifobftruftion der Geſchäftsordnung
angeflicdt worden find. Sie kanns getroft wagen; denn einjtweilen wenigitens wird
jebe Bartei ſich dreimal befinnen, ehe fie den Berfuch unternimmt, einer wehrhaften
Majorität den Willenslanal zu verftopfen. Noch ein zweiter Beſchluß könnte die
Weisheit des Hohen Haufes bewähren. Der Sozialdemofratie, die raſch noch die
ärgften Symptome inneren Haders befeitigt und, wie ihr ja Hier auch gerathen warb,
allen Sündern in Snaden verziehen bat, follte bie Nöthtgung nicht erfpart werden,
ihren Bertrauensmann ins Präjidium zu hidden. In den erften Auguſttagen, fünf
Wochen vor dem dresdener Parteitag, wurde bier darüber gefagt:
Wird die Sozialdemofratie dem neuen Reichstag den Erften Dice
präfidenten liefern? Soll fie für diefes Ehrenamt überhaupt einen Ranbi-
daten aufitellen? Ernfthaft aufftellen und ihr verpflichten, auch die Bürben
der Nepräfentation auf ſich zu nehmen? Herr Bebel fagt: Nein. Herr von
Bollmar jagt: Fa. Herr Bebel, der greife Optimift, glaubt, feine Partei
werde in abjehbarer Zeit die politiiche Dlacht erobern, Monarchie, Grund»
herrſchaft, Induſtriefeudalismus, alle Formen Eapitaliftilcher Knechtung und
Ausbeutung beſeitigen und die ſozialiſtiſche, frei über die Mittel zur Produktion
verfügende Geſellſchaft entbinden. Deshalb will er den annoch, aber nicht lange
mehr herrſchenden Gewalten keine Konzeſſion machen, hält es mit Kierkegaards
und Ibſens Loſung „Alles oder nichts“ und findet die Rolle der gekränkten Un⸗
ſchuld, die aufdienaheStundederApotheofe harrt, für feine Partei dankbarer als
diedes ſchmiegſamen Taktikers, der mitden Berbältniffengraufamer Wirklichkeit
rechnet und fich jeder Sproffe freut, die er auf der höherführenden Leiter erklom⸗
men bat. Herr von Bollmar iſt von Sentimentalität und Sllufionen frei; fein
Pathetiker, fondern ein Realift — meinetwegen: Poſſibiliſt —, ein ungemein
tultivirter Mann, der fi) aber die urwüchfige Bauernfchlaubeit bewahrt hat und
oft da lächeln, ſogar laut lachen kann, wo Sankt Auguſtus nur Flüche und graufe
Metaphern findet. Er hat menſchliche und geſellſchaftliche Entwickelungen
nicht nur, wie Bebel, von unten geſehen, ſteht der Natur näher als irgend
einem Dogmenglauben und weiß, wie langſam hienieden Alles keimt, wächſt,
reift und wie froh Einer ſein muß, wenn er im Lauf ſeines Lebens die Sache,
ber er dient, nur um ein Wegſtrecklein vorwärts bringt. Deshab will er jede
Pofition, die er zu nehmen vermag, flink auch befeßen ; iſts fein bie Qande beherr
ſchendes Fort, ſo doch ein Vorwerk, indemmanraften, vondem aus der Stratege
. 884
Die Zukunft.
weiteroperirentann. Ein Plag im Präfidium, meint er, iftimmerhin eine ſchone
Sade; man ſitzt an den Quellen parlamentariiher Madt, Hört, was vorgeht,
Tann drohende AUngriffeabwehren und beweift der Gemeinde undder Di Tpora,
bis zu welcher Höhe die Fraktion es gebracht hat. Der Befud, den das Präfidium
nad der Konftituirung des Reichstagesdemftaifermadt, follteuns Hindern, den |
fihtbaren Breis langen Mügens einzuftreichen? Lächerlich. Der Beſuch gehört
zu ben Formalitäten, an dinen eine ernfte Sade nie jcheitern darf. Iſts bez
Kaiſer nicht unbequem, einen Sozial demokraten im Schloßzu empfangen: nus
genirt der Empfang nicht. Und will der Kaiſer Wahrheit; von unferem Ber:
trauensmann kann er fie haben. Herr Bebel, der ſich mit lleinen&rfolgen nicht ab⸗
ſpeiſen laſſen will, widerſpricht, leidenſchaftlich wie immer. Der Beſuch — for:
gefähr iſt ſein Gedankengang — iſt und bleibt eine Huldigung; wir aber hul
digen keinem Kaifer, fegen feinen Genoſſen der Gefahr aus, jchlecht behandelt
oder über die Achjel angejehen zu werden; wir find entfchlofjene Gegner aler
böfiichen Ingerenz und dürfen nicht dulden, daß die Vertreter des Barlaırentes
in einer Hofgefindeftube auf den Wink des Monarchen warten. Beide Männer
reden und handeln, wie fie müflen, und wählen den Weg, aufden die Summe
ihres Wollen, ihr „Charafter”, fiedrängt. Wahrſcheinlich Hat Herr Bebel jegt
noch die Mehrheit der Fraktion auf feiner Seite. Und der fühle Beobachter wir)
finden, fo einfach, wie Herr von Vollmar fie darftellt, liege die Sache am Ente
doch wohl nicht. Als Symbol der Macht wäre bie Würde des Erften Bice
präfidenten nicht zu unterfchägen. Aber der Genoſſe fäme auf dem Präfibial-
fig in jchwierige Tagen. Er müßte, nad) der Sitte des Haufed, Aeuße rungen
rügen, die ernach feinerlleberzeugung nicht tadeln kann, und dürfte fich gewifſen
Ceremonien nicht entziehen, die fein &laube empört ablehnt. Im Schloß...
Daß ber Sailer höflich wäre, darf nicht bezmeifelt werden. Uber er bat die
Sozialdemofraten yundertinal in ſchroffen Scheltreben gefräntt, fie ehrlos ge
nannt, eine Rotte vaterlandlofer, des deutjchen Namens unwerther Sefellen,
Bolfsbetrüger, tückiſche Mörder. Einem Mann, ber fogeiproden hat, pflegen bie
Geſcholtenen feine Höflichkeitvifite zumachen. Und bie Hauptjache: ben größten
Theil ihrer Wirkung auf die Maſſe verdankt die Sozialdemokratie ber That:
ſache, daß fie, im Gegenſatze zu allen anderen Barteien, nie für Transaktionen
und Konzeſſionen zu haben war. Sowas machen unfere Leute nicht, jagt der Ar-
beiterumdift ftolz auf die ftarreRömertugend ſeiner Mandatare. Soll man dieſen
Nimbus auf ein Spieljegen, deſſen Gewinn im günftigften Fall doch nicht all⸗
zu beträchtlich wäre?... Zwar iſt die Audienz von keinem Geſetz vorgeſchrieben;
auch die Geſchäftsordnung des Deutſchen Reichstags beſtimmt im zwölften Pa⸗
ragraphen nur: „Die Konſtituirung des Reichſstages und das Ergebniß der
Wahlen wird durch den Präſidenten dem Kaiſer angezeigt.“ Angezeigt: dieſer
Beſtimmung würde auch eine ſchriftliche Meldung genügen. Durch den Präſi⸗
denten: er könnte ſeine Stellvertreter alſo ruhig zuHauſe laſſen. Doch die Mebr-
heit wird unklug genug ſein, der Sozialdemokratie die Verlegenheit zu erſparen,
die entſtünde, wenn ein rother Genoſſe gendthigt wäre, im Schloß einen Diener
zu machen und im Wallotbräu „die Würde des Hauſes zu wahren“. Und bie
Gruppe Bebel wird ſich freuen, wenn fie die von parlamentariſcher Macht un»
trennbare Berantwortlichfeit nicht auf ji) zu nehmen braucht und, mit dem ebr-
Notizbuch. 385
lichen Pathos gekränkter Unschuld, wieder jagen und fchreiben kann, daß nicht
einmal das winzigfte ber ihr gebührenden Rechte one ſchnöden Berrath Heili-
ger Ueberzeugung von ber brutalen Kapitaliftengefellichaft zu erlangen ift.
Nicht nur der Legende wegen, biebehauptet hat, inder „Zukunft“ werde die rothe
Traktion oder doch deren radilalerer Flügel mit ganz befonders verruchter Tüde ge
ſchmäht, iſts vielleicht nüglich, post varios casus daran zu erinnern. Seit Dres
den wiffen wir zwar, daß fein Genoſſe ins Schloß gehen darf (was den Kaifer, ber
damit geftraft werben fol, ficher nicht ärgern wirb). Für die Mehrheit aber, bie Ge:
wiſſensbedenken nicht nachzufragen braucht, ift der Thatbeitand unverändert; fie ſollte
ruhig jeden Sozialdemokraten wählen, der fürden Boften präfentixtwird, an die Wahl
feine Bedingung knüpfen, thun, als merkte fie nichts, wenn der Erwählte ih am
Tage der Schloßaudienz etwa krank meldet, undaufbieerfüllte Pflicht pochen, wenn die
Würde abgelehnt wird. Warten wir ab... Die zum Bundesrath bevollmädhtigten
Herren werden den röthlicher ſtrahlenden Kuppelſaal wohl mit ſchauderndem Gefühl
betreten. Doc) fie haben jett einen Kriegsminiſter, der reden kann, und dürfen für
Angſtſtunden auf Preußen hoffen. Denn in Preußen, Herrn Möllers Excellenz hat
es jüngft allem Volke verkündet, waltet nun eine Regirung, wie fie, fo tüchtig, ge-
willenbaft, thatkräftig und klug, auf borufjiihem Boden noch niemals geiehen ward.
Und Herr Theobor Möller, der jchöpferijche Genius von Rupferhbammer, muß es wiſſen;
denn er gehört felbft ja zu der Regirung, dieden Ruhmesglanz der Stein und Bismard
nächſtens mit unerichautem Licht Überfunfeln wird. Nächſtens ...
* v
*
Zwiſchen den Herren Bon Pflugk⸗Harttung und De Jonge ift über Napoleons
Verhalten bei Jaffa ein Streit entitanden, in dem Beide ein Schlußwort zu ſprechen
wünjchen. Der Hiltorifer jchreibt:
Wo fängt das moraliih Erlaubte an und wo hört e8 auf? Eine ſchwie
rige Trage. Wir haben Teinen Kanon der Moral. Wir kennen auch jelten
alle Umftände und Motive genau, die zu einer That trieben. Und doch muß
jelbft der Hiftorifer, der nicht im Staub der Urkunden erftiden will, moralifche
Werthurtheile fällen. Dan hat die Weltgefchichte das Weltgericht genannt; an
dieſer Rechtſprechung bat ber Gefchichtfchreiber mitzuwirken. Aber er ift in un«
günftigerer Lage als ber Richter in der Amtsrobe. Der hat feine Geſetzbuch⸗
paragraphen, kann Zeugen vernehmen, Eide verlangen, hat mit lebenden Weſen,
die leibhaftig vor ihm ftehen, und mit kontrolicbaren Zuftänden zu thun. Was
aber bleibt dem Hiſtoriker? Vergilbte Blätter, deren Schriftzüge oft entftellt,
oft jchwer zu enträthjeln, oft von Parteiwuth verzerrt find, und die Stimme
feines Gewiſſens, die Sicherheit feines fittlichen Gefühles. Diefem Gefühl folgte
ich, als id} vor ein paar Wochen bier verlangte, der Gefchichtichreiber folle Na-
poleons Berhalten vor Jaffa, die Niedermegelung der gefangenen Türken, nicht
zu entichuldigen verjuchen, jondern offen eine Schandthat nennen. Gegen meine
Auffaſſung wandte ſich Herr Dr. De Jonge am fiebenten November in dem Artikel
„Napoleon in Jaffa“. Das kann mir nur angenehm fein; denn erft im Kampf
tlären ſich Anſchauungen und Dinge Sol der Kampf aber belehren, jo muß der
Kämpfer hübſch bei der Sache bleiben. Das bat mein Gegner nicht gethan. Wer
feinen Artifel las, mußte glauben, ich hätte Napoleon als Geſammterſcheinung ver-
30
386 Die Zuknuft.
urtheilt und ſei einfanatifcher Feind diefes großen Mannes. Derbin ich richt; freilich
auch fein fanatticher Bewunderer. Fanatismus führt nicht zur Wahrheit und Klarheit.
Wenn Herr Dr. De Jonge meine Anficht kennen lernen will, mag er meine Schriften
aus der Zeit Napoleons lejen. Hier hanbelte ichs mir nur um ben einzelnen Fall. An
beute will ich mich an ihn halten und nur bie ſachlichen Gründe bes Gegners präfer.
Er Sagt: „Bonaparte fandte an den Kommandanten von Jaffa einen
Barlamentär, um ihn aufzufordern, fih zu ergeben. Der aber ließ dem Ge |
fanbten ftatt aller Antwort den Kopf abſchlagen“. Nach dem Repreffalienredk
verfuhr dann ber Franzoſe gegen bie Türken. Nun: jchön war bie That des tür
kiſchen Generals nicht, aber verftänbli; denn bie Franzoſen waren ohne Kriegs
ertlärung gekommen, wie Räuber und Morbbrenner. Noch auf dem Wege nach Jaffa
hatten fie ganze Dlivenwälder zerftört und Dörfer eingeäſchert. Die Wuth bes
Mufelmanen war alfo begreiflih; feine That bleibt darum doch unſittlich ımd
unflug, und wenn er fie mit dem Leben bezahlt hätte, brauchten wir ihm Lei
Thräne nachzumweinen. Sol aber ein ganzes Heer die perfönlide Berfehlung
bes Führers büßen? Das wäre ein gar zu ſummariſches Verfahren. BDod
hören wir weiter: „Napoleon vertheibigte fein Berfahren damit, daß die Ge
fangenen, bie die Befagung der vorher eroberten Stadt El⸗Ariſch gebildet Hatten,
auf ihr Wort, in dieſem Feldzuge nicht weiter zu dienen, freigelafien waren,
fi aber fogleich wieder mit den Türfen vereinigt, die Belagung von Jaffa ver
ftärkt und durch ihren thatkräftigen Widerftand viele Yyranzojen das Leben ge
koftet hätten.“ Daß in foldem Fall mwortbrüchige Kriegsgefangene ihr Lebes
verwirkt haben, ſei feftitehende Megel des Volkerrechtes. So meint mein Gegner
But. Woher wet er denn aber, daß Napoleons Behauptung richtig if? Bon
einer Unterfuchung der. Sache ift mir nichts bekannt. Auc handelte es ſich in
El⸗Ariſch doch nur um 700, höchſtens um 800 Mann (Sybel V. 588; Fournier J
139), bei Alta find aber mindeftens 2000, wahrfdeinlic mehr als 3000 umge
bracht worden. Wie die Sache wirklih ftand, erzählt ein Stabsoffizier ber
franzöfiihen Urmee: „Die Gefangenen von El⸗Ariſch waren gegen die Rapitule
tionbedingungen mitgejchleppt worden. Bonaparte fürdhtete, fie mödten, ſtatt ned
Bagdad, nad Jaffa oder Alla gehen und feine Yeinde verftärten. Als Jaffa er-
ftürmt war, begannen die Milizen, unruhig zu werden und zumurren. Sie meinten,
jegt habe Bonaparte nicht mehr zu befürchten, daß fie fih nad) Jaffa wenbeten: er
möge fie, der Kapitulation gemäß, nach Bagdad marfdiren lafſen.“ Die Truppen
verlangten aljo nur, daß er Wort halte. „Bonaparte konnte ſich nicht dazu ent-
ſchließen, und da er ohnehin ſchon vorhatte, fich der bei Jaffa gemachten Gefangenen
zu entledigen, ließ er heimlich die Gefangenen von El⸗Ariſch unter fie mengen und Alle
zufammen am zehnten März ermorben.“ (Jahrbücher für die beutiche Armee
und Marine XXXVI, 141). Er ließ aljo nicht nur die bei Jaffa Gefangenen,
ſondern auch die von El-Ariſch umbringen, denen er ausdrüdlich freien Wbzug ı
ſprochen hatte. Auch Bonapartes Behauptung, er jei nicht im Stande geweſ
bie Gefangenen zu ernähren, ift unhaltbar. Nach feinem eigenen Bericht hatte
in Jaffa 400000 Nationen Zwieback und 200000 Gentner Reis vorgefunde
wozu fi) noch bie Beute von Gaza gefellte: neben Anderem 800000 Natiom
Zwieback. Damit konnte man die 12000 Franzoſen und 3000 @efangene
Monate lang ernähren. Daß die Befangenen unbeguem waren, unterliegt feine:
Notizbuch. 387
Zweifel. Das gab aber dem Feldherrn noch lange nicht das Recht, fie ab⸗
ſchlachten zu laſſen. Abgeſchlachtet wurden fie: mit dem Bajonnett nieberges
ftoßen, nicht, wie der von De Jonge citirte Laurent fagt, erjchoflen. Auf diefe Weije
tonnte man Batronen jparen. Statt übrigens den unzuverläffigen Schönfärber
Zaurent gegen mid ins Feld zu führen, Bätte mein Gegner nachlejen follen,
was Sybel über ben Gedankengang und bie That Napoleons fagt. Nach dem
Untergang ber franzöfilden Flotte und bei der feindlichen Haltung der Pforte
fühlte der General fi in Egypten höchſt unſicher. Aus dieſer Zeit berichtet
Sybel: „Er erklärte deshalb, daß im Ortent der Gehorfam nur durch Furcht
zu erzwingen fei, und unaufhörlich folgten fi} die Befehle an feine Offiziere,
ein Exempel zu ftatutren. Das bie: eine Anzahl Köpfe abzufchlagen... Er
ließ verfünden: Die Zeit wird kommen, wo Jedem klar wird, daß ich höheren
- Befehlen folge und daß feine menſchliche Anftrengung Etwas gegen mid) ver-
mag.“ Gegen folden Wahn kam Feine menſchliche Regung auf. Leber die hier
umftrittene That urtbeilt Sybel: „Man wird jagen müſſen, daß die fogenannten
Gründe nur VBorwände waren. Bonaparte hielt es für gut, den Gehorſam durch
Furcht zu erzwingen und hier an ber Schwelle Syriens ben Schreden in großem
Stil zu verbreiten.” Der größte deutſche Geſchichtſchreiber der Revolutionzeit
tft meinem Standpunkt alfo um viele Meilen näher ald dem meines Gegners.
Und dieſe Gewißheit läßt mic unbegründete Angriffe leicht verſchmerzen.
Profefior Dr. Julius von Pflugk⸗Harttung.
Die Untwort lautet:
Wenn Napoleon und die Franzoſen, weil fie „ohne Striegserflärung ge
kommen‘ waren, als ‚Räuber und Mordbrenner“ zu qualifizicen wären, jo würde
diefe kriminalrechtliche Dualififatton auch auf den Grafen Walberjee und das
beutich-oftafiatifche Corps im China-Srieg zutreffen; in beiden Fällen ift fie gleich
unzutreffend. Die Berftörung von „Wäldern und „Dörfern“ ſoll ſchon dfter
tm Kriege mit Zug und Recht geübt worben fein. Das nad Anficht des Herrn
Profeſſors ‚‚verftändliche‘‘ volkerrechtliche Verbrechen des türlifchen Generals habe
ic keineswegs al3 allein ausreichenden Grund der Repreſſalie bingeftellt, jondern
nur als weſentlich „adminikulivenden Grund in Verbindung mit bem zweiten.
Dat „Napoleons Behauptung richtig iſt“, hat fo lange als feitftehenb zu gelten,
wie nit das Gegentheil bewiejen ift, da auch der „Maflenmörder‘' Napoleon
vor bem Tribunal der Geſchichte bie jelben Rechte hat mie jeder Angeklagte,
ber ja nicht ben Unfchulbbeweis zu führen, fondern vom Staatsanwalt den
Schufdbewei3 zu erwarten hat. Der Behauptung von Fournier und GSybel,
daß die Beſatzung von El⸗Ariſch nur 700, höchftens 800 Mann betragen babe,
fteht gegenüber die von mir bereits citirte Ungabe des Napoleon-TFeindes Wachs⸗
muth (al8 Ordentlicher Profefior der Sefchichte in Leipzig 18366 geftorben), daß
es 1600 gewefen jeien. Spätere hiſtoriſche „Zeugen“ haben aber vor früheren
durchaus nicht immer den Borzug größerer Klaffizitätz eher iſts umgekehrt.
Die Brovtantnorräthe waren wahrjcheinlich kaum halb fo groß, da Napoleon
in ben „Bulletins“ und „‚Beuteberichten”' an jeine Pariſer regelmäßig ein blagueur
und Renommift war und, zumal als junger Held von kaum dreißig Jahren, etwa
im Maßſtab von 2 (618 8) :1 aufzufchneiben pflegte. Nicht nur die Schwierigkeiten
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388 Die Zuhmft.
der Ernährung, fondern diefe in Verbindung mit benen der Bewachung bildeten
den dritten Triegsrechtlichen Grund. Bon ben 12000 Mann, mit denen Rap
leon am jechsten Februar aufgebrochen war, war vier Wochen jpäter durch Kämpfe,
Krankheit, die Strapazen des mörderiſchen Klimas vielleicht die Hälfte Kriege
unfähig geworden. Ueber die „Abſchlachtung“ jagt Walter Scott (Il, 227), ber
doch gewiß kein fanatiicher Bewunderer Bonapartes war: They were put to
death to musketry.... and the wounded were despatched with the bajonnei
Uebrigens wiegt auf der Militänvage die Differenz zwiſchen Stich und Schuß
fehr wenig. Daß ich bei Sybel nicht Belehrung fuchte, hat feinen guten Grund
Bei aller wiſſenſchaftlichen Hochſchätzung des hervorragenden &efchichtichreibers
der deutſchen Neichsgründung, bei aller menjchlichen Liebe und politiſchen Be
wunderung, die ich für feine beiden Helden bege, den edlen alten Saifer und
den Kanzler mit der eifernen Fauſt und dem eijernen Kopf, kann ich den Herold
diefer beutfchen Nationalhelden in Napoleon: Fragen eben fo wenig al3 geredten
Richter anerkennen, wie etwa Herr Profeſſor von Pflugk Harttung den franzöfijcen
Nationalhiftorifer Henri Martin ald maßgebende Inſtanz erachten würde, von
ber er Über den „Gedankengang“ Bismards in den Tagen belehrt werden jollr,
ba der eiſerne Kanzler forderte, man folle den Wrtillerieangriff auf den Mont
Avron und bie Forts zu einem allgemeinen Bombarbement auf die mit Menſchen
gefüllte Innere Stadt Paris erweitern.
Gerechte Gefchichtkritil ift nur angewandte Jurisprudenz.
Dr. jur. Moriß de Jonge.
Ich will mich nicht in den Streit mifchen. Nur an ein paar Ausſprüche Bo
napartes erinnern, bie für das Urtheil in Betracht fommen fönnten; Graf Chaptal
der, als Berwalterwictiger Staatsämter, zulegt als Minifter, bem Konjul und Katie
ſechzehn Sabre lang nah ftand, hat fie in feinen Souvenirs aufbewahrt. Il sufi
d’ötre juste avec des Frangais. Il faut ötre sövöre avec des ötrangers. „Ar
lington ift ein Kerl! Er muß vor einem überlegenen Heer fliehen (in Portugal), abe
er verwüftet noch auf der Flucht ein Gebiet von achtzig Meilen und ruinirto den Feind
ohne ihn zu bekämpfen. In Europa find nur Wellington umd ich zu ſolchen Maß⸗
regeln fähig; der Unterſchied ift, daß diefes Frankreich, das man eine Nation nennt,
mich tadeln würde, während England feinem Feldheren zuftimmt. Ganz frei war
ich nur in Egypten; und ba habe ich Aehnliches gethan. Dan hat viel fiber bieder:
wüftung ber Pfalz geredet und unfere elenden Geſchichtſchreiber benutzen die Sache
noch immer zu Berleumdungen Ludwigs des Vierzehnten. Der Ruhm, biejen Ent
ſchluß gefaßt und ausgeführt zu haben, gebührt aber nicht bem König, jondern dem
Miniſter Louvois; in meinen Augen bleibts die ſchönſte That feines Lebens.“ Meder
die eguptifchen Vorgänge erzählt Chaptal: „Napoleon nahm in den Krieg die @efühb
Lofigfeit des Weſens mit, die in allen Bhafen feines ftürmifchen Lebens der herrſchende
Bug war. Bei Jaffa ließ er fiebentaufend Türken erfchießen, bie fich bei der Kap" |
tulation ergeben hatten. Fünf oder ſechs Leute, die dergräßlichen Metzelei entronntn |
waren, flohen nad) Akka und beftiinmten, durch die Meldung des Treubruches (aften-
tat & la bonne foi), die Garniſon, auffeinerlei Borfchläge zu Hören und fich bis zum Tod
zu vertheidigen. Das war die Haupturſache des Widerſtandes, den Bonaparte bei
Alta fand. Ungefähr um die jelbe Zeit ließ er ſiebenundachtzig Soldaten, die an bet
Peſt erfrankt waren, im Spital von Jaffa vergiften. Man verfuchte e8 zuerft mi
Notizbuch. 389
Dpium, das aber nicht die erwartete Wirkung Hatte, und nahm dann Queckſilber⸗
chlorid. Auf dem Rückzug von Alla ließ er in weitem Umfreis auf allen Feldern die
Ernte verbrermen.” Das ift vor oder unmittelbarnac den Hundert Tagen geichrieben.
Viele Züge, die zu diefer Darftellung paflen, findet man in den Lettres Insdites,
die Blonplon deshalb Lange ſekretiren ließ; da heißt es immer gleich: Fusillez-mol'
ces gens! Ich glaube, daß der große Korje den Vorwurf amoralifden Handelns
Belächelt und ben Tadler gefragt hätte, ob er ihm einen Feldherrn, einen Politiker
nur nennen tönne, dem je gelungen ſei, auf dem ſchmalen Saumpfad reinfter In⸗
dividualfittlichkeit fein Volk zur Mittagshöhe der Weltmacht zu führen.
* %*
*
Noch zwei Briefe. I Ein Offizier ſchreibt mir:
„Etwas verjpätet iſt mir die, Zukunft‘ mit dem Artikel Fünf Kaiferparaden‘
unter bie Augen gekommen. Dos Thema iſt, um mich im Jargon unferer Zeitungen
auszudräden, nicht mehr aktuell. Die Zeitungmänner reiten gar fchnell, ſchneller
al3 mande Toten; fie reden feitbem mit mehr oder weniger (meift weniger) Ver⸗
ftändniß furchtbar Hug über den Yall Bilfe, allant droit au coeur des honnätes
gens, und haben ſchon die Federn getrocknet, die Über die Nefrutenvereidigungen des
Gardecorps berichtet haben. Geſtatten Sie mir, auf die Gefahr hin, rüdjtändig zu
ericheinen, einige Worte zu den Kaiferparaden. Wenn es mit fünfen geıhan wäre:
meinetwegen. Sein Schade wärs auch, wenn fie filh in einer Woche zufammendrängten.
Doch kommen im Lauf des Ausbildungjahres andere dazu. Yrüher mit, neuerdings
ohne Ularmblafen; verftummt find die Kaſinowitze, die auf der Kombination eines
bomonymen Wortes mit einer pathologiſchen Erfcheinung berubten. Mit Ausnahme
Derer, bie ‚aus Anlaß der Truppenfchau‘ zur Dekoration ‚dran‘ find, empfinden
Ulle, beſonders aber die für die Ausbildung in erfter Linie verantwortlichen Regi-
mentöfommandeure und vielgeplagten Compagniechefs, die Schau minbeftens als
eine unwillfommene Unterbrechung ihres Programmes, — mit der Gratis⸗Möglich⸗
feit im Hintergrunde, nach glüdlich übermundener Scylla normaler Befichtigungen
der Eharybdi der außergewöhnlichen zum Opfer zu fallen. Das nach den vorläufig
neusten Begriffen ſchon alte Verfahren des Alarmblafens hatte wenigftens das Gute,
daß nicht Tage lang vorher zu dieſem befonderen Zweck gebrillt werben konnte und daß
nur die in der Garniſon Anweſenden fich ber reinen Freude hinzugeben brauchten, bei
der Truppenihau ‚eintreten‘ zu dürfen. Jetzt ifts anders. Wer das Glück Hatte,
nach der Bataillonbefitigung, Schießübung oder Dergleichen feinem Vorgeſetzten
einige Wochen mohlverdienten Urlaubes abgerungen zu haben, wird telegraphiich
für die Stunde der Schau zurüdberufen. Er mag ſehen, wie er die Mittel zu dieſer
Extratour auftreibt. Das Höhere Dienftintereffe will es fo haben. Qüdenhaft würde
es ſcheinen und unfchön, wenn das Auge des Allerhöchſten Kriegsherrn bie Truppen-
einheiten durch jüngere als ihre eigentlichen Führer, Züge gar durch Unteroffiziere
befehligt fände. Man Hat zwar gehört, Das ſei im Krieg bie Regel und jede Charge
mäfje im Stande fein, die näcdhfthöhere zu erfeßen. Thut nichts. Die Anſprüche der
Truppenfhau find wichtiger, wenns auch fein Verſtand der Berftändigen einfieht.
Mit welcher Dienftfreudigfeit mögen die Lieutenants dem Rufe Folge leiften, mit
welcher jicheren Heberlegenbeit das neugeprägte Schlagwort ihrer franzöfiihen Be⸗
rufögenoflen belädeln: La discipline de la conviction!
mn a rt
390 u Die Zutunſt.
I. Sehr geehrter Herr Harden, nachdem Theobor Mommfen eine Zeichenfeier
in der Kaiſer Wilhelm ˖ Gedächtnißkirche bereitet und der Segen ber Religien ge
fpendct worden ift, dürfte der folgende Brief vielleiht Manchen interefiiten. &s
war Mommfens vom neunten April 1900 batirte Antwort auf eine an ihn gerichtete
o Bitte, einer zur Propaganda der moniftiſchen Weltanfhauung zu begrünbenden
Drganijation beizutreten: „Es ift ein gefährliches Beginnen, die Seelen, melde u
folder Weltanſchauung fi innerlich zufammenfinden, zu einer äußerlidhen kirch |
gleihen Organifation zufammenfcdließen gu wollen; vor Ullem darum, weil der
gefeftigte Menſch Das, worüber er mit fih im Heinen tft, in fi) verichlieht und ver-
fließen muß, er fein Bebürfniß fühlt, weder zu predigen noch Predigten anzuhören.
Verzeihen Sie mir das offene Wort und laſſen den neuen Glauben ſich weiter im Stillen
bauen unberbauen.“ Mit an ner degaqtna Ihr ergebener Bictor Fraenll
Emmy, Blande, Schwefter Abba, City, Lotte Gern, Elfe, Martha, Lit,
Ida, Annie, Schweiter Sidkus, Schwefter Kurzrock, Ella Chan, Helene, Serba,
Foͤlicitoͤ, Minna, Schweiter Claire, Schweiter Ellen, Irma, Klara, Heriba, Grete,
Liane d’Oro: all diefe Damen — und viele andere, die fi) Yräulein, Madame oder
Witwe nennen — empfehlen ſich, mit genauer Adreſſe, in der Voſſiſchen Zeitung
Alle in einem Blatt, bem vom neunundzwanzigſten November. Empfehlen fi als
Mafleurin und Manicure. Was daten Sie denn? Auch Mafleure foll es, nad
einem glaubhaft klingenden Gerücht, geben; nur einer empfiehlt fi in dieſem Blatt:
ein Renommirmann unter fiebenzig Mafleufen und Manicuren. Für alle Stadt
theile, alle Nationalitäten iftgeforgt ; und ganz reizend ift, daß all’ diefe Heilgebilfinnen,
trotzdem jede Kleine Annoncenzeile vierzig Pfennige koftet, ihren Bornamen mit int
Blatt jegen. Bejonders nett ift Liane d'Oro, Schweiter Kurzrod und Lotte Gern.
Da verlernt jeder das Fürchten vor rauhem Handgriff. Die „trengfte Methode“, dr
früher in Inſeraten beliebt war, barf nicht mehr annoncirt werden; dafür giebts je
„vornehmfte Maflage”, bie aud nicht zu verachten fein mag. So iſts täglich, mid
nur im Advent. Und die Behauptung, manche diefer Huldinnen fei [don wegen un-
züchtigen Hanbelns beftraft, ijt ficher von lüderlicden Lieutenants erfunden.
* *
%*
Herr Profeſſor Morig Schmidt, der die Stimmlippe des Katferd von einem
winzigen Polupchen befreit hat, ift, zur Belohnung, zum Wirklicden Geheimen Rath
mit dein Titel Excellenz ernannt worden und bat, mittheiliam, wie er ift, flugs ben
Kollegen erzählt, daß Wilhelm der Zweite zu ihm gelagt babe, über dieſe Ernennung
werbe ſich gewiß die ganze deutſche Laryngologie freuen. Gewiß iſts nicht. Die neue
Ercellenz gilt nicht für einen der erften Laryngologen Deutſchlands; viele Fachleute
ziehen ihr den Berliner Fränkel und manden Anderen vor. Und die Operation, bie
Schmidt im Neuen Palais zu machen hatte, bot faum einem Anfänger Schwicrig-
fett. Mommſen, Birhow, Treitſchke waren nicht Wirflicde Geheime Räthe, Robert
Koch, der die Heillunde der Menjchheit in neue Bahnen gedrängt Hat, iſts Heute noch
nit. Wer einem Monardien Dienfte leiftet, ift jedes Lohnes werth, den ber gut
Bediente ald Perfon zu vergeben bat. Staatliche Ehrentitel aber jollten nur ben
Gelehrten und Heilfünftlern verliehen werden, die durch wiſſenſchaftliche Urbeit oder
ungemöhnliche Praltikerleiſtung den Anſpruch auf ſolche Würde erworben haben.
Herausgeber und ı beraniwretliche Rdane MaHarden in Berlin. — Verlag der Zukmft in Berite.
Trud von Albert Tamde in Berlin-Schöneberg.
Berlin, den 12. Dezember 1905.
— "1
Die Rranfheit des Raifers.
m neunten November laſen wir, zwei Tage vorher fei aus dem Kehl⸗
Topf des Kaiſers ein weiches, von Plattenepithel überzogenes Binde
gewebe entfernt worden. Ein Stimmlippenpolyp, Hieß es im erften offiziellen
Bericht. Der Ausdrud Hang dem Laien fremd; die Aerzte ſcheinen die liga-
menta glottidis, die wahren Stimmbänder, um Berwechjelungen mit den
Tafchenbändern zu meiden, jegt Stimmlippen nennen zu wollen. Profeſſor
Orth, Virchows Schüler und Nachfolger, Hatte, unmittelbar nach der „ganz
glatt verlaufenen” Operation, das Gewebe mikroſkopiſch unterfucht und
das Ergebniß in den unzweideutigen Satz gefaßt: „Es hanbelt ſich um einen
durchaus gutartigen bindegewebigen Bolypen“. Danach war nicht der ge-
ringſte Grund zur Beforgniß. Seit — bald nach der Geburt des regirenden
Kaiſers — Czermak zum erften Mal Kehlkopfpolypen ficher nachgewieſen
hat, find unzählige Fälle behandelt worden, meift fogar ambulatoriſch. Die
Operation ift weder fehwierig noch fehmerzhaft. Vor vierzig “fahren be—
föprieb Paul Viltpr von Bruns „die erfte Ausrottung eines Polypen in der
Kehllopfhöhle ohne blutige Eröffnungder Luftwege“; er mußte den Patienten,
feinen Bruder, acht Wochen lang mit Verfuchen plagen, bis der erkrankte
Kehlkopf den durch die Einführung des Meſſers bewirkten Reiz ertrug. Heute
hat der Urzt feinere Inftrumente, Pincetten, galvanokauſtiſche Schlingen,
und die Schleimhaut wird durch Cocain unempfindlich gemacht. Seitdem
Hält man Stimmbandpolypen, fo läftig fie fein können, nicht mehr für ge-
fahrlich; die Gefahr des Erſtickens entfteht in nicht vernadhläffigten Fällen
felten und die Befeitigung der Heinen Gefchwülfte wird kaum noch zu den
31
892 Die Zukumft.
ernfthaften Operationen gerechnet. Diesmal aber glaubten nur Wenigean
bie Unbeträchtlichkeit der Sache. Trotzdem von allen Seiten befchiwichtigenbe
Bulletins kamen und der Operateur recht redfelig Beginn und Verlauf der
Erkrankung jhilberte, blieb die Meinung: Da wird vertufcht. Für eine
Kleinigkeit hätte man nicht den großen Apparat aufgeboten, der ſchlimme Ge⸗
rüchte begünftigen mußte. Bier offizielle Berichte am erften Tag; und vor:
her Alles verheimlicht. Sin Merſeburg Hatte ed angefangen. Die Heiſerkei
wollte nicht weichen. Der Leibarzt Dr. Ilberg wurde unruhig. Die Kaiſerin
unterbradhihre Reife. Der Geheimrath Morig Schmidtwurde aus Frankfurt
- gerufen und erklärte, man müſſe abwarten; werde eine Operation nötbig, fe
fönnenatürlicherftdiemilroftopifchelinterfuchungden Befund feftftellen. Rie
manderjuhr&twas auch als der frankfurter Laryngologe zum zweiten Mal be⸗
rufen und unerkannt im Neuen Palais angelangt war, ahnte ſelbſt die nächte
Umgebung nodhnichts. Den Flügeladjutantenvom Dienft fiel nur auf, daß
am nächſten Tage der von einem Spazirgang heimlehrende Kaiſer im Schlo
einen anderen Weg nahm, als er gewöhnlich pflegte. Er ging in ein Sim
mer, wo für die Operation Alles vorbereitet war, und noch am ſelben Tag
tonnte Profefior Orth fein Gutachten einfenden. Die Abfidt war gut. Ti
Thatfache der Erkrankung follte erjt befannt werden, wenn zugleich auf
die Gefahrloiigfeit verbürgt werden konnte. Doch darf man den Bölkerr
verdenfen, daß fie offiziellen Berichten aus der Krankenfiube eines König
nachgerade den Glauben verfagen? Humanität und Politik zwingen zur Un:
wahrhaftigfeit. Daß ein Monarch in Yebensgefahr jchwebt, wird meift erfi zu:
gegeben, wenn das Roma begonnen hat. Und würde ein erfahrener Spe-
zialift vor Nerzten ein Yanges und Breites über eine Operation erzählen, die
jeder Fachmann als nicht der Nede werth kennt? Würden die Kollegen ihm
huldigen, ihn für ſolche Dugendleiftung feierlic zum Ehrenmitglied er-
nennen? Die Helden der reinen Riffenfchaft find doch nicht fervil. So wurde
geflüftert. Immerhin konnte man den Zweiflern das von den Herren Leuthold,
Schmidt ud Ilberg am neunten November unterzeichnete Bulletin ent-
gegenhalten, dus fagte: Die entzündliche Reaktion läßt bereits nah; b >
Allgemeinbefinden ijt gut; bi8 zur Heilung der Heinen Wunde lönnen al
nod) acht Tage verftreichen. Gewiß hatten die drei Aerzte eine über ihr €
warten hinausreichende Friſt gewählt; mit ſolcher Sicherheit würden fienid,
reden, wenn aud) nur die Möglichkeit einer Enttäufchung vorhanden wärı
Die Prognoftif Hat jid) nidjt bewährt. Vier Wochen nad) dem neı
ten November war die Wunde noch nicht völlig geheilt, Tonnte der Pr
Die Krankheit des Kaifers. 393
feine Stimme noch nicht wieder gebrauchen. Dan hatte verfündet, er werde
in den erften Degembertagen ſchon Heine Reifen unternehmen und felbft den
Reichstag eröffnen: er blieb im Neuen Palais und ber Kanzler verlas die
Thronrede. Aus Potsdam fam die Dieldung, der Kranke fehe jchlecht aus
und fei auffällig gealtert; der Zuftand müſſe fich verfchlimmert haben, denn
die Sprechverfuche feien wieder aufgegeben worden und der Kaifer ſchreibe
Alles, was er mitzutheilen wünfche, auf Zettel. Daß in der Thronrede von
der „Deilung” des erften Bundesfürften gefprochen wurde, wirkte eher un-
günftig als günftig; ein Stimmlofer ift ja noch nicht als geheilt zu betrachten.
Ein paar Tage danach mußte denn auch zugegeben werben, „daßbie Heilung
normalverläuft”,aljovorfchreitet, nicht vollendet ift. Alles offiziöfe Bemühen
half nun nicht mehr; wer mag aus ſolcher Duelle fchöpfen? Das Ausland hielt
Wilhelm den Zweiten für einen verlorenen Mann und die Zeitungpſychologen
durchforſchten ſchon die Perfönlichkeit des Kronprinzen. Auch in Deutfchland
wuchs ringsum der Glaube, e8 könne fich nicht um eine leichte Erkrankung
handeln. Diplomaten fledten die Köpfe zufammen und berichteten ihrer Re⸗
girung, public opinion zweifle an der Wahrheit der offiziellen Angaben.
Großinduftrielle fragten unrubvoll, was aus ihren Plänen werden folle,
wenn dem Leben ihres höchten Protektors ein nahes Ziel gejett fei. Nüdh-
terne Bolitiler meinten, nur wer den Deutjchen für unmündig und findijch
hilflos halte, könne fürchten, die ganze Herrlichkeit werbe verbleichen, wenn
zwei Augen fich fchlöffen. Der Fehler der Prognofe rächte ſich. Ueberall was
ren Zweifel erwacht, auch auf den Höhen derBeamtenjchaft und der Armee;
und durch die erregte Volksphantaſie huſchten dunkle Sefpenfter. Sohatsbeim
Kronprinzen Friedrich auch angefangen; faſt genau fo. Zuerſteine Heiſerkeit,
dieallen Heilmitteln widerftand. Monate lang offizielle und offizidſe Beſchwich⸗
tigungen. Am neunten Juni 1887 Virchows Gutachten: das exſtirpirte Stück
hat die Kennzeichen der Pachydermie, iſt ein durchaus gutartiges Gewebe. Eine
Reiſe nach Italien; auch Wilhelm der Zweite ſoll, wie es heißt, nächſtens ja nach
dem Süden gehen. Endlich — auch an einem neunten November — Mackenzies
Erklärung, er ſtimme der Krebsdiagnoſe zu; die Tracheotomie und das veid
der fetten vier Kebensmonate. Orths Wiſſenſchaft Hat noch nicht fo viel KRre-
dit wie die Virchows; und der weltberühmte Cellularpathologe hat damals
majeftätifch geirrt. Großmutter, Vater, Mutter des Kaiſers find am Kar»
zinom geftorben. In allen drei yällen wurde die Bösartigfeitder Neubildung
bis in die letzte Zeit beftritten. Wiffen Sie denn nicht, daß Krebs erblich ift?
Wer weiß, ob nicht ſchon das Obrenleiden des Hohen Herrn... Man braucht
31*
394 Die Zuhmft.
nicht zu den Bewunderen des Kaiſers zu gehören, braucht den Werth der Nen
archenperfönlichkeit für die Entwidelung moderner Staaten nicht zu ir
Ihäten, um ſolches Geraun jchädlich zu finden. Mag Einer ſich noch jo mt
ichlofien zum ölonomifchen Determintsmus befennen: gerade ber Deuttk
hat, nicht immer fröglichen Herzens, erfahren, was ein Einzelner verm
Das Deutfche Reich würde auch den dritten Kaiferüberleben; fürunferg
politifches Leben aber iſts wichtig, zu wilfen, ob man mit der Wahrſcheinlit
feit eines nahen Thronwechſels rechnen muß. ‘Doch wo ift Sicheres zu
den? Die zur Behandlung berufenen Aerzte dürften, felbft wenn fie wollten,
nichts Ungünftiges jagen; und die anderen, die das Bild der Erfranlum
nicht fahen, find auf Vermuthungen angewiejen. Ich habe Schweninger ge
fragt. Er bat die Leidensgefchichte Friedrichs miterlebt, den Kronpritzu
überredet, ſich mit dem Kehlkopfipiegelunterfuchen zu laſſen, und die Sektion
der Reiche des Kaifers fo dringend empfohlen, daß Wilhelm der Zweite fi,
gegen den Wunſch feiner Mutter, anordnete und dadurch den deut fchen Arzztra
die Möglichkeit des nachprüfbaren Beweiſes gab, daß ihre Diagnoſe von Anfan;
an, trotz Mackenzies Widerſpruch, richtig geweſen war. Schweninger famıt
bie Eltern, kennt die Kinder ſeit manchem Jahr und konnte ſich nach offiziede
und geheimen Berichten vielleicht ein Urtheil über den Fall gebildet habe
„Ein Urtheil? Nein. Dazu müßte ich geſehen, nicht nur gehört habe
Mehr als Bermuthungen kann ich Ihnen nicht bieten. Wer mit unfehlbam
Miene über kranke Menfchen — daß ich den Begriff ‚Krankheit‘ ablehm,
wiſſen Sie längjt —, deren Zuftand und Ausfichten urtheilt, ohne fie genat
zu kennen, ift ein Schwindler. Die Herren, die, mit ober ohne Diplom, ui
Wunſch auch brieflich“ behandeln, haben doch wenigftens die ſubjektive Dar-
ftellung des Kranken vor fich. Alfo nichts Sicheres. Das hat übrigens jelif
ber behandelnde Arzt viel feltener, als man gewöhnlich glaubt, in der Weſten
tafche. Was ich aber Iefe und höre, giebt mir, nach der Erfahrung einer dreißig:
jährigen Praxis, gar feinen Grund zur Bennruhigung. Heutzutage muß
Alles gleich Krebs fein. Erinnern Sie ſich noch an die Erkrankung Eduards
des Siebenten? Den hatte die öffentliche Meinung ſchon beinahe beerdigt und
ich galt für einen Schönfärber, weil ich ſagte, mir fpreche fein ber befannt
gewordenen Symptome für den Krebsverdacht; und vorläufig lebt der König
ja nod) ganz vergnügt. Beim Kronprinzen Friedrich lag Die Sache anders.
Der war jehsundfünfzig Jahre alt und belam plöglich eine Heiſerkeit, gegendit
nichts half, die aud) in Ems nicht weniger läftig wurde. Da mußte wohl
etwas Ernftes vorliegen; und ich fagte meinem Fürſten ſehr früh, der Ge⸗
Die Krankheit des Kaifers. 8095
danke an Karzinom jet nicht abzumeifen. (‘Die blödfinnige Behauptung, ber
Fürſt habe je die Übficht oder den Wunſch gehabt, den Sohn feines alten
Herrn als unbeilbar Kranken von der Thronfolge auszujchließen, braucht jetzt
nicht mehr widerlegt zu werden.) Als der Kronprinz dann auf einem Ball
— * —
..
—
—X
ungefähr drei Viertelftunden über ſeine Halsbeſchwerden mit mir geſprochen
hatte, war die Vermuthung ziemliche Gewißheit geworden.“
„Und viel fpäter kam doch Virchows unrichtiges Gutachten.“
„Warum muß e3 denn unrichtig gewejen fein? Erſtens kann auch der
gefchicktefte Operateur in ſolchem Fall daneben greifen und ein Stüc bers
ausholen, das für die Art der Erkrankung nicht typifch ift. Und zweitens ift
der Mitroffopifer nicht unfehlbar. Auf dem Gewebe fteht ja nicht: Dies ift
frebfig! Der Befund muß gedeutet werden und läkt gar nicht jo felten mehr
als eine Deutung zu. Virchow ſprach von Pachydermie. Derals Laryngologe
äußerftgewandte Madenzte,dem man aber wohl nicht Unrecht tyut, wenn man
ihm nachfagt, er habe die Sache von der politischen Seite genommen, könnte
dem Bathologifchen Anatomen abfihtlich ein falfches Stück geliefert haben.
Das braucht manabergarnicht vorauszufegen. Warum follen nicht auch bös⸗
artige Geſchwülſte Stellen haben, die nicht ſchlimmer ausfchen als dicke, ſchwie⸗
lige Haut? Virchows Diagnofe kann volllommen richtig gewefen fein. Sie
bat mich damals nicht überzeugt; und eben jo wenig würde ich heute auf Orths
Gutachten ſchwören, trotzdem ich ihn natürlich als ausgezeichneten Forſcher
anerkenne. Meinetwegen als ‚Autorität‘. Nur ſoll man die Autoritäten nicht
für allwifjende Götter halten und nicht außer fich vor VBerwunderung fein,
wenn aud) fie mal von der Entwidelung widerlegt werden. Da hinten auf
dem Feld ift ein weißer led. Das Auge, das Fernglas hält es für Schnee;
wenn wir hinkommen, iſts vielleicht ein Blatt Papier. Wir Aerzte ſchaden
ung ſelbſt, wenn wir thun, als fönnten wir ausSymptomen und anatomischen
Befund unter allen Umftänden die Namen ſämmtlicher, ‚Krankheiten‘ ablefen.
Und könnten wirs, fo wären wir auch nicht viel Flüger; denn Namen find
Wörter und Wörter find zwar für Lehrbücher und Diufeen gut, nügen für die
Braris aber verdammt wenig. Auch, Krebs ift ſchließlich nur ein Wort; der
Begriff ift durchaus nicht fo unbeftreitbar feſt, wie der Laie ſich vorjtellt.
Don Hippofrates big auf Heiſter, von Galen bis auf Bichat und weiter, das
ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch, hat die Definition geſchwankt; und
wir ſtehen noch nichtam Ende. Dasmwäreaudhtraurig. Waldeyers Erklärung:
„Krebs iſt eine atypiſche Wucherimgderepithelialen Zellgebilde‘ wir d vermuth⸗
lich nicht das letzte Wort der Wiſſenſchaft bleiben; eher ſchon Billroths klarer
396 Die Zukunft.
und beicheidener Sat: Krebs beruht auf einer Diatheſe.‘ Selbſt das in ur
Zeit jo beliebte Wort, Neubildung ſollte man miteiniger Vorſicht anwenda
die Häufungentarteter Theilewäre nicht als Neubildung zu bezeichnen. Koh
bunter als in der Aetiologie iſts in der Therapie hergegangen; bald ii
es bippofratifch: Noli metangere, bald wurde galenifch geratben, daß.
zinom auszufchneiden, ut nulla supersit radix. Seit die Chirurgen ®
Herrichaft gelangt find, wird das Schneiden bevorzugt und im Radiliit
mus fo weit gegangen, daß auf einem der legten Synälologentongrefieiäe
wieder Keberftimmen laut wurden. Man operirt radikal, noch radilaler ım
möglichft im Frübftadium. Ueber die Nüglichkeit kann man ftreiten; m“
aber darüber, daß der Krebs nicht eine urfprünglich Iofale, erft ſpäter burd
Metaftafeweitergefchleppte Erkrankung iſt, fondern eine Allgemeinerkrantun
des Organismus, die nicht einfach durch die Befeitigung eines Sympteus
zur ‚heilen‘ ift. Nach meiner Ueberzeugung leiden nicht Alle an Karzinom,
als krebſig etikettirt werben ; zu ficherer Diagnofegenügen hier, wie die Erie}
rung lehrt, anatomische und hiftologifche Momente nicht: Verlauf und
der Erfranfung erft liefern die wichtigften Kriterien. Deshalb iſt kein dm,
fofort zu verzweifeln oder nach dem Meffer zu greifen, wenn wir diefe Di
gnofe hören. Nicht nach dem Namen der Krankheit follen wir fragen #
dern prüfen, was das erfranfte Individuum noch zu leiften vermag, plc
Reflourcen 8 bat und wie wir fie ſammeln, vermehren und nüglid) verm@
den fönnen. PBrognofe und Diagnofe: Wörter; der Kranke hat nicht De
gnofe und Prognofe von ung zu verlangen, fondern Hilfe, Rath, Pflege d
ihn zum Widerftand fähiger macht. Wo es fich um hohe Herrfchaften handeh
will die öffentliche Meinung freilid) immer ſchnell ein Troftfprüchleimhabt
Doch wir fehen ja jegt wieder, welche Unannehmlichfeiten daraus entfiche
können. Die Heine Stimmbandwunde des Kaiſers heilte, wie es fcheint,etwed
langſamer, al3 man gehofft hatte... Das kann verſchiedene Urſachen habe,
beweiſt aber nichts für die Gefährlichkeit Des Falles. Vielleicht fonımen die Ve
ſchwerden auch nur noch von der Narbe. Wäre ber leifefte Krebe verdacht aufge
taucht, dann Hätten die behandelnden Aerzte nicht ein Stückchen erftirpirt. El
wederradifalfchneiden oderin Ruhe laffen, Heißt heute dieLoſung; Liſters! 20 |
nung, erkrankte Gewebe nicht durd) mechaniſche Eingriffezuinfultiren, il il
vergeffen. Warum auchKrebs? Das Vebensalter desKaiſers spricht nichto Wr
Mitdem Modepopan der Erblichkeit ift nicht8 anzufangen. Erftenswill mit
ganz und gar nichts Beſtimmtes über die Erblichleit des Krebfeg (dev IM
auch Schon für ſicher anſteckend gehalten hat, bi8 man eines Beſſeren“ in
vu
— — —
Die Krankheit des Kaiſers. 397
mrde). Vererbt kann wohl ein Buftand werden, ein Minus an Kraft; aber
in Prozeß? Ich würde einen Krebs jelbft dann für genuin halten, wenn ich
oũßte, daß Vater oder Mutter des Erkrankten am Karzinoma geftorben ift;
er Sohn kann ihn eben fo, unter ähnlichen Lebensverhältniſſen, erworben
jaben wie der Vater: durch parafitäre Erreger, durch Ueberernährung, allzır
‚eichlichen Fleifchgenuß oder fonftwie, ohne daß Sperma und Ei der Eltern
sur Erkrankung der zelligen Gebilde beigetragen haben. Zweitens find ficht-
bar mwenigftens die Krebsiymptome der Eltern erft Jahrzehnte nach der Ge⸗
burt des jetigen Kaiſers geworden; 1858 hielt Xeder den Kronprinzen und
die Kronprinzeſſin von Preußen für kerngefund und fie jelbft hielten fic auch
dafür. An keinem igrer Kinder hatirgend ein Arzt bisher etwasKrebsverdäch⸗
tiges entdedt. Der Verdacht ift wohl aufgetaucht, aber, jo weit Wiſſenſchaft
und Kunſt dazu im Stande find, von Chirurgen und Interniſten widerlegt
worden. Damit lönnte man ficdh eigentlich beruhigen. Die Aerzte, die den
Kaiſer behandeln, haben ja auch einen Namen zu verlieren.”
„Aber fie dürfen nicht immer aufrichtig fein.“
„Brauchen fle auch nicht. Nur feinem Gewiſſen ift der Arzt Rechen⸗
Schaft ſchuldig; die ‚Oeffentlichkeit‘ kann nicht verlangen, daß fie ftetS die
Wahrheit erfährt. Nicht einmal der Kranlke jelbit; als ich in einem englifchen
Spital neben den Betten auf einerZafel die Worte ‚unheilbare Krebstranfe‘
las, nannte ich dies Verfahren cine Barbarei. Nur ein Stümper wird fidh
nicht vor jedem Schritt fragen, wie er aufdie Pfyche des erkrankten Menſchen
wirken fönne. Wo nun gar nod) politiiche Erwägungen miting Spiellommen,
kann auch der ſonſt Gläubigfte leicht Vertufchungen fürchten. Sn unferem
Fall ſcheint man aber von vorn herein eher zu ſchwarz als zu rofig gemalt
zu haben. Wenn wir das Angſtgeſpenſt der Erblichkeit wegjagen, bleibt nicht
der allergeringfte Anlag zur Furcht. Ich weiß nicht, ob der Plan einer Reiſe
nad) Italien oder ins Mittelmeer Wahrheit oder Dichtung ift; aber c8 wäre
ganz natürlich, wenn ein hoher Herr nach jolcher Beläftigung ein milderes
Klima auffuchte und procul negotiis feine Nerven ausruhte. Das könnte
feinen vernünftigen Menſchen erichreden. Eben fo wenig kanns die Thatjache,
daß der Kaiſer noch nicht ſpricht. Eolches Stimmlippchen ift wie eine win-
zige Saite ; die kann Schon durch ein Stäubchen tonlos werden. Wenn Sie
fich auf diefem Heinen und feinen Ding eine Narbe vorftellen, können Sie
ahnen, wie läftig und langwierig Die Sache werben fan. Darum bleibt fie
doch alltäglich und ungefährlich. Vleibts, auch wenn neue Rolypchen nach—
wachſen, Das kann ſich unter Umftänden fehr oft wiederholen. Es wäre der
398 Die Zukunft.
größte infinn, dann jedesmal zu fchreien: Nezidiv, — alſo Krebs! Emlr
recht gegen den Kranken; und eine Dummheit, an der nur bie Feinde dd
Deutſchen Neiches ihre Freude hätten. Außer ihnen vielleicht mod) die dr:
hänger des Wortaberglaubeng in der Medizin. Die find an dem ganzenkäre
mitfhuldig. Hätten wir ung nicht von ihnen verleiten laſſen, dann wirk
die Meldung genügen: Hier ift ein erkrankter Menſch, deffen Zuftand or.
ungefährlich ſcheint. Jetzt fordert man Wörter. Und es giebt Aerzte, bie dieka
Wünfchen weit entgegenfommen; fogar ſolche, die vor der fchlimmften Ds
gnofe nicht zurückſchrecken: um fo größer ift dann der Ruhm, wenn bie ‚se
lung‘ gelingt. ‚Das war ein Krebsfall, den unfer früher Eingriff gerettet het:
So können Statiftifen entſtehen ... Aber ic) darf hier nicht mein Stecc
pferd reiten, fondern nur fagen, wie ich den Fall anjehe. Sehr von Weiter.
Nur VBermuthungen. Darüber find wir doch einig, nicht wahr?“
Ganz einig. Immerhin mag es Manchen beruhigen, zu hören, Wi
ein unbefangener Braftıfer in dem öffentlich Tontrolitbaren Berlauf der ®®
krankung nichts Auffälliges findet, nichts, was Grund gäbe, das Leben de
Kaifers bedroht zu glauben. Eher beruhigen als die allerneuften Berichte go
ſchaͤftiger Offiziöfen, die mit neidenswerther Zuverficht ſchon wieder melde,
in vierzchn Tagen werde die Stimme des Monarchen in unverminderter &e!
gebrauchsfähig fein, der Kaijer werde nächſtens zu Jagden fahren und da
preußifchen Yandtag „ſicher“ felbft eröffnen; von einer Reife nach Italien je
nicht mehr die Rede. Verzögert irgend ein nicht vorauszufehenter Umftan
dennod) die Genefung, dann hat die Klatſchſucht wieder freiaf Raum.
In einem ausländifchen Blatt wurde neulich mit ungemeinem Til:
finn die Frage erörtert, was aus dem Deutichen Reich werden möge, mei
Wilhelm der Zweite nicht mehr Icbe, Daßes fofort auseinanderfallen, burh
katholische, teeifische, überhaupt antipreußifche Tendenzen gefprengt werde
müſſe, ſchien noch nicht ganz ficher. Um fo fiherer, daß dernächfte Kaiferd®
böſen Agrariern, deren dunkles Trachten jegteine eiferne Fauſt niedergming
ins Garngıl,en würde. Dann wäre es mit der induftriellen Weltmacht, mitder
imperial ſtiſchen Expanjion bald vorbei... DieHerren dürfen ſich beruhigen
Nach Meunſchenermeſſen kann der Kaiſer noch Jahrzehnte lang regiren. Mr
find unſere Meinungmacher nicht mitſchuldig an dem dummen Gerede? Mit
ihrem Byzantinismus, ıhren teten Brunftchreien nad) ‚ftarten Drinnen“
und „feiter Zügelführung“ haben fie e8 dahin gebracht, daß man draußen al⸗
mählich vergaß, an das Wichtigſte zu denken: an das Volk, deſſen mündigt
Kraft fich felber den Werth ſchuf, nur felbft fich fein Glück ſchmieden laun.
Formen der Weltgefchichtfchreibung. 399
Sormen der Weltgefchichtfchreibung.
—X frommen Väter, die unter den Seelenhirten der neuſpaniſchen Reiche
im Weſten zuerſt ſich mühten, Ordnung und Ueberſicht in die Ver⸗
jangenheit von Tahuantinſuyun zu bringen, haben wunderliche Mittel ange-
vandt, um die Zeitrechnung der ihnen anvertrauten Volksgeſchichte nach
hrem Wunſch einzurenten. Sie haben Manchem der Inka erftaunlich lange
Regirungzeiten zugemefjen und fchlieglich eine Herrfcherreihe von Jahrtaufenden
ausgerechnet. Fragt man, warum dies wunberliche Kartenhaus aufgebaut
wurde, das auch dem leifeften Hauch wirklichen Yorfcherdranges nicht Stand
hält, fo findet man zulegt, daß die Urheber dieſes harmloſen Truges nur
wünfchten, die Inka-Reihe fo lang auszureden, um fie mit dem vermeintlich
fiheren Zeitpunkt der biblifchen Weberlieferung vom Thurmbau zu Babel
in Uebereinſtimmung zu bringen. Wir lächeln wohl des nuglofen Spieles
einer Tindhaften Forſchung. Und doch: wie fehr würden wir ihr Unrecht
tbun, wollten wir den guten, tief berechtigten Trieb verfennen, der fie zu fo
verfehrtem Beginnen führte! Bor eine neue, um Tauſende von Meilen ent-
fernt gelegene, der alten Welt ganz unähnlide Staats: und Beiltesbildung
geftellt, verzichteten bie priefterlichen &efchichtfchreiber doch nicht darauf, fos
gleich eine geiftige Einheit für den altbefannten und den eben erworbenen
Dei ihrer Wiſſenſchaft Herzuftellen. Und fo falſch das Mittel war, das
fie wählten, ihr Zwed war im Sinn hoher Forfehung Heilig: es galt, eine be-
täubende Fülle neuen Wiſſensſtoffes mit einem Schlage zu bemeiftern, geiftige
Herrſchaft über fie zu gewinnen und fich nicht an das Getümmel von taufend
neuen befremdlichen Einzelthatfachen zu verlieren. Die geiftlichen Herren be-
währten eine Kraft, die nicht jedes der folgenden Zeitalter gefchichtlicher
Wiſſenſchaft aufzuweifen gehabt hätte, am Wenigften etwa das der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Das hätte vielmehr ftaunend und voll
frommer Scheu die köſtliche Menge neuer Königreihen, Schlachten, Kriege und
Reihstheilungen, die da zu gewinnen war, zu Papier gebracht und zu vielen
älteren Wirrfalen unüberfichtlicher Thatſachenmaſſen ein neues gefchaffen.
Wer heute verfuchen will, fich über die Gefammtgefchichte der Menſch⸗
heit einen Weberblid zu verfchaffen, wird vor ähnliche Fragen gejtellt, wie
fie den guten Prieftern aufgeftoßen fein mögen: nur ift die Zahl ber
Schwierigkeiten heute unvergleichlich viel größer. Denn feit der Erweiterung
des Blickfeldes über den Erdball ift bie Reihe der zu bewältigenden, räumlich,
zeitlih unendlich weit auseinander ftrebenden Bollsentwidelungen um ein
Vielfaches länger geworden; mit der Ausdehnung‘ des Arbeitgebietes ber Ge⸗
ſchichtſchreibung über alle Bezirke des gefellfchaftlihen und geiftigen Geſchehens
ift innerhalb jeder einzelnen Volksgeſchichte die Stoffmaffe vielleicht verzehnfacht
82
400 Die Zunft.
worden, gegenüber einer Zeit, der genügte, die äußere Geſchichte und eiszelme
auffallende Wendungen ber inneren Gefchichte eines Volles zu bischen.
Drei Möglichkeiten weltgefchichtlicher Zufammenfaflung bieten fich bezte
dar. Die erfte ift die althergebrachte zeitlicher Ordnung: eine Darftellung
weife, die von ber Zeitrechnung als grunbfäglicher Richtfcehnur ausgeht. Der
einzige kecke, aber trog aller Vorläufigkeit feiner Forfchungmweife verdienſtliche
Verſuch einer wirklichen Erdballgefhhichte, der meines Willens überhaupt ven
einem Einzelnen gemadt if, Wirths Büchlein „VBollsthum und Weltmacht”,
bat diefen Weg in der That eingefchlagen. Doch ift er, wie mir ſcheint.
anf ihm nicht zu Zielen gelangt, die zur Nachfolge loden. Der Sruudias
- zeitlicher Eintheilung ift fo äußerlich, daß ihn die Einzelgefchichte eines Bollkes,
wenn auch nicht ohne ſchwere Schädigungen, aufrecht erhalten farın. Sobald
aber mehrere Bollsentwidelungen zufammengefaßt werden follen, führt er
zu einem äußerfien Maß von Unüberfichtlichfeit oder aber zu &ewaltiam:
feiten. Die zweite Gefahr liegt eigentlich gar nicht auf dem Wege dieſer
Darjtellungweife. Niemand vermag aber heute ihre folgerichtige Durch
führung am eigenen Leibe auszuhalten, die zum Jahrbuh und auf die
geiftigen Höhen der Plötzſchen Tafeln zur Weltgefchichte führt, — es ja
denn, die Ewig-Geftrigen in unferer Zunft gingen auf ihrem Wege van
Ranke zu Thukydides nächfteng über Herodot zu den Logographen zuräd
und erklärten in ſchönem MWechfel einmal deren Forſchungweiſe für bie allein
feligmachende und wahrhaft rechtgläubige. Und fo ift Wirth, der viel Zukunft:
finn in fih hat, zur Zufammenfaffung von Zeitaltern vorgefchritten, bie,
wie es nicht ander8 fein kann, fachliche Zufanmengehörigfeiten voransfegen.
Er hat unerhörte Anftrengungen gemacht, um vorderajiatifche, griechiſch
römische, chineſiſche, indifche Dinge unter die Bezeichnung. eines Zeitalter
zufammenzufaffen. Aber wie wunderlic wechſeln da num die Begriffe:
rihtungen, nad denen diefe Bezeichnungen gewählt find! Meſopotamiſche
Beit, alfo erdbefchreibender Gefichtspunft; Maffifche Zeit, hergenommen doch
wohl von der Geiftesgefchichte, Zeitalter der Doppelbildungen, der äußeren
Staatsentwidelung entlehnt, ozeanifche Zeit, wiederum vom Standpunkte der
Erdbefchreibung. Dazu find die Grenzen dieſer Zeitalter fo meit geftedt,
daß fie eigentlich jeder zufammenfaffenden Kraft ermangeln. Die MHaflifche
Beit, von 1300 vor bi8 224 nad) Beginn unferer Zeitrechnung reichend,
umſpannt eine Reihe von Jahrhunderten, deren Inhalt an Thaten des Geiftes
und de8 Handelns fo ungeheuer und zugleich fo mannichfach if, daß man
den Eindrud hat, e8 handle fich bei der Wahl ihrer Bezeichnung um einen
Ausweg der Verlegenheit. Schlagkräftig fcheint hier nur die Nebeneinander:
ftellung de römifchen und des chinelifchen Weltreiche8 zum Schluß des
Zeitraumes, — eine Aehnlichkeit, mit der doch, ſchaut man fie vom Geſichts-
BR"
Formen der Weltgefchichtfchreibung. 401
punkte des finfenmäßigen Aufbaues der Weltgefchichte aus, wenig erreicht if.
Handelt es ſich doch um ein ganz junges umb ein ganz alte Neid. Eine
etwas ftraffere Bändigung des Stoffes gelingt Wirth im nächften Abfchnitt,
Den er denn auch nad) dem Merkmal eines beftimmten Borganges der äußeren
Staatenbildung zu bezeichnen weiß. Er nennt die Zeit zwifchen 224 und
1350 das Zeitalter der Doppelbildungen. „Das Gemeinfame an ber Ents
wicelung ift, daß im Centrum der alten Kulturzone fi Staaten der alten
Raſſen behaupten“: jo römifches und römiſch deutſches Neich, fo chinefifches
und chinefifch-mongolifches Neich, fo indifche und indifh«mongolifche Reiche,
fo arabifche und arabiſch⸗türkiſche Staatenbildung. Diefe Borgänge ſtaat⸗
licher Kinematik und raffenmäßiger Chemie, wie Wirth fie glüdiich nennt,
find gewiß ihrer Gleichzeitigkeit nach bemerfenswerth, obwohl das byzantiniſch⸗
ruſſiſche Seitenftüd, das Wirth zur Verftärkung des Eindrudes anfügt,
einem ganz anderen Zeitraum angehört; aber man wird fie nicht im höchften,
wohl aber in einem mittleren Sinn al8 Zufälligleiten anfehen dürfen. Denn
folche Aufpfropfungen jüngerer, wilderer und kräftigerer Vollsthumer und
Staatenbildungen auf ältere, reifere und ſchwächere finden fich in fehr vielen
anderen Zeiten. Die altamerifanifche, die babylonifche, egyptifche, die frühere
indifche wie hineftfche Geſchichte find voll davon. Man kann diefe Doppel-
bildungen alfo nicht zu einem auszeichnenden Merkmal diefes Zeitalters
ftempeln. Das aber ift doch Wirths Abſicht.
Gewiß wird keine Weltgefchichte ohne eine genaue Kenntniß ber Gleich⸗
zeitigkeiten auslfommen lönnen. Aber fie wird für die Strede des Weges,
die von der Menſchheit bisher zurücgelegt worden ift, fchwerlich zur Bildung
von innerlichen Zufammengehörigkeiten, fachlichen Eintheilungen führen. Bon
allen früheren Leiftungen ber Gefchichtfchreibung, die an ſich den felben
Weg gingen, braucht in diefem Zufammenhang nicht gefprochen zu werben.
Das Werk, das Ranke allzu anſpruchsvoll Weltgefchichte nannte, in defjen
Dienft er aber noch einmal all ben wunderbar feinen Reiz der Darftellungs:
fraft feiner fpäten Tage und viel von dem tief bohrenden Spürfinn feines
die Forſchung ummälzenden Genies itellte, war eine an fich auch auf dem
wenig zureichenden Drdnungsgrundfag der Beitfolge beruhende Darftellung
der europäifch-vorderafiatifchen Geſchichte; und die Werke, die, nach dem
felben Grundfag geordnet, alteuropäifche und weſtaſiatiſch nordafrikaniſche
Vollksentwickelungen verfchiedenfter Stufen in ein Ganzes zufammengefchweißt
haben, erreichten damit für ihren befonderen Bezirk vermuthlich fehr viel
geringere Vortheile, als ihnen eine Stufentheilung gebracht Hätte. Die alte
Gliederung der europäifchen Gefchichte nur nad der Zeitfolge und ihre
Spaltung in Alterthum, Mittelalter und Neuzeit ift als unzureichend nach⸗
gewiefen. Ueberdies gehören beide Fälle als ausgefprochen gebietmäßig ab»
32°
402 Die Zukunft.
gegrenzte Theildarftellungen ber Weltgefchichte nicht hierher. Ihrer mußte her
nur gedacht werben, weil eine Gliederungweiſe, die ſchon am Theil ih m
zulänglich zeigt, für das vielgefpaltene Ganze noch weniger pafien kann.
Bielleiht vor Allem in dem Gefühl gefunder Abkehr gegen die ıcim
Zeitordnung ift meuerdings der Gedanke rein räumlicher Theilung aufgetelt
und auch fogleih ausgeführt worden. In Bollftredung der Borichläg
Ratzels Hat Helmolt die Herausgabe einer Weltgefchichte unternommen, der
man bie Ungleichwerthigfeit ihrer Beiträge nicht fo fehr wie die Kühnker
und das Verbienft des ganz neuen Örundgedantens anrechnen muß. Zmerfellos
bat dies Buch durch fein mwerkthätiges Eingreifen die Unmöglichkeit des De
harrens auf dem räumlich fo übel beengten ranfifchen Gefchichtplan zuerf
nahdrädlih vor Augen geführt. Bei aller Anerkennung dieſes Sadver
balte8 wird man aber die Nichtigfeit des gewählten Ordrrung-Grundiages
anfechten müfjen. Eine füdamerifanifche Gefchichte, die ſich zuſammenſch
aus der Schilderung der Naturvöller im Süden und Dften des Welttheile,
aus einer Öefchichte von Alt Peru, der der [panifch-portugielifchen Siedlungen
und ber der heutigen Freiftaaten, deren Zuftand einen blaffen Abflatid
europäifcher Verhältniſſe darftellt, ift der Folge ihrer VBeftandtheile na
eine Unmöglichkeit. Der Grundfag rem erdlundlicher Eintheilung be
Weltgefchichte ruht auf dem Gedanken, daf die Geſchichte eines Volles dei
Erzeugniß de8 Bodens fei, auf dem es erwachſen if. Diefer Begräubung
fhlägt ein Sachverhalt wie der füdamerifanifche ins Geſicht. Noch übler
iſt, daß er eigentlich nirgends völlig und nicht allzu oft überwiegend buch
die geichichtlihe Wirklichkeit beftätigt ift. Faſt alle großen Bildungen geiftige
und ftaatlicher Eigenthümlichkeit, die da8 Erdenrund aufmeift, find durh
eingewanderte Völker gefchaffen worden: fo die aller europäifchen Länder, ſo
die meiſten Vorderaſiens, fo die Egyptens, Indiens, Japans, vielleicht anch
Chinas. In jedem disfer Fälle — und was bleibt von der Befchichte des
Erdballes ohne fie übrig? — müßte alfo zum Mindeſten die Einwirkung
zweier Ränder auf die Gefchichte jede Volkes unterfucht werben: feine
Siedlung: und feines Urfprungslandes. Wie ſchwer würde «8 fein, ſchon
biefe beiden Formen der Einwirkung von Boden und Himmel auf Menſchen⸗
und Völker-Schickſal auseinander zu halten, und wie oft würde ſich biefer
MWerdegang dadurch noch außerordentlich verwideln, daß auch die durchwo
derten Linder von ihrem Einfluß an das fie durchziehende Volk abgegeb
haben! Der nicht eben vorſichtige, aber geiftreiche fFranzofe Demolins woll
in feinem Bud „Comment la route erée le type social‘ gar beweifen, &
der Reiſeweg einem Volk oder einer Völkergruppe die entfcheidenden Mer
male feiner Eigenart mitgebe. Dan bemerfe bei al diefen Einwänden wol
baß der eigentlihe Grundgedanke der helmoltifchen Darftellung nicht an
Formen der Weltgefchichtichreibung. 403
taftet, ja, nicht in den Teifeften Zweifel gezogen ift: der Gedanke der Ein-
wirkung des Landes auf die Gefchicte feiner Bewohner. Aber ich finde,
die Gründe, die gegen eine wiflenfchaftliche VBehanptung vorgebradht werden,
find dann immer befonders fchlagfräftig, wenn fie ihrem eigenen Borftellung-
kreife entnommen find.
Far den Gefchichtfchreiber ausfchlaggebend bleibt aber. ein anderer Ein
ward gegen den Grunbfag räumlicher Theilung. Das Ziel all folder Glie⸗
derungen des überreichen Stoffes ift feine beffere Ueberſichtlichleit. Es handelt
fih darum, bei welchem Ordnungsgedanken am Meiften innerlich Zuſammen⸗
gehöriges zu einander geftellt, am Meiſten fachlich Verfchiedenes deutlich von
eimander getrennt wird. Sicherlich bat bie Ländertheilung der Gefchichte
den Borzug, bie Einwirkungen von Boden und Himmel auf Art und Schickſal
der Völker kennen zu lernen — wozu übrigens in biefem Sammelwerk oft
nur die erſten VBorausfegungen gefchaffen find —, aber fogleich erhebt ſich bie
Frage, ob für diefen einen Vortheil der Zufammenfaffung fonft getrennter
Erkenntnißmaſſen alle die Nachtheile der Auseinanderreißung zufammenge
böriger Dinge in Kauf zu geben find. Man hat mit Recht darauf hinge⸗
wiefen, daß, wenn man fchon fo bodentheilend verfahren wollte, es richtiger
gemwejen wäre, ganze Länderkreiſe zufammenzufaflen. Das ift nicht felten
gefchehen; an entjcheidenden Stellen aber hat man davon Abftand genommen.
Ungleich wichtiger aber ift, daß die werfchiedenften Volksthümer und Raſſen,
fobald fih nur ihr Dafein auf dem felben Schauplag abgefpielt hat, über:
einandergepadt erfcheinen,; und den Ausſchlag giebt, daß ein noch bunterer
Wirbel von Entwidelungftufen al8 Ganzes und Zufammengehöriges erfcheint.
In beiden Hinfichten rächt fi, daß die örtliche Eintheilung gewiſſermaßen
nur im erften Gefchoß des Aufbaues maßgebend ift, während in allen höheren
Schichten des Gebäudes der alte Theilungsgrundfes der Zeitfolge, fogar
meift in befonderer Schroffheit, durchgeführt erfcheint und alle ihm anhaftenden
Nachtheile Hinter fich zieht.
Nein: weder die Einheit des Ortes noch die der Zeit bietet als Nichts
ſchnur der Gliederung die meiften Vortheile. Und drittens wird man and
eine letzte Möglichkeit nicht annehmen dürfen, die wunderbarer Weile noch
nicht gewählt worden, die zu erörtern aber heute trogdem geboten ift, da
man ficherlich in kurzer Zeit auch fie verfuchen wird. Während nämlich heute
in den Grenzbezirken der Gefchichtfchreibung, in denen Wiffenfchaft und Tages⸗
fohrififtellerei einander berühren, um nichts fo viel &eräufch gemacht wird
wie von der Raſſe, ift, jo weit ich fehe, noch Niemand auf den nah liegen=
den Gedanken gelommen, vom Gefichtspuntt der Raſſe eine Gliederung des
weltgejchichtlichen Stoffes zu -verfuchen. Wirth bemerkt zwar fchon übel,
wenn in einer europäifchen Kulturgefchichte, die e8 doch nur mit Splittern
404 Die Zukunft.
einer Raſſe, ja, nur eines Naffentheiles, nämlich des arifchen Gliedes ie
Kanfafifchen Raſſe, zu thun hat, meines Erachtens alfo in Naffenfragen g:
nicht zuftändig ift, von ihmen nicht die Rede ift, und er bat in feinem Ex
wurf einer Weltgefchichte fehr nügliche Winke für Raffengefchichte gegebe;
aber er bat e8 verfhmäht, fie zur Richtſchnur für feine Eintheilug y
machen. Wenn heute aber ein Vertreter der Volkerkunde, ähnlich wie Rap
als Erdkundiger, den Anftoß zur Entftehung einer Meltgefchichte gäbe, ſe
würde ein Gebilde entftehen, das mindeftens eben fo viel, wenn nicht ned
mehr Anregungen gäbe als Helmolts Unternehmen. Es wäre fehr vorthel:
haft, eine Gefchichte der Mongolen im allen ihren Zweigen, von Salenl
bis Tokio, mit einem Blick zu überfehen. Die Schidfale der rothen, de
malanifch:polynefifchen, der ſchwarzen Naffe könnten eben fo wohl zur Eine
gegliebert werden und in dem Untheil der dreigefpaltenen Kaukañer fümt
das Werk gipfeln, die Geſchichte des Siegerd unter den Rafſentheilen, de
Arier, müßte es Erönen. Der große Nachtheil der helmoltifchen Theilunz
die grob äußerliche Zufammenzwingung an Blut und Schidfal fremde
Volksthümer zu Ortseinheiten in Amerika, Auftralien und großen Theiler
von Afrika und Aſien, wäre vermieden. Daneben könnte dem guten um
baltbaren Kerngedanken erdkundlicher Gefchichtfchreibung fehr wohl Rednuss
getragen werben: benn alle Lehre von den Raffen und ihren Unterjciees
führt auf die Einwirkungen von Boden und Himmel zuräd. Kaffe heit über:
haupt, wenn ich den Begriff recht verftehe, nichts Anderes als die Summt
von Eigenfchaften Leibes und der Seele, bie eine Völfergruppe durch bie #
umgebende Natur, duch Boden und Himmel in der entfcheidenben Zeit ihrs
Werdeganges einmal, einftmals erhalten bat. Und da im den meiften Fuller
biefe Einwirkung in einem anderen Rande al3 dem ihrer endgiltigen Siedelurg
flattgefunden hat, fo handelt e8 fich hier im Grunde auch nur um jene Unter
ſcheidung zmwifchen Urſprungs- und Wohnfigland, von der fon einmal die Reit
war. Exbfundliche Begriffe liegen aber beiden Betrachtungskreiſen im ſelben
Maße zu Grunde: der Raffengefchichte ganz eben fo wie der Ländergeſchichte
Doch auch diefen Weg einzufchlagen, fcheint nicht räthlich. Dem
thurmte man, auf der Grundlage der Raffentheilung, wie bei Helmolt, wieder
nach dem Grundfag der reinen Beitfolge den Oberbau auf, fo würden im
Rahmen fo umfaffender Raffen wie der mongolifchen wieder die größten Gegen⸗
füge zu einer Einheit zufammengezwungen, wie etwa die finderjungen Hirlen⸗
ſtämme Turkeſtans mit der hohen Reife des heutigen Japan.
Tie Mängel aller drei Mlöglichleiten weifen nach einer Richlung—
Nicht Zeit- noch Orts: noch Bluts-Gemeinſchaft leiftet die befte Gewaͤhr fit
überfichtliche Zufanımenfaffung, fondern der Gedanke der fachlichen Zuſammen⸗
gehörigleit gewiſſer Völferzuftände, der nicht an Ort, an Zeit, an Verwandt:
f
Formen ber Weltgefhichtfchreibung 405
ſchaft gebunden if. Auch er ift keineswegs losgelöft von der Borftellung
bes zeitlichen Nacheinander, die ben innerſten Kern und das ausgleichende .
Merkmal aller Geſchichtwiſſenſchaft ausmacht, aber er ift mit ihr eine eigen-
thumliche Verbindung eingegangen, die ihn über die Abhängigkeit von der
reinen Gleichgiltigkeit hoch hinaushebt: er gipfelt in der Behauptung, daf
den Inhalt der Weltgeichichte eine Folge von Zuftänden ausmacht, die fich
bei allen Völkern und Völlertheilen in gleichem Nacheinander aufweifen läßt,
von ber nur die einzelnen &lieder der Menſchheit fehr ungleiche Bruchtheile
durchlebt haben. Während die eimen noch heute in der Kindheit verharren,
find andere zu blühender Jugend, noch andere zu ſtarker Manneskraft gelangt,
während einige bis zu bedächtigem Greifenalter, bis zur Höhe des Lebens
vorgedrungen find; wobei das Gleichniß ber Xebensalter nur einen leife an⸗
Hingenden, durchaus nicht einen buchftäblich genauen Vergleich andeuten joll.
Es ift ein Stufendau der Weltgefchichte, den alle Völfer emporge:
Hommen find; nur ließ der einen kindliche Kraft fie noch heute nicht über
die erfte Staffel hinauskommen, während die höheren Stufen von ben befleren
Steigern eingenommen werden. Daß die Vertheilung des weltgefchichtlichen
Stoffes, die diefer Grundgedanke zur Folge hat, gewiſſe Nachtheile mit fich
bringt, ift nicht wunderbar; und begreiflicher Weife find e8 die, denen die
Vorzüge der anderen Gliederungarten entfprechen. Weite Zeiträume müfjen
überfprungen werben: nimmt man an, daß das Tarolingifche Königthum der
Germanen ber Alleinherrfchaft der eguptifchen Pharaonen des alten Reiches
wahlverwandt ift, fo bedeutet eine folche Zuordnung einen Sprung über vier
Sahrtaufende. Und ſchließt man, was nur folgerichtig ift, daß der Werde
gang des egyptifchen Volkes die Urzeitftufe fpäteften® 3500 vor Beginn unferer
Zeitrechnung verlafien haben muß, auf der örtlich nahe Neger: und nächſt
benachbarte Araberftämme noch heute verharren, To handelt e8 ſich gar um eine
Beitentfernung von etwa fünfeinhalb Jahrtaufenden. Und dennoch bedeutet jene
s fachliche Zeitordnung. mehr als die Scheinordnung ber reinen Zeitfolge.
Eben fo jäh wird auch der örtliche Zufammenhang von dieſer Stoff>
gliederung durchbrochen. Das Reich der Inka ift um ein Drittel des Erb-
umfanges von dem Zmwei-Ströme:Land der babylonifch:affgrifchen Geichichte
geihieden und ift ihm doch an Entwidelungreife nah benachbart. Und mehr
als fechstaufend Kilometer find e8 des Weges vom Hochſit der altperuanifchen
Staats- und Geiftesbildung bis zum Bufen von Pe⸗Tſchili: und doch bes
fteht zwifchen dem Reich von Zahuantinfuygu und dem von China eine
Wahlverwandtfchaft nicht nur der flaatlihen, fondern auch der gefellfchaft:
lihen Ordnung.
Die felbe Durchbrechung auch der Raffengliederung ift die nothwendige
Folge einer ſolchen Stufenordnung: die altamerifanifchen Völfer höherer Bil-
406 Die Zuhmft.
dung müſſen von ihren nächften Blutsverwandten, den Waldindionen vVn
filiend oder den Jägerſtämmen von Norboftamerile, eben fo weit geinsz
werden wie Araber des Kalifate von den ſchweifenden Hirtenſtämmen de
arabifhen Mutterlandes. In beiden Fällen aber ift auch für den ein
Augenschein Thon der Nachtheil durch nene Vorzüge aufgewogen. ‘em 3
fammenftellung örtlich weit getrennter und doch gleich) hoch entwickelier Linie
wird den Sinn für die Einwirkung von Boden und Himmel auf bie &
ftaltung von Völferart und Völkerfchidfal kaum weniger fchärfen als die Te
obachtung einer Zandesgefchichte durch die auf einander folgenden Schiht
mehrerer Volksthumsherrſchaften hiudurch. Und vollends eine wiflenidet
liche Raffenlehre, für die e8 heute freilich noch an den erften Bormusjegung:
gefchichtlicher Kenntniß fehlt, iſt kaum möglich, wenn ihr nicht eine fur
fältige Unterfuhung der Stufengefchichte der Dienfchheit vorausgegangen #
Denn ich hoffe, zeigen zu können, daß unfäglic) Vieles, was heute als Ratte
unterfchied gilt, nur Stufenunterfchied if. Und ehe man bie Beſonderheim
die Vorzüge und Mängel der einzelnen Raſſen erkennen kann, wird nöd
fein, fi ihrer Gemeinfamteiten bewußt zu werben. Das heute fo belice
blinde Zufchlagen in Raffendingen mag ja fehr dienlich fein für die Zweit
werkthätiger Weltftaatskunft, aber die Wiffenfchaft hemmt es und fördert d
nicht. Wer da meint, es handle ſich nicht darum, Aehnlichkeiten aufzuftele,
die zu entdeden wenig nüge — wie Wirth —, Der ift im Irrthum. Tem
ich finde, die Befonderheit fängt bei Raſſen, wie in allen anderen gefdiät
lichen Vergleichen, erft da an, wo die Gemeinfamkeit aufhört. Und felhit 5
Hinſicht auf die Stimmung nur if, finde ich, durch willfürliche Eingrenzung
de3 eigenen Blidfeldes wenig gewonnen. Ich bin froh und ftolz, ein Are
froher und ftolzer noch, ein Germane zu fein. Aber darüber nicht den Be
meinbefig mit anderen Raffentheilen und Völfergeuppen fehen zu wollen, #
eher ein Zeichen von Schwäche als von Stärke. Der Reft von eigener Ad,
der uns dann noch und num erft gefichert verbleibt, ift groß genug: er Bl
ausgereicht, um unferen Völkern die Herrfchaft über die Welt zu verihafte
Ein die Sache, nicht mehr nur die Form angehender Gedante ift Dr
mit freilich fhon gefordert: die Einheit und Zufammengehörigfeit bes Menſchen⸗
gefchlechtes über alle BVerfchiedenheiten von Raum, Zeit und Blut ing.
Doc er läßt fi nicht durch allgemeine Behauptungen, fondern nur durch
einzelne Belege beweiſen. Daß Dies geſchehe, iſt eins der wichtigſten Ziele ber
folgenden Darlegungen.
Nur noch eine Vorfrage ift zu erledigen: woher ift der Maßſiab 1
nehmen, an dem Weglänge und Wegleiftung al der Hunderte von Bilkm
und VBölkerfplittern abzulefen find? Nur um grobe Scheidungen lann ed
ſich handeln. Schon der Gleihnifbegriff Stufe lügt: er täufcht eine Grenf
a
Formen ber Weltgeſchichtſchreibung. 407
ſchärfe zwifchen den einzelnen Streden des Werbeganges der Dinge vor, die
die MWirklichkeit felbft nicht aufweiſt. Der Fluß der Weltgefchichte gleitet
ftetig und eben dahin, und läßt man ſich nicht durch das unruhige, aber meift
nur fcheinwichtige Gekräuſel der äußeren Staats⸗ und Kriegsgeſchichte trügen,
fo ift fat immer ſelbſt an wirklich trennenden Stromfchnellen Mangel. Die
unendliche Zufammengejegheit und Gebrochenheit menfchlichen Handelns ver=
hindert eine Gradlinigfeit und Sauberkeit des Berlaufes, wie fie unferem ſcheide⸗
luſtigen Berftand erwünfcht, wie fie aber unferer eigenen Schauluft fehr un⸗
willtommen fein würde. So will denn jede Gliederung gefchichtlichen Stoffes
nur unter Vorbehalt verjtanden werben. Aber fie ift nicht nur nothwendig,
damit unfer Blid das umendlihe Wirrfal des Einzelgefchehens überfehen könne,
fondern fie ift auch berechtigt, fobald man nur keinen Augenblid vergißt, ba
die Zeiträume nicht durch fcharfe Linien, fondern durch breite, nach beiden
Seiten: wiederum unficher verfchwimmende Uebergangsfireifen getrennt werden.
Die vorherrfchenden Merkmale werden fi naturgemäß in der Mitte des
Weges deutlicher finden als an den Grenzen. Aber damit ift auch allem
billigen Erforderniß genügt.
Für weithin brauchbare Stufenleitern von ſolchen Merkmalen wird
man wohl thun, ſich an die greifbarften, gröblichften unter den Entwidelung-
reiben der Gefchichte zu halten. So ift vor Allem richtiger, vom handelnden,
nicht vom geiftigen Dichten und Trachten der Völker auszugehen: die ‚harten
Wirklichkeiten des gefellichaftlichen, alfo des Staats- und Wirthichaft-, des
Klaffen- und Familienlebens find gröber, find feſter umriffen und deshalb
befier zu befchreiben; fie find aber auch dauerhafter, nicht fo raſchem unb
leichten Wechfel unterworfen. Für meite Streden der europäifchen Gefchichte
läßt ſich nachweiſen, daß auf ihnen gerade doppelt fo oft ein Richtungwechſel
der geiftigen wie der gejellichaftlichen Entwidelung eingetreten if. Die Natur
der Dinge führt felbft zu diefem Unterfchied: fo viel Mühe es auch koften
mag, die Kunft eines Volles oder einer Völlergruppe aus einer der Wirk-
fichleit fernen in eine der Wirklichkeit nahe umzuwandeln, viel härteren Wider:
ftand bieten doch die Jahrhunderte alten und von der zähen Selbftfucht herr⸗
ſchender Gefchlechter oder Klaſſen vertheidigten Einrichtungen der Staaten.
Unter ben einzelnen Gefchichtreihen, aus denen fich der Werdegang der
Gefellihaft zufammenfegt, wird man wiederum die gröbfte und greifbarfte
auswählen müflen: es ift die der ftaatlichen oder — in frühen, wie vielleicht
wieder in fünftigen Zeiten — ftaatähnlichen Ordnung. Die Berfaffung zuerft
der als Staat auftretenden engeren Blutsverbände, der Gefchlechter und Völlker⸗
fhaften, fpäter der zu Staaten geeinten Völker wird immer die ficheiften
Kennzeichen und Merkmale der Zeitalter abgeben. Nur darf darunter nicht
die Staatsform allein verftanden werden, denn fie kann fehr mannichfache
408 Die Zukunft.
Wirklichleiten deden: ein Königthum kann einen Gefchledhterfiaat, die Are
herrſchaft eines unumſchränkten Herrn, ein ſchwaches Königthum an te
Spige eines übermächtigen Abel, ein aufgeflärt felbfiherrliches Eönigthen
ein fcheindemofratifches Caeſarenthum und ein verfaſſungmäßig eng eng
ſchränktes Furſtenthum bedeuten. Nur im Zufammenhang mit der Jamilzr
verfaflung, wo fie wichtig ift, mit der Klaſſenordnung, mo Diefe eintritt, Is
die Stgatöform recht verftanden werben.
Daß fie bier zur Richtſchnur gewählt wird, geichieht nicht ber kim
herrſchenden einfeitig ſtaatlichen Gefchichtauffaffung zu Liebe. Denn da me
Süd der Staat ein Mittel — eins unter mehreren — und nicht der Je
des öffentlichen Lebens der Menſchheit ift, jo darf die Sefchichtfchreibum
vorfichtiger Weife nicht diefe — zufällig unferen Erdtheil und unfer Ichr
taufenb beherrfchende — Form gefellfchaftlicher Einung als alleiniges Ziel dirie
Forſchens anfehen. Der Staat ift eine Möglichleit — eine unter mehren
geweſenen und noch mehreren denfbaren Möglichkeiten — der Lebenseinrich
tung bes Menfchengefchlechte® und er ift ferner nur eine unter mehrer
Formen gefellichaftlicher Gemeinfchaft: wer ihn nicht als der Familie, ben
Stand, der Klaſſe, dem Volk, der Raſſe gleich geordnet erlaunt hat, De
hat noch nicht über die erften Vorausſetzungen geſchicht- und gefellfchak:
wifienfchaftlicher Forſchung Klarheit erlangt. Aber freilich ift der Staat be
feftefte, kräftigſte, widerftandsfähigfte diefer Genoflenfchaftformen ; und gliedern
man ihm für die Sindheitzeiten der Mienfchheit die Vor- und Keimformer
der ftaatartig auftretenden Blutsverbände an, trägt man auf höheren Stufe
ber Einwirkung der lodereren Lebensverbände, insbeſondere der Stände us)
Klafien, Rechnung, fo vermag diefe knochigſte Linie ber Gefellichaftentwide
lung am Beten da8 NRüdgrat im Gliederbau der Weltgefchichte abzugeben.
Man wird einwenden, es fei richtiger, von der Wirtbichaftgefchichte ams:
zugehen. Ich kann mich dazu noch immer nicht belehren. Für den Zwed
der Aufftellung einer Stufenfolge der MWeltgefchichte ift fie jedenfalls minder
geeignet, weil ihre Stufen viel zu weit und umfaflend find, al dag man fie
mit Nugen zur Beitenfcheidung verwenden könnte. Wie lange Entwidelung-
ftreden mußte nicht der eigentlich gefellfchaftliche Werdegang, der von Fa⸗
milie, Staat und Stand, durchmachen, während die wirtbfchaftliche Entwides
fung nocd immer in der Naturalwirthfchaft verharrte! Und auch die Formen
ber Jäger, Hirten und Ackerbau-Wirthſchaft greifen viel zu eng verzahnt
in einander über, al3 dag man fie zum Maßſtab machen bürfte.
Tiefer und weiter zugleich reicht die gefellfchaftsfeelifhe Deutung
der Zeiten, die, je nach ber Stellung, die das handelnde oder fehauende
Ich zur Außenwelt einnimmt, die Räume fheidet. Doch fo unanfechtbar
eine Gliederung wäre, die von biefem Standpunlt aus vorgenommen würde:
Der freie Pſalm. 409
Re möchte für ben augenblidlihen Zwed einer Zufammenfaflung nicht hin⸗
reichen. Sie würde leicht den Verdacht erweden, zu weitmafchig zu fein, zu
ausgedehnie Begriffe anzuwenden. Sie ift wohl verwendbar als letzte Schluß⸗
formel, aber fie würde, angewandt auf die volle Mannichfaltigleit der kaum
überfehbaren Menge der Bollsgefchichten des Erdballes, nicht tief genng im
die Wirklichkeiten hineinfaſſen. Sie würde von einer legten allgemeinen Ge⸗
meinfamteit reden und die hundert einzelnes befonderen Gemeinfamleiten,
deren Borhandenfein viel erftaunlicher ift, nur vermuthen laſſen, da fie fie
nicht auffällig genug an den Tag legen Fönnte.
Am Walchenſee, Auguft 1903. Profeffor Dr. Kurt Breyfig.
Der freie Pſalm. |
ge eine ragende Höhe, dem Himmel nah,
Daß ich faft wie ein Gott die Erde da drunten fah,
Riß mid ein klarer Traum, 'ein Schöpfer und Deuter, empor.
Da braufte empor an mein Ohr der Menfchheit Ehor:
„Dunkel find die Wege der Erde.
Wir hungern und frieren.
Wer forgt, daß es lichter werde,
Daß wir uns nicht im Nebel verlieren ?
Ihr Großen der Erde, die wir erfüren,
Führt Eure Heerde!”
Auf meiner ragenden Höhe, dem Bimmel nah,
Saft wie ein Bott Maräugig ward ich da,
Daß ih die Menfchen drunten fich rotten fah
-Mit Iodernden Armen: „Ihr Starfen, Erbarmen, habt Erbarmen!”
Und da fah mein Blick vor den Heerden Führer erftehn:
„Ihr habt hierher, Jhr dorthin und dorthin zu gehn!
Und daß Ihr die rechten Wege findet durchs Keben,
Wollen wir Euch hier diefe Wanderſtäbe geben!
Hier haft Du Deinen Stab und Du und Du!
Und nun wandert an Euren Stäben dem Ziele zu.
Wir Starfen haben die Stäbe für Eucd, bereitet.
Unfer Wille ift Ener Gebot! Er ifts, der Euch leitet!“
AD ı Die Zutmtt.
Und nun fah ich die Menfchen drunten an ihren Stäben Fendyen,
Auf allen Wegen, dem Dunkel entgegen, ihr Siel zu erreichen ..
Und wieder empor an mein Ohr hört’ ich der Menſchheit Chor:
‚ „Aun gehn wir an unferen Stäben durchs Leben,
Doch unfre Herzen beben.
Wer kann unfern Seelen die Ruhe geben?
Die Erde ift dunkel.
Doch dort droben über den Wolken, was ift dort droben fu a
Gefunfel?
Wer wohnt dort oben? Sollen wir ihn fürdten oder loben?
Wer wohnt dort oben in den ewigen fernen über den Sterne?”
|
Und wieder fah ich von meiner Höh’ vor den Menſchen Führer erürk,
„Ihr habt hierher, Ihr dorthin und dorthin zu gehn! '
Und daß Ihr die rechten Wege findet durchs Leben,
Sollt Ihr uns erft Eure feften Wanderftäbe geben!“
Und fie nahmen die Stäbe und fchnitten Zeichen und Runen binet:
„Wir wollen Euch weihn, Ihr Stäbe,
Ihr follt geweiht und geheiligt fein!
An Euch, nur an Euch wandern die Guten ins Leben hinein‘
Dort drüben die Andern können nimmer ihre Stäbe fo göttlicdy weibn
Und nun fah ich die Menfcen an thren geweihten Stäben durchs Ken
feuchen,
Auf allen Wegen, dem Dunfel entgegen, ihr Siel zu erreichen,
Und dort als ärmliches Siegeszeihen, wie Kanzen, ihre Stäbe a:
Gräber pflanzen.
Und da, wie ich hoch oben, dem Himmel nah,
Saft wie ein Bott, da drunten der Menſchen Gewimmel fab,
Da dehnte unendliches Leid und doch, auf meiner freien Höhe, unendlich
£ujt meine Bruft,
Und ich nahm meinen Stab,
Den mir einft vor dem Wandern ein Bruder gab,
Und wie Chonar, der Bott, fchleudert’ ich ihn auf die Erde hinab,
Dielleiht auf mein Grab...
Ich aber will nie mehr hinab, nie mehr hinab ins dunkle Leben!
Ic will ohne Stab, ohne geweihten Bettelftab mein Grab erftreben ....
Prag. Bugo Salus.
=
Grenzgarniſonen und Train. 411
Grenzgarniſonen und Train.
DS)‘ forbacher Vorgänge haben allerlei Vorſchläge ans Licht gebracht,
die eine Wieberkehr ähnlicher Dinge verhüten ſollen. Im Hinblid
wmf die früheren Borlommniffe in Mörchingen, Infterburg und Gum-
binnen find auch Vorſchläge zu beflerer Stellung und verbeflerter Juſammen⸗
ſetzung der Offiziercorps der Kleinen Grenzgarniſonen aufgetaudt. Nur
in Theil diefer Vorſchläge fcheint mir brauchbar. Zu den unpraftifchen
zehört ber, die Dffiziercorpß der Heinen Grenzgarniſonen nur aus Elite zu
bilden, da die franzöfifchen Grenzarmeecorps eine Elite von Offizieren auf:
wiefen. Wenn man bdiefem Borfchlag folgte und die Dffiziercorps der Heinen
Brenzgarnifonen der Armeecorp8 XV und XVI in Elfaß: Lothringen und
bie der Armeecorps I, V, VI und XVII m Oft: und Weftpreußen, Pofen
und Schleſien nur ans Elite zufammenfegte, fo würde, da wir ohnehin mehr
als ein Dugend Garderegimenter und eine ähnliche Anzahl der Garde gleich
Rehend erachteter Regimenter haben, für die Abrige Armee nicht allzu viel Elite
mehr übrig bleiben. Das deutfche Offiziercorps aber vermag ſich nur dann
auf feiner Höhe zu halten, wenn e8 namentlich in feinen drei Hauptwaffen
Döllig Homogen und überall Elite bleibt; fchon das Eliteprinzip der Gardes
regimenter kann als bedenklich gelten.
Die Zufammenfegung der Offiziercorps in den Meinen Grenzgarni⸗
jonen darf nicht anders fein als die des Durchſchnittes im übrigen Heer.
Dazu ift aber nöthig, daß die Strafverfegungen in diefe Sarnifonen auf:
hören; man behauptet ja, daß diefe Berfegungen vielfach Perſönlichkeiten
treffen, die Etwas auf dem Kerbholz Haben. Der Vorſchlag, den Offizieren
ber Örenzgarnifonen alljährlich längeren Urlaub und das zur Fahrt in die
Heimath nöthige Reifegeld zu gewähren, ift gut gemeint, aber kojtfpielig; und bie
Beamten der Grenzorte könnten fchlierlich mit faft dem felben Recht das Selbe
verlangen. Schon deshalb würde auch eine befondere Gehaltszulage für die
Dffiziere der Grenzgarnifonen zunächſt auf Widerfpruch ftoßen.
Werthvoll fcheint mir nur der Vorſchlag, die unteren Chargen, zu:
nächft den Lieutenant, in einem eiwa dreijährigen Turnus aus den Heinen
Örenzgarnifonen ins Landesinnere zu verfegen. Die Hauptfache aber wird
immer fein, daß zu Regimentskommandeuren und felbftändigen Bataillon-
fommandeuren in den Heinen Grenzgarnifonen nur Perfönlichkeiten ernannt
werben, die für die Leitung eines Difiziercorp8 ganz befonder8 befähigt find.
Zwar fol jeder Kommandeur ein Offiziercorps leiten lönnen; body das Maß
der Begabung dafür ift verjchieden und diefe Begabung ift unter den fchwierigen
Verhältniffen der Grenzgarnifonen offenbar noch wichtiger als fonftl. Der
Kommandeur muß da einen befonders fcharfen Blid für die Beurtheilung
412 Die Zukunft.
er Charaktere feiner Dffiziere und ihrer Beziehungen zu einander habe:
er muß alles Bemerlendwerthe, was im Offiziercorps vorgeht, erfahren, za
danach eingreifen zu fönnen, und er muß, ohne zu „repräfentiren” — bi
Pflicht ift bekanntlich nur dem Kommandirenden General zugedacht —, u
feinem Haus den Mittelpunkt der einfachen Gefelligkeit bilden, bie im da
Heinen Garnifonen befonders gepflegt werben muß, damit der Offizier Ir
regung findet und mit feiner Lage zufrieden ift.
Der „eiferne Beſen“, der in Forbach gebraudt werden foll, Tisz
naturgemäß ja nur auf die dortigen Verhältniffe und das Dffiziercorps di
forbacher Trainbataillons wirken; wo ähnliche Berhältniffe noch nicht and &
gelommen find, muß von ſolcher Härte Abftand genommen werden. Ganz verfiel
wäre auch ber Gedanke, nun etwa gegen bie ganze Traintruppe und ihr Offtze
corp8 vorgehen zu wollen. Auch für die Verbeflerung diefer Truppe find Ber
fchläge gemacht worden, die mir nicht annehmbar fcheinen. So namentlich der, yet
Difiziercorps des Train folle ein DurchgangBoffiziercorp8 werden; man folle be
ſonders gut empfohlene Difiziere aller Waffen unter Borpatentirung im den Trez
verfegen und diefen Difizieren den Eintritt in den Generalftab, die höke
Adjutantur und die höchiten Heeresftellen ermöglichen. Soll das ganze Tram
offiziercorp8 aus ſolchen Offizieren beftehen, fo würde dadurch, unter Her
minderung bes Werthes der übrigen Offiziercorp8 und Truppen, eine Tee
Elite geſchaffen; wird aber nur ein Theil folder „Springer“ in ben Trau
verfeßt, fo würde dadurch bei ben übrigen Trainoffizieren Unzufriedenhe
und Unluft am Dienft erregt, da fie jich gewilfermaßen ald Offiziere zmeikt
Kaffe in ihrer Garnifon fühlen würden. Nicht minder unhaltbar ift der Bor
Schlag, Offiziere, fogar Rittmeijter, zum Train abzufoımmandiren und ihm
vielleicht ihre Uniform zu laſſen, fie alfo nicht in diefe Truppe zu verfegen
Solde Maßregel würde das Gefühl dauernder Zufammengehörigleit mit diefer
Truppe nicht aufkommen laffen; von wirklichem Corpsgeift, von einem Auf
gehen in den Dienft gerade diefer Truppengattung könnte dann nicht meh
die Rede fein, namentlich nicht, wenn die ablommandirten Offiziere bie Unt
form ihrer früheren Negimenter behielten. Wenn früher Offiziere ber Feld—
artillerie zeitweilig zum Train verfegt und dann, meift mit Beförderung, zu
ihrer Truppengattung zurüdverfegt wurden, fo geſchah Das nicht etwa, mm
den Zrainoffiziercorp8 beſonders tüchtige Offiziere zuzuführen, fondern, weil
den Train überhaupt die Dffiziere fehlten. Zu diefem Mittel wird man,
falls der heute bereit3 wieder beginnende Offigiermangel beim Train ſich feigert,
boraußiichtlich wieder zu greifen gezwungen fein; und Offiziere der Feld:
artillerie find für diefe Aushilfe um fo mehr geeignet, als fie mit Kriegs
fahrzeugen, Geſchützen, Progen und Munitionwagen, ſchon umzugehen ver
ftehen; diefe Kenntnig haben die Kavallerie: und Infanterie-Offiziere nicht.
Srenggarnifonen und Train. 413
Huch ift die TFeldartillerie fo überfüllt, daß nach dem neuften Erlaß bis
uf Weiteres Fahnenjunker bei diefer Waffe nicht mehr angenommen werden.
Der Offiziermangel, der nicht nur in der Infanterie (wo ungefähr 13 Pro:
zent der etatmäßigen Lientenants fehlen), fondern auch don in der Kavallerie
und im Train fühlbar ift, erfchwert natürlich überhaupt die Aufgabe, dem
Train befonders tüchtige Offiziere zuauführen. Vielleicht Fönnte eine Gehalts-
zulage, die den Eintritt der Fahnenjunker beim Train erleichtert, auf die An-
zahl und Auswahl der Trainoffizierafpiranten günftig einwirken. Die bamit ver⸗
bundene geringe Belaftung des Militärbudgets könnte faum ind Gewicht fallen.
Allerdings kommt eine Mehrforderung zur anderen und e8 ift fchwierig, in
einem über 600000 Mann ftarten Heer alle Berbältnifle ideal auszugeftalten.
Das gilt befonders für eine Truppe, bie, wie der Train, nicht „Waffe“ ift.
So unerfeglich und wichtig diefe Truppe auch für den Krieg ift und
fo ehrenwerth und tüchtig ſich auch ihr Dffiziercorpg, mit Ausnahme des
jängften, vereinzelten Falles, gezeigt hat: bie Zufammenfegung diefes Offizier:
corps wird doch fletS der Umftand erfchweren, daß der Train eben nicht zu
den fechtenden Truppen gehört und daß er an höheren Stellungen nur bie
ber Traindireltoren und des Inſpelteurs bietet. Deshalb wird die Zahl der
Freimilligen, die fi als Offizierafpiranten zum Train melden, ftet3 fehr
befchränkt bleiben und das Militärkabinet wird zur Ergänzung des Train:
offiziercorp8 auf die Zöglinge des Kadettencorp8 und eine beträchtliche An⸗
zahl von Offizieren der übrigen, befonder8 der berittenen Truppen angewiejen
fein. Das kann aber für dieſe Waffen nur vortheilhaft fein. Wenn gut:
bewährte Difiziere, denen die Lebenshaltung, Pferde und Uniform bei der
Kavallerie zu Eoftfpielig geworden find, oder tüchtige Aittmeifter und Batterie⸗
chefs, die nicht die Qualifikation zum Stab8offizier erhalten und ftarle Fa⸗
milien befigen, dem Train überwiefen werden, Liegt Das offenbar im Intereſſe
aller drei ZIruppengattungen. Wehnliches aber gilt auch von der Verſetzung
folcher jungen Kavallerie: und Artillerie: Offiziere in den Train, bie ſich für den
Dienft und die Beförderung in ihrer Spezialwaffe nicht eignen ober bei denen
andere Umftände zwar eine Verfegung, doch ihr Verbleiben im Dienft wünfchens-
werth erfcheinen laſſen. Diefe Berfegungen würden und dürften aber nicht
den Charakter von Strafverfegungen haben, wenn das Nivean des Trains
offiziercorps nicht herabgedrüdt werden fol. Der Train wird freilich ſtets
eine — höchſt wichtige und unerfeglihe — Hilfstruppe bleiben. Schon bes:
halb wäre es grundfalich, fein Offiziercorps, ftatt es durch Gehaltszulagen
materiell ſchlechter geftellten, aber tüchtigen Elementen zugänglich zu machen,‘
fünflih duch Maßregeln zu heben, die nur auf Koften der SKriegsfähigfeit
wichtigerer Truppengattungen durchgeführt werben könnten.
Breblan. Oberſtlieutenant Rogalla von Bieberſtein.
ð*
414 Die Zukunft.
Börfenbefherung.
SE note bat alfo der Schrei nad} einer Reform des Börfengejeges Erbium
9 gefunden. Die Thronrebe, bie den neuen Reichstag begrüßte, veriieh
Borlagen, die in ben widtigften Punkten Abhilfe jchaffen follen, — io me
Abhilfe von einer der Börfe unfreundlich gefinnten Negirung und einer eben lo.de
Reichstagsmehrheit Überhaupt zu erwarten war. Der Anhalt diefer Bora
ift fein Geheimniß mehr. Die eine ermäßigt bie Befteuerung bes GEmühs-
und bes Börfengefchäftes, die andere will die gröbiten der Mißbräuche binberr,
zu denen der Differenzeinwand Anlaß gegeben hat. Der Differenzeinwand jeiF:
aber bleibt beftehen; eben fo das Qerminregifter und, was das Wichtigfte ü.
auch das Verbot bes Beithandeld in den Aktien induftrieller Unternehmung
Die guten Menfchen, die ficben Jahre lang nicht müde wurden, bas Tem
bon der Bö:jengefegreform in allen möglichen Tonarten zu behandeln und ki
beutfche Publifum bet jeder pafjenden und unpafjenden Gelegenheit mit gelafrı
Differtationen darüber zu beglüden, haben dennod Fein Hecht, ſich zu beklegen
Der kindiſche Trog, womit der journaliftifde Landſturm de$ moneyed interes
anfangs den Umfturz erzwingen und das fiegreiche Agrarierthum aus einer feine
ftärkiten, mit dem größten Eifer behaupteten Pofitionen verdrängen wollte, w=
längit einer Refignation gewichen, bie fi) mit ber Unabänberlichleit aller graz:
fäglichen Beftimmungen des Börſengeſetzes zufrieden gab und ſchon die Ermäßigurz
der Börfenftenern nebft der Befeitigung der ſchlimmſten Härften bes Differenr
einwandes als des Kampfes würdige Trophäen Sägen lernte. Diejes nicht jeh
hohe Bieliftjegt erreicht. Wiedie Regeln des parlamentarijchen Kriegsſpieles es muz
einmal bedingen, wird die Neichetagsmehrheit fi die Zuftimmung zu der Novel:
ſcheinbar recht mühſam abringen lafien, al$ würde ihr Uingeheures, Unerträg
liches zugemuthet; natürlich weiß aber jeder Haruſpex ſchon heute, Daß ber Fleinr
Snadenbroden, den die NRegirung mit diefer Novelle der Börſe binwirft, ven
feinem Geier geraubt werden wird. Die Agrarier werden freilich danach ſchnappen.
doch nur, um der Börfe deutlich zum Bewußtjein zu bringen, wie felig fie jeis
muß, aud nur das Wenige zu befommen,
Wo aber bleibt der Jubel? Alesftil. Gewiß: Berge haben gefreißt und nur
eine Maus ward geboren. Die Berge aber wußten von vorn herein, daß fie nur
eine Maus gebären könnten, und doch wurde der Tag der Entbindung als em
Freudenfeſt für die ganze Nation angefündet, Vor bald vier Jahren empfahl
Siemens die Reform des Börfengefeßes, deren Grenzen er, als ein Mann ohne
Illuſionen, ſchon damals erkennen mußte, im Reichstag mit dem luſtig ſchmetternden
Ruf: „Künftige Kriege werden nicht mit Säbel und Gewehren gewonnen werden;
ſiegen wird die Nation, die auf die Dispoſition ihrer nationalen Mittel und bie
Stärfung der Börje die größte Sorgfalt verwendet." Ein Jahr danach — die Yie-
girung fah die Situation vieleicht als jo fürchterlich gefährbet an, daß eine raſche
Defenfivaftion nöthig ſchien — wurde der Börfenausfhuß zu einer Tagung ins
Reichsamt des Innern berufen, um die Beichwerden gegen das Börfengefeg zu
prüfen. Wurden den Herren dort vertraulide Mittheilungen über einen neuen
Schnaebelefall gemacht? Jedenfalls entichloffen ſich in patriotiſcher Aufwollung
ſelbſt die der Börſe unholdeſten Mitglieder zu einigen Konzeſſionen an die Staaté⸗
_
Börfenbef cherung. 4 15
einrichtung, die für Siemens die wichtigſte Wehr und Waffe des deutſchen Volkes
bedeutete. Nach mehrjährigem heißen Bemühen ſchien der Erfolg ſchon aus ber
Nähe zu winten; doc die unter dem Namen des langen Möller uniterbliche
Ercellenz meinte wohl, die Börje lönne noch warten. Siſyphus mußte von vorn
anfangen. Eine Börjen:Konferenz, die der neue Minifter einberief, follte erft
überprüfen, was der Börfenausjchuß ergeben Hatte. Offenbar war inzwilchen die
Außere Gefahr wieder gefhmwunden, eine Mobilmachung der Börfe nicht mehr nöthig
und dem diplomatiſchen Genie des preußiichen Handeldminifters die Aufgabe übers
tragen worden, mit feiner Kunſt die Spuren der Angft zu verwifchen, die in fritifcher
Stunde die Gemuͤther ergriffen hatte. Auch die Konferenz itimmte, ohne Unterſchied der
Bartei, darin überein, das an dem beftehenden Geſetz Einzelnes zu beflern jei. Am
Ende hatte dad Mene Tekel, daß Siemens an die Prunfwand des Reichstags ſchrieb,
fogar tapfere Junkerherzen geichredt? Doch der Weltjriede blieb erhalten, wurde
mit immer größerem Eifer als unerſchütterlich gerühmt und die Verbündeten
Regirungen ließen die Börfengejegreförm ruhefam weiterihlummern. Wieder
verging ein Jahr. Eine neue That war fällig. Sie blieb nit aus. Die deutichen
Bankiers veranftalteten einen „Tag“, der, auf die Stunde genau zwölf Monate nach
Möllers Konferenz, in der ehrwürdigen Baterftabt der Herren Wolfgang Goethe und
Amſchel Rothſchild eröffnet wurde. Das Leid der Börfe ward urbi et orbi in
rührenden Lauten geklagt. Stein Echo war aber zu hören; und die Qamentationen
tonnten doch Steine erweiden. Das lebte Aufgebot wurde nun ins Feld ges
führt: ein „Tag“ aller deutſchen Börjen brah an. Das war im Februar. Noch
immer blieb die Regirung hart. Ste hatte andere Sorgen. Erft neun Monate
ſpäter fam ihr, post tot discrimina rerum, die Einficht. Lange hats gedauert;
ein hartes Stüd Arbeit für die Börfe, die Banken und Alle, die faft ohne Pauſe
die Luft mit Wehrufen erfhütterten, weil dte berühmte Neform noch immer nicht
nahen wollte. Nun tft fie da, — und wird fanglos und klanglos empfangen.
Denn der fauerfüße Gruß, der dem von der Börfe [prechenden Theil der Thron-
rede in den Organen des Liberalismus entboten wurde, konnte feinen Menſchen
darüber täuſchen, daß die Ankündung ber Börfennovelle nicht mehr als eine wills
fommene Senjation gewirft hat. Ueberraſcht waren, ftatt der Empfänger, dies-
mal wohl nur die Spender, die mehr frohe Dankbarkeit für ihre Gabe erwartet
haben mochten. Die Börfe jelbit, das in ben Kurſen pulficende Leben des Werth-
papiermarftes blieb von dem Reformverjprechen der Thronrede völlig unberührt.
Iſt hier ein Räthſel zu Löjen?
Sicher Fein unlösbares. Die Börfe Hat fi in bie Zucht des beftehenden
Geſetzes jo eingelebt, al ihre Verrichtungen ſchon jo darauf zugelchnitten, daß
fie der Ausficht auf eine Aenderung gar keinen Reiz mehr abgewinnen Tann.
So mag es einem Berurtheilten gehen, der nach langer Gefangenſchaft die Rück⸗
fehr in die alte Freiheit fürchtet und fchließlich nod bittet, man möge ihn da
behalten, wo er allmählich feine ganze Welt finden gelernt hat. Viele Federn,
fogar einige Köpfe haben fidh bemüht, dem Efenden das höchſte Gut wieberzus
gewinnen: und nun, da fi ihm ein neues Qeben aufthut, fehlt dem lange Ein-
geiperrten die Spannkraft, fi) in die früheren Verhältniſſe zurüdzumagen. Die
Börfe,. der an der Schwelle des Jahres 1904 die Begnadigung angeboten wird,
ift eben nicht mehr die felbe, die vor acht Jahren in bie Feſſeln des Börfen-
83
416 Die Zuhunft.
gefeßes gelegt ward. Sie Hat in ihrem Innerften Weſen eine Wandlung burd-
gemacht und nad und nad alles Berftändniß für eine reformirte — —
gebung verloren. Der Werth des Individuums iſt zuſammengeſchrumpft, das
Streben nad Konzentration beherrſcht alle Gebiete ber Finanzwirthſchaft und
bie raſch erwachſenen Großbanken haben Stülck vor Stüd von den Meinen Privat⸗
geſchäften an fich geriffen. Lächelnd denkt man jegt daran, daB in bem —
für die Beſeitigung des Borſengeſetzes die Leiter der großen Bankinſtitute die
Führung übernommen hatten. Oder lag Methode in dieſem Wahnfinn? Stellten
fi die Großen an die Spige, um der Bewegung Pfad und Ziel zu weiſen, a
daß fie ihnen nicht eines „Tages“ gefährlich werde? Einen befjeren Bundes»
genofien als das noch beftehende Borſengeſetz konnten bie großen Banlen gar
nicht finden. In hellen Haufen trieb es ihnen die Kunden zu, von denen bie
Heinen Privatbankiers, damals noch das Nüdgrat der Börfe und jeglichen Effelten-
handels, wegen ber ungeheuren Zumuthungen des Gefeßes Lafien mußten. Der
Differenzeinwand, das Berbot des Terminhandels, bie Nothwenbigleit, bar gu
bezahlen, was man Taufte: Tauter Keulenhiebe für die ſchwachen Individuen, höchſt
nüßliche Errungenschaften aber für die Koloſſe. Erit jeit dem Erlaß des Börfen»
geſetzes ifts den deutichen Großbanken fo recht wohl geworden. Ohne das Funda⸗
ment, das dieſes Geſetz ihnen ſchuf, hätten fie nicht die Stellung erreicht, bie fie
heute haben, eine jo überragende Stellung, wie fie in feinem anderen Lande bem
Banken befchleden iſt. Ste beherrſchen einfach fouverain unfer ganzes Yinany
leben. Bon welchem Punkt aus man aud) eine finanzielle Transaltion planen mag:
ale Wege führen nach biefem Nom, deſſen Forum bie Behrenftraße if. Und
babet hieß es, das Boͤrſengeſetz hemme die „legitime Thätigkeit ber beutjchen
Märkte” und treibe das deutſche Publikum mit feinen verfügbaren Kapitalien auf
ben londoner Goldminenmarkt; es zeritöre den „Segen ber Eontremine‘ und
ſchwäche Deutſchlands Wehrkraft in bebrohlichiter Weiſe. Das Alles Klingt jetzt
wie Hohn. Die Leuchten bes Liberalismus, bie in den Banlkpaläften als Di⸗
rektoren ober Auffichträthe thronen, mögen jchön gelacht haben, wenn in ihren
Barteiblättern jahraus, jahrein, morgens und abends dieſes Mijere gelungen
wurde. Die durch das obligatoriſche Kaſſageſchäft begänftigten Großbanken
Tonnten vorher ungeahnte Summen von Altien ihres Eigenbaues im Publikum
feft unterbringen; und gerade fie haben in Deutihland den Abſatz von Gold⸗
minenfhares ins Riefige gejteigert. Das geſchah zu Nutzen und Frommen ihrer
Bilanzen und unter bejtändigen Kapitalsvermehrungen, bie faft ſchon beängftigenb
wurden. Noch hat fein Statiftiler feftzuftellen verfucht, wie viele minberwertbige,
wie viele beinahe werthloje „Werth“⸗Papiere unter ber Herrichaft bes Börfen-
gejebes von unferen großen Banken dem deutſchen Publikum verfauft worben
find. Neun Stellen hat die Zahl gewiß, vielleicht gar zehn. „Den wirtbichaft-
lich Schwachen‘: Das war die Widmung, die das Börfengefet trug, gleich mancher.
anderen Geſetzen, die dem felben Geift entfprangen. Mindeftens fraglich if
aber, ob nicht die Leute, die ber weiſe Geſetzgeber ſchützen wollte, in ihrer Ge
fammtheit durch das Geſetz viel mehr eingebüßt haben, als fie ohne das Geſe
jemals dem &iftbaum geopfert hätten. Heute tjt es zu fpät. Die Reform ben
Böorſengeſetzes kann bie Toten, die im nublojen, ruhmlojen Konkurrenzlampf nit
ben Rieſen gefallen find, nicht wieder lebendig machen. Die Autofratie bei
Notizbuch. 417
Großbanken iſt nicht mehr zu brechen. Was foll ber entmannten Börfe jetzt
noch die Freiheit nützen? Und wäre es noch wirkliche Freiheit! Doch nur die
Freiheit, die ſie meinen, gewähren die großen Herren des Behrenviertels. Die
konzediren fie in Gnaden und rufen dabei: „Nehmt hin und ſeid hübſch dankbar,
denn Schweiß genug hat e8 uns gekoſtet!“ Nun fehlt eigentlich nur noch, daß
bie Börfianer fi Thränen der Rübrung aus dem Auge wiſchen und innigen Dank
ftammeln, weil die Großen, als fie ihre Herrichaft wie einen rocher de bronze
ftabilirt Hatten, jo gütig waren, den Kleinen eine Weihnachtbejcherung zu gönnen.
| Dis.
2
Notizbuch.
———— iſt erbffnet und wird, wenn dieſes Heft erſcheint, anch ſchon die
erſten redneriſchen Leiſtungen hinter fich haben. Alles verlief secundum
ordinem; und die Propheten dürfen nicht einmal ſtolz darauf fein, daß ihre Ver⸗
heißung erfüllet warb, Dem Präfidium wurbe fein Sozialdemokrat verliehen, Herr
Singer befam nur die Stimmen feiner Parteigenofjen und die Mehrheit fcheint ent-
ſchloſſen, die Geſchäftsordnung nicht zu ändern. Auch die Thronrede brachte Feine
Ueberraſchung. Oder iſts eine, daß der neue Stantsfelretär bes Reichsſchatzamtes
mit dem ungeftümen Feuereifer feiner ſiebenundſechzig Jahre eine Umgeftaltung des
Finanzweſens plant? Yür jehr genügſame Seelen vielleicht. Nur ein Proviſorium,
das die „größten Uebelſtände“ befeitigt; für „eine Burchgreifende organiſche Reform“
iſt die Zeit noch nicht reif. Der Freiherr von Stengel hat, als Bayer, erfahren, welches
ärgerliche Unbehagen dadurd) entitanden tft, daß die Bundesftantsfinanzen von ber
Reichswirthſchaft abhängig find. Die clausula Yrandenftein, die in Ehren, doch ohne
bejonderen Ruhm ein Bierteljahrhundert alt geworden ift, foll nun ins Paragraphen»
mujeum gebracht werden. Sie mag nüßlich geweſen fein: einen bequemen Zuſtand
Battefienicht gefchaffen; und längft wurde fie nicht nur von Partikulariften verwünſcht.
Sie jchreibt vor, daß von dem Gelde, das ans Zöllen, Stempelabgaben, Tabal-
und Branntweinfteuer eingeht, das Reich nur 130 Millionen für fich behalten, den
Reit — in einem den Matrikularbeiträgen angemeflenen Verhältniß — den einzel⸗
nen Bundesftaaten überweijen folle. Die Reichskaſſe gab alſo einen Theil des ihr
äugeflofienen und gebührenden Geldes weg, forgte aber bafür, daß es ihr zurück⸗
erftattet werde; und die Einzelſtaaten mußten mit ihren Matrilularbeiträgen zunächſt
für die Reichsbedürfniſſe auflommen, durften aber hoffen, durch die Ueberweifungen
vom Reich entſchädigt, am Ende gar noch mit anfehnlichen Summen befchentt zu
werden. Wenn das Reich nämlich genug eingenommen hatte. Das fam vor; und in
den Jahren, wo bie Ueberweiſungen höher als die Matrifularbeiträge waren, hörte
man feine Klage. Lang iſts ber. Im legten Quftrum haben bie Einzelftaaten unges
fähr Hundert Millionen in die Reichskaſſe geliefert. Was Wohlthat fchien, wurde
nun als Plage empfunden. Man ſchalt die umftändliden Schiebungen, die nur
das Schreibwerk vermehrten, und die Finanzminiſter ber Bundesstaaten rangen bie
Hände: Unmöglich, zur Ruhe zu kommen und fich, nad) einem feiten Plan, für län-
gere Zeit einzurichten, weil man ja nichtwillen kann, was das auf [dwanfende Ein⸗
88°
418 “ Die Zufumft.
nahmen angewieſene Reich in diefem und im nächſten Jahr an Neberweifungen ge
währen, an Matritularbeiträgen forbern werde. Diejed Gefühl doppelter Abhängig-
feit konnte die Liebe zum Reich nicht ins Leidenfchaftliche fteigern. In Münden,
Dresden, Stuttgart, in allen deutfchen Parlamenten wurde, laut oder leiſe, gejagt,
tm Reihsihagamt ſcheine man fi um die Wünſche und Lebensbebürfniffe der
Einzelftaaten überhaupt nicht mehr zu fümmern. Der Freiherr von Thielmann ging,
der Freiherr von Stengel kam; und jegt will ber Bayer das unmoderne Werk feines
Landsmannes Frandenftein zeitgemäß verbeflern. Die Matrikularbeiträge jollen
künftig „in der Regel“ nicht höher fein als der Durchſchnittsbetrag ber in den legten
fünf Jahren aus der Reichskalje den Staaten überwiejenen Summen. Sit alfo aus
Berlin nichts überwieſen worden, jo braucht dorthin auch nicht8 beigefteuert zu werden ;
freilich nur „in ber Regel“. Immerhin hoffen die Yinanzminifter nun, vor uner⸗
träglihen Zumuthungen bewahrt zu bleiben. Sehr großartig ift da8 Programm des
neuen Herrn nicht; e8 fönnte von einem Partikulariſten erfonnen fein, denn es be-
laftet das Neich mit Ichweren Sorgen. Was wird aus der Reichsſchuld, deren Ber-
zinfung jährlich Hundert Millionen erfordert? Herr von Stengel verheißt „eine Re:
gelung, die dauernden Charakter dat und darum einen nadhaltigeren Erfolg ver-
ſprechen dürfte als Einzelgeſetze.“ Dunkel ift ber Rede Sinn. Das Reich, das immer
neue Schulden maden muß, alfo nicht hat, was e8 zum Leben braudt, kann feine
alten Schulden nicht bezahlen, kann fie hochſtens fchieben wieder Student, derim Som⸗
mer ben warmen Rod, im Winter die Taſchenuhr verfegt und jedesmal, wenn er
eins ber Pfandobjekte gegen das andere ausgetaujcht bat, glaubt, feine Bilanz ſei im
mufterhafter Ordnung. Die Vorlage Stengels hat ihreguten Seiten, mahnt aber wie-
der ſchmerzlich an die Thatjache, daß die Regirenven im Großen nichts verrichten kön⸗
nen. Wie lange wird ſchon an ber Frage der zzinanzreform herumgezupft! Nach
allem Gerede durfte man mehr erwarten als ein Flickwerk. Das Reich braudt neue
Einnahmen. Diele bittere Wahrheit verjchweigen die Verbündeten Regirungen gern,
weil fie den Reichstag nicht verftimmen möchten. Auf die Dauer wirds doch nicht zu
vermeiden fein; denn dringende Bedürfnifle können nicht ewig unbefriedigt bleiben.
Für die „Offiziere und Mannſchaften des Reichöheeres" wird jetzt etwas verbeflerte
Löhnung gefordert. Ein Tropfen, der auf heißen Stein fällt. Sieht oben denn Nie»
mand, daß es höchfte Zeit ift, für Heer und Beamtenfchaft ganz neue Gehaltsnormen
zu finden? Was heute bezahlt wird, reicht Enapp für die Nothdurft. Es Klingt recht
ſchön, wenn dem Offizier gefagt wird, er brauche nicht zu repräfentiren und folle ſich
mit dem Stolz der Armuth umgürten; nur |perrt man ihn mit diefer Weifung vom
hellen Zeben ab, nimmtihm die Möglichkeit des Umganges mitwohlhabenden Bürgern,
deren Bajtfreundichaft erdoch anftändig erwidern müßte, und bannt ihn in die Kaſerne.
Solche Forderungen find nicht populär, aber nothwendig; bleiben fie unerfüllt, dann
wird alles Jammern über den Mangel an tauglichem Offiziererfaß nicht Hindern, daß
junge Männer von Durchſchnittsverſtand den Beruf des Inbuftriellen, Technikers,
Saufmannes wählen, Statt im bunten Rod zu darben oder nach Einladungen aus»
zulugen, die reichliche Schmäujeveriprechen. Lieber fein Heer als eins, dem biegeijtig
Trägen, zu ernjthaftem Kampf Untächtigen befehlen. Wer regiren will, Darf an unbe»
quemen Pflichten nicht Scheu vorüberfchleichen. Bet uns iſt man ſchon zufrieden, wenn
die Karre nit im Sand fteden bleibt. Die Thronrede iſt die darakteriftiiche Urkunde
einer unfruchtbaren Zeit. Keine Spur von Schöpferfraft, auch nur von Schöpfer-
En ET A Te nn Lan
Notizbuch. 419
muth. Sondergerichte für Handelsgehilfen; Yeldzug gegen die Hebenparafiten; ein
paar Konzeflionen an die Börfe; im Hintergrund ein Geſetzentwurf, der für ſchuld⸗
los erlittene Unterfuchungbaft entfchädigen fol, im Bundesrath aber noch nit —
noch immer nicht! — fertig geworben ift; und allerlei ungreifbare Phrafen Aber bie
„Anforderungen fteigender Kultur” (die auch noch nicht fertig ift) und ben feften
Willenzu foztalpolitifcher Reformarbeit, deren Biel nicht gezeigt wird. Zum Schluß
dann bie „guten und freundlichen Beziehungen zu allen fremden Mächten”, ein
Stüdchen auf ber Friedensſchalmei: und die „geehrten Herren“ dürfen nach Haufe
geben. Herrgott, denkt ber Bürger, mern er feine Beitung aus der Hand legt, iſt bie
Politik im Deutichen Neich Iangweilig geworden! Und freut fich auf ben Tag, wo
ein Brandrother wenigftens ein Bischen Leben in die Reichsbude bringen wird.
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Ein Hauptvergnügen des Beitunglefers war ben lieben Sommer lang bie
Kabbalgeret in Ungarn. Da gings Iuftig zu; und für Abwechſelung war gejorgt.
Heutewurde im Parlament gebrüllt, morgen auf der Straßegeheult und Übermorgen
ein feierlicdes Verfahren eröffnet, um feftzuftellen, ob ein Statthalter den Verſuch
gewagt babe, inforruptible Kernmagyaren zu beftechen. Zwei Minifterpräfidenten,
Herr von Szell und Graf Khuen, erlagen ber Obſtruktion und Wochen lang konnte
der Kaiſer Franz Joſeph für jein Königreich Ungarn keinen möglichen Kabinetschef
finden. Seht erit ift Friede im Land; oder wenigftens Waffenftillftand. Und ber
Mann, ben der Lorber dieſes Erfolges ſchmückt, ift der felbe Graf Stefan Tiſza, der
kurz vorher nicht einmal ein lebensfähiges Minifterium zu bilden vermocht hatte. Kolo⸗
mans Sohn und, wieder Papa, ein geriebener Herz, den kein ſchwindliges Gewiſſen auf
feinem Wege hemmt. Er kam zur reiten Stunde; die Obftruftion zog nicht mehr
recht und der Abgeordnete Franz Koſſuth, der Führer der Partei, die gegen das
Haus Habsburg fämpft und Ungarn von Oefterreich trennen will, war klug genug,
bie Hand zu ergreifen, dieihm aus fchwieriger age half. Er hatte ſich gut geſchlagen;
foll überhaupt obftruirt werden, dann muß mans jo machen wie Kofluth und feine
Leute. Sie haben mehr erreicht, als fie vor einem Jahr jelbft ahnten. Das Geſetz,
das eine gegen früher erhöhte Rekrutenzahl forderte und im öſterreichiſchen Reichs⸗
rath ſchon bewilligt war, wurde inbeiden Reichshälften zurückgezogen, weil es Herrn
Koſſuth nicht gefiel. Bei ihn, dem Sohn des achtundvierziger Todfeindes der Habs«
burg⸗Lothringer, mußten die Minifter des Königs antihambriren, um von feiner
Gunſt zu erſchmeicheln, was Gewalt nicht erobern konnte. Der Geltungbereich ber
magyariſchen Staatsſprache wurde auch im Heerweſen erweitert und eine den Wün-
ſchen Koſſuths entſprechende Reform des Wahlrechtes zugelagt. Franz Joſeph felbft war
genöthigt, ben Sinn won Sägen zu mildern, die er als höchſter Kriegsherr geiprochen
hatte. Und [hlieglih mußte Graf Tifza als Deinifterpräfident im Reichstag Koſſuths
Formel nachſprechen: In Ungarn enticheibet nur der Wille der Nation, giebt es auch
für das Heer keine andere Rechtsquelle als biefen Willen, ber im Parlament zu le
gitimem Ausdruck gelangt. Ein ſchwarzes Jahr für Habsburg. Das Streben nad)
ambejchräntter Selbftändigfeit ift fo ftark geworben, daß felbft Die liberal ⸗gouverne⸗
wentale Partei kaum noch den Schein wahrt und erniten Widerftand nicht mehr wa⸗
gen darf. Jeder möchte jet zu den „Unabhängigen” gehören: ber edle Banffy fo gut
wie Graf Albert Apponyi, der Kunktator, den bie Tifzas ftets haßten und ber bes⸗
Halb unter dem erftbeiten Vorwand aus der tegirungpartei gefchieden ift. Der Dun
420 Die Zukunft.
lismus, die Hinterlaffenichaft Deaks, wirb ja noch ein Stredichen weitergefchleppt
werben. Eines Tages aber kann der Stönig von Ungarn fich gezwungen jehen. in der
ofener Burg Herrn Koffuth die Leitung der Staat3gefchäfte angutragen. Die lingern
wollen mit Defterzeich nicht länger tn intimer @emeinfchaft haufen und Franz Joſeph
tft zu alt für den Entſchluß, die Magyaren endlich einmaldieerfehnte Probe beftchen zu
laſſen. Wenn fieden Dualismusloswürbden und outinthecold allein blieben, fönnten
bie bubapefter Helden bald merken, daß die Gemeinfchaft ihnen größeren Bortheil
gebracht hat als ben verhaßten Schwarzgelben. Felix Austria! Dte Arme muß nad
berungariichen Fiedel tanzen und wird von polnischen Büttelngelnufft. Der Deutſche
bat keinen Grund, die Magyaren zu lichen; als Politiker find fie aber nicht zu ver
achten. Bon himmlifcher Frechheit, wo für das Natlöncdden was zu erprefien ift; alle
Rechte für ſich und fein einziges für die Deutfchen und Slaven, die als Heloten jen-
ſeits der Reitha wohnen; mit moralinfäuerlidden Kleinigkeiten giebt Keiner fich ab;
und cher ift ein geborener Redner ... Vieblich Klang Übrigens das Lob, das im
manchen berliner Beitungen dem Grafen Tiſza für feine „rückſichtloſe Thatkraft“ ge-
fpenbet wurde, als er, um ber Objtruftion Herr zu werben, die Gejchäfteorduung des
Neichötages ändern ließ. . . Während bes Tariffampfes hatte mans and: rs gelelen.
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" *
Herr Profefior Dr. Guſtav Ruhland möchte fein neues Bud „Die Lehre
von der Preishildung für Getreide“, das (mit neun graphiichen Darftellungen) bei
Ißleib in Berlin erfchienen ift und zwei Mark koftet, hier anzeigen. Er ſchreibt da rũber:
„Wird ein neuer Betreidezoll vom Inlande getragen oder auf das Aus
land abgewälzt? Dieje Fragen werden von Millionen von Staatsbürgern nad
ihrer Parteifchablone fofort in ganz beftimmter Weiſe beantworte. Werden
aber die jelben Perſonen gefragt, ob bie Weizenpreiſe voraugfichtlich bis zum yrüß-
jahr höher oder niedriger fein werden als heute, dann antworten fie: ‚Das kann
Niemand im Boraus willen‘. Und doch ift jede Beantwortung der Frage nach
ber Wirkung der Zölle eine Prophezeiung auf dem Gebiete der Grtreidepreis“
bewegung. Daß aljo die felsen Berfonen, die über die Tünftige Wirkung ber
Getreidezolle fo genau Beicheid willen, fi immer auf ein beicheidenes Nicht⸗
wifien‘ zurüdziehen, wenn noch eine andere frage aus dem Gebiete der künf⸗
tigen Getreidepreie bewegung an fie geftellt wird, iſt ſeltſam; freilich nicht ſchwer
zu erllären. Unſere umfangreide Literatur hatte bis heute noch Teine Schrift,
bie in die Technik der Getreidepreisbildung fo tief eindrang, da fie dem Leſer
eine zutreffende Beurtheilung der Tünftigen Preisbewegung allgemein ermöglichte.
Mein Buch mag deshalb nicht nur Landwirthen, Händlern und Müllern, jondern
auch dem Politiker willlommen fein, der eine fyftematiiche Darftellung ſucht.“
* *
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Ein Glück, daB e8 bei unjeren getreuen Nachbarn no Inſtitutionen giebt,
bie beiden Neichshälften gemeinfam find. Eine davon fcheint die wiener Yırma
B. Berti zu fein; und eine fehrnügliche. „KRommerzielles Bermittelungburcau für
Defterreih- Ungarn und die Balfanftaaten. Spezialabtheilung für Hof, Staats-
und Armeelieferungen, hohe Auszeichnungen, Hof: und Kamımerlieferantentitel u. ſ.w.
Neferenzen von erften Firmen und Hohen Berfönlichleiten”. Der Inhaber, „Difizter
bes kaiſer lich ottomaniſchen Osmanje⸗Ordens“, muß namentlicd) in ber Türfel ein
mächtiger Mann fein. Bor mir liegt ein Rundichreiben, in bem er „ergebenft darau
Notizbuch. 421
aufmerkſam macht, daß fich jebt eine nicht leicht wiederkehrende Gelegenheit bietet,
mit einer verhältnipmäßig beicheidenen Spende einen hohen Orden zu erlangen. Die
Heilige Bahn wird unter bejonderem Protektorat SeinerMajeftät des Sultans mit
freiwilligen Beiträgen bes Hofes, der Negirungbeamten und der wohlhabenderen
Bevolkerungsklaſſen gebaut. Ein — wenn auch Kleiner — Beitrag eines Ausländers
würde bejondere Beachtung finden und auf geeignetem, durchaus korrekten und legalen
Wege eine Dekoration (eventuell der höchften Klaffen: Großoffizier oder fogar ben
Großkordon) einbringen.“ Die Gelegenheit ift günftig. Auch die kleinſten Beträge
werden angenommen. Wer feinem Nächften eine Weihnachtfrcude bereiten will... .
s u
=
Fräulein Helene von Monbart Bat, unter dem Namen Hans von Rahlenberg,
1898 eine Novelle veröffentlicht, die ‚Nixchen“ hieß; noch immer heißt, Im Buchhandel
aber nicht mehr zu haben ift. Denn die löbliche Behörde hat das Buch konfiszirt.
Ziemlich ſpät; als ſchon ſechs Auflagen verbreitet waren. Eine faft neunzigjährige
Sungfrau, die in rüftigerer Lebenszeit Lehrerin gewejen war, fand das Nixchen an-
. ftößtg und trug ihr befchädigtes Schamgefühl ins berliner Polizeipräſidium, auf daß
es Herr von Windheim, der damals nod; am Alczanderplag thronte, [Auberlich re⸗
parire. Das wurde denn auch verfudht. Zunächſt ohne Erfolg. Das Landgericht II
Berlin lehnte din Antrag das Hauptverfahren gegen Fäulein von Monbart zu er«
öffnen, ab und ſprach, als tie Beſchwerde der Staatsanwaltichaft beim Kammer⸗
gericht Durchgegangen war, bie angeflagte Schrififtellerin und deren Verleger in No⸗
vember 1902 frei. Diefes Urtheil wurde von ber Staatsanwaltfchaft angefochten und
in Leipzig vom zweiten Straffenat am zweiundzmwanzigften Mat 1908 aufgehoben.
Die Begründung ift nicht ganz unintercffant. „Din Inhalt der von der Angeflagten
Bon Monbart verfaßten Novelle faßt der erfte Richter dahin zufaınmen, daß darin
geichtldert wird, wie eine fechzehnjährige berliner Eecheimrathstochter, obgleich fie
verlobt ift, zu gleicher Zeit ein Verhältnig mit einem anderen Mann unterhält, mit.
dem fie in frivoler, Sitte und Anjtand verlegender Weife verfeärt, ihn aufſucht, um
mit ihm vor ihrer Verheirathung alle Raffinements verbotener Liebe zu genießen,
and in ihrer Wolluft nicht davor zurädichredt, 618 zum Aeußerſten zu gehen und
fih dem Geliebten fo weit hinzugeben, wie e8 für fie ohne die Folge der Schwanger«
ſchaft nur möglich iſt. Obwohl die Straflammer anerkennt, daß der Inhalt desachten
Bricfes, Tosgelöft aus bem Zuſammenhang und für fi allein beiradhtet, als das
Scham- und Sittlihkeitgefühlverlegend angefehen werden könne, Hat fie doch berge-
sannten Schrift die Eigenſchaft einer unzüchtigen Schrift verfagt und deshalb beide‘
Angeklagte freigefprochen. Die dagegen eingelegte Revifion der Staatsanwaltſchaft
mußte für begründet erachtet werden. Rechtsirrthümlich ift fchon die Meinung des
Borderrichters, daß zur Annahme der Unzüchtigkeit einer Schrift, die das Geſchlechts⸗
leben berührt ober bebanbelt, eine ‚geichlechtliche Abficht‘ des Thäters in dem Sinne
gefordert werde, daß durch die Schrift ein gefchlechtlicher Retzhat herborgerufenfollen
und daß dieſe Abficht fich in der Schrift verlörpern muß. Gerade im Gegenfa hier⸗
zu bat das Reichsgericht wiederholt ausgeſprochen, zum Begriff ber Unzüchtigkeit einer
Schrift jet nicht nöthig, daß der Berfaffer ober Berbreiter unzüchtige Zwecke verfolgt;
es genüige vielmehr, wenn er an und für fich vorjäßlich Handelte und babei ba3 Be⸗
wußtjein von dem unzüchtigen Charakter der Schrift befaß. (Zu hoch für den Laien?
Oder zu tief?) Einen unzüchtigen Charakter aber hat eine Schrift bann, wenn fie
422 Die Zukunft.
das allgemeine, zur Beit im Bolt Lebende Scham: und Sittlichleitgefühl
in geſchlechtlicher Beziehung verletzt. Dabei tft es gleichgiltig, ob biefe Wirkung in
der Heroorbringung eines gejchlechtlichen Reizes ober in ber Erzeugung von Wider-
willen und Abſcheu beiteht.. . Zwar wird vom erften Richter au angenommen,
daß erwachlene Perſonen männlidden und weiblichen Gejchlechtes im Durchſchnitt
beim Leſen der Novelle weder einen gefchlechtlichen Heiz empfinden noch aud) ſich im
ihrem Scham. und Sittlichleitgefüihl verlegt fühlen würden. Allein die erwachſenen
Berfonen bilden nur einen Theil des Publikums, deſſen fittlided Empfinden den
Gradmeſſer für die Beitimmung einer Schrift als einer unzüchtigen darbietet; und
die Straffammerfeldft ftellt feft, daß bie Novelle für Jedermann känflich war, ſchließt
auch die Möglichkeit nicht aus, daß fie auch unerwachſenen Perjonen zugänglich war...
(Ausdrüdlic, wird erwähnt daß ınan fie auch bei Wertheim kaufen konnte.) Beitand
aber die Möglichkeit, daß dieNovelle auch in die Hand unreifer fittlich noch nicht gefeſtig⸗
ter Perfonen gelangte und daß ihr Anhalt deren Scham- und Sittlichleitgefühl in
geſchlechtlicher Beziehung verlegte, jo war die Annahme, daß es fich objektiv umeine
unzüchtige Schrift Handle, geboten und es blieb dann nur noch zu prüfen, ob die An⸗
geflagten fich diefer Mögkichleit bewußt geworben find.” Eine leſenswerthe Ent-
ſcheidung des hochſten Gerichtshofes. Objektiv ungüichtig und dem 5 184 St8B
verfallen ift etne Schrift aljo fchon, wenn fie im Sinn unreifer, fittlich noch nicht
gefeitigter Berfonen, denen ber Berfafler fie gar nicht zugebacht Hatte, Aergerniß er-
regt, Da „die Möglichkeit befteht“, dab in die Hand folcher Berjonen ſämmtliche
Klaſſiker nebit dem Alten Teftament und ſchlimmen Spätromantifern gelangen
— fogar diean Gewißheit grenzende Wahrfceinlichleit —, mag Manchem um unfere
große Literatur bang werden. Bor ein paar Jahren noch wollte das Reichsgericht
bie „leicht erregbare Bhantafie einer unerwachſenen Schuljugend nicht zum Maßſtab
Defien machen, was das Scham: und Sittlichleitgefüh! des normalen Menſchen ob-
jeftiv zu verlegen geeignet ift oder nicht.“ Jetzt aber ſchützt es gnädiglich auch bie Un⸗
zeifen vor früher Verderbniß. In der Beit des Heinze Krieges wurde und jeden Tag in
die Ohren getutet, das Weltende müſſe nahen, wenn ber Begriff „gröbliche Berlegung
bes Schamgefühles“ in die Rechtiprechung eingeführt werde. Jetzt ſehen wir, daß bie
Judikatur bes Reich3gerichtes diefen Begriff, noch dazu ohne das Kriterium ber „Grob⸗
lichkeit“, längft in ihre Normenfammlung aufgenommen hat, und id} kann wieder⸗
holen, was ich vorvier Jahren dem rajenden Goethebund zurief: „Der vorgefchlagene
Paragraph tft nicht um Haaresbreite gefährlicherals der jegige S 184, der jeder will«
kürlichen Auslegung ben weitelten Spielraum läßt“. Fräulein von Monbart hats
erfahren. Das Neichögericht verwies die Sache an die Borinftanz zurück. Die neunte
Straffammer de3 Zandgerichtes I Berlin „Jah nicht ale erwielen an, daß die Ange»
klagte beim Schreiben der Novelle oder bei ber Uebergabe zum Verlag fi bewußt
geweſen iſt, daß fie durch die Veröffentlichung das Scham. und Sitttlichkeitgefühl irgend
Jemandes, es fet denn einer ganz beſonders pruden Berjon, verlegen könne”. Daber
Freiſprechung. Weildas Buch aberindie Hände Unreifer fallen und deren Schamgefühl
verlegen fann, iſts ala „objektiv unzüchtig“ zu bezeichnen und unbrauchbar zu machen.
Auch gegen diejes Urtheil hat Fräulein von Monbart Revifion eingelegt, Über bie
das Neichdgericht nächſtens entjcheiden wird. Ich kenne das Nixchen nicht; die No⸗
velle trägı den Untertitel: „Ein Beitrag zur Bigchologie ber Höheren Tochter” und
jollte nach der Abficht der ſehr begabten, nicht zur Literaturzigeunerſchaar gehören.
Notizbuch. 423
Sen Berfafferin ein Schredbild halbjüngferlicher Entartung zeigen. Soll bas Budh,
das ohne den Prozeß inzwifchen Tängft vergeflen wäre, nun and noch als ein Bei⸗
trag zur Pſychologie deutſcher Rechtſprechung fortleben? Die Leipziger Herren, benen
ber belle Kopf bes Fyreiheren von Bülow präfibirt, jollten ſichs dreimal überlegen,
ehe fie eine ernſte Künſtlerin, eine Dame mit dem Makel unzüchtigen Schriftthumes
behaften. Der Herr, der bei ber Eröffnung bes Neichstages neulich den Sat von
den Anforderungen fteigenber Kultur vorlag, hieß, wenn ich nicht irre, au Bülow.
⸗ ⸗
3
Noch eine Kriminalgeſchichte; diesmal aus Hamburg. Eine Arbeiterin lebt
mit ihren vier Kindern allein in einer Hofwohnung; fie hat ſich von ihrem Ehemann
getrennt (oder er von ihr) und ſorgt für den Unterhalt der Kleinen. Eines Nach⸗
mittags, während fie in der Wohnſtube ihr acht Monate altes Kind ankleidet, läuft
der dreijährige Sohn in die Küche. Die Mutter tft beichäftigt und achtet nicht darauf.
Der Knabe Llettert neugierig aufs Fenfterbrett und ſtürzt aus dem zweiten Stod in
den Hof hinab. Schädelbruch; fofort tot. Die Arbeiterin wird angeklagt, durch Fahr⸗
laſſigkeit den Tod ihres Kindes herbeigeführt zu haben. Angeklagt und verurtheilt;
denn die Beweisaufnahme ergiebt, daß der Frau von Nachbarinnen mehr als
einmal gelagt worbenift, ihr Junge babe die fchlechte Gewohnheit, am offenen Fenſter
Herumzuflettern. Die Gewarnte hatte aljo die Pflicht, mit gebeppelter Sorgfalt auf
den Kleinen zu achten. Das tft nicht ganz leicht für eine Proletarierin, die vier Kin:
der zu büten, zu füttern, zu Pleiden bat. Doc die Strafe iſt auch mild: nur ein Mo⸗
nat Gefängniß. Reicht aber aus, um die Arbeiterin, als eine befcholtene, unzuver⸗
tälfige Berfon, ins Elend zu bringen. Bon Rechtes wegen. ... Wer Zeit und Luſt hat,
möge nach dieſem Urtheil der dritten hamburgiſchen Straflammer noch einmallejen,
was am fiebenzehnten Oktober 1903 hierüßerden Fall Koch-Dippold gelagt worden iſt.
L 2 L 1
%
Einzelne Leſer fragen, warıım hierüber den olbenburger Skandalprozeß nichts
gejagt worden fei. Mußte denn was drüber gejagt werden? Ein Lehrer ärgert fich,
weil er aus ber Reſidenz in ein enges Provinzftäbtchen verfeßt worden ift, und greift
in anonymen Beitungartileln ben Miniſter an, ben er für feinen Feind und bes»
Balb natürlich für den Vater aller olbenburgifchen Uebel hält. Sin ber Hauptverhand-
lung wird nicht erwiefen, daß bie Verfeßung bes Lehrers eine Ehicane war, noch, daß
der Minifter feine Amtsgewalt jemals mißbraucht Hat ; nur, baß diefer Miniſter, als er
nod) Erfter Staatsanwalt war, gern fein Spielen machte, auf manche Kollegen
ſchimpfte und, ohne Unterfchteb bes Standes, an feinem Startentifch Jeden willlommen
hieß, der Gold jegen konnte. Ich finde nicht, daß biefe Thatſachen in den Bezirk des
Öffentliden nterefies gehören. Der Lehrer bat abgebeten, der Dtinifter huldvoll
verziehen. Der Erwähnung werth wäre hödhftens bie Energie ber Bertheidiger, die
einen hitzigen Borfigenden ziwangen, fie und ihren Mandanten anftändig zu behan⸗
seln. Das wird ſelbſt in viel größeren Städten leider nicht oft erreicht, allzu felten
auch nur verfudt. Sonft aber: eine kümmerliche Schülergefchichte.
a *
*
Uralte Mären, die man längft eingefargt wähnte, leben in dieſem Winter
. des Mißvergnügens wieder auf. In hundert oder taufend Zeitungen wurde vor vier⸗
zehn Tagen gefragt, ob bie Behauptung wahr jei, daß Bismardeinft in jähem Zorn ge
gen den Kaiſer das Tintenfaß erhoben habe; jet fie wahr, dann dürfe fein Gerechter
424 Die Zukunft.
mebr fagen, ber erſte Kanzler jei fchlecht behandelt worden. Biele fragten gar nicht erſt,
fondern nahınen als erwiefen an, daß Bismard drauf und dran war, feinem König
bas Tintenfaß an den Kopf zu werfen. Im März 1890, als Wilhelm der Zweite ihn
„wegen ber Berhandlungen mit Windthorſt zur Rede ftellte“. Und folder rohe Batron
nannte fiheinen treuen deutichen Diener! So fred waren die ſchlimmſten Hausmeier
im altenfteich nicht. Zeitungſchreiber follten eigentlich ein beſſeres Gedächtniß Haben und
nicht für funlelnagelneu ausgeben, mas ihre eigene Feder vorzwölf, dreizehn Jahren
ſchon dem Erdkreis mitgetheilt Hat. DieTintenfaßgeichichte ift anno 90 mindeftens zehn
mal durch die Prefje beider Welten gegangen. Bismarck hat, als er fiehörte, den Kopf
gejchättelt, dann geläddelt und endlich eine Erflärung geſucht. Die war nicht ſchwer
zu finden. Der Fürſt Hatte, wenn er lebhaft ſprach, die Gewohnbeit, mit der rechten
Fauſt kurze, leife, aber ftarfe Stöße gegen die Tifchplatte zu führen, von oben ber,
als wollte er feine Worte in das Holz eindräden. Möglich, daß dabei — der Kanzler
war nicht Hufar, ſondern ein fchwerer Küraſſier — ein Tropfen Tinte aus bem Fäß⸗
Ken ſprang. Doch diefe Erklärung wurde erft gefucht und gefunden, ala die Geſchichte
immer wieder fam und zu dem Bemühen herausforderte, wenigſtens ein Körn⸗
lein Wahrheit darin zu entdeden. Auch der Spriger ift alfo nicht „Hiftorifch” ; und
daß Bismard das Tintenfaß gepadt und aufgehoben habe, follte man umartigen
Kindern in der Abenddämmerſtunde erzählen. Behaglich mag beiden Männern wäh
rend bes Geſpräches nicht zu Muth geweſen fein. Der Verlauf ijt ja bekannt. Am
vierzehnten März 1890 hatte Windthorft durch den Mund Gerſons von Bleichroeder
eine Unterredung erbeten, die Bismard noch für den felben Tag zufagte ; Dabei gab
er jeinem Erftaunen über die Wahl des Bermittlerd Ausdrud: nad) alter Sitte
konnte jeder Parteiführer ſicher ſein, ſtets vomſtanzler empfangen zu werben. Dielinter-
redung brachte fein politifch brauchbares Refultat; wasder Katholit wünjdte, fonnte
der Proteftant nicht gewähren. Bismard ſprach von der Möglichkeit feines Rücktrittes,
Windthorſt rieth ihm dringend, zu bleiben, und empfahl, falls dennoch cin Kanzler:
wechfel unvermeidlich würde, ben General von Caprivi für die Zeitung ber Reichs⸗
geihäfte. Dem Kaifer müflen die Dinge wohl in anderem Licht dargeftellt worden
fein; er fam am nächſten Morgen ſehr früh in die Wohnung bes Grafen Bismard,
ließ den Kanzler rufen und verbat ſich politiide Unterhandlungen, von denen er
nicht vorher unterrichtet fei. „sch kann mir in meinen alten Tagen nicht das Recht
nehmen lafjen, einflußreiche Parlamentarier zu unverbindlichen, rein informatorifchen
Geſprächen in meinen Räumen zu empfangen.“ „Auch nicht, wern es Ihr Herr
befiehlt?“ „Die Macht meines Heren endet am Salon meiner Frau.” Ein düfterer
Morgen, der dem Älteren Mann die Gewißheit gab, daß ihm das Vertrauen des
Königs entzogen war. Drei Tage banad) fam denn auch, zweimal in vierundzwanzig
Stunden, die Aufforderung, jchleunig das Abſchiedsgeſuch einzureichen. Bismarck
hatte nicht Die Gemüthsart eines Lämmleins; wer ihm aber rüdes Benehmen nad
fagt, bat ihn nie gekannt. Eins jeiner Tieblingmorte war „wohlerzogen“ ; und er
hätte felbjt im Wirbelwind der Leidenſchaft fich nie zu einer Flegelei erniedert. Die
Tintengeſchichte ift unfinnig, nicht, weil der Kanzler vor feinem Kaiſer ftand,
fondern, weil der feine Riefe zu „wohlerzogen” war, um mit Realinjurten zu drohen.
Uebrigens war er, wie felbit der Todfeind zugeben müßte, immer ber Mann ſeiner
Thaten und hätte fein Handeln nicht feig verleugnet. Vielleicht läßt mar die Anel-
bote num ruhen. Wie fie entitanden ift? Der Kaifer hat fcherzend ſpäter erzählt:
„Der Alte war an dem Morgen ganz außer fih und guckte mich an wie Luther ben Ber
fucher; ich glaube, am Liebften hätte er mir auch das Tintenfaß an den Kopf geworfen".
-
— - - * - Pa . - u. - - -.- > -e. - - — — Be. a
Berlin, den 19. Dezember 1903.
——
Reichsparlirer.
on Jahr zu Jahr wird mirs ſchwerer, die Berichte über Reichsſtags⸗
fitzungen zu leſen; wirklich zu Icfen, nicht daS Auge über das Drud-
bild ſchweifen und da nur weilen zu laffen, wo lebhafter Beifall, große, ftürs"
miſche, ſchallende Heiterkeit angemerftift. Zwei, drei Tage nach der Sommer-
paufe geht8; dann erlahmt der Eifer und die Pflicht wird leidige Laſt. Bildeft
Dir, Snob, gar wohl was darauf ein? So fragt Mancher; und fügt Hinzu:
Jedem halbwegs Geſcheiten ift es die jelbe Qual. Auch die Erflärung ift bei
der Hand. Diefer Reichstag! Schlimmer nod) als das illiterate Parlia-
ment, das vor fünfhundert Jahren Englands vierter Heinrich berufen hatte.
Jobn Gully, der zum Abgeordneten gefürte Preisfchter, wurde in Weft-
minfterwieein Wunderthier begafft; bei uns wimmelts heute von Gullys aller
Sorten. Nur natürlich, daß Niemand ſich gern mit ſolchen triften Epigonen
beicäftigt. Die alte Weiſe, der alte Tex! ; längft gehört jadie Geringſchätzung
„dieſes“ Reichstages zum guten Ton. Und dod) figen neben vielen Banaufen
auch Leute von achtbarem Wijfen und wachem Menſchenverſtande, die für
ihren Beruf tauglic) find. An der Qualität der Einzelnen kanns alfo nicht
liegen. In London ift mehr politischer Inſtinkt und feinere Verlehrsform,
in Baris mehr Temperament, in Budapeftfhärfere Witterung für Konjunk⸗
turen; die Summe der verjammelten Jatelligenz tft wohl in feiner der drei
Städiewefentlihhöheralsin Berlin. Der Unterſchied muß anderswo zu ſuchen
fein; und iſt leicht zu ſinden. In London, Paris, Budapeſt regirt das Par-
lament, giebt Geſetze, verwaltet, durch Hirn und Arm feiner Führer, das
Land. IaWien ſogar zwingt es der Burenufratie feinen Willen anf, zwingt
oft jetoft den Raifer zur Wahl neuer Gehilfen. In Berlin keitifirt es; nad
Im un Bu 8
436 Die Zukunft.
der felben Methode, die in den Beitungen angewandt wird, und meift auch
mitdemfelben Erfolg. Nicht allzu unſanft. Die Zeitder großen Auseinander-
fegungen ift für die bourgeoifen Gruppen vorbei. Die Urbanen haben über
die Paganengefiegt, die dampflo;en Tage des Agrikulturftaates, des geſchloſſe⸗
nen Handelsftaates kehren nicht wieder; und mählich v:rhaftt auch der Hader
ber ge palienen Chriftenheit. Die Broteitanten haben das Proteftiren ver-
lernt und find froh, wenn fie in ihrem Toleranzwinkel nicht geitört werden;
und die Katholiken find im eich des Iutherifchen Kaifers recht zufrieden,
find zu gut genährt und zu flug, um ſich nod) in den Wahn Darbender zu ver⸗
irren, die Frucht lönne Dem fchneller reifen, der mit der Yampe die Blüthe
wärmt. Früher wars anders. Da foht man um Beute, ums Daſeinsrecht
und wäre gern über Leichen zum Siege gefchritten. Yet begnügt Jeder ich
mit ber Öeberde des reifigen Kriegers, ıft Jeder zufrieden, vergnrügt, wenn bie
Schlachttage unblutig verlaufen und, im ſchlimmſten Fall, der Radaver eines
Amtsichimmels auf dem Felde bleibt. Fragt doch Herrn Schaedler, Herrn
Sattler, Herrn Richter, ob fie der Wunsch treibt, den Grafen Bülow vom
Plage zu jtoßen. Warum denn? Ein ihnen bequemerer Dann würdeden Ges
ſtürzten ficher nicht erfeßen. Graf Limburg-Stirum, Herr Stoeder, Herr
von Viebermann wünfchen ſich wohleinen anderen Kanzler, wiſſen aber, daß all
ihr Wünschen und Winken nicht hilft. Nirgends der Anſpruch, zu regiren; auf
feiner Seite des Hohen Haufes auch nur der Wille zur Macht. Das wäre
ganz ſchön, wenn all die Herren fagten: Uns gefällt diefe Negirung, drum
unter ftügen wir fie und hılten uns, halten das Rand nicht erftlange mitleinen
Ouerelenauf. Doch auch dazu fehlt wieder der Muth. Keiner will unbedingt
gouvernemental fcheinen. Die Regirenden find nicht die Bertrauengmänner
der Nation, und wer ihnen allzır zärtlich nahte, würde am Ende, als Streber
und Gunjtbettler, nicht wiedergewählt. Flint die Stirn in Falten; mit düfte-
rer Diiene das Sündenregifter verlefen. „Mit tiefem Bedauern haben wir
gehört...” „Geradezu entjegt waren wir, als ſich zeigte..." Nur darf
das Bedauern und das Entjegen nicht etiva zu Befchlüffen führen, die das
Syſtem vom Thröndhen ftoßen Fönnten. Man will ja feine Aenderung, will
nur vor den Wählern Eifer präjtiren. Dan redet alſo, tadelt fanft, tadelt
ftreng, chüttelt dann eine vom Bundesrathstiichgnädig herabgeftredte Hand,
padt die Alten zuſammen und geht ftolz nach Haufe. Viermal wurde wähs
rend der Rede laut gelacht, auch drüben bei den Gegnern, am Schluß gabs
ein anjtändiges Bravo und keine Excellenz hatte ein Wort übel genommen.
Mehr war nicht zuerreichen. .. Was aber ſoll daran noch interejjiren? In
Reichsparlirer. 427
Bezirksvereinen, in der Fraltion mag Freude herrſchen, weil ihr Mann ſeine
Sache gut gemacht hat. Für uns iſts ſchlechtes Theater. Immer die ſelben
Spieler, immer die ſelben Rollen. Niemals ein neuer Ton. Nur die Raids
ften wiffen noch nicht voraus, was Jeder über jeden Gegenftand jagen wird.
Acht Tage lang haben wirs nun wieder erlebt; und „große Tage“
foffen darunter geweſen fein. Acht Sigungen, die erften nad) den Wahlen,
eine ſchrankenloſe Debatte: da müßte doc Etwas herauskommen. Nichts,
Eine gute Rede des Kriegsminifterg, eine amufante des Kanzlers; auch ein
paar Abgeordnete ſprachen recht nach der Kunſt. In den erften Tagen wird
über Alles geredet. Das geichah auch diesmal. Von der Mandſchurei gings
reeta nach Krimmitfchau; von Bilfe zu Vanderbilt. In den acht Stenogram⸗
men ſteht aber nicht ein neues Wort, nicht eins, das nicht vorher ſchon in
einem Parteiblatt ftand. An Kritik war kin Mangel. Früherblieb fie meiſt der
jeweiligen Oppoſition überlaſſen; die der Regirung befreundeten Parteien
ſuchten, ſo lange es irgend ging, alles Unangenehme zu verhüllen. Jetzt giebt
es Feine Oppofition mehr — die Sozialdemokratie, die praftiiche Politik nicht
treiben will, ift ein Ding an ſich — und alle Fraktionen haben erkannt, daß die
Tadler im Reich deutichen Mißmuthes eher Gehör finden als die Lober. Seit-
dem kommts eigentlich nur noch darauf an, wer am Koͤnigsplatze zuerjt das
Wort erhält. Spricht Herr Schaedler vor Richter und Bibel, dann kann er die
Almabweiden. Selbft Forbach, Hüffenerund die Soldatenfchindereien wirfen
bei der Wiederholung nicht mehr wie neu. Auch die Hegirenden haben fich das
Beſchoͤnigen ziemlid) abgemöhnt. Nur die Sachfen beftreiten manchmal noch
Alles undbetheuern, das Haus Wettinrageinderbeften aller Welten himmel⸗
an. Die Anderen geben Mißftände zu, die man nur nicht „verallgemeinern“
dürfe und die nächftens „abgeftelit” fein würden. „Wir verfennen durchaus
nicht...” „Wir werden mit aller Energie...“ Das ift die Antwort auf das
Bedauern und Entjegen. Alles bleibt hübſch anodin. Den lieben Sommer
lang fchneidet der Herr Abgeordnete aus feiner Zeitung, was ſich irgend für
bie Generaldiskuffion brauchen läßt. In der jelben Beit liefert dem Herrn
Minifter oder Staatsjefretär fein Geheimrath die felben Ausfchnitte nebjt
dem entlaftenden Material. Dann kommt der taufendmal bejchnüffelte und
beleckte Brei auf den Tiſch des Haufes und wird langſam ausgelöffelt. Wir
können nicht billigen. Wir werden abftellen,. Bindende Verfprechen werden
nicht verlangt. Keinerdenft daran, dem Miniſter, deffen Reſſort mit fo grim⸗
mem Eifer getadelt wurde, da8 Gehalt zu weigern. Wer gläubigen Herzens
die Reden lieft, muß glauben, die Zeit der „unzähligen fandammeerigen
84?
428 Die Zukunft.
und fternambimmeligen Mißbräuche“ fei wiebergefehrt, anf bie Johann
Fiſchart einſt mit Keulen einſchlug. So ſchlimm iſts aber nicht; umd wird big
zum nächſten Jahr noch viel beſſer werden. Ganz ſicher. Oder man fängt
im Herbft eben von vorn an. Angreifer und Angegriffene wiſſen genau, was
fie zu erwarten Haben, und regen fich nicht ernſtlich auf. Das Stüd iſt ja ſo oft
geſpielt worden. Nach Sechs, um Sieben ſpäteſtens iſt Alles aus und, ſo
weit das Auge zu blicken vermag, nichts, nicht das Geringſte verändert.
Die Protagoniſten hießen diesmal Auguft Bebel und Bernhard Bü-
low; und mußte das alte Stüd wirklich wieder gejpielt werden, fo war eine
beffere Bejegung der Hauptrollen nicht zu erfinnen. Beide Männer find
Nedner, nicht Politiker. Beide vergeffen fchnell, was fie gefagt Haben, und
ſuchen nur dem Moment zu genügen. Beide glauben nach einer gelungenen
Rede inniglich, fe hätten Etwas geleiftet. Beide hat die Erfahrung gelehrt,
daß die Wiederholung bewährter Effekte ſtets willlommen ift: Herr Bebel
erzählt alljährlich, im Deutjchen Reich fehe es aus wie im Nom der legten
Caeſaren; Graf Bülow prägt fich vorjeder Szene die dazu paſſende Rede feines
„großen Vorgängers“ ein und kommt den Gründlingen im Parterre bis—
märckiſch. Der Eine iſt Pathetiker und nur ſtark, wenn er wüthen kann.
Der Andere iſt Feuilletoniſt und des Erfolges gewiß, wenn er im weltmänni⸗
chen Plauderton bleiben darf. Jeder auf ſeine Art ſehr tüchtig. Nocheine Aehn⸗
lichkeit: Beide leben fo ganz und fo gern in der Zeitungwelt, daß fie die Wirk
lichkeit faum noch erfennen undgewirkt zuhaben wähnen, wen ihre Preſſe ſie
lobt. Jeder fühlt die Schwäche des Anderen: Siehaben von Wirthichaftpolitif
feine Ahnung und können nur Wite machen, fagt Bebel; Sie koͤnnen nur
fritifiren und leiften nichts Pofitives, fagt Bülow. Am erſten Tag hatte der
Kanzler die dankbarere Rolle. Weltverbeiferer und Spötter: aus hundert
alten Stüden kennt man die Szene. Sie verlangen Engelsgüte und Engels⸗
reinheit und find felbjt doch Fein Engel; Sie ſchwärmen für Freiheit umd
Schelten Ihre Frau, weil fie eine halbe Stunde länger als fonft beim Kaffee-
Hatich faß. Und jo weiter. Cela ne rate jamais, pflegte Sarcey von ſolchen
Szenen zu fagen. Graf Bülow hat fie munter gefpielt; alle Witze über den
dresdener Parteitag waren gefammelt und wurden mit guter Yaune vorge
tragen. Der Zukörerfonntefogarglauben, jet jolle ein Neues werden ;die Ne
girung habe befchloffen, die Sozialdemokratie nicht mehr ernft zunehmen, fi,
im Parteikefjel ſchmoren zu laſſen und fortan nur noch ironisch zu behandeln
Das bringt den Pathetiker zur Maferei; der unerträglichite Gedanke ift ihm
daß er vom Gegner nicht gefürchtet wird. Ob aus der Hofiphäre nun dei
Neicheparlirer. | 429
Kanzler zugerufen ward, er jei zu glimpflich mit der rafch wachjenden Rotte
verfahren, ob er der Amtswürde feierlichen Ernft zu Schulden glaubte: ſchon
am zweiten Tag ſprach er ganz anders und am dritten deutete er feine Be-
reitwilfigfeit an, ein Ausnahmegeſetz gegen die Sozialdemokratie vorzu-
ichlagen, wenn er ſicher fein dürfe, für folches Geſez eine Mehrheit zu finden.
Ein gröberer Fehler war faum denkbar. Erftens hat ein Kanzler, der ein
Sozialiftengejeg für nöthig Hält, die Pflicht, fich eine Mehrheit dafür zu
juchen, und darf nicht thatlo8 abwarten, daß ihm das Geſetz apportirt wird.
Zweitens wäre es verhängnißvolle Thorheit, eine Partei, die jo gefährlich
Icheint, mit Wigen abthun zu wollen. Piychologie des Redners: er beraufcht
fih am Schalf feiner Worte und will licher auf Widerfprüchen ertappt als
im Augenblid ohne Applaus entlafjen fein. Schade. Die Tonart des erften
Tages war vom Standpunkte des Kanzlers richtig gewählt. Mit unzwei-
deutiger Entichiedenheit mußte gejagt werden, an Ausnahmegeſetze fei gar
nicht zu denen; die Sozialdemofratie habe ihre Schreden verloren und werde,
wenn man fie in Ruhe laffe, den Weg aller Bergparteien gehen. Wer ihr ſich
gejellen wolle, möge es ungefährdet thun ; die Enttäufchung werde ihm härtefte
Strafe jein. Das hätte muthig gelungen. Jetzt werben die Genoffen bie
dresdener Widermwärtigkeiten raſch vergefien. Seht hr, wirds heißen, ſelbſt
diefer Bülow, der ſich für einen modernen Menſchen ausgiebt, fehnt die
Stunde herbei, wo er die Polizei auf und beten, ung heimlos, friedlo8 machen
farın. Und in diefer Zeit wolltet Ihr mit der bürgerlichen Gefellichaft pal-
tiren und ins Schloß Frieden? Das wird bleiben, alles Andere ins Leere
verhallen. Und Herr Bebel ift ftärker, als er vor vierzehn Tagen war.
Die ganze Sozialiftendebatt:... . Leben denn immer noch Leute, die
von folcher öden Rednerei Wirkung erhoffen? Ein paar gute Späße mochten
hingehen; eine ernfthafte Diskufjion, die auf die fterblichen Stellen des
Marxismus wies und aus der neuen Biologie ſich die Waffen holte, konnte
nüglich werden. Nur nicht die alten Geſchichten vom Theilen, vom nie ent-
hüllten Zukunftſtaat, von dem großen Reichszuchthaus. Daß damit gegen
die Sozialdemokratie nicht auszurichten ift, follte man feit mindeftens elf
Jahren wiſſen. Die Herren Richter, Stumm, Stoeder, Bachem haben ſich
1893 müde geredet und Alles vorgebradht, was in populären Schriften ge-
jammelt war. Der Liebe Mühe blieb unbelohnt. Gräuelmären vom Zufunft:
ſtaat ſchrecken die Menge nicht, der unfer heutiger Staat feine Wonnen ge:
währt. Ihn zu befiern, wäre die Aufgabe ſchöpferiſcher Politik geweſen.
Doch blutwenig ift gejchehen. An die großen Probleme wagt man fid) nicht.
Verſicherung gegenErwerbsunfähigfeit undArbeitlofigkeit, Wohnungreform,
480° Die Zutunft.
Moderniſirung des Erbrechtes, des Kreditweſens, der Armenpolitik: da könnte
ein Staatsmann zeigen, was er vermag. Worte find fein ſpezifiſches Mittel
gegen foziale Nöthe. Jede Partei hat in ihrer Yugend mehr verlangt, als fie
je erreichen konnte; auch die Heute Nationalliberalen wollten einft mit Ty⸗
rannenblut färben und die Fortichrittsmänner, bie noch in den achtziger Jah—⸗
ren die unbeſchränkte Herrſchaft des Parlamentes forderten, find jegt froh, wenn
ſie den Regirenden etliche Millionen aus dem Etat kratzen können. Das ſelbe
Schickſal wird der Proletarierpartei beſchieden fein; unter tauſend Sozial⸗
demokraten zweifelt kaum einer daran, daß es in der gemeinen Wirklichkeit
nie ausſehen wird wie in Marxens Gedankenretorte Näher als der Zukunft⸗
ſtaat iſt ihnen die Gegenwart, deren Schäden ihr Leib ſpürt. Hättenicht Bebel
geſprochen, den jede Widerrede in blinde Wuthtreibt, ſondern der kühle Skepti⸗
fer Auer, dann wäre der Angriff des Kanzlers wohl mit der Frage abgewehrt
worden, wie er denn feinen Kapitalijtenftaat zeitgemäß umzugeftalten ge»
denke... Wir bleiben ftetS auf dem felben led, hören immer wieder die alten
Lieder. Die Zölle werden ermäßigt und wieder erhöht. Das Sozialiftengefet
fällt undwird vonder Sehnſucht zurückgewünſcht. Warum? DieRothen machen
feine Resolunion, drohen nicht einmal damit, thun in Fabriken und Kafernen
ihre Pflicht, ſiegen in wichtigen Kämpfen gegen die Unternehmer faft nie, haben
nicht schlechtere Eigenſchaften als jede lange unterdrückte Klaſſe, die in die Höhe
ſtrebt, und nehmen dem Staat nicht die Lebensluft. Warum alſo? Weil ihre
hochmüthigen Reden ärgern und weil nur, das Reden noch gilt. Ach, Excellenz:
nos songes valent mieux que nos discours, ſprach ſchon der alte Dion»
taigne. Wem ſchadets denn, daß wir in Zolldebatten und Sozialiſtenfehden
die tauſendmal vernommenen Reden abermals hören? Höchſtens dem Par⸗
lament ſelbſt, das von Jahr zu Jahr langweiliger und kraftloſer wird. Gewiß
nicht dem Staat. Der lebt nicht von Worten. Und wer das Geſchick eines
Staates geftalten will, kann das Wort fo hoch unmöglich ſchätzen.
Zwiſchen Journaliften und Parlamentariern ift bei uns faum noch
ein Unterfchied fühlbar. Meeift leiften bie Yournaliften mehr; die Parlamen-
tarier plappern ihnen das Befte nah. Und fchreiben ift ſchwerer als reden;
der Schreiber muß feinere Arbeit leiften, werner Erfolghaben will. Er dürfte
nicht, wie der Kanzler des Neiches that, Proudhon, der Ahnen des Anarchis⸗
mus, Rommuniftenaus Marrens Geſchlecht als Autoritätvorführen. Seht
Euch in Bülows bemunderter Rede doc die Stellen an, denen der ftärlite
Beifall folgte. „ZA kann Sie verfichern, daß in Republifen auch mit Waſſer
gekocht wird.” „Sch verfichere, daß der Senat in Nom zur Zeit des Kaiſers
Reichsparlirer. 431
Tiberius ganz anders ausſah als dies Hohe Haus.” „EI giebt nicht nur
Fürftenfchranzen, es giebt auch Volksſchranzen.“ „Wo herrſcht denn weniger
Freiheit als beighnen?“ „Es hat niemals ein Konzilgegeben, wo eine ſolche
Unduldſamkeit, eine ſolche Engherzigkeit, eine ſolche Ketzerrichterei geherrſcht
hätte wie auf Ihrem letzten Parteitag.“, DieFreiheit, die Sie meinen, iſt: Will⸗
für für Sie, Terrorismus für Andere. Und willſt Du nicht mein Bruder fein,
fo Schlag’ ic) Dir den Schädel ein.“ „Bilden Sie, Herr Bebel, fich etwa ein,
ein Engel zu fein? Sieftnd mir ein netter Engel!" „Wenn Siedurd) irgend
ein Wunder plöglic an die Macht fämen, würde Ihre ganze Unfähigkeit fich
in bengalifcher Beleuchtung zeigen ; nur im Berftören und Ruiniren würden
Siegroß fein.“ „Alle Verſuche, andie Stelle der organifchen und gejegmäßigen
und verfafiungmäßigen Fortentwickelung die widerrechtliche und gewaltjame
Revolution zu fegen, werden nad meiner Ueberzeugung fcheitern, — ſchei⸗
tern an dem gefunden Sinn des deutſchen Volkes, das fich ſelbſt aufgeben
müßte, wenn es Ihnen folgen würde.“ Nach jedem diefer Säge ift „Iebhaftes
Bravo”, „Sehr gut!” oder , ſtürmiſche Heiterkeit" verzeichnet. Wer hat nicht
jeden von ihnen feitden Dresdener Schtembertagen zmanzigmalgelejen? Und
wer willleugnen, daß der Durchfchnittsjournaliftin hellenStunden Aehnliches
und oft Beſſeres produzirt, ohne des halbals ein Mann von vielen Öraden ange⸗
ſtaunt zu werden? Auch die Wortkünſtlerleiſtung iſt alſo gering. Redner großen
Stiles, denen zu lauſchen Genuß ift, haben die bourgeoifen Parteien und die
Verbündeten Negirungen heute nicht. Das Hohe Haus erfülltſchon Seligfeit,
wenns was zu lachen giebt, wenn ein eleganter Herr ſich zum Ton mittel»
wüchſiger Feuilletoniſten und Wigblattjchreiber herabläßt oder Baralitäten
losböllert. Dann wirdeifernd geitritten. „Richter war gejtern matt.“ „Bebel
zu lang und zu monoton." „Keiner jo frifch und fo kuftig wie Bülow.“ Un-
gefähr wie im Wintergarten, wenn die Brogrammiterne verfchwunden find.
Als hätte für das Reich, für da3 Volk die Couliffenfrage irgend welche Be⸗
deutung, ob heute der Eine oder der Andere beifer bei Stimmung war.
Millionen find für einen Palaft ausgegeben worden, die würdige Stätte
der Reichsrathsverſammlung. Monate lang wurde verfucht, das Volk zu er⸗
regen. Vierhundert Abgeordnete entziehen fic) der Berufapflicht. Beamte,
Stenographen, Seter, Diener plagen fi. Licht, Komfort aller Art, Papier,
Drud, Hausverwaltung: das Alles koftetin jedem Jahr ein nettes Sümmchen.
Minifter, Staatsfefretäre, Dezernenten, Räthe vertrödeln Wochen und laſſen
inihrem Bureau Altenftöße verftauben. Wozu? Damit geredet werden kann.
Sünfhundertmündige Männer find dem Haus, den Gejchäften fern, um Reden
432 Die Zukunft,
zu halten, Reden zuhören, aufzufchreiben, zu drucken. Reden, die im Palaft
Keinen überzeugen, braußen nur von fhon vorher Ueberzeugten geleſen
werben denn jedes Blatt berichtet ausführlich janurüber bieDratorenleiftung
ber eigenen Partei und lürzt alles Andere fo, daß es wie wirres Gefaſel klingt.
Der Freund ift immer ein Held und ein Weifer, der Öegnerimmerein Narr;
in der Voſſiſchen überftraglt Richters Ruhm das große und Heine Himmels:
licht, im „Vorwärts“ hat Bebel Kanzler und Bourgeoiſie zerfchmettert. Die
Regirenden werden je nach dem Bedürfniß der Stunde behandelt; ift die
Börjenreform und die Kartalvorlage in Sicht, der Minimalzoll noch nicht
gefichert, jo heißts bei den Tiberalen, Graf Bülow habe „die Scharfmader
zu Baarengetrieben” ‚bei ben Agrariern, die Erflärungen des Ranzlers ließen,
trog aller Gef; ’cklichkeit, die Sehnfucht nad einem ſtarken Dann nicht vers
ftummen. Ein reizendes Spiel. Der Vortrag macht des Nedners Glück;
nicht, was, fonbdern, wie ers jagt. Wer kein Redner ift, wirkt al8 ein Tropf,
auch wenn er ein weitfichtiger Finder neuer Möglichkeiten und ein guter Ber»
walter iſt. Wird diefer Jahrmarkt der Eitelfeitaberallgemach nichtein Bischen
zutheuer ? Das Achttagewerk, das wir jetzt erlebthaben, wäreviel billiger und
nicht weniger nützlich geworden, wenn die geehrten Herren ihre „&edanten“
in Zeitungen veröffentlicht hätten. Ein Parlament ift, der Name lehrt es,
ein Sprechhaus, ſoll aber nicht zur Aula, zum Klofterparlatoriun, zur Sing:
Spielhalle werden. Hinter dem Wort muß ein Wille fühlbar fein, der Wille,
zu wirken, nicht dte Gier, ein Artiftenfrängchen heimzuſchleppen. Ob Diejer,
ob Jener die Sätze zierlicher feilt, die Witze ſorgſamer fpigt, gilt ung nad)
gerade gleich. Wir wünjchen uns Dlänner, denen das Wort nur unentbehr-
liches Mittel ift, nicht Zwed, und deren Weſensmaß Thaten, nicht Reden
erfennen lehren. Der Blödefte müßte endlich doc) gemerkt haben, was ben
Sozialdemofraten vorwärts hilft. Neben Allzuperfönlichem daß fiezu wollen
wagen.Herr Schaedler will nicht einen Papſtlämmerer als Kanzler: Der dürfte
ja nicht einmal Heine Gefälligkeiten erweiſen. Die Konſervativey erſchräken,
wenn Wangenheim ins höchſte Reichsamt berufen würde: die ganze Indu⸗
ſtrie ftünde bald wider ſie auf. Die Nationalliberalen haben nichts dagegen, daß
die Reichsfaſſade altpreußiſch bleibt: was gemacht werden kann, wird hinten
gemacht. Keiner vertraut der Wucht feines Wollens. Und die Regirenden
find kreuzvergnügt, weil ihr Baraderednier den lauteſten Beifallerhalten hat.
Fr
Eorpsftudenten Im Stant. 433
Lorpsftudenten im Staat.
eber den Werth des Corpsſtudententhumes für unfere Zeit ift oft ge-
firitten worden. Viele Stimmen verurtheilten es al3 eine Einrichtung,
die ſich überlebt habe, eine Schule der Aeußerlichkeiten und Berflahung, als
ein bequemes Brett zum Sprumg in hohe Stellungen, die der Springer durch
eigene Tüchtigkeit und aus eigener Kraft nicht erreichen fonute. Die Debatten,
die geführt wurden, waren meift umnintereflant und unfruchtbar, weil fie den
Kern der Sache nicht trafen. Auf der einen Seite ging der Haß Derer,
die fi) durch die Bevorzugung der Eorpsfindenten zurüdgefegt und gejchädigt
Sühlten, rüdfichtloß der ganzen Einrichtung zu LXeibe; auf der anderen Seite
wurden die Corps nicht nur ihrem eigentlichen Gehalt nach, fondern auch
in ihren Beziehungen zum heutigen Staatsleben vertheidigt. Beide Barteien
führte der Eifer zu weit. Der Kenner weiß heute aus Erfahrung, daß das
"eben des aktiven Corpsſtudenten unbeftreitbaren Werth befist; der Ehrliche
aber wird zugeben, daß die Art, wie der Staat ſich in unferer Zeit des
Corpsſtudententhumes für feine Bmwede bedient, ſchadlich ift.
Der Schwerpunkt des Corpsſtudententhumes Liegt im Leben des Aktiven.
Denn hier werden die befonderen Gefinnungen und Eigenfchaften entwidelt,
die das fpätere Dafein beftimmen. Die Gegner fagen nun, ein anftändiger
Kerl könne man fein, auch ohne daß man Corpsſtudent war; an Kenntniffen
reicher aber werde man jedenfall, wenn man feine brei oder vier exften
Univerfitätfemefter nicht mit „PBaulen und Saufen“ zubringt. Darauf if -
Mancerlei zu erwidern. Die heutige Exrziefungmethobe geht, vom Beginn
der Schule bis zum Ende der Univerfität, auf eine einfeitige Bildung des
Beritandes. Ihr Ziel ift, eine möglihft große Summe von Kenntniffen
dem Lernenden beizubringen. Auf Gemüth und fittliches Empfinden wird
dadurch nicht gewirkt. Die Pflege werthvoller Tugenden, wie Tapferkeit,
Selbſtzucht, Gerechtigkeit, fteht nicht im Programm und ift der Initiative
des Einzelnen überlajfen. Denn Niemand kann behaupten, daß die perfün-
liche Neigung zur Billigkeit durch juriftifche, zur Tapferkeit durch Hiftorifche,
zur Disziplin durch philofophifche Borlefungen entwidelt wird. Die deutjche
Erziehungmethode zielt ausfchlieglich auf eine wifjenfchaftliche, nicht auf eine
fittlih bedeutende Bethätigung der Perfönlichkeit.
Daraus geht hervor, daß die ftaatlich gewährte Bildung nicht etwa
Läden aufweift, fondern ihrer wejentlichen Aufgaben fi gar nicht bewußt
ift. Nicht das Maß der Kenntniffe, fondern die Durchbildung des Charakters
beftimmt in erfter Linie den Werth de Menſchen. Schnell mit dem Wort
Bertige meinen, für biefe Durchbildung forge da8 Leben felbfi. Das ge
ſchieht aber nur bei ſtark entwidelten Energien. Im Allgemeinen wird ber
Bufall darüber enticheiden, welche Grundfäge unſeres verworrenen Lebens
35
| RE VE U VE
454 Die Zuknuft.
das jugendliche, Leicht zu erobernde Gemuth fittfich beeinflufen und ihm die
Tendenz ſeines Dafeins geben werden. Die bequemftien Prinzipien werben
in zahlreichen Fällen vorgezogen werben, zumal die Flüchtigkeit und Haft
des Verkehrs eine Bffentliche Kontrole des perfänlichen Werthes nicht zulaffen.
Daraus ergiebt fi, daß eine Inftitution, die die vom Staat ftiefmätterlich
behandelte Bildung des Charakterd und Gemuͤthes auf fich nimmt, auch dann
werthvoll ift, wenn fie ihr Mitglied für anderthalb bis zwei Jahre der inten=
fiven Verſtandesarbeit entzieht.
Diefe Inftitution will das aftive Leben des deutſchen Corpsſtudenten
fein und ift fie in der That. Es hat zunädft das Mittel der Freude, um
die dom Lernzwang verhärteten Gemüther zu Lodern. Kräfte, die Jahrzehnte
lang unter der Tyrannis des Verſtandes ftanden, werden in Leben gerufen,
Schließen fi zufammen und ftellen das natürliche Gleichgewicht des Menſchen
wieder her. Bor Allem wird bie Begeifterung gewedt. Die herrliche Land⸗
ſchaft der Heinen Univerjitätftädte, ein treues kameradfchaftliches Verhältnig,
die Gebundenheit durch die ſelben Traditionen und das vereinte Fechten für ge
liebte Farben: all Das ift geeignet, jugendlichen Sinn Friſche und Elaftizität
zu verleihen. Dieſe Begeifterung in Ereigniffen großen Stils zu befunden,
ift Zwanzigjährigen nicht gegeben; fie haben nur die durch Alter gemeihten
Mittel ſchlichter Studentenart. Dem, ber über das Primitive dieſer Mittel
fpottet, ift zu entgegen, daß für den Kulturwerth nur die gehobene Seele,
ber feurige Herzfchlag in Betracht kommt. Wie diefe Erhebung bewirkt
wird, ift gleichgiltig; nur ein ganz Unkultivirter lacht über Den, der, trog
den beengenden Schranken von Jugend und Lebensftellung, ſich mit befchei-
benem Werkzeug fein Glück zimmert. Begeilterung und feelifher Schwung
find heute feltene Güter. Die Corps gewähren fie durch eine edle Miſchung
don Heiterkeit und Ernſt. In ihrem Bereich werden die frohen Feſte der
Jugend gefeiert, von denen alte und neue Lieder uns künden; bei ihnen wirb
aber auch ber Werth des Einzelnen gemeflen an dem Schatz traditioneller
Geſinnungen, die Alles in fich fchliegen, was den Mannesadel ausmadt.
So erziehen die Mitglieder einander durch Freude und Pflicht. Nur der im
feinen Anlagen Mißrathene wird abgeftoßen und muß wieder feine Wege
gehen; feines Mitgliedes innerſtes Weſen fchlüpft glatt und unerkannt an
ber Kontrole der Gefammtheit vorbei. Sache der Corps ift, der Freundichaft
die Treue zu halten, Traditionen zu ehren, die Ehre zu pflegen. Man ge
winnt in ihnen die Form und die äußere Sicherheit des Lebens, feftigt feinen
fittliden Grund, erprobt den Charakter an den äAußerfien Polen der Härte
und der Bartheit und gründet fih eine Heimath aller anftändigen Gefühle,
Heute, wo Alles auf eine armfälige Tagesnüglichkeit zielt und nur Güter
erftrebt werden — auch die Senntniffe gehören hierher —, die für ben Be=
Eorpäftudenten int Staat. 435
fitzer baare Münze werth find, ift der romantifche Luxus einer Iurzen, an
das rein mienfchliche, auch rein animalifche Aufleben „vergendeten“ Zeit nicht
hoch genug zu bewerthen. Daß das Corpsſtudententhum, wie jede irdiſche
Einrichtung, feine Mängel und Fehler bat, wird fein VBernünftiger beftreiten.
Bielfach wird behauptet, e8 babe jetzt die Lebenskraft und den Schwung ver⸗
. Toren, die es einft beſeſſen habe, und vegetire als unzeitgemäße Einrichtung
dahin. Das ift nicht richtig. Sch kenne das Corpsleben von acht beutfchen
Univerfitäten und darf behaupten, daß e8 heute, unter anderen Formen, genau
das Selbe will und erreicht wie früher.
Das gilt für das Leben der Aktiven. Anders fleht e8 mit dem Corps»
ſtudententhum als folhem. In vergangener Zeit verdankte man ihm nichts
als eine perfönliche Bereicherung des Innenlebens, eine Wedung von Kräften,
die bei vielen Anderen fchliefen, einen Schay fchöner Erinnerungen. Aber man
trug ſolchen Beſitz nit zur Schau, fondern hütete ihn, wie man ein gutes
Bild hütet. Zu dem Aufenleben trat das Alles nicht in Beziehung. Heute
aber hat fih das Eorpsftudententhbum mit dem Staat verbunden: und aus
biefem Bündniß entftanden alle feindlichen Stürme gegen die Corps.
Die Staatstunft unferer Tage hat hohe Ziele nationaler Politif nicht
zu zeigen vermocht. Ihr Wirken ift nicht das Entfalten eines großen Pro=
grammes, fondern ein beftändiges Saniren und Beichwichtigen, ein ängftliches
Retten von Tag zu Tag. Die modernen Ergebniffe wirthichaftlicher, wiſſen⸗
ſchaftlicher und Fünftlerifcher Thätigkeit fpiegeln fih in der inneren Bolitit
des Reiches nicht wider; zwifchen ihr und der zeitgemäßen, fich langſam ent⸗
widelnden Kultur entfteht ein immer fchrofferer Gegenſatz. Die Leitenden
fühlen die Macht ber neuen Zeitz flatt deren Kräfte aber im ihren Dienft
zu nehmen und das freie Geiſteswerk zur Grundlage von großen Reformen
zu machen, halten fie angſtvoll vorgeftrige Dinge feit und fuchen den Staat
als einen Komplex altmodifcher und verworrener Anſprüche vor dem An-
ſturm des Neuen zu fchügen. Für diefe Deutfchland in feinen Geifteslchen
bemmende Politit fuchen fie Unterftügung, wo fie zu finden feheint. So
mußten wir bie Religion zu einem „flaaterhaltenden“ Faktor erniedert fehen
und da8 Schaufpiel erleben, daß die Kunſt oft ihre mühſam erworbene
moderne Art verließ, um würdeloſe Dienfte zu thun. Doc diefe Krüden
genügten nicht, um eine müde Politit vom Heute zum Morgen zu fchleppen.
Der Beamten mußte man ficher fein; zumal derer, die im Berwaltungbienft
ftehen. Und wie unfere Politik die Neligiofität dadurch vergiftet hatte, daß
fie fie als ihr mohlgefälig überall belohnte und bezahlte, wie fie die Kunft
demoralijirte, indem fie ihre patriotifche Gefinnung auszeichnete, fo bemäch-
tigte fie jih auch des Corpsſtudententhumes, dieſer Duelle harmlofer De
geifterung, jugendlicher Freiheit.
85*
«
n
436 Die Zuhmft.
In Folge der Schulung feines Charakters, der Ausbildung feines
Taltgefühles und feines Sinnes für Disziplin eignet fich der Corpsſtudent
gut für die höheren Stellungen bes Staatsbeamten. Nun ift für diefe Poften
das Haupterforderniß aber „politifche Zuverläffigfeit“, die darin befteht, daß
man unter Aufgabe feiner Perfönlichleit mit der Regirung auch da, mo es
fi nicht um Ausübung des Amtes handelt, felbft wider befjeres Willen und .
Gewifien durch Did und Dünn geht. Diefe fittlih zweifelhafte Forderung
widerfpricht fchroff den corpsftubentifchen Tugenden des perfänlichen Muthes,
der Ehrlichkeit und der eigenen Werthſchätzung. Wenn der Corpsfiudent die
- dem in dieſem Sinn „Zuverläffigen” gebührende Stelle erhält, muß er bie
im aktiven Leben geübten Gefinnungen verleugnen. Er muß fi, wie jeder,
ber fih um biefe Poften heiß bemüht, der Uebermacht eines Syſtems beugen,
gegen das er als Einzelner ohnmächtig if. So Fam «8, daß die ald Schwäche
fittlich tiefftehende „politifche Zuverläffigkeit”, bie für die leitenden Staats»
ftellungen gefordert wird und bie weder mit altpreußiſchem Gehorſam noch
mit corpsftudentifcher Art das Geringfte zu thun bat, durch die Bevorzugung
des Corpsſtudententhumes Außerlih mit ihm verbunden erſcheint. Schon
hält Mancher für nüglich, die feile Liebedienerei, die jedem Corpsftudenten von
Natur verhaßt ift, als corpsftubentifche Tugend zu preifen, die Belohnung ver-
diene. Die Folge war, daß dem Leben bes Aktiven die Harmlofigfeit gefährdet und
fhon in der Jugend eine der dürftigen, unproduktiven Politik genehme Art, das
ftaatliche und foziale Leben zu fehen, herangebildet wurde. So fette der Staat vor
bie Schwelle des aftiven Corpslebens die Hoffnung auf VBortheil und Belohnung,
trug in diefe ſchöne Zeit die Furcht, ob fie zu Gunſten der fünftigen Karriere
‚gut ablaufen werde, und ließ an ihrem Schluß die Freude darüber entfichen,
daß nun die erfte VBorbedingung zum Avancement gefichert fei.
So beſchmutzt der Staat felbft alle Quellen, aus denen ihm reine
Freude fließen Lönnte. Und wie die Religion, die Kunft am Beten gedeihen
und die meiften Anhänger finden wird, die um ihrer felbft willen ehrlich
geübt wird, fo bat aud das alte Corpsſtudententhum, das mit Begeifterung,
fein von flaatliden Beziehungen, zur perfönlichen Freude und Bereicherung
gepflegt wurde, eine höhere Blüthe erreicht als das jegige. Auch heute noch
ift das aktive Leben tüchtig und herrlich, auch heute noch medt e8 Freude und
Begeilterung und der jugendliche Sinn überwindet fpielend den gefährlichen
Geift der Vortheilsſucht. Zu wünfchen wäre aber, daß die bier gefammelten
Kräfte vereint auch im fpäteren Leben ber Uebermacht eines fchlechten Staats:
foftem8 Stand hielten. Gutes verheißt nur die Bolitil, die der Wahrheit
und bem Muth freien Raum läßt; in den Abgrund aber führt fie, wenn
Heuchelei, Feigheit und Sklavenfinn ihre unentbehrlichen Stügen find.
Bofen. Wilhelm Uhde.
*
Das Märchen der Dezembernacht. 487
Das Märchen der Dezembernadit.
on einem Wunderland, von einem Reich der Märchen und der großen
Bauberkünfte will ich erzählen. Denn Dies ift die Beit und der Monat
des Märchenerzählens; eines heimlichen und jühen Traum und Dämmerung»
lebens, das in unjeren Seelen erwacht. Es fteigt in uns herauf, es dringt von
außen mit dunklen Gewalten auf uns ein. Denn innig und feft, durch alle
Bande des Blutes und Lebens, find wir mit ber Natur, mit Wald und Straud,
mit Waſſer und Licht, mit Himmel und Erde verflodten und bie Seele in ung
tft nur eine andere Tyorm der Welt, die ung umgiebt. Bon einer Myſtik des
Greifenalters ſpricht unfere Piychologie, von einem Geiſteszuſtand des alternden
und binfterbenden Menſchen, ba er gleihfam mit neuen Sinnen in andere Welten
bineinlaufcht und Hineinihaut, wieder zum Kinde wird und mit einem felig
gläubtgen Lächeln ſich aufbaut, was er als Mann zerichlug. Und aus dem alten
Indien willen wir, daß ber Mann, wenn er fechzig Jahre alt geworden, den
großen Abſchied von biefer Erde nahm, Haus, Hof und Befiß verließ, von Weib,
Kind und Familie fi losrik und in ben Wald, in die Einſamkeit ging, um
das Daſein, das er bier führte, durch letzte Selbfterfenntniß zum reinen Ab⸗
ſchluß und zur Vollendung zu bringen. Trägt nicht vielleicht auch dieje ent»
laubte und Binfterbende Winterwelt tiefinnerlich fchon von Uranfängen Ber ſolch
ein myſtiſches Träumen und Warten in fih? In den langen, dunklen Nädten
hören wir, wenn wir mit Dichterfinnen in die Finſterniſſe hineinlauſchen, bie
Lieber und Melodien eines verborgenen Lichtes, das wir nicht fehen, den Geſang
einer verfunfenen Sonne, die mit all den Blumen und Kräutern und Diyriaden
lebendiger Keime in die Erde hinabſank. Al das Ticht und das fchlafende Leben
tn den vereiften Waflern und den Schollen der Aeder, bie Säfte, bie in den
entblätterten Bäumen treiben und jeden Mugenblid fertig find, junge Knoſpen
zu bilden, wenn die Luft nur einige warme Athemzüge thut: es find jüße
Stimmen einer Märchenwelt und erzählen und von verſunkenen Frühlingsreichen
und vergrabenen Sonnentempeln, von Tchlafenden Königinnen und verborgenen
Schägen. Und wenn gerade in diefen Tagen, immer wieder ſchon ſeit Jahr⸗
taufenden, wie eine NRaturgewalt, eine wunderbare felige Märdenftimmung über
uns kommt, ein ſeltſam Sinberweien, all das Heimliche, das wir Weihnadhtluft
und Weihnachtfreude nennen, fo iſts wohl nur, weil unfere Seele wiberhallt
von den taufend Stimmen und Gefängen bes in Finfternifien verborgenen Lichtes,
weil unter den Oberflächen unſeres Bewußtſeins in purpurnen Tiefen eine neue
Sonnen: und Märchenwelt fchlummert, ein befjeres Menfchenland, wie unter
ben Winterbeden der lommende Frühling ſchläft. Und wir hören diefe Stim-
men gerade in diefer Zeit ber kurzen Tage und langen Nächte jo hell und beut-
lich, weil e8 eben bie fo dunkle Beit ift.
Ueber uns, die wir Kinder biefer nordiſchen Länder, die wir in einem
Nebelheim geboren und herangewachſen find, kommt zweimal im Lauf jedes
Jahres ein feltfamer und ſüßer Lichtraufg, eine Stimmung des Glückes und
einer hellen Quft, eine große, allgemeine Liebestrunfenheit, daß uns ift, als
ſollten wir alle Welt und Menfchheit mit freubigen Armen umfafjen. Die Feſſeln
438 Die Zukunft.
Idjen fi, auf einen Augenblid fpringen die Ketten, die uns umfchnüren, und
wir Schauen gleichſam auf eine neue, andere, verwandelte Welt Binaus, eine ſonn⸗
tägliche Welt, eine Welt der Güte und der Yreigiebigfeit: und Alles erfdeint
wie von reiner Poeſie Eriitallen umfloffen und durchleuchtet. Diefes kommt ein-
mal Über ung in den Maientagen, in der Bett der fpringenden Snofpen und
aufgrünenden Saaten, wenn die neue Sonne lebendig in all unfere Sinne ein-
dringt, und einmal wird es in uns wach in den Dezembertagen und wir ftellen
den immergrünen Baum des Lebens, von weißen Tichtern ftrablend, in unfer
Bimmer; wie im Frühling ift3 uns, als ftröme der goldene Wein der Wieder⸗
verjüngung dur unjere Glieder. Der Dezember ijt gleihjfam wie ein Winter-
maienmond und e3 find nicht zuleßt ſehr tiefe, geheime und geheimnißvolle
Ströme von Wechjelbezichungen, die unfere Maiengefühle und unfere ganze
Maipoeſie verbinden mit all den Freuden und feligen Liebesftimmungen bes
Weihnachtmonates. Mir ift, als verſpürte ih dba Etwas von einem großen
Rhyth nus, der durch das ganze Weltall geht und auch durch unjere menſchliche
‚Seele zittert, als rubte all Das, was wir Luft und was wir Leid, Freude und
Schmerz, Glüd und Ungläd nennen, mit feinen Wurzeln im unterften Schoß
ber Dinge vergraben. Unſer menfchliches Gefühl ift eine unendliche und unaus⸗
gefeßte Wellenbewegung; gleich bem regelmäßigen Steigen und Fallen bes Meer⸗
waſſers, fcheint es, jteigt auch bie Welle unferer Zuftempfindung, unferer Qebens-
glüdsgefühle immer wieder zweimal im Jahre, einmal nad fünf und einmal
nach ſieben Monaten, am Höchſten empor. Wie zwei Reime zufammenflingen,
fo verbindet eine innerlihde Harmonie unſere Maien- und unfere Weihnacht⸗
empfindungen. Wenn der Yrühling ins Land kommt, fteigt ein Drängen und
Wallen in uns auf, das und gleichjam aus ung ſelber beraustreibt. Eine Luft
nad Weite und Ferne blüht in uns auf. Uns werden Haus unb Bimmer eng
und draußen die Welt liegt in fo goldenen Schönheiten ausgegoſſen, daß wir
uns auflöfen und aufgehen möchten in all dem Licht und grünen Glanz der
Matennatur. In dieſen Winterftunden aber ift uns, als follten wir uns in uns
felber zufammenzichen, al8 müßten wir in uns und bei uns felbft einkehren,
als jchlöffen wir das Auge zu gegen die Welt, die uns als ein Außen umgiebt,
und würden uns eined an)eren Sonnenlandes und einer anderen Welt der Schön-
heit bewußt. Im Maienmonat gehen wir in ein Licht hinein, das wir als eine
Sinnenwirklichkeit trinken; wir ziehen einer Sonne entgegen, die leuchtend die
blauen Lüfte durchglänzt. Unſere Weihnadtluft ift das erfchauernde Gefühl von
einer verborgenen Sonne, die wir nicht fehen, von einem heimlichen Licht, ver-
ftedt binter Scleiern der Tyiniterniß, von einer Wunberrofe, die aus Schnee
und Eis aufblüht, mitten in halber Nacht, wie das alte Lied fingt. Der Weih⸗
nachtbaum ift nur ein anderes Symbol diefer myſtiſchen Weihnachtrofe, dieſes
Feuers in der Nacht, diefes Lebens im Tode. In DMaienfreude jauhzen wir
einer Welt entgegen, die uns mit taujend Gaben und Gütern, mit Blüthen und
Früchten überjchüttet; im Winter, wenn die Natur Targ und arm geworben,
fommt über uns cin Raufch der Fruchtbarkeit und Freigiebigkeit, daß wir gütig
einander bejchenfen. Zur Maienzeit ijt es die Natur, bie wir als Licht, als
Befreierin und Erlöferin empfinden; unſere Dezemberfreude aber tönt aus in
einen großen Jubelhymnus: Ecce homo! Und wir feiern den Erldſer Menfd,
Das Märchen der Dezembernacht. 439
den Menfchen, ben Lichtbringenden, welcher der toten Natur den Hauch des
Lebens eindläft. Wenn der Frühling uns umleudtet, ift in unjeren Glieder
ein Glühen und Drängen, eine Luft vom Dann zum Weib und vom Weib zum
Dann, Mat und Liebe klingt in unferer Seele wie ein Reim zufammen und
Alles, was Sinnengläd und finnlicde Liebe Heißt, kommt als feligiter Rauſch
über uns in ben Maientagen. Doc in den Weihnachtzeiten ſcheint es uns, als
verfpürten wir mehr und tiefer als fonft den Hauch und Athem einer unenb-
lichen @eiftesliebe, die über alle Dinge binfluthet; eine wunderbar heilige und
feierlihe Stimmung wird in und wach und wir fühlen ein Ewige und eines,
das alle Menichen mit einander verbindet und ſtark ift, aus diefer Welt des
Haſſes und der eindichaften eine andere Welt aufzubauen, wo zwiſchen Du und
Sch, zwiſchen Dein und Dein fein Kampf und Streit mehr ift.
Die zwei großen Wellen eines Lebensluftgefühles, die ung emportragen,
zegelmäßig wie ber Wechſel der Jahreszeiten — einmal zur Maien- und einmal
zur Weihnachtzeit —: find fie nicht wie die Rhythmen und die Wechjel, die wir
von je her in Ullem, was ift, wahrgenommen haben? Ein Doppellufteinpfinden,
aus zwei Quellen auffteigend, trägt und hebt uns, doppelte Lebenskräfte durch⸗
dringen uns und führen ung immer weiter, Wir wachſen einem Licht und einer
Sonne entgegen, die um uns find, einem Licht der Sinne und der Sinnen-
wirklichleiten, und wir ftreben einer Sonne und einem Licht zu, bie in uns
leuchten und glühen. Das wergrabene Licht, die Sonne, die wir nicht ſehen und
deren wir boch gewiß find, die das Gewiſſeſte alles Gewiſſen, das Wirklichite
alles Wirklichen bilden: wir ſprechen feit Zahrtaufenden davon als von unferem
höchſten Beſitz. Wir graben umfonjt nad ihm mit bem Meſſer des Arztes und
ber Wiflenfchaft, wir ſuchen es umſonſt mit Händen zu faſſen und zu greifen,
— und es ift dennod. Geift nennen wird, Natur und Geiſt. Das tjt ber
große und lebte Rhythmus, der unſer Daſein durchfluthet, da8 Doppelantlitz
der Welt, die zwiefade Duelle unſeres Lebens, bie beiden Schalen, in denen
wir auf- und niederjteigen. Maienluft und Maienfefte! Da rauſchen und dffnen
fih die Brunnen ber Natur, wir jauchzen der Welt zu, die uns grünend umfließt,
und wir fingen ein Lied von diefer Erde und von dieſem Menjchen. Dezember-
freube und Dezemberſeligkeit! Da feiern wir dem Geiſt ein Feſt und eine
wunderlide Märcenftimmung kommt über uns, ein Urkindergefühl und ein
Urkindesleben; mit Geifteraugen ſchauen wir im Schoß der Erbe vergrabene
Schätze, Sonnentempel und Lichtburgen, eine Welt großer Zauberkünſte und
ewiger Berwandlungen Öffnet fih uns, und wie im Tode ber Winternadt ein
Richt Teuchtet und eine Roſe entipringt, jo fchläft in biefer Mutter Erbe eine
Sindeserde. Unb wenn dieſer Menſch ablebt und ftirbt, dann fteht ein Zukunft.
menſch im Frühlingsſcheine auf, der aber nur fchlummert in dem Menſchen von
“Heute, wie der Same unter ber Schneedede des Winters jchläft und im Mai
als Blume aufblübt.
Bon dem Märchen der Dezembernadt und ber Winterfonnenwende will
ich |precden, von einem Bauberland und einem Reich ber Verwandlungen. Das aber
ift kein Märchen und ich fpreche nit von Wundern und Unmöglichleiten, fondern
yon dem Wirklichiten aller Wirklichkeiten; nicht in Wolfen und Himmeln über
ung, auf anderen Sternen und Planeten liegt dieſes Zauberland, fonbern es
440 Die Zuhmft,
tft nichts als dieſe unfere Erde und nicht in weiten Zulunftfernen dehnt es fich
aus, fondern es ift eine Segenwart und in jedem Augenblid können wir ben
Menſchen in uns zum Wbfterben bringen und ftehen lebendig da al$ ber neue
Beiftesmenfch, der große Freie, jenfeitd von Du und Ad, jenfeits von Dein
und Mein, von Egoismus und Altıuismus, erhaben über Todesfurdt und [os
von der Furcht vor dem Leben.
Seit fo mandem Jahrtauſend ringt die Menjchheit um die alle anderen
Tragen einfchließende Frage, was das Weſen der Welt fei, und das große
Grundproblem, das von je her die Philofophie und bie Wiſſenſchaft bewegte,
es ift noch heute immer das felbe und unjere mobernfte und jüngfte Natur-
wiflenfchaft Laut an dem jelben harten Brot, das fchon die älteſte griechiſche
Naturphiloſophie nicht zu verdauen vermodte. In zwei Qager gefpalten, ſtehen
heute die Naturphiloſophen einander gegenüber und belämpfen einander, wie bie
Philoſophen ſtets gethan haben. Ste nennen fi) entweder Atomiftiler oder
Energetifer. Iſt die Welt Stoff oder ift fie Kraft? Das tft genau die felbe
Trage, bie einft den Senfualiften John Locke von dem Spirutaliften Berkeley
ihied, ewig der felbe Zwielpalt, der all unfer Denten ven Anfang an ausein-
anderriß. Iſt die Welt Materie oder Geiſt? Sind wir Menfchen Leib oder
Seele? Aber wir haben gefragt und gefragt und feine Antwort gefunden; es muß
wohl etwas Wahnfinniges und Gefpenftifches in diefem Tragen Liegen. Uns
Gberläuft e8 immer falt vor diefen grauen und dürren Spelulationen und wir
haben in Sant den Befreier gepriefen, der uns von diefem jchredliden Joch
erlöjte. Aber mit Kant find wir auch zu armen, bilflofen, beſchränkten Menſchen⸗
weſen geworben, eingejchloffen in eine Natur, bie wir nicht zu verfteher ver»
mögen, im Beſitz einer Erfenntniß, die nichts zu erkennen vermag.
Dog noch ein anderer Kant hat jenen Philofophen geantwortet, einer
jener wunderbaren Dezembermärdenmeniden, in denen die Erdenkinder ftets
die wahren Uebermenſchen fahen, die fie als Gott ſelbſt auf den Thron erhoben:
ein Weltgefährte und Bruder jenes Winterlichtlindes, dem unfere weftliche Kultur
in diefen dunklen Tagen Millionen Weihnachtbäume anzündet. Jene Philoſophen
famen auch einft zu dem indifchen Chriftus, zum Buddha, und legten ihm bie
alten, urewigen ragen ber kantiſchen Untinomien vor, die noch Heute unſere
Fragen find. Iſt die Welt endlich oder unenblih? Iſt die Welt Materie oder
tft fie Geiſt? Und jubelnd fpricht zu ihnen der Buddha von der höchſten Exr-
fenntniß, die ihm unter dem Bodhibaum fich offenbarte. Doc anders ſpricht
er als Kant: nicht wirft er uns als Blinde und Hilflofe in den Staub, fondern
zu Göttern hebt er und empor und für ihn find jene Fragen nicht, wie für dem
Tönigsberger Weltweijen, böchfte und tieffte Tragen, die nur in einer Jenſeits⸗
welt und durch Uebererfenntniß gelöft werden können, jondern er nennt fie Yragen
einer Thiermenfchheit und einer Untererfenntniß. Mit lächelnder Ironie wehrt
der Buddha alle Philoſophen von fi ab. „Bet allen Euren Fragen habt Ihr
nur Eins vergeflen: nämlich das Leben und was das Leben ausmadt. Wohl
wird Euch nie Antwort werden, boch nicht, weil biefe Antwort über Eure Kraft
gebt, fondern, weil es ganz thöricht und unfinntg ift, fo zu fragen. Wenn Ihr
auf ben ewigen Strom bes Lebens blidt, dann ſchaut Ihr, baß, fo Iange Ihr
biefe Trage ftellt, Euer Dafein nichts iſt als eine große Krankheit.“
Das Märchen der Dezembernacht. 441
Die Wifienfchaft fragt: Was ift die Welt? Iſt fie Materie ober ift fie
Geiſt? Und wie in einer dunklen Ahnung von jener höchſten Erkenntniß des
Buddha jagt diefe Wiffenichaft uns felber immer wieder, daß fie ftet3 umfonft
nad) dem Leben ſucht, es nicht finden fann und nicht weiß, was das Leben ift.
hr war immer dad tote Objekt nur zugänglid. Doch neben der Duelle ber
Wiſſenſchaft ftrömte ſtets noch eine andere Duelle, aus der bie Menjchheit in
ihren Bweifeln, Aengſten und Echmerzen jchöpfte, und wir dürfen heute wicher
das Wort ohne Scham und Berlegenheit ausſprechen, ohne daß wir dadurch zu
armen Finſterlingen werden, zu rüdwärts gefinnten und rüditändig gebliebenen
Geiſtern. Leiſe Klingt heute wieder aus dem Lärm des Tages ein Echnjucht
zuf empor: Religion! Wie zwei Benien ftehen fie, neben einander am Brunnen
der Welt, ein Schweiternpaar, Religion und Wiſſenſchaft, Geiſteskind und Kind
ber Natur, Maiengottheit und Dezembergottheit; vom Wirklichen redete immer
die Wiflenfchaft und vom Unwirklichen redete immer die Religion und dennoch
— wunderlicher, geheimnißvoller Widerſpruch! —: jene, die das Wirkliche juchte,
bat uns immer Tlagend und verzweifelnd mit taufend Zungen zugerufen, daß
fie das Leben nicht zu finden vermöge, die aber, deren Augen fih im Unwirk⸗
lichen verloren, |prach jubelnd von Erlöjungen und kündete, daß fie und fris
ftallene Wafler des Lebens reiche. Religion! Mit dem Klang des Wortes fommt
über uns ber Traum, der Schauer, bie dunkle Myſtik und Märdenftimmung der
Dezemberfinfternifie, der Geiſtesluſt und der Geiftesfeite. Religion! Und glei auch
ftehen wir in der Welt ber verborgenen Schäße und hören die alten Märchen vom
Paradies und vom dritten Reich, vom Reich des Geiſtes und dem neuen Jeru⸗
falem, von einem neuen Menſchen, zu bem wir werden, wenn der alte Adam in
uns abitirbt, das Lieb vom Gott- und Uebermenſchen, den wir in uns erweden
follen. Magiſcher Zauberkräfte rühmen fi diefe Neligidjen, al3 zu Wunder: -
thätern bliden die Menfchen zu ihnen empor. Auf ein efoterifches Wiflen deuten
aber all diefe Meligionen und alten Briefterlulte mit myſtiſchen Zeichen und
Beichnungen bin, mit geheimnißvollen Symbolen und wunderlichen ſymboliſchen
Handlungen. Durd al diefe Symbole aber geht ein legter Sinn, eine legte
Lehre; ein Wort Elingt uns immer wieder aus ben egyptiſchen und eleufinifchen,
aus den indifchen und chriſtlichen Miufterien entgegen, ein Wort, das und ge-
wöhnlich als der Inbegriff alles Zauberns erfcheint: das Wort Berwanblung.
Dod wenn gerade unfere Märchen und Mythen, al unjere Degembernadhtpoefien
ung von nichts al3 immer wieder von Berwandlungen berichten, fo ilt Das wohl
nur deshalb, weil all biefe Märchen eben nur Trümmerrefte und Bruchftüde
uralter Priefter- und Tempeldichtung find.
Die ewige Freuden⸗ und Erlöfungbotichaft all dieſer Religionen aber ift
bie Verkündung eines Neiches des Geiſtes, das einft zu ung kommen fol und
uns von unferer Sünde befreien wird. Was aber tft bie Sünbe? Die Materie.
Die Lehre vom Sündenfall, die in den altindifhen Beben zum reinften unb
Ihärfiten Ausdruck kommt, ift die Grundlehre aller Religionen. Der Geiſt ver
wandelte fi in Materie. Das war für ihn Trübung und Beflcdung. Wir
müfjen wieder immtateriell werden, unjeres Körpers und Leibe uns ganz ent-
ledigen und geben in das Nirwana und in das Gottesreich ein. Der Kampf
gegen den Leib und für bie Vergeiftigung des Menfchen tft der Inhalt ber großen
_
442 Die Zukunft,
alten Religionen, ber Weltanſchauung, die aud uns jeit nun faft zweitaufend
Jahren beherrſcht; und wenn heute Einer fid zum Begetarismus befeunt, nur
Pflanzen- und keine Thiernahrung zu fi nimmt, jo ift in ihm ein Drang und
ein Wijfen von jenem alten Veda der Inder. Was die Menſchheit in dieſem
Kampf gegen den Leib, um ihrer Reinigung und Entſündigung willen, ſeit Jahr⸗
taufenden vollbracht Hat, ift eine furchtbare Tragoedie, ein erjchätterudes Drama
„Weber die Kraft”; und mögen wir fonft über fie denken, wie wir wollen: dieſe
wilden Heiligen, dieſe Afketen, die um bes Geiltes willen ihren Leib unter Den
ſchrecklichſten Foltern verbrannten, lehren uns das Eine, daß in ben Menichen
in Wahrheit etwas Uebermenſchliches lebt. Was furchtbarer Wille und Energie,
was Menſchengeiſt und Kraft zu erreichen vermag, wird uns vielleicht nirgendwo
ſo deutlich wie in dieſen Orgien der menſchlichen Aſkeſe,
Geiſt verwandelt ſich in Materie. Materie verwandelt ſich in Geiſt. Das
iſt die einfache, ſchlichte und naive Grunderkenntniß der Religionen, das ältefte
Wiſſen der Menſchheit. Eine Verwandlunglehre ſteht als Ausgangspunkt ſchon
an den erſten Anfüngen des menſchlichen Geiſteslebens. Aber wunderlich: dieſes
ältefte Wiſſen tft auch unſer jüngſtes und neuſtes Wiſſen und erſt in dem legten
Jahrhundert wurde unfere Naturwiſſenſchaft Metamorphoſenlehre. Das Märden-
fand der großen Baubereien und unabläjjigen Berwandlungen, von dem wir im
biefen Dezembernädten uns erzählen, ift nichts als dieſe unfere Erde, Diele
unjere Gegenwart, bie nädjite uns umbrängende Wirklichkeit; und nichts, nichts
geſchieht irgendwo und irgendwann, ob wir auf die Natur Binbliden oder ob
wir unjeres Geiftes bewußt werden, was nicht Berwandlung wäre.
Wenn dies Weltwelen aber Verwandlung tft, wenn unfere heutige Natur⸗
willenfchaft fi Dietamorphofenlehre nennt, fo wird damit ber ewige Streit, ob
das Urweſen der Welt Materie oder Geiſt iſt, Kraft oder Stoff, allerdings hin⸗
fällig. Atomiſtiker und Energetifer find ganz gleichmäßig im Net wie im Uns
recht, — die frage, ob zuerit das Anorganijche oder Organiſche, hört überhaupt
auf, eine Trage zu fein; denn als das Urmefentliche tft eben die Verwandlung
erfannt, die unabläffige Verwandlung von Geiſt in Materie, von Stoff in
Kraft. Die alte Kaufalität- Weltanfchauung, die auf der Formel von Urſache
und Wirkung beruht, die mit Kant ſtets von einem a priori und a posteriori
redet, uns an ein bloßes Nadeinander und Nebeneinander der Dinge glauben
läßt, wird in Wahrheit durch eine konſequent durchgeführte Metamorphofenlehre
über den Haufen geftürzt und die ihr eigentlich entgegenftehende Erlenntniß, auf
bie ein Goethe, ein Hebbel, ein Hegel Hindeuten, wurzelt in der reinen Er-
fenntniß von einem In- und Durcheinander der Dinge, von einem polartichen
Weſen der Welt; durch unfere allerjüngfte Elektronlehre kommt Schelling wieder
zu feinem Recht. Nehme ich aber einmal ein polarijches Weltweien an, dann
beligen Monismus und Dualismus nur noch felundäre Bedeutung,
Dod ich will nicht in bie dürren Haiden der Spekulation führen, jonder.
im Duntel diejer Dezembernadt bie junge, grüne Maienerde zeigen, die Beute
nod unter Schnee: und Eisdeden vergraben liegt. Ein wunderbarer Glaube
tft8, der in den Myſterien und in ben Prieſterkulten fchon in alterögrauen Zeiten
verfündet wurde, eine wahrhafte Erlöſungbotſchaft; und die furditbaren Hei⸗
digen und wilden Alfeten haben uns oft genug bewieſen, daB dieſer Glaube an
— ee — — S. -- - (OU —
Das Märchen ber Dezembernacht. 443
die Verwandlung unermeßliche moralijche Kräfte verleiht, den Menjchen mit
magiſchen Fähigkeiten übergießt und ihn gegen die fchredlichiten Schmerzen un-
empfindlich zu maden wußte. Iſt es denn ein Märchen, eine Traumphantafie,
was uns die alten indilhen Beden von ber Verwandlung des Beiltes in Ma⸗
terie erzählen, iſt e8 nicht bie einfachite, nadtefte Wirklichkeit, die fi in jedem
Augenblid vollzieht? Und dennoch Elingts uns wunderlich myſtiſch und mit un-
- gläubigem Lächeln hören wir jene Priefterwortee Daß fi Geiſt in Materie
verwandelt: Das glauben wir nicht eher, als bis wird gejehen haben. Das wäre,
fo_denten die Meiften, ja das Märden- und Sclaraffenlandwunder, daß ein
armer Teufel fih hundert Thaler wünſcht, und in dem ſelben Augenblid bat
er fie auch ſchon wirklich in der Tale. Nein: jo einfach geht die Sache aller-
dings nicht, daß wir nur Abrafadabra oder fonft ein Zauberwort ausſprechen,
daß wir nur Etwas wünjhen und möchten: die Natur will uns immer ganz
und fie giebt nur dem HBaubermeifter, der die Kunſt bes Verwandelns wirklich
auch ausübt. Der arme Teufel, der da immer blos wünſcht und wartet, daß
ihm gebratene Tauben in den Dtund fliegen, hofft ganz vergebens darauf, daß
die hundert Thaler, die er denkt, zu wirflichen Hundert Thalern werben; aber
es giebt der Herenmeifter genug — heute ſcheint diefe Zunft befonders in Amerika
zu blühen —, die fi) ausgezeichnet darauf verftehen, Phantaſie⸗Millionen in
fehr reale Millionen zu verwandeln. |
Die Märdgenwelt ber alten Prieftermyfterien iſt die wirklichfte und pofitivfte
der Welten. Geijt follte fih nicht in Materie verwandeln können? Aber in
dem Augenblid, wo ich zu Einem fpreche, geſchieht es. Was ich fpredhend in
biefem Augenblick denfe, was mein Geift ift, — im gleichen Wugenblid denkt
es auch Der, zu dem ich fpreche, tft e8 in dem Beilt des Anderen. Bertrauen
wir und einmal dem alten John Lode an: Nichts tft in unjerem Denfen, was
nicht vorher in unferen Sinnen, was nicht eine Sinneswahrnehmung, nicht etwas
Materielled war. Daß ein Anderer Überhaupt weiß, was ich denke, ilt nur
deshalb möglich, weil ich mich auf die Kunft verjtehe, meinen Geift in Dtaterie
zu verwandeln. Und darauf verjtehen wir uns Alle. Denn wir fprecdhen und
wir hören, was wir fpreden. Unfere Worte find Sinneswahnehmungen,
Schälle, die wir durch unfer Ohr aufnehmen, und beshalb eben fo gut matericle
Dinge wie dad Haus, in bem wir und befinden, wie bie Bilder dort an ben
Wänden. Sprade ijt lautes Denken, bat ber alte Schleicher gejagt. Das heißt:
unjer Denken wird zu Lauten, unjer Geiſt verwandelt fi) in etwas Materielles.
Wir glauben heute an einen ſprachloſen Menichen, an eine Urzeit, da
der Menſch dieſe Bermandlungfähigfeit, die Kunſt, feine Borftellungen in Worte
umzufeßen, noch nicht befaß. Denn wir find immer neuer Berwandlungen fähig
geworden und die ganze Kulturgeſchichte befteht darin, daß wir immer volllommenere
Baubermeifter werden und immer neue fünfte der Verwandlung uns aneignen; jebe
neue große Menfchheitepoche beginnt mit bem Erwerb foldder neuen Kräfte; von ber
legten, gewaltigften und größten Verwandlung aber erzählt uns das Märchen der
Dezembernadit: von der Berwandlung des Menfchen felbit, von der Grundumwand⸗
lung des ganzen Menſchen, von ber Umgeftaltung des alten Menſchen in einen neuen,
des Thiermenſchen in einen Gottmenſchen. Das tft das große Geiftesfeft, das wir
zur Winterfonzenwende in diefen langen Dezembernäcten feiern: die Entſtehung
444 Die Zukunft.
und Geburt diefes Lichtmenfchen, dieſes Sonnenbelden, der uns einen neuen
Frühling der Welten bringt. Und zur höchſten Höhe fteigt inmer wieder die
Welle unjerer Zuftgefühle in diefer Zeit empor, da wir uns, umftarrt von Finſter⸗
nijlen, von Eid und Schnee, bie goldenen Märchen von den Berwandlungen
erzählen. Da fiegt in uns der gläubige Ehriftus und Siegfried über ben armen
glaubenlofen Heiden, ben Zichandalen und Thiermenſchen, der fein zauber-
tundiger Dryfterienpriefter ift und nichts weiß von ben ungebeuten magifchen
KKräften ber Verwandlung. Mit ftumpfen Sinnen figt diefer arme Tſchandale
im Staub und fein ewiges Lied ift, daß die Welt immer fo bleibt, wie fie Heute
ift, daß der Menſch nie anders wird; wir aber ſprechen in diefer Stunde zu
ihm, wie der Priefter, der Brahmane: Du Thor! Du Narr! So fieh doch um
Did! So Öffne doch Deine Sinne. Alles ift Verwandlung! Was tft in diefer
Welt nicht Berwandlung? Unabläffig und unaufpörlih ruft Dir die Natur das
Eine mit Myriaden Stimmen zu, dad Du ftet3 ein Anderer biit.
Was ift Religion? Glaube an den Gottmenjhen. Glaube an den To»
und Untergang bes Thiermenichen. Glaube an den Frühling und an die Freude.
Glaube an das Ende der Nacht und des Leidens. Das Weſen ber Religion
tft nichts als das Weſen der Welt felbft. Es ift nicht nur der Slaube an die
Berwandlung, fondern es ift die That und die lebendige magiſche Kraft, daß
wir uns in Wahrheit und in Wirklichkeit in den neuen Menſchen verwandeln.
Jede Nacht aber kann für Dich zur Heiligen Nacht werben; in jeder Nacht kannſt
Du wieder geboren werden.
Denn bier ſcheidet ſich eine neue Religion von einer alten Religion. Wir
haben die alte LZehre von der Verwandlung des Geiſtes in Materie gehört, das
dunkle Winternachtlied vom großen Sünbenfall der Natur, wie das Lebendige
in die Gewalt des Todes fiel, wie ber Geiſt von der toten Materie gefeflelt
wurde. Die Materie tft da8 Sündige, der Leib ift das Befledende. So wurbe
biefe Erde zu einer Stätte der Dual; wir lernten den Tob fürdten und ſchämten
uns unjeres Leibes. Nur in einem gefpenftiihen, unfaßbaren Zenjeits gab es
eine Erlöjung, nur wenn wir biefes Körpers ganz los und ledig geworden, wenn
wir dem Dafein erlofchen find, wird uns eine leere Ruhe, ein bewegunglojer
Friede zu Theil. Es war das alte Lied von einer Hölle und einem Himmel,
von einem Kampf und einer furchtbaren Feindſchaft zwiſchen Leib und Seele,
zwilchen Dlaterie und Geift; damit das Eine fiege, mußte das Undere vernichtet
werden. Eine dunkle Lehre von einer in wilde Gegenjäge zerrifienen Natur,
aber niemals von einer Ueberwindung der Gegenſätze. Ein ewiger bunfler Todes
nnebel liegt über dem eich bes Geiſtes, das uns von den Alten verkündet wurde.
eilt und Materie, deal und Wirklichkeit können nie verföhnt werben, tönte
es uns noch aus dem Munde der bdeutichen Idealiſten entgegen. Uber es ift
ein trauriger, unfruchtbarer Idealismus, auf ben ung Schiller hinweift, nur ein
armes Leben in Kunft, ein Afthetifches Schwelgen in bloßen Ideen und in
lügnerifhden Dichtungen, in ſchönen Träumen und gefährliden Täuſchungen.
Da bauen wir uns ein Reich des Geiltes in ben Wolfen auf, ein Reich ber
Vollkommenheiten, das wir ung jedoch nur denfen. Nur wie eine Fata Morgana
ſchwebt es in ben Lüften, als ein Phantafiebild, als eine Welt des ſchönen
Scheins. Aber ihm entipricht fein Sein; und die Erbe zu unjeren Füßen, bie
Das Märchen ber Degembernacht. 445
Wirklichkeit bleibt unerlöft und in all der Nacht und dein Leid befangen. Wir
träumen und denken uns einen neuen, einen Gottmenſchen, aber unfer wirkliches
Sein tft ein troſtloſes Weiterleben im Thiermenjchlichen. Nein: nicht dieſe
Runft, jondern die große Kunft der Welt juchen wir, die nicht unüberbrüdbare
Kläfte, unliberwindliche Gegenfäge aufreißt zwiſchen Geiſt und Materie, Ideal
und Wirklichkeit, fondern den Bauberftab ihrer Verwandlungskraft ausftredt
und Eins immer zum Underen werben läßt, ans diefen Wirklichleiten neue Ideale
heworruft und die Ideale zu neuen Wirklichfeiten madkt.
Reißen wir uns los von dem Wahn der alten Religionen! Laufchen wir
nicht länger dem finfteren Winterlied vom Sündenfall der Natur! Der Leib
ift feine Sünde. Der Geift Bat fi nicht befledt, indem er zur Materie wurde,
er ift damit nicht von feinen Höhen herabgeſunken. Das wirkliche Gefühl von
der Unendlichkeit der Welten, das und Menſchen als hoöchftes Gefühl exit zu
Theil wurde, als Copernikus die Eriftallene Schale des Himmels zertrümmerte,
dieſes Gefühl tft unlöslich mit der Erkenntniß verknüpft, daß ſich unaufhörlic
und ewig Materie in Geiſt und Geiſt in Materie berwandelt: die Materie ver-
vollkommnet fi), indem fie Geift wird, aber der Geiſt vervolllommmet fi auch,
indem er zur Materie wird. Er ſündigt damit nicht, ſondern er fteigt glänzend
nun zu neuen Seligfeiten empor. Dem nur, der bes Geiſtes voll tit, fließt der
Mund über. Nur wer Künftler ift, wer ganz und gar von großen Gefühlen
und wunderbaren Gedanken erfüllt ift, in dem die VBhantafien wie ein Meer dahins
fluthen: nur über ihn kommts wie ein mächtiger Drang, dab er, was in ihm
tft, zu Stoff und Materie, in Worte und Klänge, in Farben und Linien ver-
wandeln muß. Nur wenn die Ideale wie ein Wein und wie ein Feuer in und
glühen, wenn fie ganz und gar Befit von uns genommen haben, daß wir nicht
mehr ohne fie fein Lönnen, dab fie und mehr find als unjer Leben, dann haben
wir die magifche Kraft in ung, daß wir diejen Geift zur Wirklichkeit werben
lafien, dann iſt aber auch in uns eine Gewalt und ein Muß, ein Wille zur
That und das einzige Verlangen, daß dieſe bejjere und volllommene Welt unferer
Ideen zur Erdenwelt, zur ſchlichten Alltäglichkeit wird.
Nur fo iſt das Märchen der Dezembernacht, das Märden von den großen
Weltverwandlungen, vonder Beriwandlung von Geiftin Stoffundvon Steffin Geiſt,
von unferen Bauberkräften und magijchen Künften ein Hymnus der Freude, ein
Hymnus auf die Sonne und das Licht. Nicht darum jubeln wir von einem
Licht, das wir nicht jehen, von der in die Erde verjuntenen Sonne, von bem
begrabenen Xempel, dab dieſes Lichtreich dort unter Eis und Schnee verborgen
liegt: fondern, daß es mit dem Frühling aus den Finfterniffen Hervorfteigt, daß
es als Matenwelt in lebendiger Wirklichkeit um uns grünt und blüht, daß die
verborgene Sonne fihtbar durch die blauen Lüfte leuchte. Das Lieb von den
Berwandlungen ijt ein Lied von der Kraft und Stärke. Das Reich kommt nicht
dadurch zu uns, daß wir es träumen und denken, nur erjehnen und wünjden;
fein Schlaraffenland iſts, in dem wir durch bloße Bauberworte und Geberden
die goldenen Früchte aus den Bäumen bervorloden. Nur dur Kampf und
Arbeit wird es errungen, nur durch die Idee, die That wird. Das Wort gilt
immer, das einft der Nazarener rief: Das Himmelreich gehört den Stürmern,
gehört Denen, die e3 eritürmen können.
Schlachtenſee. Julius Hart.
8
446 Die Zukunft.
Alpenfönig und Mlenjchenfeind.
I ich vor einiger Zeit in Fünftlerifchen Angelegenheiten nah Dresden
fuhr, hoffte ich, abend8 im Hoftheater entweder Bungerts Odyſſeus
Tod“ oder fonft ein intereffantes Werk zu hören. In den Eifenbahnblättern
fand ich zu meiner Enttäufchung fürs Opernhaus „Alpenlönig und Menſchen⸗
feind“, die alte PBoffe, fürs Schaufpiel „Die Jungfrau von Orleans“ ange⸗
zeigt. Die Jungfrau lehnte ich dankend ab; der Alpenkönig ſiegte. Er ver-
ſprach, alte, liebe Erinnerungen an prager Zeiten in mir bervorguzaubern,
wo ich felbit das Köhlermäbel fang und noch Leute aus Raimunds Zeiten
mitfpielten.. So bereitete ich mich auf alte öſterreichiſche Bemüthlichkeit dor,
die, befonderd von der Bühne herab, mich harmlos zu ergögen im Staube
ift und bei der ich mich geiftig auszuruhen vermag.
Bevor ich das Hotel verlieh, fiel mein unbemwaffnetes Auge nochmals
auf den Theaterzettel, auf dem mir, unter dem Titel, neben Raimund Namen
die Worte „Muſik von Leo Blech” entgegenblinkten. Schon Hatte meine
Freude eine Obrfeige belommen. Die alten lieben ‘Melodien follte ich alfo
nicht hören, follte mich mit neumodiſchen abfinden. Wie fchade! Doch
tröftete mich der Gedanke, daß man gewiß die alten Nieder nicht ganz ver⸗
bannt, fondern eingeflochten haben werde.
Ahnunglos betrete ich die mir wohlbefannte Stätte. Ans Dirigenten
pult tritt Schuh. Schuch dirigirt die alte Boffe? Wahrfcheinlich viel Zwiſchen⸗
akt: und Zaubermufil, zu denen ja die Szenen des Alpenfünigs Aſtralagus
Beranlaffung geben. Und nun fehe.ich audy das ganze vollzählige Drchefter.
Nun ja. Die FJunglomponiften lieben Alle, viel Lärm um nichts zu machen;
ich ergebe mic) alfo darein. Noch immer bin ich ahnunglos.
Der Akt beginnt mit einem Yrauenduett. Hm... Meinetiwegen!
Wenn zwei verliebte Frauenzimmer Blumen pflüden, mögen fie auch ein
niebliche8 Duett fingen. Das kann man ihnen nicht verbieten. Da bekommt
meine Hoffnungfreudigfeit fchon wieder einen Stoß: denn zu dem erften ge
fellt jich ein zweites, ein Kiebesduett. Und ganz wie im Triſtan laſſen ſich
die Liebenden peu à peu auf eine Bank nieder. Gie werben boch nicht
noch lange fingen? Ich will endlid) Raimund, endlich reden hören. Da er
fcheint zu meinem Glüd das Dienfimädchen und wedt die Beiden aus der
Umarmung Wohl mir!
Nein: weh mir! Eine fchwere, hölzerne Konverfation, von unglanbs
würdigen Intervallen getragen, fpreizt, zerrt und ftempelt die einfachften,
nichtsfagenden Worte eines bei Raimund fchwäbifch redenden Dienftmädels
zu Dodonas Draleln. Genau wie in Humperdindg Hänfel und Gretel,
wenn die alte Märchenmutter um den zerbrochenen Topf jammert. Seht
Alpenfönig und Menſchenfeind. 447
endlich — ich muß ſelbſt eingeſtehen: etwas ſpät — geht mir ein Licht auf.
Das iſt ja gar nicht die alte Poſſe, ſondern eine regelrechte moderne Oper.
Was thun? Ich fafſe mich, verzichte auf die alten Erinnerungen und
bie Boffe zu Gunften Blechs, deffen Talent man in den Zeitungen vielfach
gerühmt findet, und verfuche ernftlih, mich für die Oper zu intereffiren.
Berfuhe . . . Leider fällt mir die hölzene Konverfation auf die Nerven.
Eben fo der fingende Alpenlönig, obgleich ihn Perron ausgezeichnet interpretirt.
Das erfte Bild ift vorüber. Ich athme auf.
Beim Anfang des zweiten fällt mir ein Stein vom Herzen. „Rinde
vieh!“ fchreit Rappelkopf und ftößt feinen treuen Diener Habaluf, der „zwei
Fahre in Paris war“, mit einen Yußtritt auf die Bühne. „Rintvieh!“
Das erfte vernünftige Wort. Mir wird ganz mohlig dabei zu Muth. Seht
werde ich den alten Habakuk mit feinem einfältig aufgeblafenem Wejen und
feinem ewigen Refrain genießen.
Es war wieder nichts. Der einfältige alte, Hochnafige Habakuk ift in
einen jungen verliebten Diener verwandelt worden, der mit Raimunds groß:
fpurigem Parifer gar feine Aehnlichkeit mehr bat. Sein Lied ift unbedeutend
und giebt nicht8 von dem Geifte bes Driginales wieder.
Rappelkopf tritt auf den Plan. Er bräüllt wüthenb abgeriffene Sätze
und Worte zwifchen langathmige mufifalifche Ergüſſe. Mir thut Scheides
mantel8 fehöne Stimme leid. Das follte Tieber gefprochen werden. Tem
Sänger wirb zugemutbet, über eine Riefeninftrumentation hinweg in höchfter
Wuth — man muß willen, wa8 Das heift — in feiner Kehle Töne und
Intervalle zu finden, die für fein Organ eben fo fchädlich wie für unfere
Ohren ärgerlid) find. Gleich Manfred beſchwört er die Geifter- und Gebirgs-
welt — nur ſpricht Byrons Held, während der Alpenlönig Blechs fing: —
und wird dabei, glei” Mime, von Loge Motiven, aljo geborgten, gezwickt
und gezwadt. Verfluchte Wagnerei!
Unmillfürli drängt fih mir der Fluch auf bie Lippen, wo immer
ich diefen bei allen modernen Komponiften fo beliebten Dlotivenanleihen begegne.
Arme Sänger! Armes Publitum! Und ich darf wohl auch binzufügen:
Arme Komponiften! Haben Mozart, Beethoven, Gluck, Weber, Wagner
ſo ... geliehen?
Auch Frau Rappelkopf jagt mir mit ihrer Meinen Arie nichts. Sie
ift furchtbar befcheiden in der Erfindung. Erſt das Finale wirkt durch das
ausgezeichnete Enſemble von Sängern, Dirigenten und Regie.
Luſtig und auch muſikaliſch hübſch beginnt ber zweite Alt. Der Fliegende
Holländer mußte zwar vorübergehend eingreifen, da Salden ja zu fpinnen
hat, aber die Szene, die hier vor der Hütte, ftatt, wie bei Raimund, in der
Hätte fpielt, ift munter und geſund. Raimunds Köhlerfamilie iſts frei-
448 Die Zukunft.
lich nit. Man fieht wohl Armuth, aber fein Elend, man Hört eine Kinder
trommel, aber fieht nur ein Find, ftatt der vielen, die fidh in ber alten Pofk
tummeln. Die ganze Kinderwirtbichaft, das Kind in der Wiege, die alte
niefende Großmutter, bie Allen zur Laſt ift, der im Bett Tiegende bezechte Kohlen:
brenner, Hund und Rage: Alles fehlt. Damit fehlt auch Das ganze jammer⸗
volle Elend, das Raimund mit fo entzüdender Kunft in ein Heiteres Gemant
zu Heiden wußte. Bei Blech iſts auch fein Köhler, fonbern ein Tiſchler,
der die Klarinette bläſt. Luſtig ift die Szene ja aud bei Raimund; mit
welcher Macht aber wirkt fie auf den tiefer fühlenden Zufchauer! Der immer
wiederkehrende Refrain des alten Liedes: „So eb’ denn wohl, Da file
Haus!“ Fingt dem alten Nappeltopf fo vorwurfsvoll mahnend and Her,
daß er noch zorniger, noch wilder wird als vorher. Auch davon fpüreft Du
hier nicht einen Hauch. Hie Raimund mit Elend und Herz, — hie Yld
mit Klarinette und Trommelſchlag.
Was Nappelfopf und der Alpenfönig zu fingen haben, ift gut angelegt
und enthält manches Schöne. Beſonders gut gelungen fand ich das Duen
ber beiden Männer. Daß Rappellopf, nahdem ihn der Alpenkönig einge
fchläfert hat, im Traum nochmals zu fingen anhebt, empfand ich als Ueberfluß
Mind, Eiger und Jungfrau fahen, herrlich in Gold, Burpur, Dämmers
Iuft und Silber getaucht, auf uns herab. Dazu hat Blech eine fehr om
pathifche Phantafie mit fehr effeftvollen Klangwirkungen gefchaffen, die da}
Ohr des Zuhdrers angenehm berühren und das Bild fchliefen. Wie aber
die Öfterreichifch redende Köhlerfamilie in die Gegend kam, ift mir mid
ganz Kar geworben.
Der Doppelgänger Rappelkopfs im legten Bilde ift muſikaliſch beile,
weil knapper gezeichnet als fein Original im zweiten. Kurz vor dem Schlaf
hebt fich ein Duett Habakuls mit feiner Liebſten heraus, das, in ber Modu⸗
lation reizvoll und fehr gefchidt gemacht, mit den unvermittelten Kreuz⸗ und
B-Sprüngen, dem Wechfel der Tonarten leider am den Operettenftil reift
Das gefiel dem Bublitum am Meiften.
Mein Gefammteindrud war: ich habe einen talentvollen Tomponiften
tennen gelernt, der vorläufig noch in allen Stilen arbeitet, ohne einen
rechten Zufammenhang zu finden, und dem noch nicht der Entfchluß gereif
ift, welchem ber vielen Stile er fich ernfllich widmen will; ich habe ein Bel
fennen gelernt, da8 in unübertreffliher Weife einftudirt und ausgeführt wat
und mir hauptfächlich dadurch intereffant genug wurde, um mich noch nad
träglich zu befchäftigen. Komponift und Werk aber find mir Raimund
„Alpenkönig und Dienfchenfeind“, mit feiner öfterreichifchen Herzlichleit, feiner
menschlichen Gemüthstiefe, Teider fchuldig geblieben.
Grunewald. Lilli Lehmann.
a
Ein Traltat vom böfen Gewifſen. 449
Ein Traftat vom böfen Bewifien.
gi der vergoldbeten Armlehne des Präfidentenjefjels ſaß der Erſte Konjul,
Napoleon Buonaparte, und zeritach mit feinem Federmeſſer in ärgerlichem
Spiel bie Tijchdede, die wie etır grüner See mit zwei langen Buchten fi vor
ihm ausbreitete.
„Ich bitte, meine Herren“, fagte er mit dem frembartig harten Tonfall,
den jeine Umgebung fürdtete, „bleiben wir bei der Aufgabe. Sie haben vor
zwei Jahren für die Berathungen de Code Civil einige Arbeitluft mitgebradt;
vielleicht, weil bie Begriffe Ihnen mehr Schwierigkeiten machten. Hier, beim
Strafgeſetz, wird zu viel philoſophirt. Für ſechstauſend Franken im Jahr halte
ich Ihnen einen Profeſſor, der zweimal wöchentlich alle Syſteme der Philoſophie
widerlegt und noch Zeit findet, ſeinem Verleger jedes Jahr ein Buch zu machen.
Wir arbeiten nicht genug. Es iſt zwei Uhr und wir haben noch nicht einmal
zehn Paragraphen erledigt.“
Die ſechzehn Herren, die in neuen Uniformen an dem Hufeiſentiſch ſaßen,
fingen an, müde zu werden. Seit acht Uhr früh dauerte die Sitzung. Alle
Slasthüren des Saales waren geöffnet, aber die Juliſonne brannte auf die gelben
Marquiſen und die Zuft roch nad) Papier und Leber.
„Auf Ihre Diftinktionen von Schuld und Sühne laſſe ich mich nicht ein“,
fuhr der Konful fort. „Die Strafe ift dazu ba, die Zahl ber Verbrechen zu
mindern. Deshalb muß fie richtig abgewogen und qualifizirt fein. Das, was
Sie das Schuldbewußtſein des Verbrechers oder gar fein Sühnebebürfniß nennen,
ift mir gleichgiltig.. Genug, wenn er weiß, daß ein Rückfall ihm ernfte Ver-
legenheiten bringen kann. Maleville kennt meine Unfichten über Schuld und
Schuldbewußtjein. Er mag Ihnen, wenn Sie wollen, ein paar Gedanken ent»
wideln, während ich Sie auf zwei Minuten verlaffe. Sie hörten, daß Augereau
fi) um Zwölf melden ließ. Mir ift, als bielte ex fi) noch immer im Neben-
zimmer auf; diefer Menſch Hat die Leidenfchaft des Wartens.“
Alsbald erhob ſich am Enbe der rechten Tiſchbucht die hohe Geftalt bes
Herrn von Dtaleville in dunkler Civiluniform, deren goldgeſtickter Kragen Hals
und Kinn wie eine Bandage einzwängte. Ex verneigte fih zuerſt nach dem Platz
des Konjuls bin, dann nad dem Linken Flügel; dabei führte er mit einer ab-
gerundeten Bewegung ben Arm zur halben Höhe des Cherlörpers.
„Der Befehl des Konſuls“, jagte er, „feinen Gedanken als Dolmetich zu
bienen, feßt mich in Berlegenheit. Selbft unter der Dedung feiner Autorität
fühle ich mich beunruhigt, ja, eingefhüchtert in einer Berfammlung, die an bie
Meiſterſchaft feiner Erklärungen und Beweiſe gewöhnt ift.“
Diefe Worte fonnte Napoleon noch vernehmen; er hatte mit haftigen Schritten
den Saal durchmeſſen und verſchwand nun Binter einer grüngoldenen Flügel⸗
thür, deren Yüllungen mit Yadeln, Leitern und Lorberzweigen geſchmückt waren.
„Unterftügen Sie mid, meine Herren“, fuhr der Redner fort, „durch die
Erlaubniß, aller Theorie zu entjagen und ein Erlebniß zu erzählen, bas dem
86,
Pr |
n
450 | [Die Zukunſt.
Konful einiges Intereſſe erweckt und, wie er zu verſichern bie Huld Hatte, ihm
feine eigene Anſchauung vom Truge des Schuldbewußtſeins verſinnlicht Bat.
*
mn
Wenige Sabre vor ber Ummälzung, der wir unferen polttifden Zuftand ver⸗
banken, ftarb mein Vater. Mir, al3 dem älteren Sohn, hinterließ er, nad ber
damaligen Sitte, feinen Landbeſitz, der leiber ſtark verjchuldet war, meinem
Bruder eine fleine Rente und uns Beiden einen Namen, der in jener Zeit große
Rechte und Pflichten in fi trug. Herlommen mehr ald Neigung wies nieinen
Bruder auf dad Waffenhandwerk; unb fo diente er in Verfailles, in naher Um⸗
gebung des Königs. Der Anblid des zur Statiftentruppe fürftlidder Unterbals
tungen degrabirten Heeres verbroß ihn und er träumte davon, der jungen Römer-
republid, die jenſeits des Meeres fich erhob, feinen Arm zu leihen.
Inzwiſchen kämpfte ih für mein Eigenthum. Wlte Brozefie wurden Be
gliden, das Syftem ber gewiffenlofen Pächter und diebiſchen Intendanten vers
worfen, hundert Beflerungen und Reformen eingeführt; und nad Jahren harter
Arbeit ſah ich das Erbe entlaftet und fchließlich, duch meine Bermählung mit
einer benachbarten Srundbefigerin, zu einem Umfang abgerundet ber in ber Ta-
milie, fo weit bie Ueberlieferung reichte, nicht erhört war.
In dieſer Zeit der Xhätigleit und des Gedeihens bejuchte mich mem Bruber,
um Abſchied za nehmen. Nicht ohne Unruhe hatte ich die Begegnung erwartet, benn
ic} erwog, daß der Kontraft zwiſchen dem heimathlichen Behagen und jeinent ei-
genen Wanderjchicjal geeignet fein müfle, neuen Zipiefpalt in feiner Bruft entftehen
zu laffen. Auch hatte meine Frau mir vertraut, er habe in ihrer frühen Mädchen⸗
zeit fie viel gejehen und mit allen Zeichen ſchüchterner Jugendneigung fi um
fie bemüht. Ich fand ihn äußerlich gealtert, innerlich zwar wohl nicht ftiller,
doch durch Selbitbeherrfhung gebändigt. Mich begrüßte er mit rückhaltloſer
Herzlichfeit, meine Frau freundichaftlih und ohne Mitklingen eines Gefühles,
das ich befürchtet Hatte; und jo war in geſchwiſterlichem Zuſammenſein bald alle
Beſorgniß aufgelöft und gefchwunben.“
Bei dieſen Worten vernahm man im Nebengemad Stühlerüden und lautes
Spreden. Wie unter einem Windhauch erichauerte das Kollegium, als im ber
aufgerifjenen Thür der Konſul erigien, ſchnaufend, mit geröthetr Stirn, auf
ber die bünne, vom Scheitel berabgeftrichene Haarfträhne klebte.
© „Belehren Sie diefen General, meine Herren, wie viele Batterien wir
auf den Forts von Wimereur haben! Gr weilt mir nad, daß es nicht mehr
als jehs find... Bitte, äußern Sie fih, Perniden, der Sie als Statiftiler
gelten wollen; oder, wenn Sie nichts wiflen, fo laufen Sie und ſchaffen Sie
fihere Zahlen!” j
Pernichon, ein fchwädlich grauer Ingenieur des Ponts et Chaussses,
ber fi) einiger Kenntniſſe auf dem Gebiete des Verkehrsweſens rähmte, zur Zeit
aber mit der Regelung des Gefängnißweſens betraut war, erwog eine Sekunde,
ob er daran erinnern jolle, daß er mit Artillerie nicht das Mindefte zu thun
babe. Mber unter dem Bann der Gewiffensangft ſchmolz ihm bie Rede zu einer
murmelnden Lautfolge zuſammen und er beeilte fich, mit eirer Verbeugung ben
‘
Ein Traktat vom böfen Gewiſſen. 451
mächſten Ausgang zu erreichen, während bie golbbeichlagene Degenſcheide in großen
Schwingungen ihm an die Abjäße fchlug.
Rapoleons grünlich Ihimmernde Augen waren hinter ber Thlir verſchwun⸗
den, als Maleville, feines Unbehagens nicht ganz Meiſter, wieber zu reden begann.
„Die accidentele Beklemmung“ fagte er, „in die des Konfuls Miß⸗
flimmung Einige von ung — um beim Thema zu bleiben: ſchuldlos — verjegt
Hat, benube ich, um Ihre Theilnahme an dem Seelenzuftand zu heiſchen, den
ih Ihnen darzuftellen wünjde... Ohne durch Steigerungen Ihre Spannung
zu erweden, ſage id Ihnen: am Mbend des Tages, von bem ich Ihnen bes
richtete, habe ich meinen Bruder getötet.‘
Hier machte der Erzähler eine kurze Pauſe und blidte mit gejchloflenen
Lippen auf die Mappe aus Maroquinleder, bie vor ihm lag und die Aufſchrift
Ministöre de Justice trug. Die Hochgezogenen Stirnen und leicht gehöhlten
Wangen der Anwejenden waren ihm zugewandt.
Maleville fuhr fort: „Wie foll ich Ihnen eine That motiviren, bie in
Ser Sekunde Später mir fo unfaßbar war wie Ihnen? Mein Bruder Hatte in
Baris viel im den Salons der großen Damen verkehrt, die Ihnen aus ben
flebenziger Jahren exinnerli find. Bet diefen Bufetiören des Efprit galt ein
geiliffenes Wort mehr als Beute ein Seefieg über England; und alle Pointen
and aller Hohn galt dem Beftehenden, dem Herkommen, ber Autorität.
Daß mein Bruder ſchon vor dem Tag der Baftille revolutionärer war
als die Revolution felbft, konnte mir nicht entgehen, als ich ihn, vielleicht allzu
lange, vielleicht auch allzu ſelbſtbewußt, durch Aecker, Forſten und Vorwerke des
väterlichen Befitzes führte. Sein freundlich offenes Weſen kehrte fih in Miß—⸗
muth und Bitterkeit; und manches ſcharfe Wort wurde gewechſelt. Als er jedoch,
ſeinem Offizierskleid zum Hohn, ſich rühmte, er ſelbſt werde nächſtens das Volk
der Enterbten gegen die Ausbeuter führen helfen, da beging ich das Verbrechen,
ihn des Neides, der Undankbarkeit, des Verrathes zu zeihen.
Die folgenden Sekunden kann ich nicht ſchildern. Wie ich Schmerz und
Schmach des Fauftſchlages im Antlitz brennen fühlte, wie ich zweimal mit dem
Metalllnauf meines Rohres ausholte und ſchlug: in meiner Erinnerung Inäult
#3 fi in eine unauflösbare Konvulſion zuſammen. Aber mit nüchterner Deut-
lichkeit ſehe ich noch den lebenbigen Menſchen niederbrechen und in ber epilep-
sich frampfhaften Stellung des gewaltſam Berendeten fi auf dem Boden ftreden.
Sch blidte um mid. ES war ein entlegener Theil des Parkes, wo die
Kieswege enden und Kleine überwachſene Pfade im Grün der Waldwieſen fi
verlieren. In ber Nähe ftand von Väterzeiten ber als Jagddenkmal ein fteinerner
Hirſch; dahinter lag ein Weiher. Es war neun Uhr abends.
So mußte es fein, ſagte ih. Ich bin ſchuldlos. Ruchbar kann es nicht
werden. Jetzt Ruhe und Ueberlegung! Da plößlich ftieg e3 in mir empor wie
eine brennende Woge, die mir die Eingeweide hob, über meinem Kopf zuſammen⸗
ſchlug und alle Befinnung fortriß. Ich lag am Boden und grub Stirn und
Bähne in ben Moraft des Weges. Ich wagte nicht mehr, den Toten anzubliden.
Ich wagte nicht, ihm die Augen zu fchließen, — die Mugen, bie lachend und
86°
452 Die Zukunft. |
weinend mir aus fernen Kindertagen vertraut waren. Ich wagte nicht, bie Hänbe
zu berühren, die mich taufendmal begrüßt Hatten; bieje nachdenklichen Hände,
beren Büge mir befreundet waren wie liebe Geſichter. Mir graute, daS Haar
von biejer feingeaderten Schläfe zu ftreichen, die von meinem Schlage blutete
Ein Theil meines Leibes, meines Lebens lag neben mir, — bejudelt, vernichtet,
ber Fäulniß hingeworfen durch die That meiner Hände.
Nie Hatte ich bis zu diefer Stunde ben Namen bed Herrn angerufen als
zu frivolen Betheuerungen; jet jchrie, nein, heulte meine ganze Seele empor:
Gott, Du mußt biefe Schuld von mir nehmen, Du mußt die Blut von mir
waſchen, Du mußt mich retten!“
Malevilles mit ſtarker Empfindung geſprochene Worte ſchienen von bem
Wänden des fchweigenden Saales widerzuhallen. Niemand rährte ih. Kine
furze, etwas unbehagliche Bewegung der Hörer wurde erſt merkbar, als er fait
unvermittelt fi in den höfiſchen Ton der Rede zurädfand.
„Sch hoffe, meine Herren, daß ich Ihre Geduld nicht mißbrauchte, indreur
ih Ihnen dies Erlebniß, das als Traun endete, in den Formen der Wirklich:
feit vortrug. Ich fage: ‚endete‘; denn es giebt Augenblide, wo e3 mid; tröftet,
an Wunder zu glauben. Und warum follte der allmäcjtige Gott, der über
Gegenwart und Zukunft Herr ift, nicht die Gewalt haben, bie Maſchen bes Ge⸗
ſchehenen aufzulöfen, die Zeit rüdwärts zu zwingen, Vergangenes ungejchehen
zu maden? Es giebt Erlebniffe, die man zu träumen glaubt, und wiederum;
in allen Träumen weht ein zarter Schleier Über den Dingen, ben man nad
dein Erwachen erft erinnernd wahrnimmt: diefer Traum batte nichts Traum
baftes; er trug alle Merkmale bes Lebens.“ Kenlgersn oh
Hier unterbrad ben Sprecer ein Mitglied ber Berfammlung, der Ge
neralprofurator: „Und wo war, wenn ich fragen darf, Ihr Herr Bruber, als
diejes zweifelhafte Ereigniß fich zutrug?“
„Ohne mein Wifjen‘‘, erwiderte Maleville, „war er kurze Zeit vorher
thatfächlih nah Amerika ausgewandert. Er erlag ſpäter in New- Orleans dem
Fieber. Den genauen Beitpunft feines Todes babe ich niemals feftzuftellen
vermocht ... Uber bleiben wir bei ber Sache, meine Herren! Die Frage, ob
Wunder oder Wirklichkeit, Traum oder That, bat ung bier nicht zu beichäftigen,
Wir fpraden vom Schuldbewußtfein. Meine Schuld war wirklich, denn ich hatte
die That mit allen Faſern meiner Nerven begangen, mit aller NRothwendigfeit
meiner Natur, mit allem Bewußtſein meiner Seele. Mein Geift fonnte nit
wader fein, al3 er war; und ftünde ich, ohne dieſe ſchreckliche Erfahrung, noch
einmal auf dem felben led: wachend oder träumend, ich fürdite, ich beginge
fie wieder.
Das, wie mir fcheint, eigentlich Wunderbare und dennoch Natürliche des
Borganges will ich erit jebt erwähnen. So lange ich die Wirklichkeit mei
That vor mir fah, war meine Verzweiflung tiefer, als Menſchen ermeffen förme
als ich erwachte, fühlte ih mich frei von allem Schuldbewußtfein, rein m
glücklich. Niemals wieder habe ich biefes Verbrechen bereut; niemals mehr *-
es mir auch nur eine Stunde lang Sorge gemacht. Es bleibt ein Traum;
Borfall, meiner Verantwortung fo fremd, als wäre er dem Fremdeſten wid,
fahren, Meine Seele, die diefe Ausgeburt erzeugt hat, leugnet alle Mutterſche
Ein Traktat vom böfen Gewiſſen. | 463
und ſtolzirt in ihrer Jungfräulichkeit. Meine Schuld beitand, — und mein
Gewiſſen fümmerte ih nicht darum.
Sch verfage mir, biefe Seelenerſcheinung theoretiſch zu erläutern, benn
ber Konful bat, wie Sie gemerkt haben werden, die Aubienz beendet. Die Dar⸗
Iegung, bie den Beitraum feiner Abweſenheit auszufüllen beftimmt war, Hätte
er Ihnen wahrjcheinlich kürzer, ficherlich überzeugender vorgeführt.‘
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In der That hatte die ovale Klinke der grüngolden lackirten Thür ſich
ſchon bewegt und ber Flügel eine winzige Spalte geöffnet. Jetzt wurde Er, dem
die Schlußmworte galten, fihibar. Mit breiten Schritten fpazirte er, fichtlich in
guter Laune, über die Yorberfränze und fliegenden Adler bes Teppichs nad) feinem
Sit und fagte, indem er den Kopf auf die Seite neigte und die Hände in bie Taſchen
verſenkte: „Ich Hoffe, daß Maleville Sie gut unterhalten bat. Wenn bier mit
Traumdeutung gedient ift, jo hätte ich vielleicht Darauf verzichtet, Ihnen Geſchichten
zu erzählen, und Ste nur auf eine fehr triviale Erfahrung verwiefen, die Jeder
von Ihnen ſchon gemacht haben wird. Sie träumen, daß Sie ſich wegen einer
fteafbaren That zu verantworten haben. Sie fuchen fi} der Verantwortung zu
entziehen. Man verfolgt Sie. Man holt Sie ein und verhört Sie. Sie leugnen,
führen Wahrfcheinlichfeiten an, verfuchen, ein Alibt zu Eonftruiren. Sie erbichten
Thatſachen, treten pſychologiſche Beweiſe an, beſchuldigen Andere, trachten, das
Verfahren zu verſchleppen, hoffen auf Zufälle, ſuchen Zeugen irr zu machen.
Sie ſchließen mit einem glänzenden Plaidoyer, — und werden verurtheilt. Während
der ganzen Zeit haben Sie von Ihrem Gewiſſen, Ihrem Schuldbewußtſein,
Ihrer Reue und Zerknirſchung ſchwerere Martyrien erlitten als von der Chicane
des Verfahrens und der Härte der Strafe.
Sie erwachen: und was bemerfen Sie? Sie haben Ihre Verfolgung,
Ihren Prozeb und Ihre Berurtgeilung geträumt. Ihr Verbrechen haben Sie
nicht geträumt. Es war eine Borausjegung der Komoedie, aber eine Voraus⸗
fegung, die Sie nicht geprüft haben. ine falfhe Vorausfegung. Und body
fühlten Sie ſich ſchuldig, waren Sie ſchuldig fo gut wie Einer, der das Ber-
gnügen oder den Nugen des Bergehens gekoſtet hatte. Sie hatten bie Indigeſtion
ohne Mahlzeit, den Katzenjammer ohne Rauſch. Ahr Schuldbemwußtfein war
entftanden, wie ein Juden der Haut, ein Schmerz im Singer, — ohne fitt-
lihen Anlaß.
... Genug ber Philofophie, meine Herren; wir Haben zu arbeiten. Ich
wünfde, daß Ste Schuld und Strafe ohne metaphyſiſche Nebengedanken be-
trachten, fozufagen als Spielregeln. Das Schuldbewußtfein ift eine Zwangs⸗
porftellung, die man fi durch unbedachtes Handeln ober durch Unvorſichtigkeit
zuzieht, und die Strafe ift feine Sühne, feine Rache, Fein Sakrament, fondern
einfach eine umgekehrte Belohnung, — weiter nichts.
Und jegt, bitte ich, zum nächſten Paragraphen.“
Ernſt Rainer.
ab⸗ Die Zuhuſ.
Selbſtanzeigen.
Der König aller Sünder, Verlag von Arel Juncker, 1903.
... Und fo fehide ih Shnen denn das Manuſkript. Mit eigenartigem |
Empfinden lege ich bie Feder aus der Hand. Zum Ichten Mal. Wohl mit er
leihtertem Aufathmen, wie von einem Alben befreit, der mich lange geplagt
bat. Zugleich aber mit dem Gefühl des Bebauerns, liebgeworbene Geſchoͤpft
entbebren zu müſſen. Wie man aus einem Kreiſe werther Menſchen ſcheidet,
der und lange Sinn und Herz beglüdt Bat. Man fieht Kinder feiner Phantafie
ja, alö lebten fie wirklid. Als brauchte man nur wenige Echritte zu wandern,
um fie in Fleiſch und Blut vor Augen zu haben. Und leben fie benn nid
auch wirklich? Mir lebt Junker Otto, für mich ſtirbt König Chriltopger am
liebte Cara. Ich möchte darauf ſchwören, daß fie genau fo aus geſehen haben
wie ich fie darftelle. Die Ausfägigen haben den Kirchgang gemacht und mi
ben furchtbaren Waffen ihrer entjeglichen Krankheit dad Schloß Kalundber
erobert. Der junge Königsſohn liebt im alten Paris bie jungfräulicde Buhlerin,
die zu nächtlicher Stunde Asmodäus heimſucht, und der Königsiproß ſelbſt wind
bas Opfer des Böſen Geiftes. Als Sühner urpäterlider Schuld pilgert der
Junker ind Selobte Land; daß er Ordensritter wurde, ift ja biftorifch vwerbärgt
Unter dem Oelbaum fieht er im Garten von Gethfemane verzädten Auges der
Deiland und nimmt, als vom Erlöjer Auserwählter, die ſchwere Laft bes Kreuze
auf fih. Mit ihm betritt die Verderben bringende Natte die heimiſche Erde
und verpflanzt „die Geißel Gottes“, die verherenbe Veit aus dem Morgenland,
auf Zütlands Boden. Er aber lebt und duldet fortan unter ben Aermiten der
Armen umd erleidet für fie den erlöfenden, fühnenden Tod... Heißt Des,
„ſchaffen“? Mitfühlen, nachleben, laufchen, was die Geifter Berftorbener im Abend
wehen ung zuflüftern. Hören, jehen, fühlen. Biel mehr vermag auch ber Künftler
nicht. Durch medanifche Konftruktion und Kombination entfteht fein Lebendige?
Kunſtwerk. Wer künftlerifch ſchafft, kann nur ſchauen, belaufchen, errathen, was
aus uraltem Erdreich die Geiſter Berftorbener in die Nachtluft emporfläftern, nut,
auf feine befondere Weife, wiedergeben, was ſchon geſchaffen war und ſchon gelebt
Kopenhagen. Lauridd Bruun.
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Der Fenriswolf. Ein öfterreichifcher Provinzroman. Hermann weemam
Nachfolger in Leipzig.
In meinem Roman „Die Waclawbude“, ben ich vor einem Jahr an
dieſer Stelle anzeigen durfte, habe ich verſucht, ein Stüd öfterreichifchen Em
dententhums zu zeichnen. Ein Stüd alademifchen Lebens, das etwas Oeſtliche
an fig hat, das bem Leben an den deutfchen Univerfitäten nur in Aeußerlich
feiten ähnelt. Nun babe ich ein Scidfal zu geftalten verjucht, das an dem
ſpezifiſchen Stumpffinn der öfterreichifchen Provinz zu Grunde geht, ein Schrift⸗
fteller: und Menſchenſchickſal. Und wieder drängte ſich mir eine traurige Unter
ſcheidung auf. Schildburg und Krähwinkel find mit Nedt in deutſchen Landen
zu fucden und zu finden. Uber es fann im ganzen Deutſchen Reich fein ſo
gottverlafienes Neft geben wie diejes öſterreichiſche Provinzſtädtchen Rohrburz.
Die Neicheibee verbindet noch immer jelbft die letzte Kleinftadt in Hinterpom⸗
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Selbſtanzeigen. 455
mern mit dem Ganzen; und trotz allen Kursſchwankungen und Theaterkünſten
iſt doch eine verſchämte und faſt zornige Liebe da. Vielleicht am Meiſten bei
Denen, die am Meiſten erzürnt ſcheinen. Das fehlt in Oeſterreich. Niemand
liebt dieſes zerrüttete Reich, auf deſſen Tod jede Nation und jedes Natidnchen
mit der Gier zitternder Erben wartet. Kein großer Gedanke, kein heißer Haß,
keine wilde Liebe erhebt ſich aus dem Sumpf der Provinz. Alles dämmert da⸗
hin in einem Druck, ber alles Geiſtige ertötet, alles Funkelnde ausloſcht. Die
Bürger von Rohrburg find Peſſimiſten, ohne es ſich einzugeſtehen. Cyniker,
ohne es zuzugeben. Menſchen, die nichts mehr zu hoffen haben. Ihre Wünſche
find ohne Kraft und ſelbſt ihr Born glimmt nur leiſe dahin. An dieſem Stumpf
ſinn, an dieſer troſtloſen Verödung ſtirbt ein Menſch. Die neue Zeit kommt
verſpätet und zögernd in dieſe Stadt und erweckt hier den Sturm in den Herzen
von einigen jungen Leuten, den ſelben Sturm, der draußen ſchon verbrauſt iſt.
Sie möchten gern die Stadt erwecken, die fie lieben. Aber hier iſt totes Waſſer.
Die Wellen antworten dem Wind nicht, — und ſo zieht der Sturm vorüber. Die
Stadt ſchläft wie zuvor... Ich möchte die großen Errungenſchaften der neuen
Zeit, alle Künſte der Technik in meiner großen Liebe zur Kunft vereinigen und
den Roman unjerer Zeit ſchaffen, einen Roman, ber nicht dem Naturalismus
angehört noch der Neuromantif oder dein Symboliamus, fondern allen zuſammen.
Und ich möchte in einer Reihe von Romanen bas Defterreih meiner Beit ſchil⸗
bern, dieſes intereffante, vermorſchende und zerfallende Reich.
Brünn. . Karl Hans Strobl.
Juſt Zwölf. Yankee-Schnurren und Anderes. Concordia, Deutfche Ber-
lagsanftalt. Berlin.
Mer eine Selbjtanzeige fchreibt, fol vor allen Dingen erklären, was er
mit feinem Buch will. Das tft fehr bald erlärt. Zunächſt wollte ich die zwölf
mehr oder minder fröhlichen Sächelchen, die meilt in der „Jugend“ erjchienen
find, aud noch anderen Menſchen zugänglich machen und bamit einige beitere
Uugenblide bereiten. Nebelhafter Tieffinn oder verzwickte Seelenprobleme ſtecken
in den Erzählungen nit. Ich geitehe ganz cyniſch, daß ich die Geſchichtlein
allefammt aus dem Leben abgeichrieben habe; freilich Hatte ich fie eben auf meine
eigene Urt geiehen und innerlich verarbeitet. Wer durchaus auch hinter dieſen
Kleinigkeiten Etwas fuchen muß, mag, wenn e8 ibm Spaß macht, die uralte
Wahrheit darin finden, daß Tragik und Komik nicht Feinde, ſondern Geſchwiſter
find und in dem jelben Haufe wohnen. Was ich fonft noch wollte? Meiner ge
treuen Kleinen Schreibmafdginiftin (Aha: jet wirds pilant!) eine Freude bereiten,
da fie nun einmal durchaus die Sachen in Buchform haben wollte. So find bie
Weiber. Sie wollen immer Alles hübſch bei einander Haben, mit einem roſa Bänd⸗
hen drum. Und drittens — entſetzet Euch tugendfam, Ihr Kameraden mit dem
idealen Heiligengewerbefchein —, drittens wollte ich als nothleidender Literarier
mit dem Buch Geld ‚machen‘, fo viel wie möglich; denn weder ftehe ich jenfeits
von Mark und Pfennig noch thue ih, als ob ich jo ftünde. Das tft Alles. er
mid liebt, Der kaufe mich!
New Hort. Henry F. Urban.
DR
456 Die Zukunft. .
Danfemann.
ach ſechsundvierzig Fahren raftlofer Thätigkeit für die Diskontogeſellſchaft if
VB Aolf von Hanfemann ins Grab gefliegen. Sein Leib war kaum erlaltet,
vom Banfgebäude wehte die Fahne noch halbmaft: und fchon wurde im Börſen⸗
faal auf dem Diskontokommandit⸗Markt ein Freudentanz aufgeführt. Was feit vier
Jahren nicht mehr gelingen wollte, wurde jett, an der Bahre Hanjemanns, Er.
eigniß: der Kurs flieg über 200. Ein Hägliches Schaufpiel. Bor die Familie, bie
Finanzwelt, das Bolt trat man mit der Miene tiefen Schmerzes über ben „ımer-
ſetzlichen“ Verluſt; und biefe Trauergrimaffe wurde auf der Stelle vom erfien Blid
auf den Kurszettel Rügen geftraft. Nobel wars nicht. Ein wahres Glück für biefe
lachenden Hinterbliebenen, daß feiner von ihnen an ein Senfeits glaubt; fonf müßten
fie bei dem Gedanken an das Wiederfehen in einer anderen Welt doch ein Bischen
gittern. Bor dem Lebenden haben fie Alle gezittert; jebt, da ihm der Mund für immer
gefchloffen, der Arm für immer erlahmt ift, athmen fie auf und fühlen fich.
Hanſemanns Großvater war ein Prediger. Bon ihm hatte der Enkel vielleicht die
Sucht geerbt, die Menſchen zu beffern und zu belehren. Das gelang wohl nicht immer;
jebenfall8 aber wußte er den Leuten zu imponiren. Wie zu einem Seelſorger, je
famen fie zu ihm, um fi in Nöthen Rath zu holen. Und wenn fie nicht raid
genug famen, fuchte er felbft fie auf. Mit gewöhnlichen Sterbliden gab er fid
freili nie ab. Er hatte eine Gemeinde Ausermwählter, in bie nur Mächtige, haupt-
ſächlich die Lenker von Staatsgejchiden, Einlaß fanden. In ihnen fah er feine Heerde,
über die ein höherer Wille ihm das Hirtenamt verliehen habe. ALS der Norddeutſche
Bund 1870 von dem ihm bewilligten Kriegskredit zunähft 100 Millionen Thaler
durch eine fünfprogentige Nentenanleihe auf dem für Deutfchland noch ungewöhn-
lichen Wege einer direften Bollszeichnung zu befchaffen fuchte, wurde Adolf Hanſemann
vom Yinanzminifter zu Rath gezogen. Das Antereffe ber Distontogefellichaft murßte
bei diefer Unterredung fchmweigen; denn eine birefte Zeichnung fchloß jeden Ber-
mittlergemwinn der Banken aus. Trotzdem legte fi Hanſemann mit der ganzen
Willenskraft, deren er fähig war, ins Zeug, um den Minifter zu belehren. Ein⸗
bringlic) warnte er, ben Emiffionturs über 85 zu wählen, weil fonft ein Mißerfolg
zu befürchten fei. Der Minifter aber wollte nicht bören und wählte den Kurs
von 88. Solchem Ungehorjam folgte die Strafe der Borfehung denn auch auf dem Fuße.
Die Emiffion war ein Fiasko: nur 68 Millionen wurden gezeichnet. Reuig lehrte
der Minifter beim nächften Geldbedarf in die Hanfemann-Heerde zurüd; er erbat
die nöthigen Mittel von Adolfs Gnade und ward für diefe bußfertige Demuth reichlich be»
lohnt. Als 1879 angefehene Berather der preußifchen Regirung empfablen, dem
ſchwächlichen Markte der heimifchen Konfols dadurch aufzuhelfen, daß fie auch mit
fremden Texten verfehen und ihre Zinfen in fremder Währung an ausländifche
Pläten zahlbar gemacht würden, trat Hanfemann wieder mit einem Privatiſſimu⸗
dazwifchen und beftand darauf, daß diefer Math unbeachtet bleibe. Diesmal fand
bei der Regirung williges Gehör. Seine Oppofition war aber faum fo ſehr mt
Sache wie in dem Gefühl der Sendung begründet, zu der er fih berufen fühl
Nur er hatte den Regirenden den Weg des Heiles zu weifen, er ganz allein. Gpäı
im September 1900, al8 er zur Unterftügung des Neichsfredites bas Ausland $
Hanſemann. 457
anzog, als er 80 Millionen Mark deutſcher Schatzanweiſungen an das new⸗yorker
Bankhaus Kuhn, Loeb & Co. begeben ließ, war dieſer Schritt natürlich wohlgethan,
wie jeder, ben er that. Daß die Banken bei den preußifchen und Meichgemiffionen
in den achtziger Jahren umgangen wurben, empfand er als eine ſchroffe Berlegung
feiner priefterlichen Hoheitrechte und war nie zur Vergebung folcher Sünde geftimmt.
Im Anfang der neunziger Jahre wagte in Oeſterreich ein kluger Finanzminifter,
das ſchon längft fpruchreif gemordene Problem der Valutaregulirung anzupaden.
Sofort ift Hanfemann mit einem Gutachten auf dem Plan und redet fich ein, die
ganze Enquete, die dann in Wien unter Betheiligung der beften Köpfe der Monarchie
veranftaltet wird, bringe im Grunde nichts als eine Beftätigung, höchitens eine Er-
gänzung Deffen, was er ſchon ex cathedra verkündet hat und woran nur Ketzer
noch frevelnd rütteln Tönnten. In Petersburg, wohin ibn 1886 die Anleihe
gefchäfte der ruſſiſchen Suüdweſtbahnen und der Wladilamlasbahn geführt hatten,
ſucht er Bunge, den ruffiihen Finanzminifter, auf und verkündet ihm als Evan-
gelium die Konverfion der ruffifchen Staatsanleihen. Eine längere Denlſchrift folgt.
Bunge aber blieb ein flörriger Heide und Herr von Hanfemann erlebte den Schmerz,
daß erſt die Nachfolger Bunges fich betehren ließen, als die parifer Rothſchilds ihnen
nachdrucklich zugeredet hatten. Selbft den Franzoſen bot Hanfemann feine Seel-
forgerdienfte an; miſſionariſcher — und emifftonarifcher — Eifer ift ja an nationale
Borurtheile nicht gebunden. Bor der Emiffion des zweiten Milliardenbetrages, den
Frankreich nach dem Frankfurter Frieden brauchte, legte Hanſemann perjönlich dem
Präfidenten und dem Finanzminiſter der britten Republik einen Plan vor, der durch
eine internationale Realgarantie für die Bezahlung der franzöfifchen Sriegsent-
[hädigung bie Bertheilung der Anleihe auf längere Zeiträume ermöglichen follte.
Aud mit diefer mwohlgemeinten Belehrung drang er nicht durch, nahm aber das
erhebende Bewußtfein heim, feine Pflicht gethan und wenigftens ben Verſuch einer
Belehrung gemacht zu haben. Daß Argentinien fo verftodt war, nicht zu hören,
als er es vor der allzu rafchen Vermehrung des Papiergeldes warnte, bereitete feinem
Geelforgerherzen befonderen Schmerz, da er ſich für diefe Undankbaren ziemlich weit
vorgewagt hatte und auf feine Empfehlung aus Deutfchland fo mande Million
binübergewandert war. Das größte Leid aber that England ihm an. Die Briten
leiften ja ſelbſt Beträchtliches auf dem Gebiete der Belehrung; gerade deshalb viel
leicht war ihnen der Emiffionar aus Deutſchland nicht willfonmen. Diefer Beffer-
wiffer, der die ganze Welt belehren wollte, wurde ihnen läftig, weil er ihnen allzu
ähnlich war. So oft Hanfemann in die Lage fam, in England perfönlidh zu inter-
beniren, gab es einen harten Zufammenftoß. Sagte er in dem englifch -deutfchen
Komitee, das mit Argentinien über die Megelung der Schuld unterhandelte: Grün,
fo wollten die Engländer Blau. Sagte er während der Berathungen über eine
engliſch⸗deutſche Kooperation bei chineſiſchen Emiffionen: Blau, fo wollten die Eng
länder Grün. Die London» & Weftminfter-Bant, mit der er im November 1870
wegen ber Uebernahme der 17 Millionen Thaler Schatzanweiſungen paftiren wollte,
trat bald nach Eröffnung ber Konferenzen von der Sache zurüd und Hanfemann
mußte am Ende noch froh fein, einen Erjat in einem anderen londoner Inflitut zu finden,
in dem das deutfche Element überwog. ine ähnliche Erfahrung hatte ex fchon
giei Jahre vorher gemacht, als er dem londoner Haufe Baring vergebens darzu⸗
legen fuchte, daß es Unrecht thue, die Uebernahme von Köln» Mindener- Priorität"
455 Die Zukunft.
sbligationen zu verfäumen. Barings lehnten dankend ab. Gerade biefe mihglädte
Werbung bei Barings erinnert übrigens daran, daß Adolf von Hanfemam meh
als einmal auch erfahren mußte, wie wenig det Prophet in feinem Baterland gt
Als die Abfage der Firma Baring bewies, daß die 200 Millionen Thaler, die zur
Erweiterung und Berbefferung des preußiſchen Eifenbahnnetes dringend gebraudt
wurden, im Ausland nicht zu finden waren, verfaßte Hanſemann wieder, wie er
fo gern that, eine Denkichrift, diesmal zum Frommen und zur Erleuchtung bet
eigenen Megirung, der er zeigte, daß eine Losanleihe die einzige Rettung für Deutidr
land fein würde. Die Regierung war bereit, diefem Rath zu folgen. Die öfent
liche Meinung aber erllärte, verblendet, wie fie nım einmal zu fein pflegt, das Pre
jet für ein Werk des Teufels und zwang das Minifterium, feine Zufage zu wider
rufen. Bald mußte Hanfemann, zu feinem Schmerz, dann erleben, baß feine Idee
vom Baron Hirfch verwirklicht wurde, deffen Türkenlofe aud) in Deufchland reifen
den Abfat fanden. Nicht minder fehnöde wurde Hanfemann in der Heimath mie
gefpielt, als er den preußifchen Behörden den Plan einer über Potsbam nad; Lehrte
führenden Bahn empfahl. So hatte er mancherlei Leid durchzumachen. Dod ohnt
Maͤrtyrerkrone ift ein rechtes Mifftonarleben ja nicht vollendet zu benfen.
Das Bemußtfein, als Pfadfinder in die Welt gefandt zu fein, ließ Harfe
mann an alle größeren Aktionen mit einem gewiffen Fanatismus berantreten, der
ibm auch über Mißerfolge hinweghalf. Priefter rechnen fich ſtets zu ben Reinen,
denen Alles rein ift; und Adolf von Hanfemann hat fi im Innern immer ald
Prieſter gefühlt. Ex durfte beide Hände auf die Wirthſchaft Strousbergs legen,
denn er war berufen, die 1700 Kilometer” deutfcher Eifenbahnen, bie der genialiſche
Doktor und Bauunternehmer mit einem Wuft von Machenſchaften fait erdrüdt hatie,
wieder zu Leben und Wohlftand zu erweden. Er durfte aud) in Rumänien Stumb
berg8 Erbe werden, auch dort Vorfehung fpielen, — mochte das deutſche Kapital
auch dabei biuten. Er durfte, felbft wenn für die deutſche Induſtrie feine einzige
Beftellung abfiel, die Erbauung ber Kongobahn fördern, eigentlich überhaupt erh
ermöglichen, denn er war auserwählt, die Welt mit dieſem Kulturwerk zu be
glüden; c'est une des plus belles affaires du sidcle, rief ja der Baurath Lent
einer der Akoluthen Hanfemanns aus, als er dem belgifchen Major Thys zu dem
Gedanten gratulirte. Hanſemann durfte Venezuela und Braftlien mit deutſchen
Gelde düngen, durfte die Erfparniffe feiner Landsleute nad Samoa, Neu⸗Guinea
Kamerun und China tragen. Einmal freilich fcheint die Inſpiration fich micht eim
geftellt zu haben: wegen einer Heinen Zinsdifferen; mit der Regirung ließ Hanfe
mann die Arbeiten am Nord-Oftfee-Kanal ins Stoden gerathen. Daß er übrigen?
auch für fich felbft zu forgen verftand, beweift das Gerücht, er habe in feiner letztda
Lebenszeit ein Jahreseinkommen von mindeftens anderthalb Millionen gehabt. Diet
Haushaltertalente unterfcheiden ihm nicht von anderen Mugen Prieftern: aud Pit
der Neunte füllte feine Truhen und hielt ſich doch fir den frömmſten aller Statt
halter Chriftt auf Erden; freilich war feine Erbin die römische Kirche. |
Adolf von Hanfemann, der zwanzig Jahre lang faft alltäglich mit Mayer
Karl von Rothſchild korrefpondirte, war durchaus nicht der wortlarge, weltfremd®
Dann, den die Menge in ihm ſah. Er wollte nur nicht in die felbe Klaſſe ei
gereiht und auf bie felbe Weife behandelt fein wie andere Bankdirektoren. Et
zählte fich zu einer befonderen Gilde, war eine Klaffe ganz für ſich: ein Berufen“
0 —
Hanſemann. 459
wicht ein Berufsmann. Für ihn hatte auch eine Schlappe, wie bie mit der Dortmunder
Union eriebte, keine Schreden; und Gewiffensbiffe quäften ihn nie. Für Dortmund
entichädigte ihn Geljenkirchen, für Luther-Mafchinen Kruſchwitz Zuder. Er hätte
die Dortmunder Union noch zehnmal fanirt, wenn es nöthig geworden wäre; denn
es war im Innerfien überzeugt, daß Alles, was er berührte, fchließlich irgend einem
Zwed dienen, irgend einer Sache zum Segen gereichen müſſe. Die Distontögejell-
ſchaft war feine Diözeje, die ihn felbft reich machte, der aber auch er mit dem Inhalt .
feiner Perſönlichkeit mehr zu geben glaubte, als irgend einem anderen Finanz
inftitut der Welt befchieden jei. Das Tomlapitel, das nad) feinem Tode die Vers
wefung das Bisthumes übernommen hat, kann wohl die Güter der Diözefe mehren,
nicht aber Erſatz für die entſchwundene Perjönlichkeit bieten. Vielleicht wird die
Diskontogeſellſchaft jetzt in rafcherem Tempo als bisher Geld verdienen; das indi⸗
viduellſte aller Bantinftitute aber iſt fie nun nicht mehr. Einen Tag, ein paar kurze
Börfenfturiden wenigftend lonnte man der Trauer um Adolf von Hanfemann, den
frommen Uebermenfchen, ver anfländigen Kepräfentation widmen. Die Epigonen, die
gar nicht ermarten fonnten, Distontolommandit wieder auf 200 zu jehen, haben ein
Bischen zu ſchnell gezeigt, daß fie nicht vom echten Stamm des fasten Mannes find.
Dis,
Sie find von anderem Stamm. Ber Wuchs zeigt e8 und der Saft. Aber eine
Zrauerhauffe hätte auch Herr Adolfus von Hanfemann nicht verfchmäht, um zu beiveifen,
daß nichts verändert, nur ein überzähliger Dann ins Grab geſunken fei. Denn mit
- Sentimentalitäten hielt er ſich nie auf. Ein harter Herr. So fchien er; und wurde des⸗
halb ringsum gehaßt. Nichts Menſchliches war fihtbar. Ein Mann ohne Nerven, dent
morgens Keiner anfab, daß er nachts — wie oft! — Über den Bodenfee geritten war.
Der, als kümmere ihn die Sache nicht mehr als ein Borgang, deſſen Schauplatz ber
Mars war, vernahm, daß in ſchmutzigen Spelulantenprozeſſen die gefchäftlichen Grundſätze
der ehrwürdigen Distontogefelihaft zur Entlaftung der Angellagten herangezogen
worden waren. Solches Gerede Tonnte ihm nicht ſchaden; warum fi alfo regen,
erregen? Mitt äußerfter Verachtung blidte er auf alle Redſeligen herab. Parlamente
oder Generalverfammlungen: immer das felbe Blech; wenn die Leute fih müde ge
ſchimpft haben, hören fie auf und Alles bleibt, wie e8 war. Einen der Beften unter
den Beredten, Johannes Miguel, hatte er in der Nähe gefehen; ein brauchbares Gehirn,
aber durd) Nebnerei verdorben und für die Bank unnützlich. Nach der zweiten Flaſche
Elflafen, das Bedürfniß, ins Blaue hinein zu phantafiren und von Attaches und anderen
Kindern Beifall zu werben. Nichts für Hanfemann. Der buhlte nie um Bewunde⸗
rung, wollte weder bei Hof ein Röllchen fpielen noch à la Siemens in der Preſſe gefeiert
werden. Er wußte, daß man ihn, wegen feiner barfchen Berfehrsart, den ladirten
Hausknecht Schalt, ihm als Bankdeſpoten jede Geroiffenlofigkeit zutraute und auf feinen
Tod lauerte, Mochten fie; fo lange er lebte, mußten fie doch vor ihm kriechen. Nicht als
Direftor einer Kommanditgeſellſchaft fühlte er fich, fondern als felbfändigen Chef eines
Bankhaufes, deſſen große und Heine Inſaſſen feinem Wink gehorchen mußten. Wenns Zeit
war, beftellteer einen Beamten in fein Bureau und machte mitihm die Bilanz; ganzallein:
die Anderen jahen fie früh genug und hatten ihre Bedenken gefälfigft zu unterdrüden.
Dreinreden eines „Kollegen“? Das wäre noch ſchöner. Er hatte feine Kollegen; nur
Werkzeuge, die er wählte und wieder wegwarf, fobald fie fich nicht als tauglich be»
460 Die Zukunft.
fortium geſchaffen, die Diskontogeſellſchaft in die Rothſchildgruppe gebracht, in Rumeniea
nad) Strousbergs Zuſammenbruch das Aergſte verhütet, über die dortmunder Leiden, Ve
nezuela, die pariſer Druckluftnoth immer wieder hinweggeholfen und bie einträgliche 5%
fion mit der Norddeutſchen Bank durchgeſetzt? Sie oder er? Alſo ſollten fie auch der
Weifung des Stärkeren folgen. Er war der Stärfere, wäre ohne den niederfächkicen
Starrkopf vielleicht unter allen Bankherrſchern der Stärkfte gewefen. Taktik und Moral
des Volitilers. Niemand hatte das Recht, ihn nach Mittel und Wegen zu fragen, wen
bas Biel nur erreicht wurde. Natürlich fagt man Unverfländigen nicht flets die Wahr⸗
heit. Die Anderen thuns auch nicht, bequemen fi) aber zu der Grimaffe biederer Red
lichkeit. Dazu gab Hanfemann fich nicht her. Popularität war ihm ein Gräuel. Die ihm
näher famen, erzählten, feine beten Stunden feien die gewefen, wo es von allen Briten
ſtürmte und Wuth um die alten Mauern feines Gefchäftshaufes heulte. Dann wuchs ifm
die Kraft, er ruhte nicht, bis der Himmel wieder hell war, und ſchaute ſelbſt Doch jo finiter
drein, als nahe erft jetzt das ſchwerſte Unwetter. Den Bater David Aberlebt das Bet,
in Geldfachen höre die Gemüthlichleit auf; der Sohn hätte folde Banalität gar nich
erft ausgeſprochen. Nur nichts, mas nad) Ethik und Moralfauce ſchmeckt! In manden
Weſenszug müfjen aber die Beiden einander recht ähnlich gewefen fein. Kerr Bergen
grün, der Biograph des Vaters, berichtet, ſchon als Handlungreifender habe Dani
Hanjemann „das Gefühl gehabt, auf Grund einer überlegenen Einſicht und einer unfträ!
lichen Abficht feinen Willen unbedingt durchjegen zu müffen“ ; und fpäter jagt er von ihm:
„Mehr als er ſelbſt wollte, ahnte und zugeftehen mochte, verlangte er eine Unterordnung
des fremden Willens unter den feinen, die felbfändige Charaktere nicht vertragen fonn-
ten; oft wurde ihm eigenfinnige Rechthaberei vorgeworfen.” Das könnte auch von de
Sohn gefagt fein. Freilich mag Adolf Hanfemann felten Köpfe gefunden Haben, die ihn
imponirten. Mit Rothſchild, fogar mit dem mehr geiflig flinfen als genialen Bleichroedet
fam er aus; und war auf feines Herzens Grunde doch fiher Antifemit. Eine Per
fönlichkeit. "Daß er für Preußen und Deutfchland viel Nützliches gewirkt hat, ifl under
freitbar; wahrſcheinlich that er8 nur, weil feine Individualität ſich eben auf dieſt
Weiſe ausleben mußte, nicht, weil er ſann und trachtete, feinen Mitbürgern das Leben
zu erleichtern. Ein Unzeitgemäßer. Heutzutage fol jeder öffentlich Tätige ein Dis
hen Schaumſchläger fein; fonft ift er nicht beliebt. Hanfemann wars nidt. Die
Grazien waren ihm fern geblieben und Niemand mochte an feinem Bufen ruhen. DA
fohtign nicht an. Oderint, dum metuant... Sein Iettes Erlebnif war bie Berbrö-
derung der Dresdener Bank mit dem Schaaffhaufenfchen Bankverein. Jetzt, riefen au
der Börfe und in der Preſſe bie Kleinen, ift3 mit der Deutfchen Bank und der Diskonto⸗
gefellichaft aus; ohne zu fragen, ob der Bund halten wilde, ohne zu bedenken, daß zwei
verbündete Banken nicht den hundertſten Theil der Koſten erſparen können, von denen
zwei Induftriegefellichaften durch eine Fufion'entbitrdet werden. Da wurde der Unter
ſchied der Generationen fihtbar. Hanfemann rührte fi nicht; wie manchen Gutmann
batte er im Lauf der Jahre begraben! Die Börfenvertreter der anderen bedre‘“”
Großmacht aber ärgerte jedes Getufchel; fie wurden ſchon nervös, als vor ihren Pl
ein malelnder Witzbold rief: „Mittelbanfen alfo feit; Schlußnotiz 220...“
DR
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währten. Herrifch wie “Jeder, der feine Sache verfteht. Mer hatte denn das Preußenlos
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Bücherlifte. 461
Bücherlifte.
rin funfelnde Schäße wollte Gibbon für eine Bibliothek geben; denn nie
tönne das Wehgefühl, Lebensſtunden nublos, genußlos vertrödelt zu haben,
Den plagen, derBücher befite. Und vor dem Erweder des Römerreiches, lange auch
vor Nivarol, der die Buchdruckerkunſt die Artillerie des Geiftes nannte, hatte Mon⸗
taigne die intelligenten beklagt, die ohne Bücher, ohne die werthuollite Munition
den Kampf beftehen müßten, in den uns bas Leben zwinge; immer, ſprach der Weile,
nehme er Bücher mit, auf jeden Weg, ſogar auf Feldzüge; und wenn er fie auch Wochen
lang nicht anfehe, tröfte und jtärfe ihn doch die Gewißheit, Daß die guten, zuverläffigen
Kameraden in jeder Minute erreichbar feien. Beim Nahen der Weihnacht muftert
auch der Deutfche wohl die alten, wählt neue Kameraden; wieder jollen darum, wie
feit Jahren, hier ein paar leſenswerthe Bücher empfohlen werden. Ein Katalog wirb
nicht gegeben; nur, ohne Eyftematif, genannt, mas gerade dem Auge, dem Gedächtniß
auftaudt. Eottas Jubiläumsausgabe der Werke Goethes (Herausgeber: Herr von der
Hellen). Der neue Große Brodhaus. Machs „Analyfe der Empfindungen”. Bon
Mauthners „Beiträgen zu einer Kritil ber Sprache” iſt der dritte Band („Bram
matif und Logik”) erfchienen und das erfenntnißtheoretifche Werk damit einftweilen
abgeichloffen. Bauls ‚Prinzipien der Sprachgeſchichte“. Neue Nietſchebaͤnde. Thoreaus
„Walden“. Binders deutfche Ausgabeder Dunkelmännerbriefe. Lamprechts, Deutſche
Geſchichte“ mit den drei Ergänzungbänden, bie unfere Tage behandeln. Die Volks⸗
ausgabe von Haedels „Welträthſeln“. Schallmayers „Bererbung und Ausleſe in
Lebenslauf ber Volker.“ Nds „Unverfälfchter Sokrates“. Dyckerhoffs geſammelte
Scriften. Sombarts „Moderner Kapitalismus" und, Deutſche Volkswirthſchaft im
neunzehnten Jahrhundert.“ Weiningers, Geſchlecht und Charakter.’ Nordens „Papft»
thum und Byzanz.“ Bölſches ‚ Schneegrube“, Landmanns „Napoleon“. Cohns „Ge⸗
müthserregungen und Krankheiten“. Spemanns , Goldenes Buch der Geſundheit“.
Allgeyers „Anſelm Feuerbach“. Bodenhauſens deutſche Ausgabe der „Alten Meiſter“
von Fromentin. Schefflers ‚„Meunier“. Rilkes „Rodin“. „Die Kunſt des Jahres 19083*
(aus Bruckmanns Verlagsanſtalt). Der erſte Jahrgang der von Heilbut heraus⸗
gegebenen illuſtrirten Monatſchrift Kunſt und Künſtler“. Die deutſche Ausgabe
der „Madonna“ von Venturi. „Meine Geſangskunſt“ von Lilli Lehmann. Rein⸗
eckes „Meiſter der Tonkunſt“. „Im Vaterhaus“ von Alfred Freiherrn von Berger.
Sverdrups „Neues Land; vier Jahre in arktiſchen Gebieten“. „Sm Herzen von
Afien” von Sven von Hedin. Goldbergers „Land der unbegrenzten Möglichkeiten”.
Hellens „Leben Shakeſpeares“. „Geſtalten und Gedanken“ von Georg Brandes.
Byrons Tagebücher und Briefe" (Renaifjance- Bibliothel). Die bei Dieberich!
erihienenen Ausgaben von Platons „Gaftmahl”, Marc Aurels „Selbitbetrad:
tungen”, Emerſons „Vertreter der Menſchheit“ unddem „Buch Paragranum“ von Pa⸗
racelſus. Hegelers „Baftor Klinghammer“. Chriftallers „Proftitution des Geiftes“.
Landauers „Macht und Mächte”, „Todesprediger”, „Stepfis und Myſtik“. Beyer
leins „ena oder Sedan?“, „Das graue Neben” und „Bapfenftreih”. „Die Wacht
am Rhein“ von Klara Viebig. „Menſchlichkeit“ von Emil Marriot. Yorimers „Briefe
eines Dollarkönigs an feinen Sohn“. „Arbeit“ von Ilſe Frapan. Aerzte“ vor
Heinrich von Schullern. „Dentwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters“
(herausgegeben von Paul Goehre). „Ein Sklave der Freiheit“ von Wilhelmine von
Hillern. „Ein Königsbrama“ und „Die Leutevon Baldard“ von Richard Voß. „Leben .
462 Die Zukunfi
ohne Lärmen“ von Helene Voigt: Diederichd. „Briefe, bie ihn nit erreichten" (Don ber
Baronin Heyfing). „Kunft“ und „Daatjes Hochzeit‘ von Augufte Hauſchner. „Der
Ihmale Weg zum Glück“ und „Wititalienifche Novellen” von Paul Ernft. „No velles
bes Lyrikers“ von Hugo Salus. „Die Jagd nach Liebe‘ und ‚Das Wunbderbare‘’ von
Heinrig Mann. „Die Antifeminiften" von Hedwig Dohm. „Yalllandflizzen”, „Sub
Bath“ und, Interieurs“ von Heijermans. „Liltane‘ von Henri Borel. ‚Was fiehft Du
aber den Splitter . .” von Karl Larfen. Sherards „Oskar Wilde”. Strindbergs
„Schwediſche Schickſale und Abentener.“ Derneuftedädhmann(. Geflägelte Worte”
Die erſte ungekürzte deutſche Ausgabe von Gontſcharows „Oblomow.“ Korolentss
„Gewohnlicher Fall". Wieds luſtige, Karlsbader Reiſe der leibhaftigen Bosheit.GSre
goris „Schauſpielerſehnſucht. Marterſteigs „Schauſpieler.“ Bahrs „Dialog vom
Tragiſchen“. „Ellen Oleſtjerne“ von ber Gräfin Reventlow. Bon Arno Del:
„Lieder auf einer aͤlten Laute“ und der mit feinſter Ktunſt ausgeftattete Band „Uns
Urgroßmutters Garten; ein Früblingsitrauß aus bem Rokoko“. „Der Spirgel*
won Wilhelmvon Scholz. Webers Sammlung „Der deutſche Spielmann”. Bouſſets
„Weſen der Religion”. Hiltus „Glück“. Obriſts „Neue Möglickleiten in Der bil-
benden Kunſt“. Cranes „Srunblagen bes Zeichnen". Klingers, Malerei und Zeich
. nung”. Schumanns „Briefe“ und „Nugendbriefe". Davids „Uebergang”.„Brönmels
Glück und Ende“ von Karl Heigel, Dihmels „Zwei Menſchen“. Ein paar neue Bäder
für die Jugend: Trojans „Bud in die Welt”. De Wets „Kampf zwiichen Buren
und Briten”; „Das fröhliche Thierbuch“ von Strasburger und Ebel, Spemanns
„Großes Weltpanorama“; „Jugendbrunnen“; „Quellwaſſer“; „Zn Sränzchen"
(alle drei aus Kempes illuftrirter Jugendbibliothek). Den beiten Rath giebt das
vom Hamburger Jugendſchriften Ausſchuß zufammengeftellte Verzeichnißg. ACH die
großen Alten braucht man nicht immer aufzuzäglen. Bergeßt, liebe Deutiche, benDebbel
nicht (auch von den Tagebüchern ericheint jeßt eine neue Ausgabe). Kauft, wenn Ihr
file nicht habt, den Gottfried Keller, Mörike, Novalis, Hölderlin, Cervantes, Bascal,
Taine, Renan, Balzac, Multatuli, Tillier, Eonftant, Flaubert, Browning, Swift;
fogar den Wilhelm Raabe, trogdem er noch lebt... Genug für heute. Kein Katalog,
kein „Leitfaden“; Eurze Notizen nur. Neue Bücher, ſprach Hebbel, find oft nichts als
Hitzblattern des Tages; alte, die neu geblieben find, mıfffen von einem intereffanten
Individuum ausgegangen fein. Und auf das Individunm kommts fchließlich an.
Wer eins ift, will feinen Leitfaden und wählt fi felbjt die Gefährten der ftiliften
Stunden. Manchmal wird er enttäuſcht werden. Erjtensaber braucht nachLichtenbergs
boͤſem Witzwort, nicht immer das Buch ſchuld zu fein, wenn es einem Kopf hohl
Klingt; und zweitens find au aus mittelmäßigen Bücher Berlen beraufzubolen :
man muß nur die Taucherfunft verftehen, bie Sokrates anwandte, ala er ben He⸗
rallitla®. Et prodesse volunt et delectare poetae. Die Einen ergüßen, finbet erbalb
beraus ; nicht jo leicht ift3 bei Denen, die ung belehren könnten. Eigentlich, feufzte
felbjt &oerde, „lernen wir nur von Büchern, die wir nicht beurtheilen Können; der
Autor eines Buches, das wir beurtheilen Lönnen, müßte von uns lernen.“ Imme
bin fei man auchnicht zu ängſtlich; im ſchlimmſten Fall fteht der Kanterad ja ſtum
auf feinem Plätzchen und ſpricht erſt, wenn er gefragt wird. Jit im ganzen Dutzen
aber nur einer, den man gern von Zeit zu Zeit wieber fragt dann iſts bes Lohn
übergenug. Möge Jeder wenigftens Einen e erwerben... ._ürdhliche Weihnadtl
Herausgeber and verantw urtlicher Redatteur: m Harden in Berlin. — — Verlag der Zutunft in t in Berl
Druck don Albert Damde in Verlin. Schöneberg.
Berlin, den 26. Dezember 1905.
-————e-*""1##W",7,»
Morig und Rina.
Kreffin, Vierter Advent 1903.
Signor und Lebemann!
Bm 1,23. „Ich bin die Stimme eines Prediger in der Wüfte,
Bereitet dem Herrn den Weg!" Deine alte Nummer. J’y penge.
Wie Du drauf kamſt, weiß ich nicht mehr. Schon in der Schulzeit aber auf
Deine Ergebenfte gemüngt. „Dies geſchah zu Bethabara, jenfeits vom Jor⸗
dan“. Sche Did; noch, mit dem Tafchentuch vorm Mund, um nicht loszu⸗
prufchen, wenn unfer guter Kurländer an der Stelle hielt. Warſt eben von
je ein ungläubiger Böſewicht. Und Dein Schwager (und mein Kreuz) hats,
wie alles Schlechte, von Dir übernommen. Wo in mir was vom Johannes
ftedt, mag ein Anderer wiffen. Für Euch war ic) nun mal bie Stimme des
Wüftenpredigers; und natürlich ſehr komiſch. Meinetwegen ; binlängft daran
gewöhnt, dag Ihr auf mir herumtrampelt. Heute, wie immer am legten
Abventfonntag, Johannis 1 an ber Reihe; beim alten Text ging die alte Zeit
mir duich den Kopf. Kinder! Einfach unglaublich, wie Iuftig man fein fonnte.
Trogdems oft Inapp genug war. Unfere Krippenpiele, wenn Onkel Bolte
den Heinen Jeſus gefehnigt hattel Du, geborener Tapezirer, bis anden Hals
in Goldſchaum und Glanzpapier. Und dieWonne, während Mutter den bil.
ligen Kramaufbaute! Zinnfoldaten, ne Lederpuppe, Schürzen und Strümpfe,
als piece deresistance Schlittſchuhe, felbftgemachte Muff, Pelzmütze oder
was für den Senntagsausgang. Andere Zeiten. Wer Heute nicht das große
Portemonnaie hat, Iriegt faure Gefichter. Selbft Mariechen viel zu ver»
wöhnt (auch durch Euch, großftädtifche Geldrogen). Na, dieemal wird das
J 87
464 Die Zulkunft.
Würmchen halbwegs zufrieden guden. Ihre Mutter hat zufammengefratt,
was von dem einft fürftlichen Vermögen blieb. Wird wohl das lette Mai
fein; denn, entre nous, da fcheint ficy was angebändelt zu Haben. Zu jun
ift fie nicht und die Wahl konnte fchlechter ausfallen. . (Weöchteft gleich den
Namen wifjen? Nee, mein unge: erft wenn ber Bengel angehalten hat.)
Aber der Gedante, audy fie weggeben und dann mit Adolfen allein auf der
mit Recht fo geichägten Scholle haufen zu müffen... Merci, je viens d’en
prendre. Und verbitte mir ſchon jegt alle Beileidsäußerungen. Du md
Sinn für Muttergefühle! Lotka wird mich verftehen. Ein Bischen; wicht
ganz. Die Einheit de8 Ortes bei Euch ja doch nur fo fo; ımd die gerade madt
bie Gejchichte Schwierig. Worauf ich nicht einzugehen wünſche. Item, heut
wars recht feierlich. Die Kleinein Thränen (vor ber Berlobung ift uns Ganſa
ja ſtets adventerlich) und ber Paftor zwar nicht fo fürs Gemüth wie der Balt
bon bonnemals, aber anftändig. Als wir am Jordan waren, machte Adolf
Blinzelverfuche. Gehört zum Nepertotre. Lieber Himmel! Werm ich jedes
Müftenprediger fpielen wollte, ift3 lange vorbei. Für wen denn? Wer dres
unddreißig Jahre Eure vereinigte Zärtlichkeit geſchmeckt hat, giebt3 auf. Us
ſolches Volk zu befchren, muß ein Stärkerer kommen. Ich bin fertig.
Auch, was angenehmer ift, mit der Feſtrackerei fo ziemlich. Ueber
raſchungen werden nicht geleiftet. Das alte Deputat. Für den Faſan bürg
ich, die Würfte fehen redlich aus und der Altdeutfche wird-meine Liebe nick
wieder mit einem Wajferftreifen vergelten; Karpfen, verſteht fich, extra in
Eis. Wohl befomms! Daß wir noch mal zufammen um ben Weihnadl
baum figen, hofft mein Herze nicht mehr. Und wäre doch ſchön. Alle anderen
Seite fönnen mir geftohlen werben; wirklid) warm wird Einem doch nur Im
der Heiligen Nacht. „Ahr KRinderlein, kommet ...“ Werdet Euch hüten. Euer
Liebden brauchen ja „Arregung”. Sind am Ende nod; gar nicht wieder an
der Epree? Womit danfend die Karte vom Nialto beftätigt wırd. Anbert
halb Tage war id) ftarr. Im Greifenalter, denkt Unfereins, müffe die Globe—
trotteret aufhören. Paris, — va bene; aber Venedig! Alte Erinnerung
auffrischen, feiner Knabe? Nicht unfere gemeinfame, verfteht fich am Raute.
Mir waren ja hölliſch folid, das Bischen Quadri triebe Dich nicht fo weil
und wenn ic) von demeinen Abend abjehe, mo Du Meinen bisvier Uhr frũh de⸗
bauchirteſt... An die Kanalfahrt habeich bekanntlich nie geglaubt. Um ſofeſtet,
trotz'päteren Abſchwächungverſuchen, an die Beichte des Jünglings im locigen
Haar. Viellcicht auch jetzt noch ein ſchwarzes Kind aus Fiume?, Auf der Lagune
bei Nacht!” Dirtraue ich Alles zu; und noch mehr. Wenn Lotte nichts dagegen
Morik und Fine, 465
Hat, ift ja Alles in Ordnung. Nett wenigftens, daß uns nicht ganz vergaßeft;
zweiganzeZeilenundeinehafbe. „Wetter ſchlecht.“ Was Ihr nämlich ſo nennt.
Möüßteft Dich hier mal umſehen. Nicht durchzukommen. Winter läßt man
ſich gefalfen; aber fein Eis undjder Schnee nur wie auf knauſerig beftreutem
Napfkuchen. Dabei die ewige Rarrerei, um für das Kind, den Heiden, bie
Leute einzufaufen. Das ſage ich Dir: bis Oftern hode ich hier nicht wieder.
Nochgerade genug an dem vorigen Talmiwinter. Meine Krone der Schöpfung
wimmert zwar über die ſchlechten Zeiten. Berlin unerſchwinglich. Hat ſich,
um ung „was bieten zu können“, auf feine alten Tage in Induſtriepapiere
geftürzt, ſchnappt morgens gleich nach dem hebräifchen Kurszettel und redet
von Ausfichten. Pfeife drauf. Uns blühen die Rofen nicht. Im ſchlimmſten
Fall wird aber daS Feftgelegte angegriffen, worüber ich zu verfügen habe.
Zu einem Goldknopf für denweißen Stab reichts noch. Man verbauert. Den
halben Tag bei der lampe. In der Nachbarſchaft faft Alles weggeftorben, was
mit Einem aufwuchs. Mielchen muB auch heraus; vielleicht zeigt ſich dann,
daß der Liebfte gar nichtfo feſt im Herzen figt. Jedenfalls bin ichs ihrfchuldig
Dem Unnennbaren übrigens aud) eine Kleinigkeit; das Geſtändniß,
daß er nicht mehr ganz fo ausbündig ift. Nichtetwa ideal: nur beinahe menfch-
ic) und manchmal annähernd ftandesgemäß. Scheint von den Nothen et:
liche Kilometer abgerüct. Die Wahl war ihm ſchon im die Glieder gefahren;
‚ und nachher die endlofe Stänterei! Mitunter träume ich wieder, an einen
preußiichen Edelmann verheirathet zu fein. Nicht oft allerdings. Er hat
böje Rückfälle, zäymt fi) aber vor Fremden einigermaßen und ich brauche
nicht immer auf Kohlen zu figen. Damit Du nicht von Mufterehe radotirft:
vorgejtern brannte es wieder lich‘erloh; noch) dazu in Gegenwart bes Jungen.
Dem (früher als fonft gelommen, Rücklieferfriſt leider han am 3 weiten)
hatten wir alle erreichbaren Porteepees eingeladen; und da gings denn los.
Mißhandlungen, Forbach, Luxus, Golk, Einem, die Bebeleien et le reste.
Der Kleine (ich war nie Affenmutter) einfach zum Abfüjfen. Fromm ift er ja
nicht; aber König und Vaterland, daß ich vor Freude am Liebiten geheul
hätte. So gehe es nicht weiter. Ob die Bande fid denn einbilde, der buntet
Rodlebein SausundBraus. Maylzeit! MitAchtundzwanzig beiden Meiften
die Nerven ſchon vor die Hunde. Nicht ein Zehntel des Wohllebeng, das fich
heutzutage der beſſere Commis leiftet. Yöhnung zum Verhungern, Zuſchüſſe
bei altem Adel fait überall fnapp und die Pflicht, proper und nobel aufin:
treten. Nichts au lachen. Die Kerleein Schw felbande,der vorherei: getrichtert
ift, jeder Lieutenant ſei ein Schinder, und die blos wartet, daß man ſich mal ver»
37*
466 Die Zutmft.
gißt. Korporale,denennichtüber ben Weg zutrauen. Und unterden Kameraden,
neben elligen Schuſtern, unfichereKantoniften, nicht aus unferen Schichten, die
mit Papas braunen Lappen aufbauen können und verdrehte Anfichten mütbrin:
gen. Borgefegteimmerim Trab, aufden quivive,daßnurjaniht3 „paffirt*.
Eine Maulſchelle, die ein fuchtiger Sergeant giebt, tan den Hauptnanns-
topf koften. Früher tröftete man ſich mit dem Anſehen; umbeftritten erfter
Stand. Yet jeden Tag das ganze Corps öffentlich ſchimpfirt. Ocffentlidh;
anders gehe es nicht. Weil fich in Lothringen ein paar Rolllutſcher ſchlecht
aufführen, müflen wir büßen. Alle Wigblätter voll; und das Zeug natürlich
nicht aus der Kuferne zu räuchern. Autorität längft in bie Binfen, beim Kra⸗
gen darf man die Lümmel nicht nehmen, und wer zuvielftraft, kann die Kon⸗
duite nicht vor den Spiegel ftedlen. Der Junge hatte Erfolg. Alles feiner
Meinung: die Armee dürfe nicht durch ben Dred'gejchleift werden; und wenn
nicht bald ein honoriger Krieg der Sippfchaft zeige, was fie an uns hat...
Kannft Dir denken, daß mir dabei der Magen fror. Richtig ifts aber. Als
Mutter ſchämt man fich mit, wenn immer gegen die Rieutenants gefchmiert
wird. Als Vater nicht, wie es fchrint. Der in Kreſſin faß eine Stunde ftod-
fteif und that den Mund nicht auf. (Um zureden, heißts; für einen ſehr adht-
baren Tropfen war geforgt.) Als die Anderen fertigwaren, legteer los. Und
wiel Mit rothem Kopf und einem Ton, der allein feine zwei Jahre Feftung
eintragen konnte. Seinem Einzigen quer übern Schnabel. Mit Geplärr fet
nichts auszurichten. Der Haken fige vieltiefer. Armee und Demofratie (wenn
ich das Wort ſchon höre!) giebt eben keinen Reim. Ueberall fo; fiche Fraul⸗
reich. Im Yoth nur, wo der Offizier Geſchäftsmann wie andere. Komme
nod) ſchlimmer; wers nicht erleben wolle, müfle den Kittel ablegen. Natür⸗
lich Alles aufgebaujcht; Durch den Haß gegen letzte oder vorletzte Privilegien.
Mancher Schulmeifter baue ganz unverſchämt, kein Menſch aber fchelte da⸗
rum denganzen Stand; nicht einmal wegen eines Dippold. Ein Breidenbadh
bringe ſämmtliche Unteroffiziere in Verruf. Kann nicht Zufall fein. Krieg
würbe für 'ne Weile helfen; wer folle ihm wagen? In Aſien vielleicht. Bei
uns? Mit der Regirung? Und nun toute la lyre. Auf feine Kuhhaut zu
Schreiben. Bor Bismard, anfangs der Sechziger, wo des Königs Rodin &
lin verhöhnt und bejchtimpft wurde, fet gegen heute noch goldene Zeit gewe
est Defenfive mit Yebenden Bildern. Der Offizier muß ausbaben, ı
höher hinauf nicht risfirt werden fan. Ungefähr drei Vierteljtunder
diefem Text (und ich unterfchlage das Dollfte). Der Kleine blaß wie !
Servielte. Kurt, immer nody mit der Atjutantenpufchel, räufperte ſich
— — —— —— —— — — —
Morig und Rina. 467
nehmlich und alles Jüngere, was noch Raupen im Kopf hat, blickte verlegen
ins Glas. So unentwegt, daß ih, um die Stimmung zus retten, fchließlich
dem Hausfrauenherzen einen Stoß geben und ein paar Staudige rausrüden
mußte; von Deiner Sorte. Da gings. Zuerft — de rigueur—allyemeine
Scimpferei aufs Militärkabinet, das von Bebürfniß und Reben der Truppe
feinen Dunft habe. Dann Jagd und die liebe Reiterei. Als ich nach Zwölf
noch mal reinschielte, hielt der Vater denn Knaben wohl in dem Arm und felbft
Kurtens Auge glängte in feuchter Zärtlichkeit. Gegen Zwei beftellte der Ge⸗
bieter Grog „mit nicht zu viel Waſſer“. Der fällige Dank für den „ganz
reizenden, echt fameradichaftlichen Abend“ Tiegt denn auch ſchon vor mir.
Während fich Diefes in Pommerland zutrug, gondelte der Peer von
Breußen wahrſcheinlich. Sie muß ja nicht gerade Fiumanerin fein; auch le
erü de Venise nicht zu verachten. Leugne nicht, Greis im Silberhaar: ich
weiß Alles; und finde Rotten von wahrhaft antiker Größe. Wenn ich mir
meinen Landmwehrmajor in dem fchmarzen Kahn denke... Geftern übrigens,
noch ehe ich ihm den Standpunkt Har machen fonnte, anjehnlich zerfnirscht.
Schobs auf den Wein. Unfinn, bei der Suppe fchon fchweres Geſchütz auf-
zufahren. Ließ ihn reden; die Armfündermiene war entwafinend. Zulekt,
ganz zaghaft, ob wir am Einundzwanzigften nicht alle Vier das Abendmahl
nehmen wollten; wie in alter Zeit ſtets am Tage von Le Bourget. Katerrühr-
fäligfeit. Als er zärtlich zu ſchnurren anfing, hatte ich die Naſe voll und ging
Kuchen baden. Idyllen werden nicht mehr verzapft. Habe den Baftor aber
benachrichtigt und freute mich drauf. Nette Zuftände: wenn man nicht bla-
moren jein will, muß man da8 Haus fammt dem Säugling unter Alfohol
ſetzen; weiß Gott, wie der Abend fonft geendet hätte. So leben wir alle Tage.
Du warſt mindeftens ein Genie, al3 Du der Schwefter den Gatten gefreit.
Bifts noch heute, wie der Neid zugeben muß. Behandelſt die Läftige
alte Dame mit Entziehungslur. Seit zwei Monaten, außer dem bunten
Rialtofärtchen, nichts Direltes von Eurer Hoheit; umd die Zettel vorher
auch nur Depeſchenſtil. Man ift ja eingeſchüchtert und fordert nicht viel;
arme Verwandte müffen hübſch befcheiden fein. Aber fo ohne allen Kontaft!
Keine blaſſe Ahnung, was Du treibft und wie das gefchägte innere ausficht.
Immer noch röthlich ftraflend? Saifonanfang: und nicht das Hleinfte mot
de la situation. Von Jahr zu Jahr rieſelts dünner. Dabei haſt Du die beften
Röhren underfährft ficher taufend Gefchichten. Gar nichts Neues in Sicht?
Beitungen das reine Stoppelfeld. Reichstag: naja. Der Limburger roch mir
recht gut, auchder alte Kardorff fabelhaft friſch; ra us kommt aber dabei nichts.
468 Die Zuknuft.
Jeder ſagtſeinen Sprrihauf und hält das Vaterland fürgerettet. Bülow ſelbft
amos in Form und gabs der Sippſchaft, daß es knallte. (Adolf natürlich:, Der
wirft Anderen Mangel an poſitiven Leiſtungen vor!“ Hatten wieder ein Ga⸗
lepptänzchen.) Nur fehlte mir die Pointe. Haft doch Boguslawski geleſen?
„Nicht Rede, aber Fehde wider die Sozialdemokratie.” Allerlei Hochachtung.
D er forcht ſich nit. So müßte es gedeichlelt werden. Der feine Bernhard will
nicht8 wagen. Leichtefte Kavallerıe. Redet wie drei Bücher und hat neulich,
wenigſtens in unferer Gegend, manchen Kopfſcheuen zurüderobert. Pourvu
que cela dure! Die Altpreußin, die Du vor Jahrhunderten ſchmeichelnd
Egeria nannteft, ift wohl zu lange bei Dir in ber Schule gewefen, um noch
S inn für fo was zu haben. „Wäre ic) wie andre rauen, würd’ ich feinen
W orten trauen.” (Meine Koloratur ift den Weg alles Zeitlichen gegangen
und mit der Hugenottenlönigin lade ich feinen Erbherrn austem Hanjanier»
tel.) Im Grunde iſts fo beifer. Die Illufionen find zu oft verbagelt. Abge⸗
rüjtet wird aber nicht und eines Tages wird Euer Hohnlädheln verſchwunden
fein, — wenn wirs erleben. Diejes Vegetiren mit Ah und Krach ift nicht 8 für
Preußen (auf das Andere wird gepfiffen) ; dabei bleibe ich und behaupte, daß
jedes Zögern die Kraftprobe ſchwerer macht. Wer glaubt denn an Öffentliche
Meinung und ſolchen Spuk! Die Blafe aufitechen und ausbluten lajien: paßt
nur auf, wie Alles dann aufathmet. Sozialiftengefeg, aber mit Aermeln, bes
IchränktesWahlrecht,vernünftiger&etreidepreisund ins LochJeden, der die Ar⸗
mee ſchimpft. Das würde ziehen und Hunderttauſenden die Freude am Reich
wiedergeben. Du grienſt Dir was. Weiß ſchon: „Die Stimme eines Predi⸗
gers in der Wüſte“. Abwarten, Signor! Eure Leiſtung lann mir nicht im—
poniren. Endlofe Skandalprozeſſe, die man ſelbſt vor Erwachſenen nicht er⸗
wähnen kann, ohne roth zu werden, und zwei Excellenzen, die Stunden lang
ſchwitzen, um zu beweiſen, daß unſere Offiziere nicht Strolche, unſere Offi-
zierdamen nicht aus dem billigen Laden find. Schöne Befcherung. Und was
man ſonſt hört, Hingt auch nicht nad) Sphärenmufil. Der Happen Börlen-
gejet wird uns wieder aus den Zähnen gegjiien und der Kanallommt mit
Hochdruck. Heiliger Podbielsti! Braucht ung nur noch um den Tarifzoll zu
bringen: dann könnt hr ein blaues Wunder (oder ein rothes) fehen. Hoff
nung hat man ſich ja ſchon vor dem Korſet abgewöhnt. Bin aber neugierir
wie unfere Leute diefes Bündel von Zumuthungen aufnehmen werden.
Wenn der unge nicht wäre, ließe ich Fünf gerade fein. Wir hab
beſſere Zeit erlebt und find reifzur Ausrangirung. (Wir Kreffiner; Gond
helden auf höchiter Höhe.) Der Kleine macht mir Sorgen; nicht nurwege
Moritz umd Rita. 469
des pere prodigue,ber, als Mufter ohne Werth, aberaud) nicht von Pappe.
Schlechte Farbe diesmal und, wie ich heraushorche, drinnen noch ſchlechtere
Stimmung. Rein Wunder. Jugend braucht Begeifterung. Denkſt Du daran,
mein tapfrer Lagienka? Nach Allem, was er erzählt, jcheint der Lieutenant
redht freudlo8 geworden zu fein. Als Gattung, meine ich. Daß ſie furchtbar
rangeholt werden, ift fein Malheur. Aber die ewige Hundeangft, der Lärm
wegen ’ner Kinderei und dag Schuftern, dag feine Grenze mehrlennt! Kern-
gejund ſchickt man fie hin und kriegt nad) ein paar Jahren nervöſe Bappel-
männer mit Antipyrin zurüd. Wenn Einer da noch auf Urlaub nach Adol-
fens Methode „aufgellärt” wird, kanns ein böſes Ende nehmen.
Nicht dran denken. Auch der Winter geht vorüber. Und wenns heute
gar nicht Tag werden will, muß die Freude auf Weihnachten tröften. Seid
Iuftiger, Ihr Lieben, und marjchirt Fröhlich ins neue{yahr. Profit! Daß Du
Zotfa den Heiligen Abend fo gut auspugeft, wie Du irgend kannt, wein ich
quand m&me. Machſt aud) noch Mufif? Beethoven gehört zu meinem
Chriſtenthum. Schluß; fonft werde ich fentimental und habe Dir doc) ichon
über Gebühr zugefett. Feurige Kohlen dringend erbeten. Nimm Dir mal
einen anftändigen Briefbogen umd fehütte das alte Herz aus. Kanns nichts
Politisches fein: Alles willkommen, fogar Klatſch. Beſorgungen haft Du
Glücklicher ja nicht; außer dem Weg in den Weinteller nimmt die viel bejjere
Hälfte Dir Alles ab und ift fogar auf Geldgeſchenke drefjint. Wenn Du fie
dafür nicht unterm Miftelz veig ganz altmodilch abküſſeſt, wir) Venedig ver-
rathen. Keine Angſt? So gehts, werrn man verwöhnt wird, wie Du jeit min⸗
deſtens neunundneunzig Jahren von Deiner uralten Pina.
Was trägt mar denn dort? Bitte aber: nicht Schneiderzeitung!
Berlin, Winter$ Anfang 1903.
Holdeſte Wüftenftimme!
Die bleibft Du in alle Wege. Immer der rührende Eifer, dem na-
henden Heiland die Bahn zu bereiten; mit fünfzig wie mit fünfzehn Jahren.
Etwas Geduld, hohe Frau: er wird ſchon kommen; wenns Zeit ift. Eine fo
beneidenswerth fromme Dame follte doch wilfen, wie felten Götter geboren
werden, und von Schauderhaft Sterblichen nicht fordern, daß fie in Vicegötts
lichkeit Hienieden wandeln. Doch diefe faft ununterbrochene Adventiſtenſtim⸗
mung ift mit ‘Dein beftes Theil und hält Did) fo unwandelbar jung. Was
kin Kompliment und feine captatio benevolentiae jein foll (Ueberſetzun⸗
gen liefert Adolf, der lateiniſche Landwehrmann, frei ing Haus).
470 Die Zutnuft.
Dlin Getreuſter ift auf jchmeiterliches Wohlmollen nämlich gar richt
angewieſen; auch nichtaufehrenfädhliche Diskretion; und am Allerwenigſten
wegen Benedig. Ungemein fchmeichelhaft, daß Du mich immer noch zur Fa⸗
milte Derer von Springinsfeld zählft, trogdem taufendmal verfichert, dat
feit anderthalb Eiwigfeitenaus der Manege. Mußendlich aber mitergebenfter
Entichiedenheit danken. Nachgerade doch zuramponirt; und wenn auch tout
est pour le vieux dans le meilleur des demi-mondes, jo möchte doch
nicht als komische Figur ohne Grazie dem Grab entgegenwanten. Ueber die
Buppenjaturirt, mehr, als ſelbſt Deine Tugend ahnen kann, Soldreinette. Bıtte
aljo, abzuflingeln. Meine Flucht nach dem Lido — unerbört, daß ein adht:
mal plombirter Kahlkopf ſolchen Vertacht abmehren muß! — Hatte mit
Spätherbfterotifnichtdas@eringftezuthun. Die fimpelfte Sache von der Welt.
Geſchäfte in Wien und von da einen Kageniprung herüberans Meer. Weil
die gräßliche Nordländerdunfelheit mir auf die Nerven fällt. Weil ich mal
wieder Eonnenlicht riechen wollte. Und Sanjovinos Bibliothel einmal noch
fehen, wie einft im Mai. Lächelft Hohn? Jeder hat feinen Tollpunft; meiner
ift Hochrenaiffance. Harmlos und ſchmutzt nit. Natürlich wars aber eine
Rieſendummheit. Der Greis am Stabe foll die Orte höchſter Jugendent⸗
züdungen meiden; und, vor allen Dingen, über den Kindertraum weg jein,
der Italien immer in Blau und Gold fieht. Grauer Himmel mit reichlichen
Niederfchlägen (fo nennens unfere Wetterbeiprecher). Die Waflerdrofchken
feucht wie fchlechte Hotelbetten. Bei Danieli Engländer dritter Güte und
Ceylonthee, gegen den meine Magennerven rebelliten. Daß in den ganzen
Neft kein eßbares Stück Fleiſch zu haben tft, weiß der Europäer. Nun aber
der Schred, wenn man die Profurazien zum erften Mal ohne den Campa-
nile erblidt! Das Antlitz der Geliebten, dem plöglich ein Vorderzahn fehlt.
Bleibt San Dlarco, die Piazzetta und etliches Andere. Unterm Regenſchirm
giebt8 aber feine Stimmung. Und weil ic) zu edel bin, um den Nächten
mit meinen Enttäuſchungen zu beläftigen, verzichteteich auf lange Stlagerpiftel,
die mich erleichtert hätte, und ſchickte als Lebenszeichen nur bie Karte. Rialto,
weil Erinnerung an Shylock Deinem antifemitisch angefärbten Herzen wohl⸗
thun mußte und weil wirs in London zufammen bei Irving ſahen.
Verglühe gefälligft noch nicht in Scham: ftärkere Befchwörung f
fogleich. Denn wes that der ehrivürdige Boruffe, den Deine merlmürbdir
feitige Phantafie in verhängter Gondel bei nächtlicher Weile mit fchm,
Hexen koſen lich? Er legte einen nennenswerthen Theil feiner bewegl
Habe in Weihnachtgeſchenken an, deren Herrlichkeit feine unzärtlichen
Morig und Nina. 471
wandten einfach überwältigen wird. Deine Schuld, ma mie, daß die Bombe
ſchon jetzt platt. Muß mich rechtfertigen, ehe Du mit den Wach8itod die Tanne
befletterfi. Präjentirt das Gewehr! Spiten, von benen noch gar nicht3 ges
fagt ift, wenn man fie einem echten Muſſet verglichen hat. Schon die Halb-
handſchuhe werden der erften Dame Eurer Brovinz ſchlafloſe Nächte bereiten;
und zu Beſatzzwecken ein altes Muſter, das fie mir in der Dogana noch am
Liebſten abgefnöpft Hätten. Das ift für Die Mutter. Für Mariens bräutliches
Haupt ein venezianisches Soldneg mit Perlchen: dernier crideParis! Selbft
ander Seine noch neu, wie Sachkenner betheuern, und das Feinſte vom Feinen.
Was ſagſt Dunun? Vornehme Seelen weiden ſich nicht an ihren Triumphen.
Alſo ſchließe ich dieſes Kapitel und bittenur noch gehorſamſt, zu bedenken, wie
lange ich, dem Ladenbeſuche von KindesbeinenanfoziemlichdasE&fligfte,ftöbern
mußte, bis die Wunder aus dem Troͤdel gefiſcht waren. Thnt fo etwa Einer,
der in Amouren macht? Die ehrbare Hausfrauaber ſchreibt von oben herab:
„Belorgungen haft Du Glücklicher ja nicht." Allerdings nicht für die Ange-
traute, die feit der Silbernen mit dem Ched vorlieb nimmt und jelbft aus⸗
fucht, was ihrgefällt. Aber für Andere, in'fernen Ländern, umter allerlei Ge⸗
fahren fürVermögen und Reputation. Was zu beweijen war.
Da ich doch Schon in in die Chiffong gerathen bin, will ich Schnell noch
dem gechrten Nachwort Redeftchen Was man trägt? Eigentlich Lottchens
Reſſort. „Man trägt, was man nicht ändern kann“, fagt Bombardon im
Goldenen Kreuz, dag wir Beide in unferer zweiten Jugend liebten; und Hat
aud) für die Mode Necht, in deren Bezirk man ja viel ändern kann. Röcke
noch immer eng bis über die Möglichkeit und an Pelzwerf, was bie Kapital:
kraft irgend geſtattet. Nach Maulwurf (Allerneuftes) wird Dein Ehrgeiz
nicht langen. Fürs Mädel einen picture hat: und fie ift belohnt genug.
Vebrigeng fennen wir die Melodie. Jedesmal heißts, Ihr habet nichts an»
äuziehen, und wenn Ihr dann landet, fteht Unfereiner ftarr vor dem Glanz.
Kommt nur ruhig her. Das Andere findet ſich. Kreſſin jieht im Januar vom
Weiten netter aus. Seit Aeonen nicht hier geweſen. Ritterdienſte garantirt.
Ungeheures kann ich nicht verfprechen. Aber gute Konzerte, ein paar Theater⸗
ftüde, die Dich) amufiren werben, für den Gatten trinffefte Leute von tadel⸗
lofer Geſinnung und fürs Kind bei Friedländer eine Schmudausitellung,
vor der Berwöhnteren die Augen übergeben. Am erjten hellen Tag zeige ich
Euch die neuen Denkmale hinterm Brandenburger Thor. So was war auf
diejer Erde nod) nicht da. Die Purppenallee dagegen das reinste Florenz.
Hier brennts ſchon. Grenzt hart an Volitifches, das ich gern miede.
472 Die Zukunft.
Wärft aber, trog Goldnetz und Spiten, dann doch nicht zufrieden. Kenne ja
Dein Boruſſenherz. Weils alfonid;tkann ein... Allesprogrammgemäß, ohne
jegliche Ueberrafchung ; und von Neuigkeiten feine Rede, — was nicht unter
alfen Umftänden ein Fehler, Patriotin. Lange Vorarbeit für das Kanalbett.
Wird wahrjcheinlich gelingen, da Deine — nicht: meine — Parteigenojjen
mürb find, nur noch Vorwand zum Einſchwenken fuchen und das Haupt 1üd
ihnen einjtwellen wohl nicht angelonnen wird. Die Zeitift Inggewählt. Die
Leute jagen jich, daß längerer Widerftand ihnen den Zolltarif ruiniren könnte
(halten, bei Ticht befehen, die hochwohlloͤbliche Regirung alfo nicht für jehr
gewiljenhaft). Hat der Landtag endlich genict, danndarfmanandie Handels⸗
verträge denken. Wie die ausfehen werden? Unter Witte wäre mit fünf Mark
nichts zu machen geweſen; heute weiß Niemand, wer drüben Koch und mer Keul-
ner ift. Noch vielweniger, wer morgendie Rechnung präfentiren wird. Unheim-
licher Zuſtand. Der wichtigfte Poften feit Monaten nicht beſetzt. Wenns uns
tröjten lönnte: die Ruſſen ſtecken in keiner guten Haut. SelbftderSultan parirt
nicht wie fonftundin Oftaſien leidet ihr Breftige, weil dergapaner ihnen aufder
Nafetanzt. Der Krieg wärelängfterflärt, wenn ſie Geld zu finden ver ftänden.
Aber ohne Finanzminifter,der Schlupflöcher offen hat, ft nichts zu holen. Des⸗
halbauch nichts zu prophezeien.Nikolaiglaubt, mit gutem Willen und dem Gei⸗
ſterſpuk ſeines Hofipiritiften ausfonmen zulönnen. Braucht uns nicht zugeni-
ren, wenn nicht eines Tages wieder die Militärpartei ungeduldig und fo
mächtig wird wie unter Alerander, der auch friedlich fein wollte, vorm Tür:
kenkrieg. Der alte Verſuch einer Entladung nad außen. Wobei nicht zu
überjchen, daß e8 um ung recht einfam geworden ift. England, Frankreich,
Italien in entente cordiale; und wie Diagyaren und Ezedhen ſich für ung
ehauffiren werden, fühltder Blinde mit dem Krüdjtod. Vielleicht aber Unfinn,
fo weit zu denken; in beiden öftlichen Kaiſerreichen verichiedene unfichere Fak⸗
toren. Handelsvertrag jedenfalls dunlel wie die Zintenflajche. Daß ic} von
diejer Sceſchlange nichts Graufiges fürdte, ift Deiner Weisheit längft bes
fannt; von den paar Kopeken würde das Kraut nicht fett. Axiom: Getreide⸗
preis, der ung genügt, fommt auf die Dauer nicht wieder; und Großgrund«-
befits ohne Großkapital wird nicht mehr rentabel. Wiederholte Begründung
eriparft Du mir. Nur nod) einmal, daß id) von Palliatiomittelchen nicht
halte; und zu denen gehört jegt aud) das Bischen Zoll. Daher Börjengefe
und AchnlicheS farcimentum (der Gatte ift klaſſiſch) und nur Frage der
Beit, warn Induſtrie und Handel ıhre letzten Wünfchedurchfegen. Hunter
mal wichtiger fürung, was draußen pafjirt. Ob Rußland Geld zur Eroberun
4
5325 TE
Moritz und Rina. 473
Aſiens auftreibt. Wie die Sache in Amerika läuft. Wann die britifche Welt
Ichugzölinerifch wird; wann, nicht: ob. John Bull muß, trog allem Frei⸗
bändlergefchrei, wenn er jeine Kolonien nicht verlieren will, Chamberlaing
Weg gehen. Und dann lönnen wir Dinge erleben, die ins Ajchgraue reichen.
Deshalb darf felbft in diefem Weihnachtbrief die Warnung nicht feh-
len. Fuhr ordentlich zufammen, als ich las, Adolf fei unter die Induſtrie⸗
Papiernen gegangen. DBegreife ihn ja. Märkiſcher Roggen im vorigen De-
zember 134, jest 128. Da fieht man fi) um; und wer von dem neuen Auf-
ſchwung und den großartigen Ausfichten Kieft, leckt, als Familienvater, die
Lippen. Wenn Ihr mid; aber jemals für leidlich verftändig gehalten habt:
bie Finger davon! Höchftens fürleute, die dans le mouvement find; und
auch Die müfjen froh jein, wenn fie mit blauem Auge nach Haufe fommen.
Siehe draußen und bin Dilettant (Gott fer Dank!), möchte aber jeden Eid
feiften, daß der eigentliche Krach ung erft bevorfteht. Der Firniß iſt geſchickt auf-
getragen (wir haben Bankladirer) und dedtdochnicht alle Riſſe. Dein ſpeku⸗
lativer Junker fol mal Kurs und Dividende der augenblicklich beliebteften
Werthevergleichen ;da ſtimmts Schon nicht. Und woherder Segenfommen ioll,
ift mir ſchleierhaft. Kanal als Auffrichung der begnadeten Brandyen, — soit.
Auch Elektrizität, wenn die Naubmörderfonkurrenz befeitigt wird und bie
Preiſe ſich heben, vorläufig wieder einigermaßen. Die Dampfmafchine it im
Ausfterben; und die Turbine, die fie erfegen ſoll, wird ein hölliſches Stüd
Geld einbringen; Aber im Ganzen? Altetitanei. Wir haben uns zu hoch ges
bläht. Der Athem ijt nicht lang genug. Alle Adıtung vor den Kommerzta⸗
lenten des Helden von Ye Bourget;er wird ſchlau gekauft und wahrſcheinlich
‚ mehr als die berliner Reife verdient haben. Da er im Nebenamt aber Bater
Deiner Kinder ift, joliteft Du feine Knie umllammern undflehen: Raus aus
den Kartoffeln! Niemand kann willen, wanns zum Klappen lommt.
Bis dahin aud), was man fo innere Politik nennt, nicht allzu auf:
regend. Ueber den Reichstag hat Egeria das Nöthigfte gejagt. Bis auf den
einen Punft, den befannten, wo ich jedesmal paffe. Natürlich Alles geleſen;
auch Bogus lawski, ders ſehr gutmeint, abernichtfehr weitfieht. Einer, für den
die alte Preußenherrlicjkeit das Gegebene, von Gott ewiglich Gewollteift. Wäre
wunderſchön, ift aber nicht. Mir fteht leider nicht viel feft, doch unverrück⸗
bar, daß wir eine verſinkende Klafje jind. Nicht zu halten, weil als Klaſſe
den neuen Berhältnijjen nicht anzupafjen; nur die Wahl zwijchen Hofdienft
und erwerkender Stadtbourgeoifie. Nun jtelle Dir Preußen ohne den kleinen
und mittleren Adel vor. Giebts nicht. Der Inſtinkt jagts den Leuten, die
474 Die Zutunft.
vornan ſind, auch; ſonſt würden fie zäher Widerſtand verſuchen. Unter Capriv
und Hohenlohe waren fie noch nicht fo weit. Bülow Hat das Talent, Glück zu
haben. Er ift bie Schreter und Starrlöpfe los und kann, mit einiger Behnt-
famleit, den Landfrieden ſchaffen. Erft recht, wenn mein Kalkul ftimmt. Rück⸗
Schläge in der Ynduftrie: dann wird wiederder biedere Landmann aus feinem
Winkel geholt und diewahren Wurzeln unjerer Kraft liefern schöne Reden. Die
- Öutmeiner vergefjen, daß auch im Staatsleben tout est danstout; und daß
zehn Jahre nicht auszuradiren find. Innere Politik! Einer ſchreit ein Schlag:
wort: und Alle, denen es leidlich Hingt, find felig.Haft maldenEpimenides gele⸗
ſen? Ich laſſe mir nicht ausreden, daß deraltederrgott von Weimar ſeine Lands⸗
leute hoͤhnte, als er das Gefolge des Jugendfürſten im Chor ſchmettern ließ:
Denn fo Einer „Vorwärts“ rufet,
Gleich find Alle hinterdrein
Und fo gebt e8, abgejtufet,
Starf und Schwad und Groß und Klein.
Hinan! Borwärt3! Hinan! |
Und das große, das Werk ift gethan.
Das große Werk heißt jegt — wie lange ſchon! —: Vernichtung der roten
Genofienfchaft. Da id) noch immer zu den Befitenden gehöre, fönnte mirs
Nicht fein. Steht aber übel um den Erfolg. Würden wieder anno 80 halten;
ber ganze Aufwand verthan. Unmoraliſch wäre es nicht. Die den Vorfchlag
machen, wollen aud) das Heil der Nation und Dein Boguslamsfi fagt tref-
fend, daß die Sozialdemokratie felbft die ſchönſten Staatsſtreiche liefern wär:
de, wenn fie nur könnte. Doc man fchämt fich nachgerade, von der Sache zu
reden. Kommt ja nicht dazu; wenigſtens nicht, fo Lange die Karre noch fährt.
Deshalb am Beſten Schluß der Debatte und endlicd) was Neues. Durd) die
Bülowſtraße gehts freilich auch nicht. Sehnſucht nad Soztaliftengefeg, zu
dem nur leider die Dichrheit fehlt; und: „Kein Beamter darf Sozialdemo-
krat fein!" Moͤchte fie nicht zählen. Merkwürdig, daß der auf feine Art kluge
Mann gar nicht mit dem Neiz des Verbotenen redynet. Gerade nad) Dres-
den hätte ich8 anders verjucht. Immer ’ran, meine Herren! Wir find nicht
graulig, gönnen Jedem wonnefam das Vergnügen, mit Ihnen zu tagen,
kümmern uns überhaupt nicht mehr um die Farbennuance, rofa ober br
roth, und find unglaublich ficher, daß Sie uns einftweilen nicht einbudd
werden. Sie haben ſich eine Ecke zu früh decouprirt und müſſen zunädft ı
gefälligft den eigenen StaatSpalaft reinfegen... Auch kein unfehlbaresV
tel, Trautefte, doch nicht ganz ausfichtlos. Den Nimbus befeitigen! H
dünkt Jeder fich einen Heros, wenn er da mitmacht. Das zieht. Und d
Morig und Nina. 475
geben Staatsbeamte in Riegenrothe Zettel ab. Uebrigensgeht Alles bekannt⸗
Lich auf zwei Beinen und aud) das Drafonifche ließe fich probtren. (Deine
Brivatmeinung: nach ’nem halden Jahr wünjchten dievon Butfchen bedroß-
ten, von Brüppchen geärgerten Unternehmer fid) die ftramme Marriftenzucht
zurück, die, halten zu Gnaden, noch feinen Abſchluß geftört hat.) Nur nicht
das endloſe, finnloje Gerede, ob oder ob nicht. Yähmtjeit 90 das Reichsgeſchäft.
Noch ein recht nettes Mittel: gute Bolitit machen, Ziele zeigen, was
vor fich bringen. Eo lange Bebel intereſſanter als Limburg und Sattler, ift
wenig Hoffnung. Nous pietinons sur place, Boruffin, und bicten der
Volksphantaſie (ftehtnicht im Etat) nichts als die Rumpellammer, für deren
Mottenberrlichkeit fich der Deutfche ergebenft, aber deutlich bedankt.
Militaria. Das ift ein böfes Kopitel. Ich kann Deinen Major nicht
fo hart jchelten, denn in der Scheibe fitt fein Schuß. Alles recht hübſch, was
die Negirenden gefagt haben. Der Kriegsminifter jo gut wie feit Bronfart
keiner; ernfihaft, tapfer und ohne Phrafenwattirung. Was nütts? Das
Letzte darf er nicht jagen; und bei ung muß man doch, wie wir fehen, erft aus⸗
drücklich jagen, was anderswo ohne viel Reden empfunden wird. Daß man
ben Soldatennihtfür Kulturverzärtelung erzieht, fondern füreinebarbariiche
Sache. Diebleibt8, troß Genfer Konvention und hanger Bericht. ind werden
Zweck will foll über die Mittel nicht die Naſe rümpfen. Breidenbachs brauchen
nicht vorzulommen — find ſchließlich auch fo felten wie enabenfchänder —, aber
nach den Regeln feinfter Humanität wirds nie zu fingern fein. Kommiß,
Lientenantsmama! Das muß man gerocdhen haben. Wenn die Mafchine
nicht Läuft wie der ‘Deibel, kann man fie lieber abjchaffen. Nichts für mich
(weshalb früh unglüdliche Verſuche in Diplomatie), vorläufig aber unent⸗
behrlich. Eine der übelften Seiten der Rothen (die Alles fentimental nehmen
und ſich für riefig modern halten), daß fle einen Heidenlärm machen, weils
Spähne giebt, wo gehobelt wird. Jeder joll ein Englein mit ylüglein fein. -
ft, Roheit, ein Unzüchtchen : Pfui! Sie felbft aber find von Menfchlichleiten
auch nicht ganz frei. Und jeit Die Welt in weiteren Kreiſen belannt geworden
ift, gings noch nie mit ſauberen Pfoten zu, weder oben noch unten. Deinen
sungen begreife ich. Die Choſe hält nur unter befonderer Schutzvorrich⸗
tung. Einfad) dumm, den bunten Rod an die Stelle des Türkenkopfes zu
hängen, nad) dem {Jeder ſchießt. Will man ihn oder nicht? Ja. Alfo Ruhe
im Glied. Sonft ble,bt am Ende wirklid) nur eine Campagne als letztes
Mittel, um die Autorität zu retten. Und dann hätten nicht nur Lieutenants
ins Gras zu beißen. Kein Thränchen, ReinettevonBommern;wir find noch nicht
476 \ Die Zukunft.
fo weit. Zur Aufmunterung rafch was geijtlichTröftendes. Centennarfeier m
‚Hannover. Der Militäroberpfarrer hat das Wort und erzählt, Napolinm
habe ſein Volk, das „aus dem Narrenhaus entlaſſen“ ſchien, „Durch feine In⸗
fanterie, Artillerie und Kavallerie zur Vernunft gebracht.“ Hiſtoriſch. Nod
mehr nach meinem Herzen der Sag: „Wir wollen heute ein Feſt ſeltener Art
vor dem Angefichte der göttlichen Majeftät, des [Königs aller Könige, und
unter den Augen der irdiſchen Majeſtät, unferes vielgeliebten Kaiſers uud
Herren, begehen.” Offenbar neufte evangelifche Rangordnung.
Sonft aber, bei fämmtlichen Göttern, nichts Neues. Set froh. Diet
Woche gehört dem guten Alten. Dem Beften, ſcheint mir, trogdem id; Fronm⸗
heit nie lernte. Du haft die Weihe, haft überhaupt Alles, was Menſchenbe⸗
gehr. Gefunde Kinder, bie Maid beinahe Braut, einen Standesgemäßen,
mit dem Du, wie ſich fpät, aber deutlich zeigt, in märchenhaft glüdlicher Ch
lebft, und einen Bruder, den ſelbſt Deine bitterfte Laune nicht von ſchlechten
Eltern nennen darf. Braucht fürs Nömijche Neich nicht zu forgen. Das
quält ſich Schon fo ſacht durch und hört nicht aufdie vox elamantis in de
serto. Gud Du mir aus Iuftigen Augen in die Chrifttanne! Konnte vid
ſchlimmer kommen; öffentl: und privatim. Den Kleinen trägts auch noch:
fo ſchnell verfchichen die Preußen ihr Palver nicht... Und nach den Feten
bald auf die Strümpfe gemacht! Will der Rebell nicht, fo bleibt er an feinem
Herd und lernt in derNoth beten. Das mit der Einheit des Ortes gar nid!
fo falſch, wie Dein feßsafter Sinn träumt. Hättet Euch viel öfter mal tren⸗
nen follen, ftatt immer als Papageienpärchen neben einander aufber Stanf
zu boden. Frage Cotten, wies ſchmeckt. Die natürlich zehntaufend Grükt
fendet und ſchon im Voraus für all die verheißenen guten Gaben danft. (Vom
Schwiegerneffen in 8pe habe ihr nichts gefteckt, weil felbft die beften Weibchen
- das Mündchen nicht Hılten können, wenn Eheliches im Spiel.) Gute Nıdt,
mein Herz. Sobald der Engel auf der Tannenipige den erften Strahl kriegt,
bift Du verpflichtet, an Den zu denken, der war, ift umd fein wird
Deiner Unvergleichlichleit unwürdiger Knecht
Meorit
Die Entmwidelung der Ehirurgie. 417
Die Entwicelung der Chirurgie.“)
hne Uebertreibung darf man behaupten, daß das vergangene Jahr:
hundert für die Chirurgie als Zweig der Heillunde und ihre Ent-
widelung als Wiſſenſchaft auf Grundlage moderner Naturforfhung mehr
geleiftet hat als die vergangenen 2200 Jahre von Hippofrates bis zur Gründung
ber Acaddmie de Chirurgie in Paris. Die Wunbdarzuellunde, wie bie
praktifche Heilfunde im Allgemeinen, iſt aus den Bebürfniffen des täglichen
Rebens hervorgegangen, da die Menſchheit, die von Krankheiten, Verlegungen
und Gebreſten aller Urt befallen iR, dringend Abhilfe verlangt. Wenn
tundige und fachgemäße Hilfe fehlte, mußte ein Laie, der bach Yamilien-
tradition einiges Talent, eine dur allzu große Gewiſſenhaftigkeit nicht an-
gefränfelte Erfahrung und genügenden Muth mitbrachte, in die Breſche
einspringen. Diefer fuchte, fo gut er konnte, mit feinen Rathichlägen und
Manipulationen den Schaden wieder gut zu machen, bat ihn aber manchmal
aus Unfenntnig auch verſchlimmert. Das geſchah fo in alten Zeiten, ges
fchieht jegt noch auf Schiffen, im Pfarrhaus des einſamen Gebirgsdorfes,
im weltverlorenen Forſthaus oder bei plöglichen Unglüdsfällen, und da mit
ooller Beredhtigung, der die modernen, namentlich duch Esmard ind Reben
gerufenen Beftrebungen des Samaritermefens ihren praftifchen Ausdruck ver:
fiehen haben. Aber wie die wilden Echöflinge ben edlen Roſenſtrauch über:
wuchern und endlich erdrüden, wenn nicht die forglame Hand des Gärtners
fie befchneidet, fo konnte fih auf dem Boden ber modernen Gefeßgebung,
welche die ärztliche Kunft und Praris dem Laienelement ſchutzlos preisgegeben
bat, da8 Kurpfuſcherthum Appig entwideln und droht, den edlen Trieb der
wiſſenſchaftlichen Medizin, der. nicht blos als Produkt des menfclichen
Geiftes eine ber ſchönſten Blüthen menfchlicher Kultur darftellt, fondern auch
für das Wohl und Weh des einzelnen Menſchen und des gefammten Staates
von ber einfchneidendften Wichtigkeit ift, zu erftiden.
— — —
*) Herr Profeſſor Dr. Czerny bat die Rede, bie ex bei einer akademiſchen
Beier ald Prorcktor der Univerſität Heidelberg bielt, der „Zukunft“ zur Ber
breitung überlaſſen. Das hier veröffentlichte Hauptftüd behandelt die Entwidelung
der Chirurgie während des neunzehnten Jahrhunderts. Im Anſchluß an diefe
Darftellung betrachtete der Redner dann noch die Unterrichtsfrage. Er hält das
humaniſtiſche Gymnaſium für die Stätte der beiten Vorbildung, fordert aber
breiteren Raum für den phyſikaliſch-naturwiſſenſchaftlichen Anſchauungunterricht.
Mehr ald ahtundzwanzig obligate Schulftunden in der Woche dürfe der Hygienifer
nicht geftatten; auch mäffe er verlangen, daß die Lernenden durch angeftellte Schul.
ärzte fontrolirt werden. Der Schlußſatz lautete: „Wenn der Staat die Blüthe
feiner Jugend zu neunjähriger Schularbeit zwingt, muß er au dafür forgen,
daß fie dabei nicht nur geijtig, ſondern auch Fürperlich „gedeiht.“
478 | Die Zukunft.
Es wird niemals möglich fein, Krankheit und Tod, Summer und
Elend aus der Welt zu fchaffen, und es ift nur allzu menſchlich, wenn bie
natürlichen Mittel verfagen, auf übernatürliches Einwirken feine Hoffnung
zu fegen. Iſt doch aus dem Gefundbeten wieder ein Metier gemacht worden;
und dennoch weiß Jedermann, daß es höchſtens für eingebildete Kranke und
Narren einen Nuten baben kann. Bon den älteften Zeiten bis auf unfere
Inge ift die Furcht vor der ungemwiffen- Zukunft zur Beherrſchung der Geifter,
aber auch bes Geldbeutels der Menfchen ausgenügt worden. So lange bie
Menfchheit noch nicht fo geſcheit ift, zu willen, daß unfer Sein unb unfer
Befinden die umerbittlichen Folgen ber ererbten und erworbenen Eigenfchaften
und der auf ung eimwirkenden Einflüffe der Umgebung find — eine Erfahrung,
die wir mwefentlich der modernen Biologie verdanfen — und bag die Menſchen
nur durch eigene Thätigkeit und durch Generationen fortgefegte Arbeit diefe
Berhältniffe zu beffern im Stande find, wird es nothwenbig fein, dag von
Staated wegen ein Befähigungnachweis dafür verlangt wird, wenn Jemand
das Recht beanſprucht, einen kranken menfchlihen Organismus wieder herzu⸗
ftellen, der fo viel Fomplizirter eingerichtet ift al8 eine Maſchine, ein bau⸗
fällige Gebäude, Befig oder Bermögen. Wir find noch nicht reif für eine
vollftändige Freigebung der ärztlichen Praxis. Die tägliche Erfahrung ehrt,
daß viele Reidende, denen der zünftige Arzt nicht geholfen hat, ſich an dem
Kurpfufcher wenden, ber, in der Negel ohne jegliche Bildung, und nachdem
er in anderen bürgerlichen Berufen Echiffbruch erlitten hat, fich durch ſchwindel⸗
hafte Reklame Glauben und Anfehen zu verfchaffen ſucht. Freilich ift Das
gerade fo unjinnig, wie wenn man feine Uhr von einem Trödler tepariren
läßt, weil er auch manchmal mit alten Uhren handelt.
Der Schade, der aus dem Ueberwuchern bes Kurpfuſcherthumes herver⸗
geht, trifft nur zum geringften Theil die Aerzte. Unendlich viel größer if
er für bie Patienten, die fo oft den günftigen Zeitpunft verfäumen, wo
ihnen noch geholfen werden Tann, und die nicht nur ihr Geld ohne jegliche
Gegenleifiung loswerden, fondern vor Scham, daß fie betrogen worben find,
an Leib und Eeele zu Grunde gehen. Noch größer ift der Schade für den
Staat, deſſen heutzutage fo wichtige Aufgaben in Bezug auf Belämpfung
der Volksſeuchen und anftedende Krankheiten, zur richtigen Abſchätzung der
gegen Unfall Berlicherten und zur Verbeſſerung des Loſes der unbemittelten
Kranken volftändig iluforifch werden. Nichts fcheint aber ſchwerer zu f
als einen Irrthum in der Öefeggebung einzugeftehen und wieder rüdgär
zu maden. So mußten fih die Aerzte organifiren, um Schulter
Schulter gegen die Unbill der Geſetzgebung und die daraus hervorgehen
E chädigungen ihre8 Standes und der fanitären Verhältniffe der Geſellſt
anzukämpfen. Möge es dem zwan igften Jahrhundert gelingen, diefe fchwie
Etreitfrage zu einem für alle Theile befriedizenden Ausgleich zu brin
Die Entiwidelung ber Chirurgie. 479
Denn wir Chirurgen heute mit den inneren Aerzten gemeinschaftlich
im Kampf gegen Krankheiten zufammenftehen, jo war Das bis ins achtzehnte
Yahrhundert noch wefentlid anders. Die Chirurgie galt als eine niedrige,
ja, zum Theil unehrliche Beichäftigung. Vielfach wurde fie im Umherziehen
auf Meffen und Jahrmärkten getrieben, und bevor der Kranke, der fich einem
umberziehenden Bruch: oder Steinfchneider anvertraut hatte, noch zum Be⸗
wußtfein des Schadens kam, der ihm angethan wurde, war ber Uebelthäter
fängft über alle Berge.
Wenn auch im verfchiedenen Staaten Chirurgen⸗Schulen errichtet worden
ſind, ſo bildeten doch die Barbiere und Bader eine niedere Zunft, die mit
der mediziniſchen Wiſſenſchaft nichts gemein hatte und deren Mitglieder von
den Aerzten höchſtens als niedere Heilgehilfen bei der Behandlung der Kranken
gebraucht wurden. Erſt bie Leibärzte Ludwigs des Fünfzehnten, Marochal
und La Peyronie, veranlaßten die Gründung der Académie de Chirurgie,
die im Jahre 1743 der medizinifhen Fakultät gleichgeftellt wurde. Sieben
Jahre fpäter wurde von Chopart und Default die Ecole pratique de
Chirurgie mit fech8 Betten eröffnet. In England wurde der Unterfchieb
zwifchen den Surgeons und Physicians durch hervorragende Chirurgen,
namentlich durch die bahnbrechenden Arbeiten Sohn Hunters, ausgeglichen,
wenn er auch bis heute noch nicht ganz verwiſcht ift. In Deutfchland haben
einige berorragende Profefforen an den Univerfitäten, wie Lorenz Heifter zu
Helmftädt, Auguft Gottlob Nichter in Göttingen und Karl Kaspar von
Siebold in Würzburg die Chirurgie allmählich zu Ehren gebradt. Aber
noch 1774, als Mederer von Wuthmwehr in Freiburg feine Borlefungen mit
einer Rede über die nothwendige Bereinigung der Chirurgie und Medizin
eröffnete, drohten die Studenten, fein Haus zu flürmen. Er felbft entging
nur mit Mühe ihren Mißhandlungen.
In Berlin wurde fhon unter dem Hurfürften Friebrih Wilhelm 1714
das „Collegium medico-chirurgicum“ auf Antrieb des General-Chirurgen
€. ©. Holtendorff gegründet; es follte für die Ausbildung von Militär-
ärzten forgen. Erſt unter dem General-Chirurgus Görde gelang es, das
Friedrich Wilhelmsd- Fnftitut auf eine foldde Höhe zu heben, daß feine Zög⸗
linge für die zahlreichen Verwundeten in ben napoleonifchen Telbzligen ges
fühlvolle und theilnehmende Aerzte wurden, wie es der greife Feldmarfchall
Fürft Blücher von Wahlftatt wiederholt offen und unummunben ausge⸗
ſprochen Hat. Die zahlreichen Schlachten, welche die Morgenröthe des neun⸗
zehnten Jahrhunderts blutroth beleuchtete, ftellten an die Chirurgen uner⸗
börte Anforderungen, verfchafften ihnen aber auch eine Achtung in der gefells
ſchaftlichen Stellung, wie fle fie vorher niemals befefien haben. In erſter
Linie find bier die Leibärzte Napoleons, Larrey und Dupuytren, zu nennen,
38
480 Die Zukunft.
welche die Erfahrungen, die fie auf den Schlachtfeldern gefammelt Hatten,
in die Spitäler übertrugen, die unter ihrem Einfluß neu organifirt wurden.
Im Hotel Dieu in Paris betrug die Mortalität Ende des adhtzehnten
Jahrhunderts auf der dhirurgifchen Abtheilung 20 Prozent; und faft all
Amputirten und Zrepanirten ftarben.
Dupuytren brachte den größten Theil des Tapes in feiner Klinik zu,
operirte und verband eigenhändig bie meiften feiner Kranken und verfanrmelte
um feinen Lehrftuhl die ftrebfamen Chirurgen der ganzen Welt, jo daß mm
ihn mit Recht den berühmteiten Chirurgen feiner Zeit nennen konnte. Auch
die deutfchen Chirurgen, wie Chelius, Philipp von Walther, Dieffenbady uud
Bernhard von Langenbed, holten fich in der erſten Hälfte de8 neunzehnten
Jahrhunderts ihre Anregung und höhere Ausbildung mit Vorliebe von Parit
feltener von Wien oder London.
Die wefentlihe Grundlage ber Chirurgie bildete damals bie anato⸗
miſche Unterfuhung und Bergliederung des menſchlichen Körpers. Ti
Operationen beftanden faft nur in Amputationen, Entfernungen von Aufker:
lich figenden Gefhwälften, in der Behandlung von Wunden, Geichwüren un)
Beinbrüchhen. Unter den gefchidten Händen von Graefe, Dieffenbad ums
Anderen entwidelte ſich die plaftifche Chirurgie, die fi die Wieberherftellung
von entftellenden ‘Defekten des Gefichtes, wie der Nafe, Tippen, Angenlider,
Wangen, zur Aufgabe machte. Dabei fpielten bie Blutung-und bie Schmerzen
eine große Rolle und die &hirurgen fuchten durch Schnelligkeit, glatte Schnitt:
führung und elegante Ausführung der Operation diefe Gefahren möglidi
einzufchränfen. Dazu waren genaue anatomifche Kenntniffe damals, wie amp
heute noch, unerläßlih. Das Studium ber Vorgänge bei der Blutftiillung,
wie fie namentlich Scarpa in Pavia mit großer Sorgfalt betrieb, führte
allmählih zu dem Studium der feineren Vorgänge bei der Wundheilung,
das ſchon John Hunter im achtzehnten Jahrhundert begonnen hatte, das aber
erft im neunzehnten Jahrhundert, befonder# durch die dentfchen Chirurgen.
wie Billroth, Thierfch und Andere, das Verſtändniß der Heilungvorgänge
ermögliht hat. Das Problem ber Blutftillung befchäftigte die Chirurgen
von Celſus bis auf Esmarch. War ja doch der Tod durch Blutverluft eine
der älteften Erfahrungen, die der Menſch ‚bei offenen Berwundungen zu
machen Gelegenheit hatte; und daß mit der Stillung bed Blutftromes das
fliehende Xeben zurüdgehalten werden konnte, haben wohl fchon bie homerif ı
Aerzte Podalirios und Machaon gewußt. Oft genügte ein geſchickter Fin -
druck auf die blutende Stelle, der bei Heineren Gefäßen nach einiger i
die Verflebung und definitive Blutftillung herbeizuführen im Stande '
Größere Gefäße wurden, wenn fie verlegt waren, von den arabifchen Ye. ı
und ihren Nachfolgern bis ing fiebenzehnte Jahrhundert hinein mit dem 8
Die Entwidelung der Chirurgie, 481
eiſen behandelt und zw fchließen geſucht. Es ift das unvergängliche Ber-
dienft Ambroife Pardes, durch die Ligatur, die Abbindung der Arterien, deren
definitiven Verſchluß zu erzielen. Aber noch bis zum Kriege von 1870 war
Die Unterbindung der Gefäße, die meift mit Seide vorgenommen mwurbe, eine
Gefahr bringende Operation, da der Seidenfaden durch Eiterung ausgeftoßen
werden mußte und die Eiterung nicht felten den das Gefäß verfchließenden
Thrombus wieder zur Auflöfung brachte und dadurch eine tötliche Nach:
-bfutung bervorrief. Es dauerte noch lange, bi durch Liſters Einführung
von fterilifirten und reforbirbaren Ligaturfäden, durch Auskochen der Seide
die Methode fo ficher wurde, daß heutzutage der Tod durch Verblutung nad
Dperationen zu den größten Seltenheiten gehört.
Man überzeugte fi, daß zur Blutftillung der Blutpfropfen (Throm⸗
bus) nicht nothwendig fei, fondern daß der Berfchluß der Gefäße auch durch
direkte Berklebung ihrer Wandungen mit Wucherung des Endothels zu Stande
tommen könne. Dan wagte deshalb, die Gefäte anzubinden, direkt am Ab-
gange eines neuen Zweiges, ja, ſelbſt Schnittwunden der Gefäße direkt zu
nähen und endlich auch Stichverlegungen des Herzens durch die Naht zu
ſchließen, wodurch jettt ſchon manches Leben gerettet worden ift.
Diefe Studien waren nur möglich unter dem Einfluß der neuen Wiffen-
ſchaft der Hiftologie, der Gewerbefehre, deren Anfänge auf Felir Bichat (1803)
zurädgehen. Als dann Schleiden und Schwann den Aufbau der Organismen
aus Zellen nachgewiefen hatten und Virchow in feiner Cellular- Bathologie
den Satz omnis cellula e cellula auch für die pathologiſchen Produkte
bewieſen hatte, bemächtigten fich die deutſchen Chirurgen mit Vorliebe dieſer
Studien über die feineren Vorgänge bei der Heilung der Wunden, ber Ent-
zündung und Geihwulftbildung und fürberten dadurch in hohem Maße unferen
Einblid in die Vorgänge des organifchen Lebens bei der Erkrankung.
Sehr weſentlich wurden diefe Studien durch das Thiererperiment unter:
ftügt und gefördert. Schon Immanuel Kant hat 1787, in der Vorrede zur
zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, die Bebingungen, unter
denen das Experiment Erfolg haben kann, fcharf formulirt: „Die Vernunft
muß, mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinfommende Erjcheinungen
für Gefege gelten können, in der einen Hand, mit dem Experiment, das fie
nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar, um von ihr
belehrt zu werden, aber nicht in Geftalt des Schülers, der ſich Alles vor:
fagen läßt, was der Lehrer will, fondern eines beftallten Richters, der bie
Zeugen nöthigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt * Im
Experiment fönnen wir uns willlürlich die Bedingungen fchaffen und dadurch
die Natur zwingen, auf unfere Fragen Antwort zu geben.
Ä Schon Harvey entdedte den Blutkreislauf, Albrecht von Haller die
38*
482 Die Zukunft.
Musfelivritabilität durch das Experiment. John Hunter machte Verſuche
über Uebertragung von vollſtändig abgetrennten Körpertheilen, die wieder aus
beilten. Charles Bell entdedte durch das Xhiererperimient den Unterſchied
ber Tenfiblen und motorifchen Nervenwurzeln, die großen franzöfifchen Er
perimental: Phyfiologen, vor Allen Magendie und Claude Bernard, au bie
ſich unfere deutſche Phyfiologenfchule von Johannes Müller, Karl Ludwig
bis auf Kühne angefchlofjen hat, haben durch das Thiererperiment den ſtolzen
Bau unferer Kenntniffe über die phyfiologifche Thätigleit der Organe errichtet.
Noch in jüngfter Beit hat Pawloff in Petersburg in bem Inſtitut, daS ber
Herzog von Oldenburg gegründet bat, die Lehre von der Verdauung dur
feine Berfuche an Hunden aufgeflärt. Die Berfuche von Heine in Würzburg
über bie Neubildung von SCnochengewebe durch das Perioft gaben Bernhard
von Zangenbed den Anſtoß zu feinen fubperioftalen Refeltionen, die im Kriege
bes Jahres 1864 zuerft in größerem Maßſtabe zur Ausführung gelommen find
und bei richtiger Nachbehandlung ausgezeichnete Refultate herbeigeführt Haben.
Guſtav Simon hat an Thieren feftgeftellt, daß der Ausfall einer Niere
durch die Funktion der anderen Tompenfirt werden lönne, und hat es gewagt,
das Refultat diefes Berfuches mit glänzendem Erfolg auf den kranken Menfchen
"zu übertragen und dadurch den Anftoß zu dem großen Gebiete der Nieren:
Chirurgie: zu geben. j
Billroth und feine Schule fürderten durch Thiererperimente unfere durch
die Franzofen Jobert und Lembert angebahnten Senntniffe über Die beſte
Nahtmethode bei Verlegungen des Darmes, ftudirten die Ausfchneidung des
Magens oder eine Magentheiles und eröffneten dadurch neue Gebiete der
Unterleibs. Chirurgie.
So könnte ich Hunderte von Thatfadhen anführen, aus denen unwider⸗
‚ Ieglich hervorgeht, daß das von manchen Seiten viel verläfterte Thierexperi⸗
ment nicht nur unfere Kenntniffe jehr wejentlich gefördert hat, fondern auch
hundertfachen Nugen für die Behandlung der Krankheiten und zur Xinderung
der dem ganzen Menfchengefchlecht befchiedenen Qualen gefchaffen Hat. So
lange die Menſchen Millionen von Thierleben opfern, um ihren materiellen
Hunger zu ſtillen, wird man aud) da8 mit möglichfter Schonung de8 Schmerz⸗
gefühles ausgeführte Thiererperiment zur Stillung des Wiſſensdurſtes ge-
ftatten müflen. Der Drang nad der Erforfhung der Wahrheit ift nicht
weniger quälend al8 der materielle Hunger und Durſt. Sonft hätten nid
Hunderte von Märtyrern für ihre Ueberzeugung Lebensglüd und Geſundhei
hingeopfert und fi dem Mlärtyrertode geweiht.
Auch die genauere Kenntniß der fchmerzftillenden Mittel, die unenblic
viel zur Verminderung und Abſchwächung der alle chirurgiſchen Eingrif
begleitenden Schredniffe beigetragen haben, verdanken wir im Wefentlicher
Die Entwidelung der Chirurgie. 483
dem Ihiererperiment, wenn auch die Anfänge auf zufällige Beobachtungen
beim Menfchen zurüdzuführen fein dürften. Die Empfindunglofigfeit des
Meenfchen im Alkoholrauſch ift ficher eine Jahrhunderte alte Erfahrung.
Humphry Davy benutte die damals neue Kenntniß der Cafe zu therapeuti=
fchen Zmeden und ließ Sauerftoff, Stidorgbul, dem er den Namen Lachgas
gab, und fogar auch Scwefeläther zur Befeitigung von afthmatifchen Be—
ſchwerden einathmen. Aber erft der Chemifer und Arzt Jackſon und ber
Zahnarzt Morton in Bofton empfahlen 1846 fuftematifch die Anwendung
der Aethernarlofe zum Zwed der fchmerzlofen Ausführung bon Operationen.
Die Amerilaner befchenkten die alte Welt mit der künftlichen Erzeugung der
Schmerzlofigkeit und dürfen mit Stolz ihren fpäter fo unglüdlichen Lands⸗
leuten die Devife aufs Grab feßen: Jovi dolorem eripuerunt.
Es würde mich zu weit führen, wollte ich hier genauer fchildern, wie
der Aether von dem Schotten Simpfon durch das Chloroform erſetzt worden
tft, wie die alten Methoden der Lokalen Anäfthefie durch Kältewirkung wieder
durch neue Mittel, wie die Wetherzerftäubung, zur Anwendung gekommen
find, wie man nad) Erkenntniß der Gefahr, welche die allgemeine Anäfthefie
als eine Art Vergiftung in fich birgt, fie zu erfegen ſuchte durch Lokale Anäfthetica,
wie die Auffindung des Cocains umd feiner fynthetifchen Erfagmittel immer
mehr dazu führt, den fchmerzftillenden hemifchen Kern von den giftigen Stofien
zu ifoliren, und wie die merfwürdigen Produkte, die man aus ber Neben»
niere gewonnen hat, biefe Lofal anäfthefirende Wirkung in wunderbarer Weife
zu fleigern vermögen. Thatſache ift, daß all diefe noch immer im Fluß be=
findlihen Unterfuhungen unfere Kenntnifje über die Funktion der Nerven,
über deren eigenthämlichen Reiz, den wir als Schmerz empfinden, außer-
ordentlich vertieft haben, daß aber auch die Befeitigung der Schmerzempfin-
bung e3 ung ermöglicht hat, operative Eingriffe auszuführen, vor denen noch
wenige Jahrzehnte vorher die fühnften Chirurgen zurückgeſchreckt wären.
Dahin gehört im erfter Reihe die enorme Entwickelung der Chirurgie
der Unterleiböorgane. Noch in feiner Operativen Chirurgie hat Dieffenbach,
der kuhnſte und gejchidtefte Chirurg in der Mitte des vorigen Jahrhunderts,
die Ausführung der Ovariotomie als ein tollfühnes Unternehmen bezeichnet,
dad weber dem Kranken noch auch dem Operateur Segen bringen konne.
Dennoch hatte fchon der amerikanifche Arzt Mac Dowell feit bem Jahr 1809
mit Abit und Erfolg mehrere Dvariotomien ausgeführt. Seine Berichte
wurden aber nicht beachtet. Die fpärlichen Verſuche, ihm nachzuahmen, hatten
erft in den Händen von Spencer Wells in London und Köberle in Straf
burg durchſchlagenden Erfolg. Erſt die Einführung der antifeptifchen Wund⸗
behandlung durch Korb Fofeph Lifter hat den mit Eröffnung des Bauchfells
berbundenen Operationen ihre Gefahr genommen und ben Exfolg aller ope-
484 Die Zukunft.
rativen Eingriffe fo ſehr gefichert, daß ihre Zahl gegen früher nicht nur ver-
bunbertfacht worden ift, fondern die Prognofe des Eingriffes als folden ih
mit mathematifcher Genauigkeit nach den biäherigen Erfahrungen auf dem
Gebiet voransbeftimmen läßt. Zufällige Wundkrankheiten, Eiterveıgiftungen,
feptifches Wundfieber, Rothlauf, Starrkrampf, die früher oft zu ben eim
fachften Eingriffen hinzukamen, Lafien fi durch die Einführung der ants
feptifchen und afeptifchen Wundbehandlung von nicht infizirten Wunden mit
faſt volllommener Sicherheit abhalten.
Die Mortalität der Ovariotomie, der Amputationen, ber komplizirten
Knochenbrüche, die früher 50 bis 60 Prozent betrug, ift durch Liſters Ent
dedung und ihre Ausbildung auf 5 bis 6 Prozent gefunfen. Viele Ope⸗
tationen, die man früher wegen der großen Rebensgefahr kaum auszuführen
wagte, gehören jest zu dem täglichen Aufgaben bes Chirurgen. So bie Erin
pation des Kropfes; die uralte Trepanation, die faſt vergeffen mar, wurde
erweitert zur Gehirn-Chirurgie und biente nicht allein zum Aufſuchen vor
Abszeflen, zur Entfernung von Knochenfplittern, fontern auch zur Befeitigung
von Gefchwülften in der Gehirnoberfläche. Die dabei gemachten Erfahrunger
erweiterten unfere Kenntniffe über die Kofalifation der Gehirnfunftion. And
der Rüdgratsfanal wurde eröffnet und verborgene Geſchwulſte, die aus de
Symptomen richtig diagnoftizirt werden konnten, befeitigt und im mandes
Fülen dem Ruckenmark feine Leiftungfähigleit zurüdgegeben. Die operatix
Behandlung der Ergüſſe in die Brufthöhle, felbft in den Herzbeutel mark
wieber aufgenommen, methodifch ausgebildet und führte viel Häufizer zu einen
günftigen Erfolg als vorher. Durch die Radilaloperation der Unterleib*
brüche werden Taufende von jungen Menfchen von dem läfligen und un
fiheren Bruchband befreit und Hunderte wieder bienftfähig fürs Militäͤr und
feiftungfähig für ſchwere Arbeit. Als ganz neues Gebiet wurbe bie operafif
Befeitigung der Gallenfteine, wenn fie allen Bemühingen der inneren Medizie
zum Trotz nicht abgehen wollen_und ihrem Träger große Befchwerden m
Gefahren verurfachen, durchgeführt. Die älteren Verſuche, Leberabszeſſe und
Echinokokken operativ anzugreifen, wurden mit glüdlichem Erfolg wieder auf:
genommen und felbft Gefchwülfte aus ber Xeber entfernt, wobei die Cre
rimente von Ponfid die merkwürbige Regenerationfähigkeit der Leberfubilan
nachgewiefen haben. Zu den ſchon erwähnten Operationen am Wagen u
Darnılanal, die durch die chemifche und mechaniſche Unterfuhung dd '
halte8 und der Lage mit der Magenpumpe auferordentlih an Si‘
gewonnen haben, gefellte jich die operative Behandlung der Blinddam '
zändung, als deren Ausgangspunkt der Wurmfortfag erfaunt much,
Befeitigung die großen Gefahren der Erkrankung in der Regel aufbeht
Operation ift leider beinahe Diode geworden, zum Theil, weil buch
Die Entwidelung der Chixurgie. 485
rativen Eingriffe die früher ſehr ungewiſſe Diagnoſe viel ſicherer gemacht
worden iſt, zum Theil aber auch, weil die Erkrankung durch die Lebensweiſe,
vielleicht auch durch die wiederholten Influenza: Epidemien häufiger geworden
if. Auch die Operationen an der Blafe und an der Niere haben an Sicher:
heit gewonnen und ihre Erkennung buch Erfindung des Blafenfpiegels große
Fortſchritte gemacht.
Wenn der Unterſchied in der Geſammtheit der Mortalität nach Ope⸗
tationen von jeßt gegen früher nicht fo auffallend fich gebeffert hat, wie ich
e3 für die Amputation und die Dvariotomie hervorgehoben habe, fo liegt es
daran, daß immer neue und fchwierigere Operationgebiete erobert worden find
und daß bie erzielten Erfolge zu Eingriffen ermuthigten, bei denen die Aus⸗
fichten nur gering fein fonnten. Selbft der Kranken bemächtigt fich der Ge⸗
danke, daß, wenn alle Hilfsmittel nichts nüßen, vielleicht dircch eine Operation
noch geholfen werben fönne, und gar manchmal läßt fich der Operateur dadurch
zu einem Eingriff beflimmen, den er bei genauer Kenntniß der Sachlage
tieber unterlafien hätte. Das vorgerüdte Alter gilt im Allgemeinen nicht
mehr als eine Öegenanzeige operativer Eingriffe, aber dennoch können wichtige
Drgane des Kreislaufes und der Lunge fo abgebraucdt fein, daß Kompli-
fationen von diefer Seite einen Strich durch die befte Berechnung machen.
Liter ging bei der Entdedung feiner Behandlungmethode von den
Unterfuchungen Paſteurs aus, der nachwies, daß bie Zerfegung von Ylüffig-
feiten ausbleibt, wenn man den Hinzutritt von organischen Keimen verhindert.
In diefer Beziehung hatte Paſteur ſchon Vorgänger, da Schwann, Helm-
holg, Schröder und Dufch durch ähnliche Experimente den felben Beweis,
wenn auch vielleicht nicht fo augenfällig, geliefert hatten. Lifter wurde durch
den auffallenden Unterfchied im Heilungverlauf von einfachen und kompli⸗
zirten Knochenbrüchen dazu geführt, dag die fo viel größere Gefahr bei ben
offenen Knochenbrüchen durch das Hinzutreten der Luft und von Zerfegung-
erregern bedingt fein müfle. Er fuchte deshalb die Luft und die Wunde zu
besinfiziren und benuhzte dazu als beftes Antifeptitum die Karbolfäure. Mit
divinatorifhem Scharfblid erlannte er aber auch die Wichtigkeit, die Hände
und Inſtrumente vor der Berührung mit anderen infeltiöfen Stoffen in Acht
zu nehmen und die mechanifchen Inſulte der Gewebe bei ben Operationen
auf das möglichſt geringite Maß einzufchränfen. Wie er ſich ausbrüdte, Tolle
man die Wunde allein laſſen, wenn fie gut heilen ſolle. Auch Liſter haite
in diefer Beziehung ſchon einen Vorgänger, ba fchon vorher der Geburthelfer
Semmelweiß in Wien die Ueberzeugung ausgefprochen hatte, daß das in dem
Gebaͤrkliniken fo gefährliche verherende Wochenbettfieber durch Uebertragung
von fauligen Stoffen, namentlich durch die Hände der Aerzte und Hebammen,
zu Stande komme und daß äußerfte Sauberkeit und möglichft wenig Berüh⸗
zung der Gebärenden biefe Gefahren erheblich einfchränfen oder befeitigen könne.
486 Die Zutunft.
Schon Kifter hat ſich bemüht, feine Methode nach verfchiebenen Rich⸗
tungen zu modifiziren; aber bie weſentlichſte Bereinfahung und erperimentelle
Begründung hat fie in Deutfchland gefunden. Dur Bruns und Miluliez
wurde feftgeftellt, daß die Gefahr der Luftinfektion verbältnigmäßig gering
fei, daß man den Karbolſpray Liſters entbehren kann, daß die antifeptifchenz
Mittel nicht nur Gifte für die Bakterien, fondern au für die Gewebe des
menfchlichen Körpers find und daß man auch ohne fie, mit firengfier Rein—
lichkeit, Desinfektion der Inftrumente umd Berbanböftoffe, durch Hige unb
frömenden Dampf im Stande ift, die beflen Heilungrefultate zu erzielen.
In Folge Deffen ift die afeptifche an die Stelle der antifeptiichen Methode
getreten (Bergmann). Da fich herausgeftellt hat, baf auch bei der größten
Vorſicht und gründlichiten Desinfektion eine vollkommene Keimfreiheit der
Wunde nicht zu erzielen ift, trogdem aber der Heilungverlauf fidh regelmäfig
afeptifch geftaltet, hat man gelernt, den im lebenden Körper vorhandenen Schug-
Träften gegen die Infektion größeren Werth beizulegen und die mechaniſche
Inſultirung der Gewebe bei den Operationen auf das möglichſt geringfie
Maß einzufchränten.
Dei diefen Studien über die Urſachen der Wundinfeltion, die nament⸗
lich durch Theodor Billroth und Dtto Weber mit Zuhilfenahme der damals
von Bärenfprung und Anderen ausgebildeten Thermometrie eingeleitet worden
find, hat man da8 zahllofe Heer der Bakterien namentlich mit Hilfe der durch
Robert Koch verfeinerten Kulturmethoben genauer kennen gelernt. Man hat
gefunden, daß fie zwar durch ihre ungemein raſche Vermehrungfähigfeit bie
Gefäße und Gewebe ſchädigen und durch ihre Stoffwerhfelprodufte den Or:
ganismus vergiften, daß fie aber bei ungünftigen Lebensbedingungen auch leicht
zu Örunbe gehen oder doch ihre Gefährlichkeit einbüßen. Das genaue Studinm
auf fünftlichen Nährböden im Qchiererperiment hat diefen Heinen Unholben,
zum Beifpiel: den Peitbızillen, einen großen Theil ihre Schredens genommen,
wenn aucd mancher Erperimentator feinen weniger vorſichtigen Umgang nrit
ihnen duch Selbftinfeltion mit dem Tode büpen mußte. ‘Das genaue Stu:
dium der mit diefen Mikroben infizirten Thiere bat ergeben, daß bei vielen
eine gewiffe Angewöhnung eintreten kann und daß die Thiere eine Immu—
mität gegen weitere Anftefung mit diefen Mikroben gewinnen. Diefe That-
fache, die ih an die alte Minifche Erfahrung, daß das Ueberſtehen einer In⸗
feftionfranfheit, wie Blattern, Scharlach, Maſern, vor einer zweiten Erkrankung
meiltend Schütt, führte dazu, aus den immunijirten Thieren Schugfloffe 3
gewinnen, die ſowohl die Thiere felbft gegen ſolche Seuchen fihern als auc
den Menfchen wie durch einen Impfſtoff gegen diefe Krankheiten immuniſiren
oder Durch hochpotenzirte Schugftoffe von der ſchon ausgebrocdenen Kran
beit wieder befreien können.
Die Entwickelung ber Chirurgie. 487
Den glänzendften Erfolg auf diefem Gebiete hat Behring durch die
Erntdeckung des Diphtherieferums erzielt. Die früher fo gefürchtete Diph—
therte hat bei feiner rechtzeitigen Anwendung den größten Theil ihres Schredens
verloren und durch die fortgefegte Bekämpfung auch ihre frühere Gefahr zum
Theil eingebüßt. Hier im Heidelberg ift durch die Einführung des Diph
therieferums die Behandlung der diphtheritifchen Kinder und die jett feltener
gewordene Tracheotomie faſt vollftändig von der chirurgiſchen Klinik auf die
Kinderklinif übergegangen. Es ift fehr erfreulich, zu fehen, daß die modernen
Kortfchritte der Therapie auch wieder manche Gebiete für die innere Behand⸗
lung zurüderobern, während immer neue Gebiete innerer Krankheiten ber
mechaniſchen — Das heißt: der hirurgifchen — Behandlung zugeführt werden.
Die ſtets zunehmende VBerwerthung phyfifalifcher und chemifcher Unter-
ſuchungmethoden für die Diagnofe der Krankheiten ift eine wefentliche Ur⸗
fache, daß fich von dem Hauptftamm der Chirurgie verfchtedene wichtige Seiten:
zweige felbftändig entwidelt und im Laufe des Jahrhunderts abgetrennt haben.
Dis zur Erfindung des Angenfpiegel3 duch Hermann von Helmholg be
ſchränkte fi die Augenheilkunde wefentlich auf die Behandlung der äußeren -
Theile des Sehorgans bis zur Linfe. Dieſes befchränfte Gebiet konnte der
Ehirurg neben feinen verhältnigmäßig einfachen fonftigen Aufgaben noch bes
wältigen. Nachdem aber Helmholtz wie mit einem Schlage das Innere des
.Anges dem ftaunenden Bid bis in den verborgenften Winkel blosgelegt hatte,
nachdem er in feiner Bhyfiologifchen Optik die mathematifchen Probleme der
Dioptrie auf die Nefraktion-Anomalien des Auges anwenden gelehrt hatte,
ftellte fich, im Zufammenhange mit der durch Heinrich Diüller, Mar Schulze,
Brüde, Reber geförderten mikroftopifchen Anatomie des Auges, eine folche Fülle
von neuen Problemen ein, daß fie nur durch geniale, unermüdliche Spezia-
Liften gelöft werden fonnten. Im rechten Moment trat die Lichtgeftalt Albrechts
von Gräfe auf. Wie wenn ein alter Baum burch ein neues Pfropfreis ver
ebelt wird, fo wurde die gefammte Heilfunde durch die Entwidelung der Augen⸗
beilfunde fruchtbringend beeinflußt.
Auch die Erfindung des Kehlkopfipiegels, der von Czermak und Türk
m Wien für die Praris nugbar geworden ift, ermöglichte die lokale Be⸗
bandlung ber Kehlkopfleiden unter Leitung des Geſichtes. Die erften operativen
Erfolge, die Viktor von Bruns in Tübingen auf diefem Gebiet erzielte, ver-
anlapten die Abzweigung einer neuen Spezialität, die fehr bald die Er-
franfungen der Ruftröhre, der Nafen- und Rachenhöhle ſich Hinzugefellte.
Auch die Ohrenheilkunde, die lange etwas ftiefmütterlich im Nebenamt
von der Chirurgie verwaltet wurde, erhielt durch die Erfindung des Ohren
fpiegel3 durch Toynbee und durch die foftematifche Bearbeitung ihrer phyſi⸗
laliſchen Grundlagen durch Helmholg mächtige Impulfe und hat in dem
488 Die’ Zukunft.
Händen gewiegter Spezialiften den alten Steptiziämus durch glänzende Erfolg
überwunden. Durch fühne Operationen am Warzenfortfab, Behandlung der
Gefahr drohenden Eiterungen in ben benachbarten Blutleitern und Gehirn
partien haben Obrenärzte und Chirurgen einander befruchtet.
In Deutfchland if die operative Gynäkologie, für die Guſtav Simer
in Heidelberg bedeuiſame Fortfchritte angebahnt hat, weſentlich an die Ge
burthelfer Abergegangen und hat ji in teren Händen mächtig entundel.
In anderen Ländern führt fie entweder ein felbftändiges Dafein oder wir
mehr von Chirurgen ausgeübt.
Die merhanifche Behandlung von Verkrummungen der Ertremitäten
duch Mafchinen, wie fie namentlich Zander in vorzägliher Weife erdach
hat, tie Wiederaufnahme der Mafjage, die von den Römern geübt und m
Drient niemald ganz vergefien war, die bamit. vielfach verfuüpfte Hybre
therapie, die Heißluft» und Kichtbäder, die Anwendung von Elektrizität, de
ſchwierige Verbandtechnik find die Veranlafjung, daß auch bie Drihopädt
fih neben der Chirurgie felbfländig entwidelt und neue Gebiete, namentlid
. and der Nervenpathologie, eroberte. Die Anwendung der Nöntgenphets
graphie, die und fo wichtige? Dienfte bei der Behandlung von Knochen⸗
brüchen und Berrenkungen, bei der Entfernung von Fremdksrpern leiſtet,
hat ſich zu einer fchwierigen und auch koftfpieligen Technik ausgebildet, welche
die Zeit und Intelligenz eines geſchickten Mitarbeiters reichlich in Anſpruch nimmt
So fehen wir, daß die Chirurgie mit der Ausdehnung ihres Mahe
bereiche8 auch wieder Einbuße erleidet dadurch, daf neue Spezialitäten fd
von ihr abzmweigen, die allerdings in ihrer felbfländigen Entwickelung wirde
mächtig zur Fortbildung der Heiltunde beitragen. Aber wie jedes Ding I
der Welt zwei Seiten hat, fo fteben auch hier dem Licht manche Schatle⸗
” gegenüber. So viel auch Deutfchland zu der Entwidelung der Chinsmgt
beigetragen hat: es ift doch kein bloßer Zufall, daß die zwei größten Er
findungen, die den mächtigen Auffchwung der Chirurgie ermöglicht haben:
die Einführung der allgemeinen Narkofe und bie antifeptifche Wumbbehand
fung, nicht bei uns, fondern in Amerika und England gemacht worten finl-
Der enorme Fortfchritt auf faft allen Gebieten der wiſſenſchaftlicher
Medizin, wie in der Chirurgie, hat deren Studium im neunzehnten Jahr
hundert viel fehwieriger und fomplizirter gemacht. Wenn auch mancher alt
Plunder über Bord geworfen wurde, fo ift doch die Menge Defien, meh
ber junge Stundent bis zu feinem Staatseramen zu bewältigen hat, eı '
große, daß auch die jetzt durchgeführte Verlängerung des Studiumd
zehn Semeiter und die Hinzufügung des praktifchen Jahres ihn ummi
zu einem Meifter auf allen Gebieten der Medizin machen kann. ©
Hälfte feiner Studienzeit geht auf die theoretifchen Grundlagen uni
Die Entwidelung der Chirurgie. 489
in Deutſchland wird auf diefe das allergrößte Gewicht gelegt, weil fie ben
jungen Arzt befähigen, mit der fortfchreitenden Wiſſenſchaft mitzugehen und,
wenn er richtig medizinifch denken gelernt hat, auch auf ihm bisher unbe»
kannten Gebieten fih mit Hilfe der Literatur unter berathender Beihilfe
anderer Kollegen zurechtzufinden. Die praftiiche Ausübung der Heilkunde
erjorbert fo viele Handfertigfeiten, die gelernt und geübt werden wüflen, die
für jede Spezialität mit eigenen Hilfsmitteln und Inftrumenten umgeben
find, dag er während der Studienzeit auch bei ausgebildeten mechanifchen
Talent fih doh nur in beſchränktem Maß praltifh ausbilden kann. Da
heißt es, auch in feinen Zielen und Anforderungen Maß halten. Ich Tann
in den Minifchen Borlefungen meine Zuhörer, unmöglich in der Ausführung
der Operationen, der ſtreng ajeptifchen Durhführung der. Verbände, der
Einführung und praktiſchen Benugung ber verfchiedenen Sonden und Spiegel
in enge Kanäle bis zur Meitfterfchaft bringen. Sie fehen ja all diefe Dinge
vielfach und, wenn auch jeder Fall fein individuelles Gepräge bat, manchmal
bis zum Ueberdruß; aber das Zufehen macht noch nicht den Meifter, und
felbft wenn dem Praltikanten einfache typiſche Operationen und Berbände
überlaffen werden, fo kann doch erft länger fortgefegte Uebung ihn für alle
Anforderungen ber Praxis genügend vorbereiten. Auch dazu findet fi Ge⸗
legenheit, wenn die Stubirenden den guten Willen haben, als Praktilanten
auf der Abtheilung unter Leitung der Affiftenten ſich zu befchäftigen. Am
guten Willen fehlt e8 den Meiſten nicht, wohl aber an der Zeit, ba bie
Zahl der Vorlefungen für den Mediziner eine fo große ift, daß 35 bis 40
belegte Stunden in der Woche nebft mehreren Stunden praltifcher Uebungen
ein ganz gewöhnliches Penſum daftellen. Da wir auf der Univerjität feinen
Beſuchszwang ber Kollegien haben, fo ift felbftverftändlich, daß dieſe gefund-
hei’lich ganz unerlaubte Ueberbürdung mit Arbeit nur durch gelegentliches
Schwänzen der Borlefungen erträglich gemacht wird. Durch die Einführung
eined praftifchen Jahres follen die jungen Aerzte mehr als bisher in die
Praris eingeführt werden. Da aber die Wahl der Fächer, mit Ausnahme
der inneren Medizin, freifteht, fo ift zweifelhaft, ob für die chirurgifche Aus-
bildung der Aerzte dabei fehr viel herausfommen wird. Trotz all diefen
Schwierigkeiten hat fich in den legten Dezennien eine fo große Zahl junger
Aerzte in der Chirurgie ausgebildet, daß das Bedurfniß Deutfchlands nad}
Chirurgen ficher mehr al3 doppelt gededt if. Wir haben heutzutage Feine
Kriege mehr nöthig, um Chirurgen auszubilden. Die zahllofen Maſchinen,
die mannichfachen Transportmittel, die ſozialen und politiſchen Streitigleiten
und" Tte Haft des täglichen Lebens und Broterwerbes veranlaffen fo viele
Unglädsfälle und Berlegiünigen, daß in Deutſchland etwa in anderthalb Jahren
fo Diele Bertegungen zur Behandlung fommen wie während des Feldzuges
”
490 Die Zukuuft.
von 1870 in ber beygtichen Armee. Deshalb find auch in allen Städten
ze EEE I — —
und Induſtriebezirken chirurgiſche Abtheilungen, zum Theil mit allermodernſtes
Einrichtungen, unter tüchtigen Aerzten eingerichtet worden, die mit einem
großen Stab von Affiftenten arbeiten und fie in die hirurgifche Praris einführen.
Ich, zum Beifpiel, arbeite mit zehn Affiftenten und betrachte einen
vierjährigen Lehrkurs, wobei alle Jahre eine andere Abtheilung bezogen wird,
für ausreichend zur chirurgifchen Ausbildung nach beendigtem Staatferamen.
Wenn nur der junge Chirurg nach zehnjährigem Studium aud gleich feine
BDerwendung finden könnte ald Chef einer chirurgifchen Abtheilung, als &e
werlichaftarzt oder al8 Dozent ber Chirurgie! Aber die Stellen finb nicht
nur überall beſetzt, fondern auch die Ausficht, in eine davon einzinräden,
durch meift vorhandene Anwärter fehr gering. Kurz, wie auf allen Gebieten,
fo ift auch auf diefem in unferem allzu engen Baterlande die Konkurrenz
übergroß. Deshalb ift die Furcht des Publikums, daß zu leiht und zu viel
operirt werde, nicht ganz. ohne Grund. Es ift immer fo gewejen, daß, wenn
eine Operation neu auffam und gänftige Erfolge aufzumeifen hatte, bie In⸗
difation etwas zu leicht genonmen wurde und häufiger ausgeführt wurde, als
vielleicht abfolut nothmwendig geweſen wäre: fie wurde eben eine Modeoperation.
&o war es früher mit dem Aderlaß, dem Schröpfen, dem Anfegen bes Haar
feils, der Durchſchneidung des Zungenbändchens, der Berlürzung der Uvula,
der Herausfchneidung der Mandeln, der Tenotomie und manden gunäfologi-
fen Operationen. Die Sicherheit, mit der man heutzutage ftraflo8 Gelenke
und die Bauchhöhle, ja, felbft die Schädelfapfel eröffnen kann, fcheint manch⸗
mal die Erfhöpfung aller diagnoftifchen Hilfsmittel, um bie Natur eines
Leidens zu ergründen, durch die Probeinzifion überfläffig zu machen. Kurz,
es wird mandmal vergeffen, daß bei jeder Operation ein gewiſſes Riſiko vor-
handen ift, daß fie faft für jeden Menſchen eine wichtige Entfcheidung bedeutet,
daß jie auch im beften Fall Narben binterläßt und daß fie nur dann berechtigt
il, wenn man ficher ift, daß alle anderen ‘Mittel erſchöpft oder nutzlos ind,
um die Heilung herbeizuführen. Diefe Entſcheidung kann manchmal recht
ſchwierig fein und wird, je nach den in der Medizin herrſchenden Anſchau⸗
ungen, immer etwas verfchieden ausfallen, weshalb auch die fonfultirenden
Aerzte oft verichiedener Meinung find. Die genannten Operationen find
zweifello8 unternymmen worden aus dem berechtigten Wunſch, zu helfen,
waren aber mandhmal der Ausflug einer überflüſſigen Vielgeſchäftigkeit und
hätten dann vielleicht durch andere, einfachere Mittel erfegt werden köonnen.
Da dem jungen Mediziner die glänzenden Erfolge in einzelnen Spegiali«
täten, befonder8 auf operativem Gebiet, ſehr imponiren, jo kann man ji nicht
darüber wundern, daß fich viele nach kaum beendetem Studium ohne die breite
Unterlage allgemeiner gründlicher Vorbildung fofort einer Spezialität zus
Die Entwidelung der Chirurgte. 491
wenden. Daß Dies zu einfeitiger Auffeffung der Kranfheitprozefle, mehr
zur Behandlung einzelner erkrankten Drgane alß des kranken Menfchen führen
muß, liegt auf der Hand. Am Meiſten find die reichen Kranken zu bedauern,
die für jedes ihrer Organe einen eigenen Spezialiften haben und für die der
Hausarzt Feine andere Bedeutung hat als die, zu fagen, welcher Spezialift
gerade am Meiften in Mode fei. Leider ift der gute alte Hausarzt, der auf
ber breiten Bafis allgemeiner Bildung Rathgeber und Bertrauendmann der
Familie in allen körperlichen und geiftligen Nöthen war und der auch mit
praktiſchem Blid im Fall ernfter Erkrankung vollftändig feinen Dann fiellte
und da8 Butrauen der Familie jo weit befaß, daß fie ihm überließ, wenn
er glaubte, den Rath eines anderen Kollegen nöthig zu haben, in ten großen
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Städten immer feltener geworben. Es if mir ſtets die größte Freude, wenn '
ih auf meinen Konfultationreifen einem ſolchen Arzt von altem Schrot und
Korn begegne.
Gar manchmal befommt man von Spezialiften den Eindrud, als wenn
‚für fie zum Lofungwort geworden wäre: Quod non est operandum non
est curandum. Der Fall bat nur fo lange Interefie für fie, wie er zu
operiren und bie Dperationwunde zu heilen ift. Und dennoch füngt für den
Arzt die wichtige und fchwierige Aufgabe erfi an, wenn der Kranke nicht mehr
zu heilen ift oder wenn die Heilung nur auf bem langwierigen Wege von
großer Umficht in Bezug auf Ernährung, Luft und Licht, forgfältiger Bes
herrſchung aller Methoden und Mittel, welche die mechanifche und pharma»
tologifche Behandlung den Aerzten in die Hand giebt, erzielt werben fan.
Die zahllofen Fälle chronifcher Entzündungen, Abszeſſe und Fiſtelbil⸗
dung, tuberkulöſe Knochen» und Gelenkleiden, unheilbare Krebſe u ſ. w. find
erſt recht eine wichtige Aufgabe für den humanen Arzt. Da heißt e8, feinen
Mann ftelen und dem Kranken die Ueberzeugung beibringen, daß nicht nur
feine Muhe zu viel ift, daß der Arzt fein Beſtes will, fondern, daß er auch
im Vollbefige des Könnens und Wiſſens ift und daß er immer wieder Heine
Erfindungen zur Erleichterung der Qualen und zur Beflerung des Befindens
bei der Hand Hat, — kurz, daß gefchieht, was menfchenmöglich ift, um, wenn
nicht den Kranken zu heilen, jo boch feine Leiden zu lindern. Die Ver⸗
ſaumniß diefer wichtigen Aufgabe des Arztes rächt ſich bitter an der Ver⸗
minderung des Anfehens des ärztlichen Standes und treibt Hunderte von
Kranken, wenn fie an der Wirkſamkeit der wiflenfchaftlihen Medizin vers
zweifeln, in die Hände der Kurpfuſcher.
Heidelberg. Brofeffor Dr. Bincenz Ezerny, N
Wirklicher Geheimer Rath.
492 Die Zunft.
Die Auserwählten.
8" Iinten Flügel des Sankt Gertrud-Hofpitals feiern beim Inſpektor die „Aus
erwählten“ das Weihnachtfeſt. Kummer oder Verbrechen haben ben Geiſt dieſer
Menfchen verwirrt. Sie find fanft und frieblid und lieben ihre Pflegerin, die im
Hofpital nie anders als „Fräulein“ heißt. Der Flügel der „Auserwählten” gehört zur
erften Abtheilung. Nur wer reif befunden warb, findet hier Aufnahme. Der älteſte
unter ihnen, der „Pfarrer“, hat ihnen den Namen der „Auserwählten“ beigelegt
Sie fpeifen in dem breifenftrigen Zimmer, das „Saal“ beißt, weil es m
alten Klofter als Speifefaal benutt wurde. Der Inſpektor läßt feine Blicke Akeı
die Schaar hinweg, hinüber zum „Fräulein“, das am entgegengefesten Ende der
Tafel first, und durch das Fenſter hinausgleiten, wo der Schnee vom Dad) bes langen
Klofterganges blinkt, der das Hofpital mit der uralten Kirche verbindet. Hier bat
er ein zweite® Heim gefunden; und er fann fie dort drüben, mit dem reichen,
blonden Haar, das in Wellen die Stim umrahmt, nit mehr entbehren. Jriemals,
felbft nicht, alS er noch mit feiner einftigen Gattin lebte, von ber er nun ſeit zehn
Jahren gefchieden ifl, war ihm fo warm ums Herz wie jebt.
Und nun follte e8 vorbei fein. Das längliche blaue Couvert, das er ba
morgens erhielt, da8 Weihnachtgeſchenk des Miniſteriums, hat Allem ein Ende ge
madt. „Wie Ihnen belannt fein wird, giebt c8 feinen rechtsgiltigen Grm),
irgend welche Veränderungen vorzunehmen . . .“
Seit er von den entfetzlichen Ereigniffen in dem großen Iondoner Aſyl ge
lefen hatte, läßt es ihm feine Ruhe mehr. Nächte lang hat er gegrübelt, berechnen
Entwürfe gemadt. Die uralten Schorfteine, die offenen Kamine und die Walken
defe! Unverantwortlidh!
„Keinen rechtsgiltigen Grund!” Punktum. Wbgemadt! „Wollen Sie dr
Verantwortung nicht übernehmen, — bitte: e8 giebt Andere, die e3 gern thım.“
Jetzt follte man eigentlich ftandhaft bleiben und nicht nachgeben, fondern dir
Zuſtände an die Oeffentlichfeit bringen. Dann befam er feinen Abfchied in Ungnade
und ohne Penfion und endete wohl wie der arme „Pfarrer“ dort, der Perfonen,
die einmal gefchieden waren, nicht trauen wollte und die Folgen auf fidh nahm
Aber das Fräulein mit dem fraufen Haar und ben Augen: er kann nicht. Mag
fommen, was da will, — er bat jedenfalls feine Pflicht getban.
Der Inſpektor erftidt den Seufzer in feinem Bollbart und ſchiebt den Stuhl
zurück. „Gefegnete Mahlzeit!" Dann gehen fie durch das grüne Zimmer hinüber
nad) dem „Konftftorium“, wo im offenen Kamin die blauen Flammen der Birlen-
floben luftig prafjeln und ihren Widerfchein auf Die Studengel an ber Dede werfen.
f Der „Pfarrer“ bleibt mitten im Bimmer fteben, beugt feinen frumme
Rücken noch tiefer und ſpricht leife: „Uns ift heute der Heiland geboren!” |
Kirsten, die „Braut“, jett ihren Myrthenfranz vor dem Spiegel über ber...
zurecht, während ihre fanften und zugleich unſteten Augen von überirbifchem .
ftrablen. Heute kehrt gewiß der himmliſche Bräutigam wieder, der ihr durch
Gewalt böſer Menſchen entriſſen wurde. „Fräulein“ legt den Arm lieblofe-“
ihre ſchlanke Taille: „Wie fein unſere Kirſten heute iſt!“ Kirſten beugt de
zurück, lehnt ihn an Fräuleins Schulter und lächelt ſelig unter gefchloffener > -
Augenkdern: „Sc bin fo glücklich, fo glücklich!“
| TH 3 3 m
Die Auserwählien. 498
Setst kommen die Mägde mit den weißen Schürzen und reichen Kaffee und
Weihnachtſtollen. Der Inſpektor nimmt ein verfiegeltes Padet, das unter dem
Kuchen liegt, und giebt e8 Karen, der Fiſchersfrau mit den bleichen Wugen, ber
das Meer in einer Nacht den Gatten und den Bater geraubt hat.
„Andreas und Jens lajjen grüßen und wünſchen Karen ein frohes er!“
Karen ergreift das Packet; mit weit geöffneten, matten Augen und einen rofigen
Hauch auf den blaſſen Wangen öffnet fie e8 baflig und nimmt den Fugen heraus.
„Wie fteht e8 mit dem Haus?“ fragt fie athemlos.
„Ja. ... Jetzt arbeiten fie fchon am Dad.“
„Gott fei Dank! Dann kann e8 nicht mehr lange dauern!“
Karen wollte feit jener Nacht keine Nahrung zu fich nehmen; denn die Toten
erwarten fie zum Abendmahl im Himmel. Sie ißt nur, was Andreas und Jens
ihr von dort durch den Inſpektor fenden. Beide bauen an der himmlifhen Wohnung;
ift fie fertig, fo fommen fie und rufen Karen.
In der Fenfternifche lauert „Klein-Annchen”. Beim Schein des Kamin-
feuer näbt fie haflig die legten Stiche am Weihnachtkleidchen für ihr Heines Mädchen.
Die dunklen Kinderaugen irren hinaus zu den Engeln an ber Dede; fie nidt ihnen
zu und trodnet die Augen. „Klein⸗Annchen“ hatte einen Seemann lieb und belam
ein Kind, deſſen Vater fie verließ. Da ftürzte fie fi mit dem Kind in den Kanal,
um ihr Kleines dem unbarmderzigen Leben zu entreißen. Dan mußte bas Kind
mit Gewalt aus ihrer krampfhaften Umarmung befreien.
Ningsum hodt es in den Winkeln. Lauter „Auserwählte”, die mehr mit
den Augen al8 mit dem Munde reden. Sie flarren in die blau lodernden Flammen,
‚die ihnen das Geheimſte ihrer Herzen künden.
Der Inſpektor reicht dem „Kaufmann“ eine Cigarre. Der dreht fie wwiſchen
langen, raſtloſen Fingern, während feine ſchwarzen Augen bin zum Pfarrer ſpähen,
der mitten im „Zimmer fieht und die Sand über den langen, buſchigen Bart
gleiten läßt.
„Sie verftehen mid) doch?“ flüftert er dem Inſpektor zu: „Ich wars nicht,
der ihm die Silberlinge gab. Ich kann mein Alibi nachweiſen. Zu der Beit, wo
der Kontrakt geichloffen wurde, war ich auf der Börfe. Sie wiffen ja, daß ich das
‚große Geſchäft mit Levy & Nathan eingeleitet hatte. Weshalb follte ich mich aud)
in die Sache mifhen? Zumal ich ſtets die größte Achtung vor dem Heiland hatte.
Wenn er aud) das Geſetz verlettt und feine Zinfen nicht bezahlt Hatte, fo...
Der Kaufmann war einer der ſchlimmſten Blutfauger der Stadt gewefen. Bielen
nahm er ihr Hausgeräth, wenn fie ihm nicht den Zins zahlen fonnten. Aber eines
Morgens erhielt er einen Brief, in dem nichts Anderes ftand als: „Jeſus Chriftus“.
Ein zorniger Schuldner, dachte er, lachte fi ins Fäuftchen und ging auf die Börfe.
Doch an dem Tage, da der Bankerott von Levy & Nathan ihm den großen Ber:
luft brachte, lief er die Treppe hinab, hinaus auf die Straße und rief Allen zu:
„Ich wars nicht, der ihm die Stlberlinge gab!“
„So, Träulein”, jagt der Inſpektor, der nad) feiner Uhr geſehen hat, „jett
müffen fie drinnen fertig fein und wir können anzünden.“ Seine runden Augen
ruhen zärtlich auf dem dichten, fraufen Haar, und als fie im Dunkeln vor ihm her
durch die grüne Stube geht, muß er fih Gewalt anthun, um nicht feinen Arm
um ihre weihen Schultern zu legen, die ihm fo lieb geworden find.
494 Die Zuhmft.
Sm Saal ift der Eßtiſch auseinandergenommen und an die Wanb gerüds
worden. Der große Weihnadtbaum fteht mitten im Zimmer auf dem Fußbodes
und firedt feine Spite bis in die Balfen hinauf. Mit Gold- und Silbergehänge, das
fi) von Zweig zu Zweig windet, ift er gepubt; Engel mit glänzenden Flügeln tanzen
an Gummifäden zwifchen den weißen Kerzen.
.. Fräulein fteht auf der oberiten Sproffe ber hohen Leiter und hängt Konfelt
an bie Zweige, während ber Inſpektor die lange Stange des Laternenputers Peter,
bie felbft die höchſten Lichte erreicht, zum Anzünden benutt. Dabei fällt im ein,
wie oft fie und er bier ſchon geflanden und ben Weihnachtbaum für die „Aus
erwählten“ angezündet haben. Bielleicht ift heute das letzte Mal .. . Ein tiefer
Seufzer ringt fi) aus feinem Herzen los.
„Weshalb feufzen Sie?” fragt fie, aber mit einem weichen Klang ihres
Stimme, der verräth, baß fie e8 weiß.
„Weber die Schwäche der Menfchen, Kleine! Man fett Alles ein, um feims
Sache durchzuführen, und erhält als Antwort eine Obrfeige. Trotzdem bleibt man.”
„Weshalb bleiben Sie?” fragt fie leife und firedt die Arme aus, um
eine berabgefallene Goldpapierguirlande zu befeftigen. Die Leiter kommt babei in
Wanken und es fieht aus, als ob Fräulein herunterfallen wollte.
„Um Gottes Willen!“ ruft der Inſpektor, lehnt die Stange gegen ben Baum
und ftürzt herbei. „Liebfte, geben Sie Acht!“ Mit den Armen umfaßt er ihre Knie,
um fie zu ftügen. Sie lächelt hinab zu ihm, um die Angft in feinen runden Augen
zu beſchwichtigen. Darauf fteigt fie, an feiner Hand, vorfichtig die Sproffen herab,
„Und gerade Sie fragen mich,” fagt er, „weshalb ich bleibe?”
Sie antwortet nicht. Leiſe ftreichelt fie mit ihrer weichen Hand fein Saar.
Er legt den Arm um ihren Leib, jebt, da fie unten ifl. Sie geht an den Ti
und läßt ſich auf einen Stuhl fallen; die Erregung raubt ihr den Athem. „Lie
beth!“ flüftert er und fiebt ihren feuchten Augen an, daß endlich ihr Widerftand
gebrochen ift, daß fie endlich feine erfte, wegen feines Ehebruches gefdjiebene Che
vergeffen hat. Er beugt ſich zu ihr, füßt ihr Haar, ihre Stiin. Da reiht fie ihm
felbft den Mund.
Es fniftert oben im Baum. Im Glasrahmen der Bilder über ihren Häup
tern leuchtet der Widerſchein von fladernden Lichtern. Der Hündflod hat die Spike
bes Baumes in Brand geftedt. Ringsum an den Wänden flammt es roth von
. den Bildern längft verftorbener Direktoren des uralten Krankenhaufes.
Der Inſpektor ift leihenblaß; feine Blicke haften wie gebannt an ber praf
felnden, fladernden Spite unter der Ballendede. Vergebens bemüht er fi), dem
Baum loszurütteln, den Lars Peter im Fußboden befeftigt bat.
„Neiße die Gardinen herab!” jagt er zum Fräulein. Sie fieht an ber Thür
und drüdt mit aller Kraft auf den Knopf der elektrifchen Klingel. Schnell fpriu
fie hinzu und thut, wie ihr befohlen. Entfetst bleibt der berbeieilende Bermalter ı.
der Thür ftehen; Hinter ihm kreifchen die Mägde vor Angfl.
„Eine Art, ſchnell eine Art!“
Fräulein padt ihn am Arm; fie ift fo bleid wie er.
„Die Auserwählten!“ flüftert fie.
„Um Gottes Willen! Sie könnten den Brandgerucd merken, das Praf
hören. Die Bellen drüben find ſicher — vorläufig —, biefe bier nicht; wenn
*
Die Ausermäptten. 495
ietzt durch die grüne Stube gelaufen fämen!” Er ertheilt bem Berwalter feine Be-
fehle, kurz und bündig, bleibt fliehen und denkt einen Augenblid nad: dann gebt
«x binaus in den Gang und hinüber ins „Konfiftorium“. |
Mitten auf dem Fußboden fit der „Pfarrer“, das Befiht dem Kamin
zugewandt, und um ihn her fauern die Auserwählten und unterfudhen aufmerkſam
feine ausgeftredten Hände. \ |
„Seht, liebe Kinder”, fagt der Inſpektor ſcheinbar vergnügt, „gleich find wir
fo weit. Uber die Chriftmeffe... Unfer lieber alter Pfarrer ift frank; was fangen
wir da an? Sie müffen die Predigt halten, Ehrwürden; wollen Sie?”
Der „Pfarrer“ erhebt fich, richtet feine tiefen Augen mit dem in fidh ger
tehrten Blick auf den Inſpeltor und fagt leife: „Uns ift heute der Heiland geboren!”
„Erifts. Kommt Alle und laßt uns hinüber in die Kixche gehen.” Der In⸗
{peftor führt die Auserwählten die Treppe hinab, hinaus in ben langen Kloftergang,
wo bie lalte Dezemberluft durch ein Mappernbes Fenſter hinein pfeift. Jetzt leben fie
in der uralten Kirche mit den vier biden Säulen in ber Mitte, die die Kuppel
tragen, und ben hoben, jchmalen Tenftern.
„Nun Hole ich unfer Fräulein!” fagt er, zündet die Gasflamme am Ein-
gang an, dreht den Schlüffel um Schloß Hinter fi um und eilt zurid. Eben roflt
die Sprite vom Magazin dur den Hof über den knirſchenden Schnee und von
dern Flügel ber, wo die Zellen find, Mingt durch das klappernde Fenſter das Brüllen
des „gefangenen Löwen” und das idiotifhe Lachen ber „Primadonna“ berüber.
. Als der „Pfarrer“ die Kanzel erblidt, färmen alte Erinnerungen aus feiner
Bergangenheit auf ihn ein. Er fteigt hinauf und beugt feinen Rüden über das Pult
hinweg den emporgerichteten Häuptern zu, deren Schatten wie ungeheure Fleder⸗
mäufe über die weiße Dede des Altars mit feinen großen Armleuchtern hinhuſchen.
Dann ftredt er den Arm ‘aus und fing. Mählich ftimmen Alle mit ein; Kirften-
„Braut“ fingt im Zubel der Erwartung aus voller Bruſt. In ihrer Kindheit fang
He im Kirchenchor mit.
Auf! Der Tag ift nun erwacht,
Der die Welt glüdjelig madt;
Und in alle Herzen rein
Dringt der Gnade Sonnenfchein.
Der Pfarrer faltet die Hände und richtet den fo lange in ſich gefehrten Blick
der tiefen Augen zur Dede empor. Dann predigt der Irre vor Irren: „Und das Licht
leudtete in der Finſterniß und die Finſterniß verftand es nicht. Denn ihn, der
uns zur Erlöfung geſandt ift, ihn ergriffen fie und nagelten ihn ans Kreuz. Ihn...
Ihn fchlugen fie ans Kreuz.“
Kirften birgt das Geſicht in die Hände und fchludhzt laut um ihren ſtrah⸗
lenden Bräutigam.
„Für dreißig Silberlinge verrietben fie des Menichen Sohn mit einem Kuß, —
Hört Ihr: mit einem Kuß! ES fteht gefchrieben: Ihr follt nicht ehebrecdhen, und
ein Seglicher, der ein gefchiedenes Weib zur Ehe nimmt, bricht die Ehe, Und er
weigerte fi), fie zu trauen. Der Minifler fagte, daß das Geſetz e8 heiſche, aber
er weigerte fid) trogdem. Der König befahl es ihm, aber er that e8 nit. Denn
es ftehet geichrieben: Dur folft Gott mehr gehordjen als den Dienihen. Da er
griffen fie ihn und ſchlugen ihn ans Kreuz zwiſchen zwei Schächern.“
39
-
496 Die Zukunft.
Kirftens Wehllage tönt von der Wölbung wider. *
Der Kaufmann lauert fich in feinem Stuhl zufammen und ſtöhnt mtı jyitrem-
der Stimme: „Ich wars nicht, der ihm die Silberlinge gab.“
„Ja, Du warft es!“ donnert der Pfarrer von der Kanzel herab. * „Sch Teune
Did wieder, Deinen fchwarzen Bart und Deine fchwarzen Augen! Du mwarftı @.
ders in.die Zeitungen ſetzte, Du warſt e8, ber ihn Freuzigtel“
Karen. richtet ihre bleihen Augen auf den zitternden Juden und jagt „Bir
wollen ihn ergreifen und auch ihn ans Kreuz fchlagen, auf daß ihm vergolten feil”
Kirften fährt: mit geballten Fäuſten auf ihn los. Ihr Antlig. brennt um
ihre wilden Augen fprüben.
„Setze Dich nieder, Weib!“ befiehlt der Pfarrer; „denn al® er am Kreng
hing, erhob er feine Stimme und fagte: Vater, vergieb ihnen, denn fie wiſſen nicht,
was fie thun! Aber in ber fechsten Stunde kam Finſterniß über das ganze Lana.
Und fiehe: da öffnete der Himmel feine Pforten und Blite fuhren bernieder amt
der Hand bes Gewaltigen. Und die Pharifäer, die am Fuß des Kreuzes flanten,
fogten unter einander: Niemals fahen wir ein ſolches Wetter! Aber ein Feuer.
zegen fiel herab, fo daß der Himmel fid) fpaltete vom Scheitel bis zur Sohle. Um
das Antlig des Allmächtigen wurde fichtbar und Hinter ihm Die drohenden Heer:
ſchaaren der Engel. Da entſetzten fich die Pharifäer und riefen: Herr, wenn Da
willft, gebiete dem Feuer Einhalt! Und in ihrer Angft fnieten fie nieder umb
flehten: Herr, wenn es Dein Wille ift, höre auf mit Deinem Zorn, fo wollen wir
Did) herabnehmen und zum- Könige trönen. Aber er würdigte fie feiner Antwort
Der Himmel war wie ein Feuermeer anzufchauen. Die Thiere auf dem Felde
brüßlten und riefen mit Menfchenzungen: Herr, weshalb fchlägft Du uns? We
halb fuhft Du an uns beim, daß die Herzen der Menſchen böfe find von Jugend
auf? Und zum dritten Male fielen die Pharifäer nieder und riefen: Herr, fliße
ben Zorn Deines Baters, fo wollen wir Dich herabnehmen vom Kreuz und nieder-
fallen und Dich anbeten als Gottes eingeborenen Sohn! Da erhob ber Erlöier
fein Antlit zu dem Allmäcdtigen und rief: Bater, Du kannteſt fie beſſer als id:
fie wußten doch, was fie thaten! Aber vergieb ihnen troßdem um Deiner unend
lihen Barmderzigkeit willen! Und fiehe: die Schleußen des Himmels öffneten fid
umd ein dichter Regen ftrömte herab und löfchte die Flammen. Das geſchah aber
in der neunten Stunde. Da erhoben fid) die Pharifäer vom Fuß des Kreuzes mb
ſprachen unter einander: Das Gewitter hat feine Zeit gedauert; auf Blitz und
Donner folgt Regen. Und der Minifter fagte zu den. Soldaten: Laßt ihr nım
hängen! Denn er wollte nicht die Gejchiedenen trauen, aber es fteht gefchrieben,
daß das Geſetz erfüllet werde. Da ward der Herr und Erldfer zornig und rief:
Du böjes Geſchlecht! Wiſſe: wenn die Zeit gefommen ift, da follen alle Sterne
des Himmels berabfallen und alle himmliſchen Kräfte fih rühren. Dann werdet
Ihr des Dienfhen Sohn in der Wolfe kommen fehen in feiner Macht und Herrlid-
feit. Und er wird feine Engel fenden und feine Auserwählten verfammeln vom
Ende der Welt bis zum Ende des Himmels.“
Ueber dem hohen Kirchenfenſter fladert die rothe Flamme. Das Feuer im
Saal hat die Balfendede durchbrochen und aus ben Fenſtern züngeln bie Flammen
an der geſchwärzten Mauer empor.
„Seht das Licht!“ ſchreit Kirſten.
— — — — — — ———
Die Auserwöhlten. 497
Der Pfarrer wendet fein bleiches Antlig mit dem langen, buſchigen Bart
dem zenfter zu. Bon der hohen Kanzel aus kann er Alles überſehen. Zuckende
Tlammen, zifhende Waileritrahlen, eilige, ftürzende Dienfchen.
„Das Licht leuchtet!“ ruft er. „Die Stunde ift gelommen. Sehet die lim
finnigen! Noch jegt können fie es nicht begreifen.” . Und er richtet ſich in feiner
ganzen Größe empor. Sein Antlıg ift erhellt von rothen Flammen, feine Augen
ftrahlen in überirdiichem Glanz. „Seht: er kommt! Sein Kreuz: hat er abge-
worfen. Er lommt, um feine Auserwählten zu fammeln vom Ende der Welt bis
zum Ende des Himmels. * Dann jteigt er von der. Kanzel herab und geht über
die, Galerie an der Maner entlang, bis er das Fenſter erreicht. Die Auserwählten
unten in der Kirche Hettern auf die Stuhllehnen und erreichen die Galerie. Und
jetzt ſtehen fie Alle wie gebannt vor dem gewaltigen Feuermeer, das den Giebel
bes Kloflerganges umflammt.
Karen drängt Kirften weg: „Andreas und Jens“, ruft fie „Tommt Ihr end⸗
lich? Gott ſei Lob und Dank!“
Kirſten⸗, Braut“ breitet wild die Arme nach dem Licht aus und fährt in
die Scheiben, die Hirrend auf da8 Dad, hinabſtürzen. „Sch komme, ich komme!“
ruft fie, reißt fi die Hände an der zerbrochenen Scheibe-blutig und umklammert
das eiſerne Gitter, um hinaus zu gelangen.
Klein⸗Annchens Kind ſtreckt ſeine Aermchen der Mutter entgegen. „Mein
Kind, mein ſüßes Kind!” ruft fie unter freudigem Schludjzen.
„Herr, ich komme!“ fagt fill der Pfarrer, während feine Hände vor Selig-
feit beben. Dann kriecht er durch das zerbrochene Fenfter; einen Augenblid tappen
feine Füße in der Luft: nun ſteht er auf dem fchmalen Dach des Kloflerganges.
Und er wandert mit./emporgehobenen Armen den fchmwindelnden Steg entlang.
Ihm folgen Kirften, Karen und Annchen, alle Auserwählten, Einer nad) dem An-
deren. BZulett kommt der Jude, der unausgejeht vor ſich hinmurmelt, während das
Acht ihn unmwiderftehlich an fich zieht: „Ich wars nicht! Ich wars nicht!”
Unten im Hof ftehen der Inſpektor und Fräulein und alle zum Hofpital ge-
hörigen Leute fprachlos vor Entjegen. Dann rufen fie freundliche und drohende
Worte zum Dad hinauf. Aber die Ausermählten hören und fehen fie nicht; ihre
Blide hängengebannt an den fodernden Flammen und der leuchtenden Gluth der Wolten.
Während fie mit ausgefpreiteten Armen auf dem ſchmalen Weg dem Tode
entgegengehen, tönt ihr Weihnachtgefang Über die Erde:
Jetzt der Vorhang ift gefallen!
Gottes Herrlichkeit winkt en,
In fein Heiligtdum zu treten.
Die Flammen winken ihnen fchmeichelnd. Und fo, Mmempfimdlich für irdiſchen
Schmerz, wandern ſie der ewigen Heimath zu, dem Gott entgegen, der ihnen gnädig
den Verſtand nahm. Noch im Tode tönt ihr jubelnder Chor:
Der in die Welt das Licht gebracht,
Zum Tag verwandelt bat die Nacht
Durch feiner Glorie heilgen Schein
Hallelujag! Hallelujah!
Linalyſt. Laurids Bruun.
ð 39*
'
108 Die Zutsef
Papſtthum und Neformation im Mittelalter. 1143—1517. Da
Sängewald, Leipzig. 20 Mar. |
Machiavelli fagt in feinem „Fürften“: „Alle bewaffneten Propheten
haben gefiegt und bie unbewafineten find zu Grunde gegangen, wie es zuunien
Beiten bem Bruder Girolamo Savonarola widerfuhr”; Diefer Satz des grohßes
Staatsmannes wirb durch die Erfahrungen des fechgehnten Jahrhunderts mm
eben fo durch bie bes ganzen Mittelalterß beftätigt. Um daher das Wachsthum un)
die ſchließliche Vernichtung einer gegen das Papftthum Lämpfenden Religion
partei, ber Waldenfer, Albigenſer, Stebinger, Wyklifiten und Lollarden, Taboriter,
richtig zu verftehen, muß man bie politiihen Verhältniſſe kennen, ſowohl ia
ben einzelnen Staaten als in ganz Europa, da das Papftthum immer verftane
hat, die Unterthanen gegen das Staatsoberhaupt in Aufftand zu bringen, (ürke
und Sreiftanten, namentlich die Schweiz, gegen andere Fürſten ins eb r
führen. Die „Brüder“ ober Waldenfer in Italien wurden zuerſt burd de
Hobenftaufen, fpäter durch Karl ben Vierten niebergeworfen; an bem Beutem
gegen bie Albigenſer betheiligten fidh Kürften und Herren vom Rhein, aus Bed
falen und ungarifhe Banden; das gegen die Huffiten kämpfende Freu
gefinbel gehörte allen Spraden an. Der Geichichtichreiber der religiöfen ot
kirchlichen Bewegungen bes Mittelalters bat es alfo fortwährend mit ben Ber
hältniffen von ganz Europa zu thun und muß feht auf feiner Hut fein, men
er fi nicht verlieren, ben leitenden Faden in der Hand behalten will.
Seit ber Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts bereiteten fid; große Be
änderungen vor; bie Päpfte ftellten ſich in feindlichen Gegenfag gegen bie Leijer
Friedrich ben Dritten und Maximilian den Erften, Böhmen behanptete jet
Unabhängigkeit vom Bapft, indem es an Polen Nüdhalt fanb und an ben Ir
fürften von Sachſen und Brandenburg Bunbesgenofien, Halb Sachſen ſoget eu
böhmifches Lehen wurde. So begreift man, wie es Kurfürſt Friedrich der
wagen Lonnte, Martin Luther und feine Anhänger erfolgreich gegen Papft ao)
Inquiſition zu ſchützen; Sachſen war unangreifbar. Aus ber GStellimgnafst
Polens ferner erflärt fi die fo wichtig gewordene Säkularifirung des Destif
orbenslandes Preußen im Jahre 1525. Aufmerkſame Beachtung verbienen fern!
die Vorgänge in Süddeutſchland. Die Wegnahme öſterreichiſcher Landſchaſtes
durch die Eidgenoſſen und beren Losfagung vom Reich weckte in ben Herrſchen
Defterreich$ ftets von Neuem das Streben, das Verlorene wieberzugemintf®
und die Eidgenofjen niederzumerfen, wozu 1525 ein naher Verſuch in Ar
ftand und wozu aud die Aechtung der „Salramentirer‘' (Bwinglianer)
den fpeierer Reichsabſchied von 1529 dienen follte; bie religiöfen Lehren Ziv
galten vielen beutfchen Fürften als ſolche eines Ausländer, befien Anh! w
der Beitritt zum Schmalfalbifchen Bund verfagt werben müffe Ich de u
ein Glück betrachten, früh nad; Württemberg gelommen zu fen und jo ? J
erhalten zu Haben, die Verhältniſſe Süddeutſchlands im fünfzehnten md ſech n
Jahrhundert genauer kennen zu lernen, und ſcheue mich nicht, anszul Mr
dab Rankes Deutſcher Geſchichte eine tiefere Kenntniß dieſer Verhältni h
Selbftanzeigen.
|
|
Gelbflanzeign. . | 49
Die Beichlüffe des basler Konzils zur Einſchränkung der päpftlichen Ge⸗
walt, den Inhalt der Fürſtenkonkordate von 1447, die in der Wahllapitulation
von 1519 für maßgebend erklärt find, die Bedeutung des Wiener Konkordates
von 1448 babe ich auch dem Ungelehrten verftändlich zu machen gefucht und
zugleich den Beweis geliefert, daß das Wiener Konlordat niemals die Geltung
erlangt hat, die ihm die meiften Schriftjteller zufchreiben. Für die Gegenwart
Bedeutfam ift der Abfchnitt Über das Konkordat zwifchen Leo dem Behnten und
Franz dem Erften von 1516, das den franzöfifchen Königen das Recht zur Er
nennung aller Biſchöfe und Aebte ihres Landes einräumte, aber den Untergang
der politiichen Tyreiheit, die Erſchwerung der Reformation und ihre nachherige
völlige Unterdbrüdung zur Folge hatte. Auf eigentliche Glaubenslehren einzu-
geben, erichien nach mehreren Richtungen unerläßlich: hierher gehören bie Ab⸗
ſchnitte über die Brüder oder Waldenjer, die päpftlidhen Lehrſätze ſeit 1215,
über Wyflif und die Lollarden, die Beichlüffe des Eonftanzer Konzils gegen bie
Kommunion in beiberlei Geftalt. Beſonders genau find unterfucht die Lehren
ber Zaboriten und der Utragquiften, da die gangbaren Angaben hierüber zum
Theil unbeftiimmt lauten, zum Theil gröblich fehlerhaft find; wie denn über⸗
haupt die gefammten böhmiſchen Verhältniſſe eine forgfältigere und vorurtbeil-
Iojere Würdigung gefunden haben. Dieje Darlegungen zeigen deutlich, daß die
Neformation des fechzehnten Jahrhunderts feine Gedanken hervorgebracht Hat,
die über da3 von den Brüdern und Taboriten Bertretene hinausgehen, ja, daß
fie in gar Manchem Hinter ihnen zurücdgeblieben ift, da fie bindende Bekennt⸗
niffe ſchuf und den Grundfaß der religiöfen Dulbung verleugnete. Das Neue,
was das jechzehnte Jahrhundert brachte, waren die kritiichen Arbeiten von Johann
Neudlin über das Alte, von Erasmus von Rotterdam über das Neue Tefta-
ment; ihnen durfte daher ein größerer Raum gewibmet werden.
Tübingen. Brofeflor Friedrich Thudichum.
s
Der klingende Berg. Eine Novelle. Verlag von Arel Junder in Stuttgart.
Ich babe mein Ohr an das Herz des alten Berges gelegt und es fing
wunderſam zu tönen an. Quellen rauſchten, Vögel fangen, Menſchen lachten
und weinten und jodelten laut. Und ich wunderte mich, wie bunt dies Alles
Mang. Da fagte mein alter Berg: „Du erftauneft, daß ich troß all meinen
Wurzelrunzeln und ſchweren Jahren noch fo viel Tugend in der Bruft trage.
Ich wohne in einem geheiligten Land.“ Und ich küßte das Herz des alten
Berges und er jegnete mich mit Strömen von herbem, herrlichen Fichtenduft
und feine .männlichen Eichen hoben ihre Kronen. Aber ich Tage nicht, wo mein
alter Berg wohnt. Ihr kennt doc, die Gefchichte vom Bogel, der das Lied aus
plauberte und von den böjen Buben totgefchlagen wurbe?
8
Die Chöre des Lebens. Romanchklus. Erſter Band: Fräulein Don
Juan. M. Lilienthal, Berlin 1903.
Vielſtimmig find bie Chöre des Lebens; Jahre lang hörte ich nicht darauf.
Im ſchweren und jchmerzhaften Kampf ums Leben, dein meine jungen Kräfte
Miriam Ed.
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500 Die Zuhmift.
faum gewachſen waren, jtellte ih mich taub für alle anderen Stimmen. Am
Tage rang ich ohne einen abjchweifenden Gedanken mit bes Lebens Roth. Nur
mande Nacht lag ich unter blühenden Rofenbüfchen und horchte auf eine Harfe,
die von Liebe fang. So entftand dieſes Bud. Die Heldin Franka Peterien
ift männlich begehrend von Charakter, aber weibli zart und hingebend von Au
und Wejen. Dieſe Zwieipältigkeit ihres Innern treibt fie in allerlei verwegent
und gefährliche Liebesabenteuer, aus benen fie gereift und veredelt hervorgeht
Doloroja.
—
Letzte Stunden. Schauſpiel in drei Aufzügen, nad einem Motiv Erneß
Renans. Berlin, Schufter & Löffler 1903.
Es ijt ſeltſam genug, daß nod Niemand vor mir auf den Gedanken ge
kommen tft, den ſchönen Stoff der „Aebtilfin von Jouarre“, der geradezu ned
der Bühne feufzt, fürs Theater umzugeitalten. Bei feinem der vier großen
Dramen des gedankenreichen Franzoſen ift die Unaufführbarleit jo zu beklages
wie bet biefem legten und bedeutendften. Xöft fich doch Hier von dem gewaltigen
Dintergrunde ber denkwürdigſten Gefchichtepoche ein Menſchenſchickſal ab, wie es ie
reizvoll nur ein feiner und doch fühner Dichter oder das Leben felber erfinnen fonnte.
Wie ftarf neben dem tiefgeiftigen und feelifchen Gehalt diefes eigennartigen Schau
ſpiels fein dramatischer Reiz ift, ergiebt fich jchon baraus, daß große Schaufpieler
und beſonders Scaufpielerinnen — nit nur in Fraukreich — in Gedanker
immer wieder zu ihm zurüctgefehrt find. Vergeblihes Bemühen. Der geiftreiche
Forſcher Hat ſchon durch jeinen bühnenunmögliden Dialog, der aus langen phile
jophifhen Perioden mit gehäuften Relativſätzen befteht, jeder Wirkſamkeit im
Rampenlicht den Riegel vorgefhoben. Dem Drama Renans fehlt vor Allem
ein erjter Aft. Es fehlt der Auftaft, die Einleitung, das „erregende Moment“,
die Entwidelung; aud) die Steigerung fehlt. Wir fpüren nichts von dem fiebern-
den Pulsichlag jener ftürmijchen Zeit unb begreifen daher im Takt der Dar-
ftellung jo Mandes niht, was nur als Zeitſymptom zu verftehen if. Das
„Geſetz des geforderten Wechſels“ ift in der Anlage des Ganzen nicht genügend
berüdjihtigt worden. Trotz dem im Stoff begründeten Iebendigen Verlauf
ber Begebenheiten fehlt es den Perfonen an Bewegung. Sie bewegen bei Renan
eigentlich nur die Lippen. Wie ein großer Goldblod lag ber fhöne Stoff vor
mir. Reſtlos eingefhmolzen mußte er werben, wenn er geprägt, wenn er in
flingende dramatijch" Münze umgewerthet werden follte. Nicht ohne reiflich er:
mwogenen Plan babe ich die beiten Stunden eines ganzen Sommers auf bie
Urbeit verwendet. Den fehlenden Auftakt babe ich als erften Alt vorangefekt, ben
übrigen Stoff in zwei Akte zufammengezogen und mit neuen Motiven geftüßt.
Eine Hauptfigur (Paul) und wenige Epifodenrollen (Schaufpteler Auguſtin,
Kaplan Bernoy, Mutter Boulanger, Sansculotten-TFührer u. |. mw.) find hinzu⸗
gefommen, um bie Handlung mannichfadher zu beleben. Die Charalteriftit habe
ih Ichärfer zu fchraffiren verjucht. Der lange Faltenwurf ber doktrinüren Schrift-
ſprache mußte fallen, kurz gefchürzt follten Nebe und Gegenrede widereinanber:
fpringen. So ift von dem urjprünglidhen Dialog felbft in den beiden Aften,
die fih an Renans Stoff anlehnen, kaum eine Zeile ftehen geblieben, obwohl
1908. 501
ich mich bemüht habe, die jhönften und feinftern Gedanken ber geiftvollen Dichtung
nad, Möglichkeit zu retten. Ob und inwieweit es mir gelungen ift, fie mit
‚Eigenem zu vermählen, wag der Leſer beurtheilen. Daß ein paar äußere Ge
ſchehniſſe der Revolution um wenige Monate näher aneinandergerüdt find, er⸗
jchien mir, da der Siun des Ganzen und das Bild der Zeit dadurch in feiner
Weiſe geftört wird (im Gegenteil!) als mein gutes dramarifches Recht, eben fo
wie der Umguß und die Verwendung von ein paar Verſen des jungen Puſchkin
für meine Zwede. Ich nehme die Hand nicht von dieſem Werk, ohne mich tief
zu neigen vor dem großen Finder jeiner dichterifchen Grundidee. Erneft Renan
ſchrieb „Die Aebtiſſin von Jouarre“ 1886; ich beſitze eine Ausgabe aus dem
ſelben Jahr noch (Paris, Calmann Lévy) und es iſt ſchon die fünfte Auflage.
Man ſieht: auch ohne die Bühne fehlte dem Werk die Anziehungskraft nicht,
wenigſtens in feiner Heimath. Aus dem ſelben rein geiſtigen Intereſſe entſtand
der Berſuch, ihm in dieſer — freilich kaum noch ähnlichen — Geſtalt auch die
Bühne endlich zu erobern, auf die feine Anlage und Beſtimmung es hinweiſt.
Karl Streder.
s
1903.
"ie felige, fröhliche Zeit der Coupon-Inſerate ift wiedergefehrt. Coupon-Inſerat?
Bergebens, lieber Lefer, greift Dü nach dem Meyer oder Brodhaus, um Dir
Rath zu holen. Roc ift daS prächtige Wort nicht zu der Reife herangewachſen, die
ibm das Recht auf einen Plat im Lexikon verliehe; es ift jung an Jahren. Wenn
feinem Urfprung fpäter ein Sprachforſcher nachſpürt, wird er finden, daß es ent-
Rand, als das Börfengeje in Kraft trat, an deſſen Reform jett fo bedächtig ge-
arbeitet wird. Neue Verhältniſſe fchaffen eben neue Gebräuche. Das Börfengefeg hatte
ſich leiſe auch in die Beziehungen zwischen Finanz und Preffe eingemifcht; die Folge
diefer Indiskretion war ein ‘Paragraph, der die Heinen Geſchenke der Freundſchaft
"unter eine Art fittenpolizeilicher Kontrole ftellte. Was war zu machen? ... Geduld! Eine
neue Diöglichkeit war bald gefunden. Um die Weihnachtzeit hingen zärtliche Bankdirel⸗
toren an die Bäume und Bäumchen im deutfchen Blätterwald nette und nahrhafte
Angebinde, die das danfbare Gemüth der Empfänger froh begrüßte: denn gegen
ſolche Beſcherung fonnte, felbft wenn fie recht reichlich ausfiel, auch der Korrektefte
nichts jagen. Es war ja nur der Auftrag, die Liſte fämmtliher Werthpapiere zu
annonciren, für deren Coupons die Bank Zahlſtelle iſt. Eine geradezu geniale Er-
findung. Der Kopf, dem fie entiprang, bereut wohl, daß er fie nicht durch Patent
ſchützen ließ; denn der neue Brauch hat fidh fo ſchnell eingebürgert, daß nur noch
Leute von bejonders gutem Gedächtniß ſich an die Quelle erinnern, aus der einft
der köftliche Einfall bervorfprudelte. Das Coupon⸗Inſerat, das die feinften Ab-
fufungen im Rang der Geber und der Nehmer ermöglicht, ift raſch zur Staats.
mflitution geworden. Noch ift e8 zwar nicht durch die Verfaſſung verbürgt; wer
im Dezember aber die AUnnoncenblätter lieſt, wird ganze Seiten mit der Meldung
gefüllt finden, welche Coupons bei jeder Bank zahlbar find. Wie käme ein armer
Kapitaliit ohne ſolche Lifte au) aus? ... Verhaltet das Lachen, Ihr Freunde!
Diesmal ward der Prefje noch reichlicher beſchert als im vorigen Jahr. Das
502 Die Zukunft.
war zu erwarten. Die Seiten find ja beffer geworden, — bis aufBeiteret. Bar
einem Jahr glaubte die Deutfche Treuhaudgefellichaft noch, einem dringenden Be
ditrfniß entgegenzufommen, als fie fi) erbot, „periobifche oder einmalige Reoifione
von Ultiengefellfchaften, insbefondere die Prüfung der Bücher und Bilanzen, unter
Zufiherung unbedingter Berfchwiegenheit ber alle durch die Reviſionen zu ihre
Kenntniß gelangenden Verhältniſſe“ zu übernehmen. Ein neuer Gefchäftszweig, te
nübliche Frucht zu tragen verfprad. Das Mißtrauen war damals noch wad m
ſchonte and bie Großen nit. Wäre es nad dem Willen der Aktionäre gegangen
dann wären neun Zehntel aller Direktoren und Auffichträthe weggefegt worden ım
an ihrer Stelle hätten ſich die eifervollen Vehmrichter der Treuhandgeſellſchaft ci
geniftet, von denen man, mit Rouffeaus Wort, fagen könnte: Ils cesseraient d’in
heureux, si le peuple cessait d’ötre misdrable. Zum @lüd aber kennt nur W
graue Theorie, nicht die goldene Praris einen freien Willen der Aktionäre. Ant
hatte die Treuhandgefellichaft, die es fo herzlich) und uneigennütig gut mit der leidenin
Menfchheit meinte, den Fehler gemacht, ihre Aufforderung aus dem Gebäude der Dentigan
Bank in die Welt zu fenden. Voreingenommen, wie die Menfchen num einmal
blieben fie zögernd vor dem Eingang in der Franzöfifchen Straße fliehen und win
durchaus nicht glauben, daß fie da an die richtige Adreſſe gekommen feien. Hola
Gh nennt uns die Deutſche Treuhandgefellfchaft in ihrem Geichäftsberichte die Jul
der Mufträge, die der Auf ihr gebracht hat. Schon als Dokument der menjſchlicha
Schwachheit wäre diefe Statiftif werthvoll; fie würde zeigen, wie fchnell bie deutiän
Aktionäre bie berechtigten Zweifel an der Zuverläffigfeit mancher Bermaltung nah
der Aera der Enthüllungen und Zufammenbrüde wieder in ben Wind geichlagn
haben. Ein feines Ohr für die Herzthätigleit unferer Wirthfchaft hat aber die Tre⸗
bandgefellihaft damals nicht gehabt. Die Erregung war ſchon im Schwinben, 3
fie noch große Dinge von ihr erwartete. Die Schniudt nad dem Halbdunkel, 8
dem fich der Durchſchnittsmenſch, auch wenn er Attien bat, fchließlich immer a
Wohlſten fühlt, war längft wieder erwacht und wollte befriedigt fein. Da mat fh
eine aufflärende Thätigkeit, wie die Treuhandgefellichaft fie verhieß, fein Raum mehr.
In diefer Stimmung wurde aud die Enthaftung ber angeflagten Direltoren der
Pommernbant als ein gutes Zeichen genommen, das gewiffermaßen mit amtlicher Aut-
rität bewies, wie übertrieben die Catonen den angeblid ringsum drohenden Bankjwinde
geichildert Hatten. So ſchlimm wars in der Wirflichfeit ja gar nicht. Am Liebfen
hätte man auch Sanden aus dem Gefängniß geholt. Die Wuth wandte ſich nun gegen
die Aufflärer, denen man die Hauptſchuld an allem Unheil zufchob. Herr Direktor Bert
hard Dernburg befam von dem großen Organ, das mit dem anderen Bernhard duch
Did und Dunn geht, eine Douche, die nicht nach Kolniſchem Waffer duftete. De
Guten, hieß es, fei zu viel gethan, die Neorganifation in eine Desorganifation bergen
worden. Dem Publikum dämmerte die Erfennmiß, daß zu einer munteren gun
bes Wirthichaftlörpers am Ende aud) das ſchlechte Blut unentbehrlich ſei.
hatte vor drei Jahrzehnten auch der prager Bankdirektor Lederer ungefähr ge!
als er von der Anklagebank aus dem Staatsanwalt zurief: „Würden alle Schw
aus den Jahren 1870 bis 73 vor Gericht geftellt, e8 wäre in ben böhmifchen
bern nicht Holz genug für die Anklagebänke!“ Schwindel ift eben ein relativ
grivf; unmittelbar nach einer Krife fieht Manches ſchwindelhaft aus, was be
wieder lorreft, beinahe ehrlich fcheint, — ehrlid) wenigftens nach der Uf
„eranag
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